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Sabine Both, Jahrgang 1970, lebt und arbeitet als freie Autorin in Neuss. Eine rabaukige Kindheit, eine rebellische Pubertät und ein paar turbulente Jahre als Sozialarbeiterin haben genügend Stoff für jede Menge frecher Jugendromane angehäuft. Wenn Sabine Both gerade nicht auf den Spuren frisch verliebter Mädchen oder hormongesteuerter Jungen ist, küsst sie ihren Mann, beackert ihren Garten und bekocht ihre Freunde.
Unglaublich! Wie können eineiige Zwillinge nur so gleich aussehen und doch so verschieden sein? Jenny liebt es, Hip-Hop zu tanzen, Kira arbeitet ehrenamtlich im Tierheim. Auch was Jungs angeht, schlagen ihre Herzen vollkommen unterschiedlich: Jennys Traumtyp ist ein supercooler Tänzer – Kiras ist hilfsbereit und megaintelligent. Doch um ihre Herzbuben zu erobern, müssen beide einen Trick anwenden, der nur bei echten Twins funktioniert ...
Freche Mädchen – freche Bücher!
Für Ivan, Kiara & Jamie
»Los, Mama, erzähl! Wie war das damals?« Manchmal passiert es noch, dass die Worte gleichzeitig kommen.
Aus zwei absolut gleichen Mündern. Herzförmig, die Oberlippe ein kleines bisschen vorgestülpt, was super ist, um eine sehr süße Schnute zu ziehen.
Alles an Jenny und Kira ist gleich. Die mandelförmigen Augen, die dunkelblond gelockten Haare, die Stupsnasen.
Aber das fällt auf den ersten Blick gar nicht auf, weil sie in allem anderen so verschieden sind.
Jenny liebt Knallenges und Glitzerndes. Kira steht auf Latzhose und Schlabbershirt. Kira würde nie ein Tier essen, Jenny liebt Burger und Bratwürste über alles. In Jennys Zimmer herrscht heilloses Durcheinander, Kira ist pingelig sauber und ordentlich. Bei Jenny sind die Wände tapeziert mit Tanz-Postern, bei Kira finden sich nur Katzen und Hunde. Das Einzige, was sie beide mögen, ist Chai Latte.
»Ihr kennt die Geschichte doch schon in- und auswendig.« Mama stöhnt, weil das zum Spiel gehört. Aber die Zwillinge wissen ganz genau, dass Mama es liebt, die Geschichte zu erzählen. Und es ist schon eine ganze Weile nicht mehr vorgekommen, dass danach gefragt wurde.
»Egal!«
»Trotzdem!«
»Bitte, bitte!« Die Zwillinge ziehen das ganze Programm ab, wie früher. Sie zerren Mama am Pullover und jammern, als wären sie noch klein.
Sind sie aber nicht mehr. Sie sind schon fast so groß wie Mama. Und wenn sie nicht gerade nach der Geschichte verlangen, sind sie waschechte Teenager. Mit Launen, wenn auch nicht denselben. Und neuerdings auch mit einem Pickel. Natürlich beide gleichzeitig. Und beide an der gleichen Stelle. Direkt auf der Nase. So, dass man ihn nicht verstecken kann, nicht mal mit Mamas Make-up für reife Haut. Jenny hat das ausprobiert. Kira nicht. Sie hasst Schminke. Sie senkt lieber den Kopf, damit keiner den Pickel zu Gesicht bekommt.
»Na gut! Dann kommt her!« Mama ist geschlagen.
Die drei werfen sich auf die Couch, Mama in die Mitte, Kira links, Jenny rechts, und dann geht es los.
Die Geschichte fängt immer an derselben Stelle an. Nicht ein bisschen weiter vorne. Nicht ein bisschen weiter hinten. Immer im Zug.
