Für Elise

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Mit 39 Abbildungen

© 2017 Heinz Schott

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 9783744875776

Vorwort

Lange habe ich nach einem geeigneten Titel für meinen Essay gesucht. Schließlich fiel mir das Spiel „Himmel oder Hölle“ ein. Ich kann mich daran erinnern, dass wir es als Kinder hin und wieder gespielt haben. Dabei wird ein Papier so gefaltet, dass zwei kreuzweise angeordneten Spalten entstehen. Die Wände der einen Spalte werden rot, die der anderen blau gefärbt. Mit einer Handbewegung zeigt er Spieler seinem Gegenüber, der das Papierkunstwerk hält, auf die zu öffenende Spalte. Zeigen sich deren Wände blau, kommt er in den Himmel, zeigen sie sich rot, kommt er in die Hölle. Das Sexualleben, nicht zuletzt in Form der bürgerlichen Ehe, wird häufig als ein Glücksspiel aufgefasst, das dem von „Himmel oder Hölle“ entspricht: Man hat zwar die Wahl, aber was herauskommt ist Zufall – und eher Hölle als Himmel, gängiger Stoff für Ehedramen und Liebesgeschichten. In Literatur und Kunst ist Sexualität als Ursache gescheiterter Beziehungen, also die „Hölle“, zumeist ein interessanterer Gegenstand als jene Sexualität, die Glück, also den „Himmel“, bedeutet. Dem entspricht die verbreitete Meinung, dass der Mensch sexuellem Begehren und Getriebensein auf Gedeih und Verderb ausgesetzt sei und dieses allenfalls um den Preis seiner Vitalität und Gesundheit unterdrücken könne. Die Vorstellung, dass Sexualität so gelenkt und gemeistert werden kann, dass sie Vitaltiät und Gesundheit steigert, erscheint dagegen weniger populär.

Meine Betrachtungen als Medizinhistoriker resümieren die Ergebnisse langjähriger Forschungen. Erste Überlegungen zur Ideengeschichte der Sexualität stellte ich bereits vor mehr als drei Jahrzehnten an. So eindrucksvoll die psychoanalytisch inspirierten Sexualtheorien und davon abgeleitete Sexualpraktiken damals in den studentenbewegten Jahren auch waren – vor allem Wilhelm Reich wurde seinerzeit intensiv diskutiert –, so unbefriedigend erschienen sie mir in ihrer geistigen und poetischen Substanz. Eine faszinierende Gegenwelt schienen dagegen utopisch erscheinende Sexualkonzepte zu versprechen, welche die geistige Führung des Geschlechtstriebs propagierten und die man im Allgemeinen der „Sexualmagie“ zuordnet. Insofern scheint mein Ansatz „idealistisch“ zu sein: Er hat hat keine Scheu, Gebiete der Theologie und Mystik zu berühren und den Begriff des Geistes ins Spiel zu bringen.

Dieser Essay lebt von Zitaten und Anspielungen. Deren Quellen müssen selbstverständlich exakt angegeben werden. Dabei konnte ich aus pragmatischen Gründen die Fußnoten leider nicht vermeiden. Sie beschränken sich auf die bibliografischen Angaben. Wird aus einer Schrift im jeweiligen Kontext mehrfach zitiert, sind die betreffenden Seitengaben in der Reihenfolge der Zitate angefügt.

Dieses Buch ist kein Gesundheitsratgeber, kann aber gleichwohl eine Orientierung für die Lebensführung geben. Es will auch keinen Beitrag zur Sexualethik liefern, obwohl es voller ethischer Implikationen steckt. Dem Leser bleibt es überlassen, inwieweit er aus dem Gelesenen praktische Konsequenzen für sein eigenes Leben ziehen kann und will. Als Autor möchte ich es mit einem Zitat aus Goethes „Faust“ halten, welches auch der Selbstanalytiker Sigmund Freud wie eine Schutzformel in seinem Hauptwerk „Die Traumdeutung“ ins Feld führte:

„Das Beste, was du wissen kannst,

Darfst du den Buben doch nicht sagen.“

Bonn, im Frühling 2017Heinz Schott

Inhalt

  1. Geschlechtstrieb: Der gefährliche „Trieb der Natur“
  2. Normen der Sexualwissenschaft und Sexualmedizin
  3. „Sexuelle Revolution“ und biologische Verblendung
  4. Unio mystica als religiöse Liebesvereinigung
  5. Der Topos von der „Heiligen Hochzeit“
  6. Erotische Magie und ihr Glücksversprechen

Liebe ist die melodiöseste aller Harmonien, und eine Ahnung davon ist uns allen angeboren. Die Frau ist ein köstliches Instrument der Lust, aber man muß die erzitternden Saiten kennen, muß lernen, wie es anzusetzen ist, wie mit wechselndem Fingersatz die Töne zu meistern sind.

