Das entschwundene Land, von dem Astrid Lindgren erzählt, ist das glückliche Land ihrer Kindheit. Sie erinnert sich an die Kinderspiele und daran, wie sie mit ihren Eltern und Geschwistern auf dem Hof nahe der schwedischen Kleinstadt Vimmerby in Småland aufwuchs. Sie schreibt von Mägden und Knechten, von Armenhäuslern und Landstreichern – und von der Liebesgeschichte ihrer Eltern, die irgendwann im Jahr 1888 begann und ein ganzes Leben lang dauerte …
Astrid Lindgren (1907–2002), im schwedischen Småland geboren, wuchs gemeinsam mit drei Geschwistern auf dem Hof Näs bei Vimmerby auf. 1945 erschien ihr erstes Kinderbuch Pippi Langstrumpf in Schweden und bereits 1949 in deutscher Übersetzung bei Oetinger. Es folgten viele weitere Bücher und Geschichten, darunter Die Kinder aus Bullerbü, Michel aus Lönneberga, Kalle Blomquist, Karlsson vom Dach, Die Brüder Löwenherz und Ronja Räubertochter, die inzwischen weltweit übersetzt und längst zu Klassikern der Kinderliteratur geworden sind. Die »bekannteste Kinderbuchautorin der Welt« (DIE ZEIT) wurde vielfach national und international ausgezeichnet, u.a. mit dem Schwedischen Staatspreis für Literatur, dem Hans-Christian-Andersen-Preis, dem Alternativen Nobelpreis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In der Begründung hierfür heißt es: »Sie führt den Lesern keine heile Welt vor, aber eine Welt, in der wir lachen und weinen, träumen, aber auch leben können.«
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© Text: Astrid Lindgren 1975 / The Astrid Lindgren Company AB
Die schwedische Originalausgabe erschien bei Rabén & Sjögren Bokförlag, Stockholm, unter dem Titel »Samuel August från Sevedstorp och Hanna i Hult«
Veröffentlicht mit Zustimmung von Rabén & Sjögren Agency, Stockholm
In deutscher Übersetzung erstmalig erschienen 1977 im Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg
Deutsch von Anna-Liese Kornitzky
Auslandsrechte vertreten durch The Astrid Lindgren Company AB, Lidingö, Schweden. Mehr Informationen unter info@astridlindgren.se
www.astridlindgren.com
www.astrid-lindgren.de
E-Book-Umsetzung: Arhebis Digital Systems, Timisoara, Rumänien, 2019
ISBN 978-3-86274-474-9
www.oetinger.de
www.oetinger.de/ebooks
Harry Martinson hat ein Gedicht geschrieben, das mir sehr gefällt. Es beginnt so: »Gedenk ich der Mägde der Kindheit …« Vieler verschiedener gedenkt er:
Da war die gitarrenklagende Himmelsmagd,
auch die schlampige Tanzlüsterne gab es.
Und die schnippische Matrosenmagd,
Fetischanbeterin der Marineuniformen.
Seltsamer aber war des Herbstdunkels verzaubert Schmachtende,
die sich bückte und pumpte, bückte und pumpte,
die milchbrüllende Alfa-Laval.
Spiegelndes Herdfeuer
in staunenden Augen.
So eine milchbrüllende Zentrifuge, Marke Alfa-Laval, hatten wir auch in unserer Küche, als ich noch Kind war, und an diese »Alfa-Laval« erinnerte ich mich deshalb, weil ich einmal feststellen wollte, was mit meinem Mittelfinger geschieht, wenn ich ihn in diesen kleinen, sich im Separator drehenden Kreisel steckte.
Dass der Finger mehr oder weniger zu Mus werden würde, war mir klar, trotzdem wollte ich mich davon überzeugen, ob es wirklich so war. Und schau an, es war wirklich so! O ja, an die »Alfa-Laval« erinnere ich mich noch gut! Besser aber noch an die Mägde, die sie bedienten. Ja, auch ich gedenke der Mägde der Kindheit. Und es stimmt schon, wenn Martinson sagt:
viele Mägde saßen
mit hängenden Seelen,
viele auch voller Stolz, wundersam kinderliebe Frauen
mit brummig melodischen Stimmen,
murmelnd wie aus Mythen.
Genauso war es, und was haben diese wundersam kinderlieben Frauen nicht für alle die bedeutet, denen ihr mythisches Gemurmel die Kinderohren füllte. Ausschließlich mystisches Gemurmel war es im Übrigen nicht, die Mägde der Kindheit lehrten uns in klaren Worten auch das eine oder andere, was nicht in Büchern zu lesen war.