»Ich saß im ICE von Köln nach Berlin, auf dem Weg zu einem Seminar. Ich war gerade in einen Artikel in der Zeitung vertieft, da klingelte das Handy. Mein Herz hat schon gepocht, obwohl ich nicht wusste, wer dran war. Als hätte ich was geahnt. Und dann war es tatsächlich die Adoptionsvermittlung. Und eine Frauenstimme sagte: Ich habe ihre Kinder!«
An der Stelle streichelt Mama immer links und rechts über die Locken. Über Jennys wild verwuschelte Mähne und Kiras streng zusammengebundenen Knödel.
»Und dann hat sie mir erzählt, dass ein Zwillingspaar, zwei neun Monate alte Mädchen, in einem Heim darauf wartet, eine Familie zu finden.«
Mama will die beiden noch ein bisschen enger an sich ziehen. Bei Jenny klappt das, aber Kira rückt plötzlich ab. Mama wirft ihr einen Seitenblick zu. Da ist es wieder, dieses komische neue Gesicht von Kira. Die Augenbrauen zusammengezogen, die Mundwinkel verkniffen.
»Ich wusste im allerersten Moment, dass ihr meine Kinder seid«, fährt Mama trotzdem fort. »Die Kinder, auf die ich mein ganzes Leben lang gewartet hatte, die Kinder, die ich mir immer gewünscht hatte. Mein Herz hat geklopft bis zum Hals. Ich hab kaum verstanden, was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde. Und als ich aufgelegt habe, muss ich so gestrahlt haben, dass das ganze Abteil mitgestrahlt hat. Und alle wollten wissen, was los ist, und ich hab allen von euch erzählt, so glücklich war ich.«
Mama sieht noch mal zu Kira rüber. Das neue Gesicht ist immer noch nicht verschwunden. Auf der anderen Seite bei Jenny ist alles wie immer. Die grinst und nimmt den Faden auf: »Und dann hast du Papa angerufen.«
»Genau. Der war gerade in einer Sitzung und musste mit seiner Bürostimme sprechen. Die kennt ihr ja, mit der kann man sich nur insgeheim freuen. Aber ich kenne euren Papa gut genug, und darum habe ich trotzdem gehört, dass auch sein Herz gehüpft hat, dass auch er sofort wusste: Ihr beiden seid unsere Kinder.« Mama seufzt und fügt ganz versonnen hinzu: »Unsere. Nur unsere.«
In dem Moment steht Kira abrupt auf. So abrupt, dass sie gegen den Couchtisch stößt, sich am Knie wehtut und knurrt. Mama will das Knie berühren, aber Kira zieht das Bein weg. Und dann sagt sie in einem Ton, den sie sonst nur für fleischessende Mitmenschen übrig hat: »Ist doch immer die gleiche Leier.«
Mama wechselt mit Jenny einen irritierten Blick. Jenny weiß aber auch nicht, was los ist. Wieso ihrer aller Lieblingsgeschichte für Kira urplötzlich eine alte Leier ist. Kira ist Jenny sowieso ein einziges Rätsel geworden in den letzten Wochen. Früher, da wusste sie immer alles von Kira, bekam alles berichtet und konnte ihr den Rest von der Nasenspitze ablesen. Aber jetzt ist das anders. Und Jenny hat keinen Schimmer, wieso. Pubertät wahrscheinlich – die ist bei jedem unterschiedlich. Kira macht eben dicht und Jenny haut auf den Putz. Aber schade ist es schon, dass sie nicht mehr das sind, was sie immer waren – die verschworenen Unzertrennlichen.
Kira reibt sich das Knie und zeigt dann ungeduldig zur Uhr: »Schon mitgekriegt, wie spät es ist? Wir müssen los.«
Und das stimmt.
Jenny und Kira haben zu viel vor, um weiter auf der Couch abzuhängen. Es sind zwar Ferien, aber der Terminkalender ist voll. Kira hat Schicht im Gnadenhof. Jenny hat Training. Und vorher wollen alle drei noch bei Uroma vorbei. Nach dem Rechten sehen. Schauen, was sie heute wieder angestellt hat.