Honoré de Balzac: Physiologie der Ehe (1820)

Die Schwerkraft des Geistes läßt uns nach oben fallen.

Simone Weil: Schwerkraft und Gnade

(niedergeschrieben vor dem Mai 1942)

Wenn der Mann seine Liebe nur auf eine Frau richtet und eine Frau die ihre nur auf einen Mann, was bleibt dann an Liebe für die ganze übrige Welt?

Mahatma Gandhi: Brahmacharya oder Keuschheit (1932)

Versuche einen Roman zu schreiben. Du vermagst es nicht? Dann versuch es mit einem Theaterstück. Du kannst es nicht? Dann mach eine Aufstellung der Börsebaissen in New York. Versuch, versuch alles. Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay.

Ignaz Wrobel [Kurt Tucholsky]: Die Essayisten (1931)

Einleitung

Sex, dieses einsilbige Wörtchen mit nur drei Buchstaben, hat im Laufe des 20. Jahrhunderts – man denke an die „Sexbombe“ im klassischen Hollywoodfilm – eine steile Karriere gemacht. Es berührt menschliches Leben schlechthin, wobei wir in unserem Essay von der Sexualität bei Pflanzen und Tieren absehen wollen. „Sex haben“ entspringt wohl dem englischen Ausdruck to have sex und wurde früher mit dem heute altmodischen klingen Ausdruck „Geschlechtsver kehr ausüben“ bezeichnet. Wenn etwas als sexy charakterisiert wird, so hat das gewöhnlich mit Sexualität im engeren Sinne ebenso wenig zu tun wie das inzwischen äußerst beliebte Adjektiv „geil“. In der Regel aber verweist das Wörtchen Sex – zumindest in der heutigen Umgangsprache – auf geschlechtliche Interaktionen zwischen Individuen. Diese können recht verschiedene Formen annehmen und haben auch im Laufe der Menschheitsgeschichte verschiedene Formen angenommen. Sex bedeutet also die konkrete Ausprägung der Sexualität in einem bestimmten sozialhistorischen Kontext.

Die Sexualität gehört zu den schwierigsten Kapiteln der Menschenkunde. So tut sich die medizinisch oder philosophisch ausgerichtete Anthropologie schwer, „Sexualität“ begrifflich zu fassen. Eine Bewertung scheint alle Zeitalter zu überdauern und trotz aller biologischer und psychosozialer Erkenntnisse auch heute noch vorherrschend: Sexualität erscheint als Trieb der Natur und als solcher irrational, von biologischer Gesetzmäßigkeit bestimmt und deshalb vom Verstand kaum beeinflussbar. Dieser Trieb scheint alles überrennen zu wollen, was ihm im Wege steht, und sich wie ein Herrscher in seinem Reich aufzuführen. Hier stellt sich dann die Frage: Bedeutet Sexualität ein Sperrgebiet für den menschlichen Geist? Gleicht jene nicht einem verminten Schlachtfeld, auf dem dieser letztlich verloren ist, wenn er es betritt?

