Wolfgang Reinhard

Von Mächten und

Menschen

15 kurze Weltgeschichten


© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Aktualisierte Neuausgabe des Buches

Die Nase der Kleopatra

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlagmotiv: © akg-images

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print: 978-3-451-07215-4

ISBN E-Book: 978-3-451-81891-2

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch

1. Kapitel:

Die Nase der Kleopatra, oder: Was ist Geschichte?

2. Kapitel:

Gewalt in der Geschichte

3. Kapitel:

Die Griechen und die Erfindung von Politik und Demokratie

4. Kapitel:

Die Römer, ihr Reich und ihr Recht

5. Kapitel:

Die Erfindung der Germanen

6. Kapitel:

Christliches Mittelalter und christliches Abendland?

7. Kapitel:

Luther, oder: Der Kampf ums Überleben

8. Kapitel:

Glaube, Wahn und Wissen in der Neuzeit

9. Kapitel:

Columbus und der Rest der Welt

10. Kapitel:

Völkermörder und Sklavenhändler

11. Kapitel:

Der Aufstieg des modernen Staates in Europa

12. Kapitel:

Revolution

13. Kapitel:

Herren der Welt

14. Kapitel:

Welt der Herren

15. Kapitel:

Wir sind das Volk

Über den Autor

Bildnachweise

Über das Buch

Wolfgang Reinhard erzählt Weltgeschichte in kurzen, spannenden Kapiteln. Er berichtet von der Erfindung der Demokratie bei den Griechen, von der Entstehung des Germanenmythos, von der tatsächlichen Christlichkeit des Mittelalters, von den Folgen der Entdeckung Amerikas aus Sicht der ­Ureinwohner oder von den großen Linien der deutschen ­Geschichte im 20. Jahrhundert. Wolfgang Reinhard schaut immer hinter die Kulissen weltgeschichtlicher Ereignisse und Vorgänge und lehrt den Leser vor allem jenes grundsätzliche Misstrauen gegenüber allen einfachen Erklärungen, das einen guten Historiker ebenso auszeichnet wie einen guten Kommissar.

1. Kapitel

Die Nase der Kleopatra, oder: Was ist Geschichte?

Kleopatras Nase: Wenn sie kürzer gewesen wäre, das gesamte Gesicht der Erde sähe anders aus. Diese bemerkenswerte Feststellung findet sich nicht bei Asterix, sondern bei dem Philosophen Blaise Pascal (1623–1662). In der Tat, nach Münzen und anderen bildlichen Darstellungen hatte diese ägyptische Königin (51–30 v. Chr.) und Geliebte römischer Machthaber als Familienerbe eine lange spitze Nase und ein spitzes Kinn. Wir wissen allerdings weder, woher Pascal das wusste, noch, wie er sich den alternativen Ablauf der Weltgeschichte vorstellte. Aber eines ist klar: Mit seinem flotten Spruch bringt Pascal Politik und Geschichte auf ihren kritischen Punkt. Denn deren Ergebnisse gehen tatsächlich weniger auf großmaßstäbliche Planung und sachbezogene Entscheidung zurück, als auf sachfremden und kleinkarierten Einfluss beteiligter Personen. So hat Kleopatra VII. ihre wankende Herrschaft mit Hilfe ihrer Liebhaber stabilisieren können. Weil solche Einflüsse oft im Dunkel bleiben, glauben Zeitgenossen gerne an Verschwörungen. Zwar sind in der Tat immer vielerlei Leute hinter den Kulissen tätig, regelrechte Verschwörungen über gelegentliche Absprachen hinaus gibt es dennoch eher selten. Statt den Lauf der Welt mit Verschwörungen zu erklären, erhellt die Geschichtswissenschaft deswegen die Vorgänge hinter den Kulissen.