Als Kind hatte man nicht Verstand genug, ihnen für ihre Fürsorge dankbar zu sein, sondern trieb mit ihnen, soweit ich mich erinnern kann, nur Unfug: lief, ohne zu überlegen, mit nassen, schmutzigen Stiefeln über ihre frisch gescheuerten Küchendielen, machte sich mit dummen, selbst erdachten Witzen über ihre verschiedenen Bräutigame lustig, brachte sie bis zur Weißglut dadurch, dass man in ihren Liebesbriefen herumschmökerte und ausgewählte Stellen kichernd vorlas – »Oh, einen glühenden Kus auf deine rosa roten Lippen drüken«, hihi, der kann ja wohl nicht bei Trost sein –, und das Allerschlimmste, in kindlicher Grausamkeit und Einfalt brachte man sie um ihre spärlichen Liebesstunden, die es ja nur dann geben konnte, wenn die Brotgeber abends einmal irgendwo eingeladen waren. Nur dann konnte ein Bräutigam in der stockfinsteren Küche Einlass finden, nur dann konnte das Liebespaar auf der Küchenbank sitzen und sich ungestört ein wenig liebkosen. Ungestört, na, ich danke! Dann kamen nämlich auf nackten Füßen die Bälger aus ihren Betten angetapst, plötzlich stand in jedem Winkel eins. Sie schlichen und krochen kichernd umher, und wurden die Plagegeister endlich erwischt und von einer rasenden Furie aus der Küche gejagt, sodass die weißen Nachthemden nur so flatterten, dann erstickten sie fast vor quiekendem Gelächter, denn sie nahmen natürlich an, dass sie, die sie jagte, das alles ebenfalls höchst vergnüglich fand. Dass sie dies glaubten, ist auch das Einzige, was sich zu ihrer Entschuldigung sagen lässt.
Aber nicht nur die Mägde waren kinderlieb, die Knechte waren es oft nicht minder. Viele der Knechte und Mägde meiner Kindheit waren ja in einem Alter, da sie schon ein eigenes Heim hätten haben müssen und eigene Kinder, denen sie ihre Zärtlichkeit schenken konnten. Nun mussten sie sich mit den Kindern des Hofes begnügen, und nicht selten wählten sie sich eins aus der Schar aus, das sie besonders ins Herz schlossen und mit kleinen Gaben bedachten, wohl um das Gefühl zu haben, jemandem etwas zu bedeuten. Viel nannten sie ja nicht ihr Eigen, meistens nicht einmal einen Schlafplatz. Die Knechtekammer bei uns war eine Giebelstube über der Tischlerwerkstatt. Dort standen zwei Ausziehbetten, wo sich bisweilen vier Knechte, so gut es nun ging, den Platz teilen mussten. Die Magd oder die Mägde – oft waren es zwei – schliefen im Winter auf der Ausziehbank in der Küche und im Sommer oben auf dem Dachboden in einem Klappergestell von Bett, das wir »Die Schubse« nannten. Einen Winkel, der ihnen allein gehörte, hatten sie nicht. Aber sie teilten Freud und Leid mit der Familie und kamen wohl gar nicht auf den Gedanken, sich ein anderes oder besseres Los zu wünschen als die Knechte oder Mägde sonst. Ich denke an sie mit Zuneigung, an sie und all die anderen, die dazu beigetragen haben, meine Kindheit zu dem zu machen, was sie gewesen ist. Es waren viele, denn als ich Kind war, kurz bevor die Zeit der Häusler und Instleute zu Ende ging, wurden in einem landwirtschaftlichen Betrieb noch viele Hände gebraucht. Sie kamen aus ihren Katen und Hütten, um bei uns als Tagelöhner zu arbeiten. Ja, das hört sich an, als handele es sich um ein großes Gut, aber das war es beileibe nicht. Es war nur ein ganz normaler kleiner Pachthof der Pfarrei, und wenn ich sage, dass ich als Kind »viele« Menschen um mich hatte, so meine ich das im Vergleich zu heutigen Kindern, egal ob auf dem Lande oder in der Stadt. Für ein Kind war es interessant und lehrreich, mit Menschen unterschiedlicher Art und Eigenheiten und Altersgruppen aufzuwachsen. Von ihnen lernte ich – ohne dass sie oder ich es gewusst hätten –, dass das Leben Bedingungen unterworfen ist und wie schwierig es manchmal ist, Mensch zu sein. Aber auch andere Dinge lernte ich von diesen Menschen, denn nur weil vielleicht zufällig ein Kind in der Nähe war, nahm man damals kein Blatt vor den Mund. Und meine Geschwister und ich, wir waren in der Nähe, denn wir mussten ihnen ja den Kaffee aufs Feld bringen. An diese Kaffeepausen erinnere ich mich am besten, daran, wie sie alle am Feldrain saßen, Kaffee tranken, ihre Butterbrote hineintunkten und über so mancherlei ihre Gedanken austauschten. Viele kluge Worte schnappte man da auf, und ich weiß nicht, warum mir manche all die Jahre hindurch so beharrlich in Erinnerung geblieben sind, wo so viel anderes für immer vergessen ist. Warum zum Beispiel erinnere ich mich bis in alle Ewigkeit an Fregges vernichtendes Urteil über Eisenmedizin, als man den Nutzen derartiger Arzneien einmal diskutierte? »Bleib mir doch vom Leib mit Eisenmedutzin«, sagte Fregge. »Man scheißt ’n bisschen schwärzer die ersten Tage, das ist auch alles!«
Und das soll eine Kindheitserinnerung sein, die hervorzukramen sich lohnt? Nein, vielleicht nicht. Aber viele meiner Erinnerungen bestehen aus derartigen Äußerungen, und sie helfen mit, mich der Menschen, die sie taten, und der Situation, in der sie fielen, zu entsinnen.