Oma öffnet nicht, also zieht Mama den Schlüssel aus der Tasche.
»Hoffentlich ist sie nicht wieder ausgegangen«, seufzt Kira.
Wenn Uroma die Wohnung verlässt, geht das manchmal schief. Sie will nur zum Bäcker und landet im Freibad, wo der Bademeister alle Hände voll zu tun hat, ihr klarzumachen, dass das Baguette leider aus ist. Sie will zum Friseur und landet beim Schuster, der von ihr eine lautstarke Standpauke erhält, weil er sich weigert, die Löckchen aufzudrehen. Sie macht sich auf den Weg zum Metzger und will, im Bioladen gelandet, einfach nicht verstehen, dass es dort nur Tofuwürstchen gibt. Am Ende finden Bademeister, Schuster oder Bioladenverkäuferin immer den Zettel mit Mamas und Papas Telefonnummer, und einer von beiden kommt angerast, um Uroma nach Hause zu bringen.
Mama öffnet die Tür und die drei betreten die Wohnung. »Oma!«, ruft Mama.
»Uroma!«, rufen Kira und Jenny. »Bist du da?«
»Ich bin hier!« Uromas Stimme kommt aus dem Wohnzimmer. »Ich kann ihn einfach nicht finden.«
»Wen denn?«
Mama und die Zwillinge stürmen los. Der Anblick, der sich ihnen im Wohnzimmer bietet, ist so schräg, dass alle drei sich ein Kichern nicht verkneifen können. Uroma sitzt umgeben von Weihnachtsbaumkugeln und Glitzerengelchen auf dem Teppich und dekoriert ihre Zimmerpalme. Die Lichterkette leuchtet und die Krippe steht schon unterm Immergrün.
»Der Weihnachtsmann aus Blech, der vom Weihnachtsmarkt in Aachen, ich finde ihn nicht«, seufzt Uroma.
Der Weihnachtsmann ist schon seit Jahren nicht mehr da, weil Uroma ihn Oma geschenkt hat und die ihn mit zu ihrem neuen Mann nach Mallorca genommen hat.
Mama und die Mädchen wechseln einen Blick: Sollen sie Uroma klarmachen, dass gerade Sommer ist und Weihnachten in weiter Ferne liegt, oder spielen sie mit?
Jenny entscheidet spontan: »Hast du denn schon die Weihnachtsplatte aufgelegt?« Sie stöbert in Ur-omas alten Vinylplatten, findet die von Nana Mouskouri und schmeißt den Plattenspieler an. »Petit Papa Noël« ertönt und Jenny singt mit.
Uromas Augen strahlen. Der Weihnachtsmann aus Blech ist vergessen, sie klatscht in die Hände und will von Kira: »Und du, Kind, sag ein Gedicht auf!«
Dafür war Kira schon immer zuständig. Bereits als ganz kleiner Zwerg konnte sie Gedichte auswendig lernen und wunderschön rezitieren. Aber dass sie Weihnachtsgedichte im Repertoire hatte, das ist lange her. Nur für Uroma ist die Zeit stehen geblieben und Kira immer noch das kleine Mädchen.
Kira kramt in ihrer Erinnerung und findet tatsächlich noch etwas:
»Von drauß’ vom Walde komm ich her;
Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr!
…«
Uroma strahlt jetzt heller als die Lichterkette. Und während Mama das Bett macht, das Essen aufwärmt und die Toilette putzt, lassen sich Kira und Jenny von Uroma die Weihnachtsgeschichte erzählen.
»Ach, was war das für ein schönes Fest«, sagt Uroma, als die drei sich verabschieden. »Nur schade, dass Richard nicht dabei sein konnte. Er hat schrecklich viel zu tun, ihr wisst ja, die Arbeit, die Arbeit.«
»Ja, das wissen wir«, sagt Mama und denkt nicht dran, Uroma das Weihnachtsfest zu verderben, indem sie klarstellt, dass Richard, Uromas geliebter Mann, schon seit siebzehn Jahren nicht mehr unter ihnen weilt.