Abb. 1: Kleopatra VII. auf einer Münze aus Alexandria

Ein jüngeres Beispiel: Am 18. Januar 1871, dem Jahrestag der ersten preußischen Königskrönung 1701, wurde nach dem Sieg über Frankreich im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles König Wilhelm I. von Preußen zum Deutschen Kaiser ausgerufen und damit das Deutsche Reich gegründet. Das kann man überall lesen. Darüber hinaus meist noch einiges über die vorangegangenen Verhandlungen und Verträge mit den übrigen deutschen Staaten, durch die dieser Schritt möglich wurde. Wenig oder gar nichts erfährt man allerdings über den entscheidenden Schachzug des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck zur Überwindung des bayerischen Widerstandes, denn König Ludwig II. von Bayern wollte eigentlich selbstständig bleiben. Aber Ludwig war infolge seiner Bauleidenschaft, der wir Neuschwanstein und andere Märchenschlösser verdanken, weitgehend pleite. Großzügige Finanzspritzen aus Bismarcks schwarzer Kasse, dem Vermögen des 1866 von Preußen enteigneten Königs von Hannover, führten aber einen Sinneswandel herbei. Ludwig II. schrieb Wilhelm I. einen Brief und forderte ihn auf, den Kaisertitel anzunehmen. Damit hatte Bismarck zusätzlich seinen König ausgetrickst, dem dieser Titel eigentlich widerstrebte. Die Quittungen für die Zahlungen aus seinem »Reptilienfonds« hat Bismarck übrigens alle vernichtet.

Geschichte – das sind eben nicht nur die »Haupt- und Staatsaktionen«, das »Staatshandeln«, wie man heute sagt, das entweder großen Leuten oder anonym den Staaten zugeschrieben wird: Bismarck gründet das Deutsche Reich und »Frankreich« verliert den Krieg … Geschichte – das ist zunächst einmal das kleine, häufig kleinliche und bisweilen korrupte Handeln vieler Beteiligter, die ihren eigenen Interessen folgen. Denn auch die »Großen« haben vor allem ein Interesse, nämlich an der Macht zu bleiben. Das bringt vielerlei Gewinn oder macht einfach Spaß. Frau Merkel ist gerne Bundeskanzlerin, konnte man in der Presse lesen.

Aber Geschichte ist noch mehr. In manchen Büchern sucht man vergebens nach dem 18. Januar 1871. Stattdessen erfährt man dort etwas über Wirtschaft und Gesellschaft, über den deutschen Zollverein, der die Reichsgründung vorbereitet hat, über die Zunahme der deutschen Bevölkerung, über Auswanderung und Industrialisierung. Geschichte – das sind auch wirtschaftliche und soziale Strukturen und Konjunkturen.

Doch damit noch nicht genug. In Versailles war der Maler Anton von Werner dabei und konnte Skizzen von den Beteiligten anfertigen. Daraus wurde ein großes Gemälde, das Wilhelm I. als Geschenk der deutschen Fürsten zum 80. Geburtstag 1877 erhielt. Es ist im Zweiten Weltkrieg im Berliner Schloss verbrannt, aber es gibt eine ganze Reihe weiterer Fassungen, deren Abänderungen zeigen, dass zwar die Personen getreu abgebildet wurden, ihre Gruppierung aber nicht die geschichtliche Wirklichkeit wiedergibt, sondern vom Maler komponiert ist. In der letzten Fassung aus dem Bismarckschloss Friedrichsruh steht der Kaiser links erhöht, neben ihm der Großherzog von Baden, sein Schwiegersohn, der gerade das »Hoch« auf ihn ausbringt, nachdem Bismarck die Proklamation verlesen hat. Bismarck selbst steht im Mittelpunkt. Er trägt den Orden Pour le Mérite und ist durch seine weiße Kürassieruniform von den übrigen Anwesenden abgehoben. In Wirklichkeit war er damals blau uniformiert und den Orden erhielt er erst später. Daneben wird der Kriegsminister Roon abgebildet, der in Wirklichkeit wegen Krankheit nicht hatte teilnehmen können. Das eigentliche Thema ist aber der Begeisterungssturm der ausnahmslos uniformierten Anwesenden, die ihre gezückten Degen nach oben recken. Die Parlamentarier, die auch beteiligt waren, sind nicht zu sehen. Die Botschaft ist klar: das neue Deutschland ist das Werk Bismarcks, der Fürsten und des siegreichen Militärs. Und die Antwort blieb nicht aus: Nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde die deutsche Delegation von den Siegern am 18. Januar 1919 im selben Spiegelsaal zur Friedenskonferenz vorgeladen.

Geschichte – das ist also auch die wirkmächtige Bedeutung, der Sinn, den Menschen den historischen Tatsachen mit mancherlei Mitteln oder Medien zu geben wissen. Tatsachen können aber auch um ihrer Bedeutung willen verschwiegen werden, und es gibt sogar solche, die aus diesem Grund erfunden werden. Denn die Bedeutung von Geschichte liegt auch in der Geschichte ihrer Bedeutung.