Merkwürdigerweise wurden und werden diese Fragen in letzter Konsequenz bejaht. Der Geschlechtstrieb wurde traditionell dem dunklen und gefährlichen Unterleib des Menschen zugeordnet, dort, wo der Teufel eine Eintrittspforte finden konnte, während Geist, Verstand, Vernunft im hellen Oberleib, insbesondere Herz und Hirn, lokalisiert wurden. Diesem gefährlichen Feind im Unterleib galt es Paroli zu bieten, ihn zu bändigen und in seine Schranken zu weisen. Selbst Sigmund Freud bediente sich noch dieses Modells, um seine spezielle Neurosenlehre aus der Sexuallehre abzuleiten: Zum Aufbau und zur Erhaltung der Kultur hatte der Mensch seine Sexualität zu unterdrücken. Dies aber führte zu seiner unauflösbaren Tragik: seiner Neurose, die darin bestand, dass sich der Sexualtrieb eben nicht besiegen ließ und nur mühsam in Schach gehalten werden konnte – um den Preis neurotischer Krankheitssymptome. Freilich war Freud im Gegensatz zu fast allen seiner Anhänger raffiniert genug, um dieses einfache Unterdrückungsmodell zu verflüssigen: Der Geschlechtstrieb, die „Libido“ oder Sexualenergie konnte sublimiert werden, ließ sich also in kulturelle Leistung verwandeln. Die „Sublimierung“ spielte metaphorisch auf die alchemistische Stoffverwandlung und -veredlung an. Doch auch dieser Begriff der Sublimierung bestätigt letztlich die traditionelle Auffassung von Sexualität. Sie ist das urtümliche Reich der Lebenskraft, die zwar verfeinert, sublimiert werden kann, aber dadurch zugleich die Vitalität des kulturell gezähmten Menschen einschränkt und ihn zum Neurotiker macht. Freud setzte, was den meisten Interpreten entgangen ist, nicht am Sexualleben unmittelbar an. Sublimieren bedeutete für ihn also nicht eine veränderte Sexualpraktik, sondern eine Verschiebung der Energie auf kulturelle Leistungen.

Die „sexuellen Revolutionen“ im 20. Jahrhundert blieben in diesem Modell der unterdrückten Sexualität befangen. Letztere sollte sich endlich von den Fesseln befreien, sich ungehindert von sozialen Tabus ausleben können. Die Akteure konnten sich auf ein scheinbar zwingendes Argument berufen: Die Unterdrückung der Sexualität mache krank und schwach, das Ausleben emanzipiere von den bürgerlichen Normen und mache gesund und stark. Was bestimmte Vordenker propagiert hatten, etwa in der Lebensreformbewegung um 1900 und dann mit sozialrevolutionärem Elan in der Zwischenkriegszeit, wurde nun in den 1960er und 1970er Jahren zum Evangelium erhoben. Es kam zu einer unreflektierten Neo-Romantik, die der menschlichen Natur gegen den normativen Zwang der Gesellschaft zu ihrem Recht verhelfen wollte. Freilich waren diese Bestrebungen bei genauerem Hinsehen vielmehr der biologistischen Doktrin – etwa im Sinne eines Wilhelm Reich –, als irgendeiner romantischen Naturphilosophie – etwa im Sinne eines Novalis – verpflichtet. Mit anderen Worten: Sex wurde nun in allerlei Spielarten „emanzipatorisch“ praktiziert und war Teil eines mehr oder weniger revolutionären Kampfes, der sich gegen bürgerliche Normen, kapitalistische Zwänge oder gar faschistische „Panzerungen“ richtete. Über dieses Schlachtfeld hatte der menschliche Geist zwar die Oberaufsicht, insofern er das Terrain mit ideologischer Schärfe absteckte, einen direkten Zutritt hatte er jedoch nicht. Denn in das sich quasi automatisch entladende Sexleben sollte er sich keinesfalls einmischen. Denn Sexualität erschien ja per se unterdrückt und sollte sich endlich aus den kulturellen Fesseln befreien.

Mein Essay stellt diese einseitige Auffassung der Sexualität und das aus ihr abgeleitete Sexualverhalten in Frage. In den ersten drei Kapiteln untersuche ich die traditionelle und letztlich auch heute noch vorherrschende Auffassung von Sexualität, die als Ausdruck einer natürlichen Triebhaftigkeit begriffen wird, deren Spannung in einem biologischen Reflexvorgang aufgelöst werden sollte; in den letzten drei Kapiteln stelle ich anhand von historischen Zeugnissen dar, wie das Sexualleben möglicherweise durch die „Macht des Geistes“ willkürlich zu einer Quelle von Mitmenschlichkeit und Glück verwandelt werden kann.

Die traditionelle Auffassung von Sexualität als „Trieb der Natur“ erblickte im menschlichen Geist eine Art Zuchtmeister, der die Peitsche schwingen muss, um der sexuellen Unzucht Herr zu werden. Die „sexuellen Revolutionen“ im 20. Jahrhundert haben zwar den Zuchtmeister zurückgepfiffen, aber keine grundsätzlich neue Auffassung von Sexualität als Naturtrieb hervorgebracht, sondern diese eher noch radikalisiert: Befreiend und gesund schien nun die von geistiger Beeinflussung ungehemmt praktizierte Sexualität. Mein Essay verfolgt eine umgekehrte Perspektive. Ich gehe nicht von der (unbestreitbar vorhandenen) Macht des Naturtriebs und seiner unwillkürlichen Physiologie aus, um von dieser Grundlage aus alle weiteren Überlegungen zu entwickeln, sondern von der Macht des menschlichen Geistes, willkürlich in die physiologischen Vorgänge einzugreifen und diese zu modellieren. Selbstverständlich sind geistigen Kräften – wie auch körperlichen – Grenzen gesetzt. Aber wo liegen sie konkret? Wie ernsthaft versucht der einzelne Mensch, diese Grenzen auszuweiten oder sie kontrolliert zu überschreiten?