Jetzt ist Eile geboten. Das Weihnachtsfest hat den Zeitplan ein bisschen durcheinandergebracht. Wenn Mama nicht ordentlich aufs Gaspedal drückt, kommen die Mädchen zu spät zu ihren Terminen.
Jenny sitzt in der Umkleide und seufzt. Sie denkt an Timo und bekommt sofort Gänsehaut. Allein weil sie weiß, dass sie jetzt zwei Stunden lang in seiner Nähe sein kann. Weil sie hofft, dass vielleicht eine zufällige Berührung zustande kommt.
Einmal ist so was passiert. Als Jenny bei einer Drehung übel umgeknickt ist, am Boden lag und ein Gesicht gezogen hat wie Christiano Ronaldo. Voll tapfer, aber auch voll Drama. Extra, damit Timo kommt. Und der kam dann auch. Mit Eisspray. Und dann hat er Jennys Schienbein untersucht. Mit bloßen Händen. Mindestens fünf Sekunden lang. Jenny kann nur hoffen, dass alle gedacht haben, Gänsehaut bekommt man auch bei starken Schmerzen oder zumindest von Eisspray.
Zu blöd, dass Jenny nicht Ringerin ist, die berühren sich dauernd. Oder Geräteturnerin, die Hilfestellungen kriegt, wenn sie was Neues übt. Zur Not auch Boxerin. Selbst von Timo eins auf die Nase zu kriegen, stellt Jenny sich schön vor. Oder eben klassisches Ballett. Da tanzen sie in Paaren. Beim Hip-Hop tanzt jeder für sich.
Vielleicht sollte Jenny sich einfach doof anstellen, wie Irene. Die kriegt dauernd einen Move nicht hin und dann muss Timo sich um sie kümmern. Manchmal bleibt er sogar länger und gibt ihr Einzelstunden, damit sie die Crew nicht aufhält. Irgend so ein schwarzes Schaf hat wohl jede Gruppe. Eine Extrawurst, die allen auf die Nerven geht und dauernd eine Sonderbehandlung bekommt.
Jenny kann sich nicht ungeschickter anstellen, als sie ist. Sie will nicht, dass Timo sie für untalentiert hält. Denn das ist sie nicht. Sie könnte richtig gut werden. Vielleicht so gut wie Timo. Das wäre es für Jenny. Tanzen, als Beruf, nicht nur als Hobby. Auf Abi hat Jenny sowieso keine Lust. Sie lernt nur mit dem Körper gern. Da hat sie Ehrgeiz, Disziplin und Leidenschaft. Fürs Nase-in-Bücher-Stecken ist Kira zuständig. Die ist der Kopf von den beiden.
Nach allem, was Jenny über Timo gehört hat, ist er auch nicht gerade gut in der Schule. Er hat wahrscheinlich ebenfalls keine Lust, Vokabeln zu lernen, Formeln zu pauken und zu kapieren, wie Fotosynthese funktioniert. Jenny und Timo sind schlichtweg Seelenverwandte. Zwillinge im Geiste. Viel ähnlicher als Kira und Jenny je sein könnten.
Jenny seufzt noch einmal sehnsüchtig und zieht sich dann die Trainingshose an. Im Proberaum hat Timo die Musik angemacht. Es geht los.
»… Milch.«
Schon wieder ist Kira das passiert. Moritz sagt etwas und Kira bekommt maximal das letzte Wort mit. Sie ist so damit beschäftigt, normal zu wirken, unverliebt, locker, dass sie nicht mal mehr eine ganz einfache Kommunikation hinbekommt. Und das, wo Moritz endlich mal in ihrer Schicht ist. Wo sie sogar zusammen eingeteilt sind. Wo er direkt neben ihr steht und irgendwas gesagt hat, das mit Milch endet. Kira steht der Schweiß auf der Stirn. Und Moritz zieht die Nase kraus. Er wartet auf eine Antwort.