Wir haben demnach bereits vier verschiedene Geschichten kennengelernt: Geschichte der Staatsaktionen von Institutionen und Würdenträgern – Geschichte der interessengeleiteten Handlungen unzähliger beteiligter Menschen – Geschichte als statistische Summe aus allen Handlungen, das heißt Strukturen und Konjunkturen – Geschichte als Geflecht symbolischer Bedeutungen. Geschichte als Einheit von allem ist aber ohnehin eine neue und künstliche Vorstellung. Eigentlich gibt es nämlich eine unendliche Zahl von Geschichten auf verschiedenen Feldern. Als zeitliche Felder werden üblicherweise antike, mittelalterliche, neuere und neueste Geschichte unterschieden, wobei die ungefähren Grenzen 600, 1500, 1800 aber ziemlich willkürliche Konventionen darstellen. Sachliche Felder sind die Geschichten von Männern und Frauen, von Verhalten und Denken, von Sprache und Recht, von Politik und Religion, von Wirtschaft und Gesellschaft, von Kunst und Literatur und so fort.

Räumlich gesehen ist Geschichte von Haus aus Geschichte des eigenen Nationalstaats. Der Historiker Leopold von Ranke hat Nationalstaaten als »Gedanken Gottes« bezeichnet. Das läuft gerne auf die Rechtfertigung der Geschichte des eigenen Staates hinaus. Allerdings lässt sich das nach Auschwitz in Deutschland nicht länger durchhalten; andere Länder haben ähnliche Probleme. Stattdessen ist heute europäische, amerikanische, afrikanische, asiatische oder gar Globalgeschichte angesagt; der Vergleich verschiedener geschichtlicher Kulturen soll neue Erkenntnisse über das Erbe der Menschheit ermöglichen. Doch führt die Masse des Stoffes zur Spezialisierung, sodass niemand genügend Sachverstand für ein so großes Ganzes beanspruchen kann. Die Bewältigung der Aufgabe durch Zusammenarbeit von Spezialisten scheitert aber an der nach wie vor maßgebenden nationalstaatlichen Orientierung der meisten Historiker, die nicht zuletzt auch in den nach-kolonialen Staaten Nationalgeschichte als ihre Bürgerpflicht ansehen. Auch wir werden vom vertrauten Feld der deutschen und europäischen Geschichte ausgehen müssen, wollen aber versuchen, dabei die Augen für anderes offen zu halten.

Dabei kommt uns die Vielfalt der Geschichte zu Hilfe, weil sie zu verschiedenen Perspektiven führt. Wir müssen ja zwei Bedeutungen von »Geschichte« unterscheiden: einerseits vergangene Geschichte als unseren Gegenstand, andererseits Geschichte als Abkürzung für »Geschichtswissenschaft« oder, kürzer, »Historie«. Unterscheiden heißt freilich nicht trennen, denn das ist unmöglich. Einerseits gehört die Entwicklung der Geschichtswissenschaft zur Geschichte unserer Kultur; ihr gegenwärtiger Zustand, auf den ich jetzt zu sprechen komme, ist Ergebnis der jüngsten Geschichte. Auf der anderen Seite ist Geschichte nicht unmittelbar vorhanden wie ein Stein oder ein Baum, sondern nur als Konstruktion der Geschichtswissenschaft. Freilich keine beliebige Konstruktion, sondern eine Re-Konstruktion, die erstens auf die Hinterlassenschaft der Vergangenheit als unverzichtbaren Rohstoff angewiesen ist und zweitens nach bestimmten Regeln unter Kontrolle stattfindet. Kontrolliertes Vorgehen nach Regeln ist aber das Wesen von Wissenschaft überhaupt.