Mein Essay schildert also einen Perspektivwechsel. Ich scheue mich, diesen großmundig als einen Wechsel von der Natur zum Geist zu deklarieren, da ich mich nicht auf das Feld der gelehrten Philosophie vorwagen möchte. Aber auf meinem eigenen Gebiet der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte gibt es genügend Anhaltspunkte, um einen solchen Perspektivwechsel tatsächlich plausibel zu machen. Ich stütze mich dabei vor allem auf mein Buch „Magie der Natur“, dessen letzten sieben Kapitel unter der Überschrift stehen: „Eros – Liebeszauber zwischen Sex und Mystik“. Mein Essay geht jedoch über die betreffenden Ausführungen hinaus, indem er die Thematik neu strukturiert und thesenartig zuspitzt. Wenn meine Betrachtungen provozierend wirken und zu Diskussionen führen, umso besser.

1. Kapitel

Geschlechtstrieb: Der gefährliche „Trieb der Natur“

Bevor der Begriff der Sexualität im 19. Jahrhundert allgemein in die medizinische Terminologie eingeführt wurde – von einer „Sexualität der Pflanzen“ ist in der Botanik schon um 1700 die Rede –1, sprach man von „Naturtrieben“ oder „Naturinstinkten“ und unterschied dabei zwischen den von Gott gewollten und den widernatürlichen, sündhaften. Bereits in der frühen Neuzeit wurde somit das Raster für die moderne Einteilung in normales und pathologisches Sexualleben vorgegeben. Was als normal galt, wurde mit der von Gott gegebenen „Natur“ und ab dem 19. Jahrhundert zunehmend mit der von den biologischen Naturgesetzen abgeleiteten „Physiologie“ begründet. Mit dem Degenerationsgedanken und der rassenbiologisch argumentierenden Zivilisationskritik am Fin de siècle breitete sich ein moderner Topos der medizinischen Anthropologie aus: Die Zivilisation mache krank und stelle selbst eine Krankheit dar. Nietzsche und Freud spitzten diesen Topos auf ihre je eigene Weise zu. Ersterer erblickte in der Unterdrückung der physiologischen Lebendigkeit durch die „asketischen Priester“ die Ursache für die „moderne Krankheit“ schlechthin, Letzterer machte die Unterdrückung der Sexualtriebe durch kulturelle Verbote für die alle Menschen betreffende „Neurose“ verantwortlich. Beide Ansätze begriffen Krankheit nicht als eine pathologische Normabweichung von der gesunden Normalität, sondern behaupteten, dass alle Menschen mehr oder weniger krank seien und sich in ihrer Symptomatik nur graduell voneinander unterscheiden würden. Man befand sich eben im „Zeitalter der Nervosität“.2

Natürliches und perverses Sexualleben

In der frühen Neuzeit wurde das, was man ab dem 19. Jahrhundert als „Sexualität“ oder „Sexualleben“ bezeichnete, zumeist unter „Natur-Trieb“ oder „Trieb der Natur“ abgehandelt. In Zedlers Universallexikon, dem enzyklopädischen Standardwerk des 18. Jahrhunderts, ist von einem speziellen „Lust-Trieb“ die Rede, den man nicht per se verpönte, sondern in gewissen Schranken als zweckvolle Sonderform akzeptierte.3 Interessant sind die lateinischen Synonyme zu „Natur-Triebe“ oder „Triebe der Natur“: instinctus naturae, stimuli naturae oder auch – nach dem Sprachgebrauch der Stoiker – prima naturalia. Gott habe gewollt, dass der Mensch nicht nur erhalten werde, sondern auch „unter sich vergnügt und ruhig leben“ solle. So habe er dem Menschen drei unterschiedliche „Lust-Triebe“ gegeben: den Lust-Trieb zu essen, zu trinken und zu schlafen; sodann den, Kinder zu erzeugen, zu lieben und zu erziehen; und schließlich den Lust-Trieb „die Wahrheit zu erfinden“ und „sich untereinander zu lieben“. Diesen gottgefälligen natürlichen Lust-Trieben werden andere Lust-Triebe gegenübergestellt, die zwar auch natürlich, aber nicht gottgefällig seien und sich erst nach dem Sündenfall eingestellt hätten, wie „Schaden-Froh“, „Ehr-Geitz“ und „Geld-Geitz“. Da die Menschen den natürlichen, d. h. göttlichen Zweck der Lust-Triebe aus den Augen verloren hätten, seien sie zu „schändlicher Wollust, Hurerey, Völlerey und dergleichen“ verkommen. Daraus ergibt sich die Leitlinie, dass man den Lust-Trieben nur „mit gehöriger Mäßigung“ nachhängen dürfe.