»Wie bitte?« Was Besseres fällt ihr nicht ein.
»Die Milch. Wir müssen sie den Kätzchen geben. Die Flaschen sind in deinem Korb.«
»Oh!« Kira hat sich wie verrückt konzentriert. Und tatsächlich, der komplette Satz ist bei ihr angekommen und ergibt sogar einen Sinn. So muss sie das jetzt immer machen. Irgendwo anders hinstarren, wenn Moritz spricht. Nicht in seine Augen. Bloß nicht. Auch nicht auf seinen Mund. Nicht mal auf seine Hände.
Zwei winzige Fläschchen mit Ersatzmilch zieht Kira aus ihrem Korb. Moritz reicht ihr eins der Kätzchen im Tausch gegen eine der Flaschen.
Die Babys haben noch nicht mal die Augen auf. Sie sind winzig. Und doch schon ganz allein auf der Welt. Sie wurden auf einem Parkplatz ausgesetzt. In einem Schuhkarton.
So was versetzt Kira immer einen Stich in den Magen. Einen, der sich erst dann wieder auflöst, wenn jede Menge Schokolade dazugekommen ist. Schokolade ist aber erst mal nicht in Sicht.
»Ich verstehe nicht, wie man so hilflose Wesen aussetzen kann. Man muss sie doch lieb haben und beschützen.« Moritz hat Kiras Gedanken gelesen. Eins zu eins. Und Kira muss jetzt richtig aufpassen, dass sie die Flasche nicht fallen lässt, so sehr zittern ihre Hände. Seelenverwandte. Glasklar. Kira und Moritz sind füreinander geschaffen.
»… Gramm.«
Nicht schon wieder! Wie um alles in der Welt soll Moritz merken, dass Kira und er Seelenverwandte sind, wenn sie es nicht schafft, auf irgendeine seiner Anmerkungen anständig zu reagieren. Er muss denken, dass sie ihm nicht zuhört, weil sie keine Lust hat, kein Interesse, wen anders im Kopf. Oder dass sie strunzend dumm ist. Um Himmels willen, er darf nicht denken, dass sie strunzend dumm ist. Soweit Kira das recherchiert hat, ist Moritz an seiner Schule der Beste im Jahrgang. Er gewinnt jeden Mathewettbewerb. Er hat sogar schon einen Rezitierwettbewerb gewonnen. Bestimmt liebt er Gedichte ebenso wie Kira.
Kira verbietet sich zu seufzen. Sie muss sich konzentrieren. Auf das Hier und Jetzt! Moritz wird sich nie für sie interessieren, wenn er denkt, dass sie dämlich ist. Sie muss unbedingt und sofort beweisen, dass sie nicht leer in der Birne ist.
»Wusstest du, dass Muttermilch durch Sporttreiben sauer werden kann?« Woher, wieso, warum jetzt gerade das aus Kiras Mund kommt, weiß sie selbst nicht. Ja, es hat mit Milch zu tun, aber ansonsten ist es ein tragischer Fall von unnützem Wissen. Jetzt findet Moritz sie bestimmt erst recht dämlich.
»Wusstest du, dass Eisbären fünfundsechzig Kilometer weit ohne Pause schwimmen können?«, fragt Moritz allerdings zurück.
Ist das zu fassen?
»Wusstest du, dass der Aal den besten Geruchssinn aller Tiere hat?«, legt Kira schnell nach.
»Wusstest du, dass Delfine nur halb schlafen, eine Seite des Gehirns ist hellwach, während die andere ruht?«
Es ist wirklich erstaunlich. Wenn Moritz unnützes Wissen von sich gibt, kann Kiara ihn sogar anschauen und bekommt trotzdem den kompletten Satz mit. Sie hat auch nicht mehr das Gefühl, einen Stock verschluckt oder einen Frosch gefrühstückt zu haben. Nicht mal der Pickel auf ihrer Nase kommt ihr mehr in den Sinn. Die Worte strömen nur so aus ihrem Mund und die Temperatur ihres Kopfes entfernt sich vom Siedepunkt zu Normalwerten.