Auf verschiedenen Feldern sind verschiedene Zweige der historischen Wissenschaften mit eigenen Institutionen entstanden: Geschlechtergeschichte, Technikgeschichte, Ideengeschichte, Medizingeschichte und so fort. Dabei haben sich vier Richtungen herausgebildet, die den vier verschiedenen Geschichten entsprechen, die wir zuerst kennengelernt haben. Am ältesten ist die traditionelle Geschichtswissenschaft, die sich mit großer Politik und großen Ideen befasst. Begonnen haben wir allerdings mit dem Klein-Klein des politischen Alltags, dessen gezielte Untersuchung jüngeren Datums ist. Sie hat als Reaktion auf die Geschichte von Strukturen und Konjunkturen den handelnden Einzelmenschen wieder zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht, allerdings nicht mehr den großen Mann auf offener Bühne, sondern den kleinen Mann und die kleine Frau hinter den Kulissen. Die Untersuchung anonymer Strukturen und Konjunkturen von Wirtschaft und Gesellschaft hatte sich an den Sozialwissenschaften orientiert. In Deutschland nannte sie sich »Historische Sozialwissenschaft«. Die Impulse kamen allerdings aus Frankreich, England und den USA. Ebenso für die post-moderne neue Kulturgeschichte, die sich ebenfalls von den Strukturen und Konjunkturen abgewendet hat und sich auf die Entschlüsselung der symbolischen Bedeutung geschichtlicher Befunde konzentriert. Sie beansprucht auch die Bezeichnung »Historische Anthropologie«, die allerdings auch umfassender als Geschichte der Regeln menschlichen Verhaltens betrieben wird. Philosophische und biologische Anthropologie machen stattdessen Allgemeinaussagen über den Menschen als solchen.

Der Rohstoff, aus dem Geschichtswissenschaft Geschichte (re-)konstruiert, besteht aus Informationen unterschiedlicher Herkunft über die Vergangenheit, in der Sprache der Historiker »Quellen«. Das sind Informationsträger, die dem geschichtlichen Sachverhalt möglichst nahestehen, also nicht etwa ein Buch, das Neues über die Reichsgründung herausfindet, oder – eine Ebene weiter von der Sache weg – ein Handbuch, das unser Wissen darüber zusammenfasst. Dergleichen nennt man im Gegensatz zu den (Primär-)Quellen wissenschaftliche (Sekundär-)Literatur. Eine Quelle wäre stattdessen ein Brief König Ludwigs II. von Bayern oder auch dessen Skelett, dem man heute eine Fülle von Informationen über den Verstorbenen entnehmen könnte.

Eine Quelle wäre auch das Gemälde der Kaiserproklamation, auf den ersten Blick für das Ereignis und die sorgfältig porträtierten Teilnehmer, auf unseren zweiten Blick aber vor allem für die Bedeutung, die der Maler ihm im Interesse der maßgebenden Leute geben wollte. Diesen zweiten Blick nennen wir Quellenkritik. Er ist das wichtigste Geschäft des Historikers. Quellenkritik ist übrigens auch bei Fotos und Filmen nötig, die keineswegs im Gegensatz zu sorgfältig komponierten Gemälden als unmittelbare Wiedergabe historischer Wirklichkeit gelten dürfen. Das ist nicht nur dann nötig, wenn aus einem offiziellen Foto des russischen Revolutionärs Lenin nachträglich dessen Genosse Trotzki wegretuschiert wurde, als letzterer in Ungnade gefallen war. Es gilt nicht minder zu beachten, wer oder was überhaupt fotografiert wurde oder nicht – etwa von Kriegsberichterstattern im Irakkrieg. Das Fernsehen zeigt keineswegs Politik pur, sondern konstruiert ebenfalls Geschichten.

Ein wichtiges quellenkritisches Prinzip besteht in grundsätzlichem Misstrauen gegen Quellen, die gezielt zur Erinnerung geschrieben sind. In Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen«, die das Geschichtsbild lange in seinem Sinne geprägt haben, tauchen mikropolitische Manöver wie die Bestechung Ludwigs II. nirgends auf, und der Bankier Gerson Bleichröder, einer der wichtigsten Beteiligten an derartigen Operationen, wird nur einmal beiläufig in unverfänglichem Zusammenhang erwähnt. Misstrauen ist aber nicht nur bei Verdacht auf Geschichtsfälschung angesagt, sondern gegenüber jeder menschlichen Gedächtnisleistung. Warum sollten historische Zeitzeugen zuverlässiger sein als Zeugen vor Gericht, deren widersprüchliche Erinnerungen einen Richter zur Verzweiflung treiben können, auch wenn sie noch so guten Willens sind? Nicht wir lügen, sondern unser Gehirn belügt uns!