Diese Leitlinie der Mäßigung der Triebe und der Wollust im Sinne einer natürlichen Lebensordnung und gesunden Lebensführung wurde um 1800 von Christoph Wilhelm Hufeland, dem berühmten Arzt der Goethezeit, am wirkungsvollsten vertreten. Typisch für die von der Aufklärung bestimmte Einstellung gegenüber den zu bändigenden Trieben sind auch die Ausführungen des Leipziger Philosophen Karl Heinrich Heydenreich. Er geißelte die Entkoppelung des Geschlechtstriebes von der Vernunft, was „Wollüstlinge“ und „entartete Wesen“ hervorbringe.4 Seine Klage war typisch für seine Zeit: „woher denn die ungeheure Schaar der jungen Wollüstlinge unsrer Zeit, woher die zahllosen unzeitigen Geburten von Männern, die […] Debauche [ausschweifendes Gelage] und thierische Lust zu ihrem Systeme gemacht haben?“ Er beklagte das Hervortreten des „Thieres im Menschen“ und sah eine tödliche Gefahr für die menschliche Gattung, wenn der Geschlechtstrieb missbraucht und „unnatürlich“ befriedigt werde. Die einzige zulässige Form der Befriedigung dieses Triebes erblickte er „in einem wohleingerichteten häuslichen Leben“ zum pflichtgemäßen Zwecke einer geglückten Fortpflanzung. Das Verderben der gegenwärtigen Gesellschaft liege darin, den „heiligen Trieb der Natur“ nur zu einem frivolen Spiel zu missbrauchen. Der Geschlechtstrieb sei „zu einem Spielwerke für unsere spaßhafte Laune“ gemacht, „mehr und mehr verunedelt“ worden. Der Autor ging von einem natürlichen Kontrast zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht aus. Die Frauen hätten ihre häuslichen Pflichten zu erfüllen: „sie dienen dann eben so treu der Natur, und haben so viel Verdienst, als der Mann, wenn er für den Staat kämpft oder einen Planeten entdeckt.“

Die normative Vorgabe war eindeutig, Abweichungen von der Geschlechterrolle konnten klar definiert werden: Es gebe „eine Menge Carrikaturen [sic] oder wohl gar förmlicher Unwesen“. Eine solche „Geschlechtskarrikatur [sic]“ sei „ein weibischer Mann und ein männisches Weib“. Obwohl Heydenreich Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht auf den sich gerade entfaltenden Mesmerismus einging und stattdessen auf die „Einbildungskraft“ abhob, enthielt seine Darstellung der Geschlechterbeziehung Momente des animalischen Magnetismus, insbesondere die Vorstellung von Verschmelzung und Sympathie. Durch die Einbildungskraft „verschmelzen in den schönen Momenten der Sympathie Mann und Weib, und Weib und Mann in ein ander; sie vermittelt es, daß ihre Wesen sich identificiren, daß sie geistig Eins sind, daß im Ich das Du, und im Du das Ich liegt.“ Der Autor endete in zerrütteten Verhältnissen, das von ihm beschworene häusliche Lebens- und Liebesglück blieb ihm selbst versagt.