»Wusstest du, dass Krokodile Steine fressen, um tiefer tauchen zu können?« Moritz lacht und auch Kiara gibt ein entspanntes Kichern von sich.
»Wusstest du, dass der Mensch als einziges Säugetier lächeln kann?«, fragt Moritz, und da ist es plötzlich vorbei mit Kiras Lockerheit.
Sie merkt, wie sich die Muskeln um ihren Mund herum versteifen. Lächeln. Jetzt, wo sie drüber nachdenkt, will es irgendwie nicht mehr funktionieren. Sie versucht an ihren Lippen zu schrauben, ihre Mundwinkel zu dirigieren, aber es kommt nichts dabei zustande, das den Namen Lächeln verdienen würde. Schnell neigt Kira den Kopf und schaut dabei zu, wie das Kätzchen die Flasche leer saugt. Genau wie Moritz. Es herrscht minutenlang stille Messe.
»Was muss in jemandem vorgehen, der so kleine Wesen einfach abschiebt«, sagt Moritz nach einer Weile, mehr zu sich als zu Kira.
Und schon wieder fährt ein Stich in Kiras Bauch. Zwei Stiche so kurz hintereinander, da braucht es eine doppelte Portion.
»Schokolade«, kommt es aus Kiras Mund.
Und diesmal ist es Moritz, dem es vorkommen muss, als habe er nur das letzte Wort von Kiras Satz gehört. Was um alles in der Welt haben abgeschobene Katzenbabys mit Schokolade zu tun? Die Frage steht ihm ins Gesicht geschrieben. Aber die Antwort darauf kann Kira ihm nicht geben. Das bringt sie einfach nicht fertig.
Und darum, da ist Kira sich sicher, hält Moritz sie jetzt nicht mehr nur für strunzend dumm, sondern obendrein für höllisch oberflächlich.
Nicht mal unnützes Wissen fällt Kira jetzt mehr ein. Und so hört die stille Messe zwischen ihr und Moritz erst auf, als Paul über den Hof brüllt: »Alle sofort kommen! Es ist so weit!«
Moritz und Kira springen auf. Sie wissen, was los ist. Isolde, die Kuh mit drei Beinen, bekommt ihr Kalb, und das liegt quer – da müssen viele Hände mitziehen.
»Die Arme neunzig Grad! Wie oft soll ich das noch sagen. Irene!« Timo bricht die Musik ab.
Aus zehn Mündern wird lauthals gestöhnt. Alle beugen sich atemlos nach vorne oder rennen zu ihren Wasserflaschen. Nur Irene bleibt seelenruhig stehen und wartet, bis Timo sich hinter sie stellt und ihr eine Extrawurst-Lektion erteilt. Und das tut er. Er biegt an ihren Ellbogen herum, hebt ihren Kopf an, schiebt ihre Hüfte in Position. Alles mit bloßen Händen.
Jenny nuckelt an ihrer Wasserflasche, beobachtet die Unfähige und das Supertalent und kocht innerlich vor Wut. Jetzt tatscht die dem auch noch völlig unnötig an den Oberarm. Und da! Sie verliert das Gleichgewicht und klammert sich an ihm fest. Das Gesicht presst sie dabei an seine Schulter. Jenny ist so was von neidisch. Sie lechzt seit Wochen nach einer Berührung und Irene bekommt einen ganzen Haufen davon.
Moment mal! Jenny geht ein bisschen näher ran. Das kann doch nicht … Doch! Die schnüffelt an dem! Eindeutig, die schnüffelt! Jenny fasst es nicht.