Deswegen brauchen Interviews mit Zeitzeugen oder Trägern mündlicher Überlieferung besonders viel misstrauische Kontrolle. Denn diese sogenannte Oral History ist sowohl in der Zeitgeschichte als auch in der afrikanischen Geschichte, wo es an schriftlichen Quellen fehlt, unentbehrlich. Aber wir wissen inzwischen, dass mündliche Überlieferung meist nicht neutrales Wissen über Vergangenheit weitergibt, sondern aktuelle Deutung der Vergangenheit im Dienste der Gegenwart. Selbstverständlich tut auch die Geschichtswissenschaft häufig nichts anderes, aber sie tut es zumindest nicht unkontrolliert.

Traditionell hat die Geschichtswissenschaft daher stets mehr Vertrauen in Quellen gesetzt, die keine Geschichte erzählen wollen, sondern anderen Zwecken dienen sollten oder einfach zufällig übrig geblieben sind. Wir nennen sie deshalb »Überreste«. Natürlich können auch sie für jene Zwecke manipuliert sein, aber derartige Eingriffe lassen sich oft mit anderen Stücken identifizieren und korrigieren. Wenn zum Beispiel in den 1960er Jahren aus den Personalakten baden-württembergischer Beamter die Fragebögen zur Entnazifizierung planmäßig entfernt wurden, dann gibt es immer noch die Akten der Entnazifizierung selbst, wo sich die entsprechenden Informationen erheben lassen. Akten aller Art sind daher die wichtigsten Überreste, aber Bodenfunde, etwa Skelette, gehören auch dazu. Denn die verschiedenen Zweige der Archäologie sind ebenfalls historische Wissenschaften. Insbesondere für ältere Perioden der Geschichte sind wir auf sie angewiesen.

Aber nicht nur der Umgang mit Überresten aller Art verlangt umfassende Spezialkenntnisse – zum Beispiel für ältere Akten Beherrschung der betreffenden Schriften, Abkürzungen, Rechenverfahren, für jüngere Akten Kenntnis der Verwaltungsgeschichte und des Personals. Auch erzählende Quellen sind oft nicht ohne Weiteres zugänglich. Man muss wissen, wovon die Rede ist, die altertümliche oder fremde Sprache der Quelle beherrschen oder zumindest die Bedeutung wesentlicher Begriffe kennen, herausfinden, was fehlt und warum und so fort. Kurzum, man muss übersetzen, zum Teil wörtlich aus dem Latein des Mittelalters in unsere Sprache, in jedem Fall im übertragenen Sinn aus dem Denken einer anderen Zeit in unser Denken. »Übersetzen« heißt lateinisch »interpretari«, griechisch »hermeneuein«. Daher nennt man das Verfahren, wie man Quellen zum Sprechen bringt, »Interpretation« oder »Hermeneutik«. Es wird auch in Sprach- und Literaturwissenschaften benutzt; aus diesem Grund hieß es früher die »historisch-philologische Methode«.

Heute sind ganze Philosophien daraus geworden, vor allem seit die post-moderne »linguistische Wende« der Wissenschaften Befunde aller Art radikaler denn je auf sprachliche Bedeutung reduziert. Es ist zwar richtig, dass auch Befunde aus Akten, Statistiken, Skeletten und sogar aus naturwissenschaftlichen Experimenten sprachlich interpretiert werden müssen. Es gibt also eine Hermeneutik im engeren, textgebundenen und im weiteren, sachverhaltbezogenen Sinn. Aber die Beschränkung auf die Sprache ohne Rücksicht auf den sachlichen Rohstoff, über den gesprochen wird, macht die Interpretation beliebig: Der Sprecher entscheidet, was er sagen und schreiben will. Hier endet die Wissenschaft, die in Kontrolle besteht. Erstens behalten die Quellen ein Vetorecht gegen alle Interpretationen. Zweitens sorgt der Neid der Kollegen dafür, dass dieses Vetorecht mit aller Strenge ausgeübt wird.

Nichtsdestoweniger lässt sich auch hier mit der Nase Geschichte machen. Wenn am Anfang die Nase der Kleopatra als Chiffre für den häufig übersehenen mikropolitischen Charakter der Geschichte stand, dann steht am Ende »eine Nase dafür haben« als wichtige Voraussetzung der Geschichtswissenschaft. Denn durch Begabung und Erfahrung haben gute Historiker einen »Riecher« für interessante Probleme, wichtige Quellen und schlüssige Interpretationen. Freilich, was sie auf diese Weise »gerochen« haben, müssen sie anschließend fehlerfrei vor den Quellen und den Kollegen beweisen. Dann erst ist Wissenschaft daraus geworden!