Um 1900 wurde die Sexualität wissenschaftlich erforscht und wurde physiologisch als Naturvorgang im menschlichen Organismus aufgefasst, der nach biologischen Gesetzen abläuft. Anders ausgedrückt: Sex wurde naturalisiert oder biologisiert und somit zum Gegenstand der naturwissenschaftlichen Betrachtung. Diese wurde in der Medizin zum Maßstab für alle Bewertungen des Sexuallebens und alle therapeutischen Maßnahmen, seine Störungen zu beheben und pathologische Abweichungen zu bekämpfen. Die Naturalisierung der Erotik, das heißt die Reduktion der Geschlechterrollen auf die biologisch fixierten Unterschiede, war gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einem Hauptwerk der neu entstehenden Sexualmedizin bzw. Sexualwissenschaft mustergültig zu beobachten. Der Wiener Psychiater Richard von Krafft-Ebing definierte in seinem einflussreichen Werk „Psychopathia sexualis“ den Natur-Trieb in seinen geschlechtsspezifischen Varianten lapidar: „Ohn Zweifel hat der Mann ein lebhafteres geschlechtliches Bedürfniss als das Weib. Folge leistend einem mächtigen Naturtrieb, begehrt er von einem gewissen Alter an ein Weib. […] Dem mächtigen Drange der Natur folgend, ist er aggressiv und stürmisch in seiner Liebeswerbung.“5 Anders sei das Weib veranlagt. „Ist es geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein. Jedenfalls sind der Mann, der das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenusse nachgeht, abnorme Erscheinungen.“ Somit unterscheide sich das Weib in der Wahl des Lebensgefährten fundamental vom Mann: Des Weibes „seelische Richtung“ sei „eine monogame, während der Mann zur Polygamie hinneigt.“

Für Krafft-Ebing war die stärkste Wurzel der Liebe die Sinnlichkeit und die Platonische Liebe galt ihm als „ein Unding, eine Selbsttäuschung“. Da die Liebe also sinnliches Verlangen voraussetze, sei sie „normaliter nur denkbar zwischen geschlechtsverschiedenen und zu geschlechtlichem Verkehr fähigen Individuen. Fehlen diese Bedingungen, so tritt an die Stelle der Liebe die Freundschaft.“ Krafft-Ebing hing der in der damaligen Psychiatrie vorherrschenden Theorie an, dass alle geistigen und seelischen Störungen durch pathologische Hirnprozesse verursacht seien und dass es die Aufgabe der Hirnforschung sei, die entsprechenden Funktionen bzw. Funktionsstörungen im Gehirn zu lokalisieren. In dieser Perspektive der „Gehirnpsychiatrie“, wie sie dann in der Medizingeschichtsschreibung genann wurde, formulierte er lapidar: „Der Sexualtrieb als Fühlen, Vorstellung und Drang ist eine Leistung der Hirnrinde. Ein Territorium in dieser, das ausschliesslich sexuale Empfindungen und Dränge vermittelte (Centrum des Geschlechtssinns), ist bis jetzt nicht nachgewiesen.“

Diese normative Fixierung des „naturgemäßen“ Sexualverhaltens war unerbittlich, wie Krafft-Ebing als führende Autorität auf diesem Gebiet verkündete. Alles, was sich diesem Sexualverhalten nicht fügte, galt als eine „Perversion“: „Als pervers muss – bei gebotener Gelegenheit zu naturgemässer geschlechtlicher Befriedigung – jede Aeusserung des Geschlechtstriebs erklärt werden, die nicht den Zwecken der Natur, i. e. der Fortpflanzung entspricht.“ Dies betraf vor allem die Homosexualität oder „conträre Sexualempfindung“. Das Erstaunliche sei, dass – anders als beim Zwitter – „vollkommen differenzierte Zeugungsorgane“ vorhanden seien, „so dass also, gleichwie bei allen krankhaften Perversionen des Sexuallebens, die Ursache im Gehirn gesucht werden muss (Androgynie und Gynandrie).“ Homosexualität gehörte also demnach ebenfalls zu den „Gehirnkrankheiten“. Die homosexuelle Einstellung, „diese eigenartige Geschlechtsempfindung“, erschien Krafft-Ebing als „ein funktionelles Degenerationszeichen und als Theilerscheinung eines neuro(psycho)pathischen, meist hereditär bedingten Zustands“. Vielfach lasse sich dieser Zustand auch durch „anatomische Entartungszeichen“ bemerken, fast immer sei „Neurasthenie“ nachweisbar. „Geweckt und unterhalten wird sie durch Masturbation oder durch erzwungene Abstinenz“, sodass sich eine „Neurasthenia sexualis“ ausbilde, die sich „in reizbarer Schwäche des Ejaculationscentrums“ kundgebe.