Und auf einmal fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Das ist alles kein Zufall! Irene will diese Berührungen, genau wie Jenny sie will. Nur mit dem Unterschied, dass sie sich nimmt, was sie begehrt. Dieses Miststück! Das ist alles eine Show! Dieses ganze Sich-dämlich-Anstellen, eine einzige Farce. Das selige Lächeln beim Umknicken, das säuselnde Stimmchen beim Drehungvermasseln.
Jetzt schon wieder. »Wie noch mal, Timo? Ach, ich brauche wirklich so dringend deine Hilfe!«
Jenny wird ganz heiß vor Empörung. Es zuckt in ihrem Arm und sie muss sich tierisch zusammenreißen, ihre Wasserflasche nicht an Irenes Kopf zu werfen – immerhin könnte sie Timo treffen, oder noch schlimmer, Timo könnte Jenny für völlig durchgeknallt halten. Auch muss sie sich davon abhalten, nicht laut loszupetzen – kommt nicht gerade sympathisch und vielleicht würde ihr niemand glauben. Irene spielt ihre Rolle verdammt gut. Jenny bleibt nichts anderes übrig, als zu starren und innerlich zu kochen wie ein Vulkan.
»Hast du es jetzt?«, fragt Timo.
Irene nickt und klimpert mit den Wimpern. »Aber es wäre schon besser, wenn ich nach dem Training noch etwas Nachhilfe bekäme.«
Timo seufzt, nickt aber.
Wieso tut der das? Wieso schmeißt er Irene nicht einfach aus der Crew? Achtkantig!
»Alle wieder auf Position!« Timo schaltet die Musik an.
Und Jenny fällt etwas ein, das die Wut in ihrem Bauch ein bisschen runterkühlt: Irenes Masche wird nicht ziehen! Ja, Jenny ist sich sicher, bei einem wie Timo zieht die Tollpatschnummer nicht, die Hilflose-Hasen-Show. Bei einem wie Timo, da zählt nur Talent, Fleiß und das Beste geben für die Crew.
Und Jenny gibt ihr Bestes. Sie tanzt wie ein Teufel. Jeder Schritt sitzt, jede Drehung, jeder Sprung. In jede Bewegung bringt Jenny ihre volle Kraft, den absoluten Schwung hinein.
Aus den Augenwinkeln beobachtet sie dabei Irene. Auch bei ihr geht es jetzt. Und sie hat ein fettes Grinsen auf den Lippen. Siegessicheres Grinsen. Kein Wunder. Timos Augen sind nur bei ihr. Durch ihr Versagen vorhin hat sie jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. Wohlwollend begutachtet er ihre vermeintlichen Fortschritte.
Jenny merkt, wie ihr die Kraft aus den Gliedern weicht. Ungerecht! Ungerecht! Ungerecht! Wieso sieht Timo nicht zu Jenny hinüber, wie sie sich abstrampelt, wie sie glänzt. Wenigstens ein Blick, ein anerkennendes Lächeln, irgendwas.
Aber sie bekommt nichts.
Und dann passiert es. Statt links rechts drehen. Statt neunzig Grad, die Arme in die Höhe. Den Kopf nach oben, nicht zur Seite. Und schon ist Jenny völlig aus der Reihe getanzt.
Timo stoppt die CD und sieht entnervt aus. »Was ist denn mit dir los?«
Alle starren sie entgeistert an. Von Jenny hat niemand so einen Ausfall erwartet. Im Boden könnte Jenny versinken, ihr Handtuch schnappen und einfach rausrennen, aber das kommt nicht infrage. Jetzt muss sie weiterspielen. »Ich denke, ich bleibe wohl auch besser nach dem Training noch da und bekomme Nachhilfe.«
Der Blick, den sie dafür von Irene erntet, könnte tödlich sein. Jetzt liegen die Karten offen. Jetzt wissen die Gegner umeinander. Der Kampf kann beginnen.
»Es lebt!« Paul strahlt und alle klatschen erleichtert.