Manchmal wurde in diesen Kaffeepausen auch über Politik geredet, denn es war ja die Zeit des Ersten Weltkrieges. Die meisten hielten es mit den Deutschen und glaubten, sie würden gewinnen. Als aber in der Zeitung stand, dass wir in Schweden den Engländern nicht erlauben wollten, auf Gotland Kohlenvorräte anzulegen, da fand Svente, unser alter Kuhknecht, dass man die Ungefälligkeit denn doch ein bisschen weit treibe. »Was gibt’s denn da groß zu reden, sollen die da doch ruhig ’n bisschen Kohle lagern«, sagte er und sah wohl an irgendeinem Plätzchen ein Kohlenhäuflein vor sich, wo es nicht direkt im Wege war.
Rundum in den kleinen Hütten wohnten auch solche Leute, die dem Leben in den Augen eines unwissenden und neugierigen Kindes Farbe und Saft und Kraft verliehen. Wir gingen mit größtem Vergnügen »auf Besuch«, ungebeten und wann es uns einfiel. Man brauchte nur ein Stückchen durch den Wald zu laufen, dann kam man nach Stenbäcksroten, wo es in den winzigen Stuben nur so von Leben wimmelte, das uns unfassbar interessant erschien. Viele Stiefkinder des Kirchspiels wohnten dort, viele von der Sorte, die in den Kirchenbüchern als »verarmt« geführt wurden und die sich durchschlagen mussten, so gut es ging. Aber auch andere gab es da wohl, denen es ein wenig besser ging. Vor allem gab es da Ida in Liljerum und Mari in Vendladal. Sie wohnten nebeneinander in zwei kleinen Häuschen, und sie beide überfielen wir am liebsten. Uns erschienen sie wie liebe, alte Mütterchen aus einem Märchen, und suchten wir sie heim, bewirteten sie uns auch märchenhaft mit Waffeln und Gitarrenspiel. Aber in den Märchen gab es ja auch böse Hexen, und das war in Stenbäcksroten nicht anders. Unmittelbar neben den Guten wohnten die Bösen. Es waren die »Kaffeeweibsen«, die, so hieß es, durch allzu hemmungsloses Kaffeetrinken den Verstand verloren hatten. Die Kaffeeweibsen hassten Kinder, das wussten wir. Wenn man ihre Häuschen auch nur mit dem Finger antippte, kamen sie herausgestürzt und verbrühten einen mit kochendem Wasser, auch das wussten wir. Und darum schlichen wir dort ständig herum und tippten mit dem Finger an ihre Häuser, ja, denn wir mussten doch feststellen, ob das stimmte. Dann aber nahmen wir Reißaus und wetzten so schnell zu Ida in Liljerum, dass den Kaffeeweibsen kaum Zeit blieb, das Wasser aufzusetzen.
Sogar eine »Jungfer Untugendsam« gab es in Stenbäcksroten, eine gutmütige, fröhliche Seele, die dauernd lachte und alle Kinder, die sie bekam, hegte und pflegte. Wir kannten sie, weil sie zu Hause bei der großen Wäsche half. Tauchte dort hin und wieder eine Mannsperson auf und strich um das Waschhaus herum, verließ sie ihren Zuber für ein Weilchen und sagte nach ihrer Rückkehr zufrieden:
»Nee, wie leicht man sich doch ’ne Krone verdienen kann!«