Kira versucht verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten. Ein frisch geborenes Tierbaby bringt sie so sicher zum Heulen wie eins, das platt gefahren auf der Straße klebt. Kira heult eigentlich bei allem, was mit Tieren zu tun hat. Wenn eins aus schrecklichen Zuständen gerettet werden kann, wenn eins in letzter Sekunde dem Schlachter abgekauft wird, wenn eins nach langem Leben auf dem Gnadenhof die Augen für immer schließt. Und vor allem eben, wenn eins gerade aus dem Mutterleib gerutscht ist. Kira ist einfach zu sensibel. Das sagt Jenny jedenfalls immer. Die kann sich die Tränen immer verkneifen. Schon allein, damit die Wimperntusche nicht verschmiert.
Kira trägt aber gar keine Wimperntusche. So was juckt nur. Und sieht tussig aus. Irgendwie unnatürlich. Sie würde das Heulen aber trotzdem gern sein lassen, damit Moritz sie nicht dabei sieht. Sensibel ist er, klar, aber eine Heulsuse wie Kira ist er bestimmt nicht.
»Wer übernimmt das Abreiben des Kälbchens?«, fragt Paul, und Moritz’ und Kiras Hände schnellen gleichzeitig hoch.
Wie ähnlich sie sich doch sind. Sie sammeln beide unnützes Wissen und sie lieben es, dieses warme, weiche, nasse Geschöpf zu verwöhnen, ihm das Ankommen in der Welt so angenehm wie möglich zu gestalten. Er muss es auch spüren, diesen Gleichklang, diese Gewissheit, dass da etwas ganz Besonderes zwischen ihm und Kira ist.
»Wusstest du, dass Zehennägel viermal so langsam wachsen wie Fingernägel?«, fragt Moritz.
Wissensduell die Zweite. Kira ist dankbar für diese Vorlage. Sogar der Heulkloß im Hals löst sich auf.
»Wusstest du, dass neunundneunzig Prozent aller Lebensformen, die je auf der Erde gelebt haben, ausgelöscht sind?«, fragt sie.
So geht es hin und her. Und als das Kälbchen tro-cken gerieben ist, stellt Kira zu ihrer Verblüffung fest, dass sogar die Nachwehen der Stiche im Magen ganz ohne Schokolade verschwunden sind. So gut fühlt sie sich, dass sie ohne nachzudenken fragt: »Und, was machst du heute noch?«
»Tanzen üben.«
»Bitte was?« Von allem, was Moritz hätte sagen können, ein Spitzentreffen von Amnesty International, eine Audienz beim Bundespräsidenten, die Verleihung des Literaturnobelpreises, sagt er etwas, das Kira so gar nicht verstehen kann. »Tanzen?«
Moritz druckst. Er sieht aus, als würde er am liebsten schnell wieder das Thema wechseln. »Ich kann es eben nicht.«
Ja, und?, denkt Kira, ich auch nicht, und es stört mich nicht die Bohne. Wozu muss ein Genie wie Moritz tanzen können? Er kann ganz sicher die Relativitätstheorie erklären – wer braucht da Cha-Cha-Cha?
»Gehst du in die Tanzschule?«, fragt sie unsicher.
»Nein, nicht so tanzen.« Moritz wirft das Stroh unwillig auf den Boden und steht auf.
Mist, diese Unterhaltung geht nach hinten los. Kira würde zu gerne wieder auf unnützes Wissen umschalten, aber dafür ist es zu spät.
»Tanzen wie alle anderen. In Discos. Ganz normal«, erklärt Moritz ungehalten. »Es gibt Videos. Da zeigen sie, wie man es anstellen muss. Ohne sich zum Affen zu machen.«
Er sieht jetzt richtig verärgert aus. So, als hätte Kira behauptet, er könne nicht tanzen, als hätte sie gesagt, er würde sich zum Affen machen.
Ach, tanzen ist doch nicht so wichtig wie Tiere zu retten, Bücher zu lesen und Wettbewerbe zu gewinnen, will Kira sagen, aber dazu kommt sie nicht mehr.