Die Ärzte im ausgehenden 19. Jahrhundert fühlten sich nicht weniger zur Volksbelehrung und Volkserziehung berufen wie ihre Vorgänger unter dem Einfluss der Aufklärung 100 Jahre zuvor. Dies galt vor allem für die Psychiater, die es als ihre politische Mission ansahen, gegen Alkoholismus, Degeneration, Sittenverfall (auch in politischer Hinsicht) sowie sexuelle Unarten und Perversionen zu Felde zu ziehen. Positive Vorbilder des richtigen, d. h. naturgemäßen Lebens sollten in der Öffentlichkeit für eine vernünftige Lebensführung gerade auf dem Gebiet des Geschlechtslebens werben. Paradigmatisch für dieses Vorhaben war das umfangreiche Werk „Die sexuelle Frage“ des Zürcher Psychiaters Auguste Forel.6 Als volkstümliches Aufklärungsbuch und Gesundheitsratgeber erlebte es seit seinem Erscheinen 1905 in knapp vier Jahrzehnten zahlreiche Auflagen. Im Geiste des ausgehenden 19. Jahrhunderts verschmolz Forel alle maßgeblichen Strömungen der Zeit zu einem klaren Plädoyer für die „Einführung des biologisch-wissenschaftlichen Geistes […] in den Massen der Menschheit“. So stützte er seine Argumentation auf Fortpflanzungsbiologie, Evolutionslehre, Ethnologie, sexuelle Psychopathologie, Suggestionslehre, soziale und politökonomische Verhältnisse, Sexualhygiene und last but not least auch auf sozial- und sexualreformerische Ideen, wie etwa die „sozialrechtliche Gleichstellung der Frau“. Der Mann dürfe Frau und Kinder eben nicht als „Besitz oder als Naturgegenstände“ betrachten. Er wandte sich also dagegen, die von ihm durchweg betonten natürlichen bzw. biologischen Geschlechtsunterschiede zur Legitimation sozialer Ungleichheit heranzuziehen.

Der Geschlechtstrieb war auch für Forel primär ein Naturtrieb zum Zwecke der Fortpflanzung. Naturtriebe aber seien „tiefererbte Instinkte, die weit in die Stammesgeschichte unserer Tierahnen zurückreichen.“ So gehöre die geschlechtliche Liebe des Menschen zur „Großhirnseele“ und beruhe auf „einer sekundären Ausstrahlung des tierischen Sexualtriebes“. Damit kehrte Forel – entgegen seiner sozialreformerischen Ideen – wieder zur klassischen Rollenzuschreibung zurück, die offenbar biologisch ein für alle Mal im sexuellen Rollenverhalten fixiert zu sein schien: der aktive Mann gegenüber der passiven Frau. „Beim Mann, als dem aktiven Teil im Begattungsakt, ist die direkte sexuelle Begierde, d. h. die Begierde zum Koitus, zunächst am stärksten. Sie entwickelt sich auch bei ihm am spontansten, denn seine Rolle bei der Begattung ist ja seine wichtigste sexuelle Betätigung. Auch strahlt dieselbe gewaltig in sein Seelenleben herein, obwohl sie darin eine viel geringere Rolle spielt als beim Weibe.“ Demgegenüber unterschied sich in den Augen Forels die Frau beim Geschlechtsakt wesentlich vom Mann, „nicht nur durch die ihr zufallende natürliche Passivität bei der Begattung, sondern durch das Fehlen des Vorganges der Samenentleerung.“ Immerhin gestand er der Frau einen gewissen analogen Vorgang zu. Zwar gebe es bei ihr keine Anhäufung von Samen, aber doch „im Zentralnervensystem eine Art Ansammlung des libidinösen Triebes bei längerer Enthaltung.“ Die biologischen Unterschiede bestimmten in dieser Sicht die unterschiedlichen Verhaltensweisen. So mache die geringere Körperkraft und -größe der Frau, „verbunden mit ihrer passiven Rolle bei der Begattung, […] die Sehnsucht nach einer kräftigen Stütze infolge einer natürlichen Anpassung durchaus erklärlich.“ Und schließlich der Schlüsselsatz in diesem Zusammenhang: „Im allgemeinen sind die Frauen noch größere Sklavinnen ihrer Instinkte und Gewohnheiten als die Männer.“

Das Ausleben des Geschlechtstriebs sollte vor allem eugenischen Zielen nicht widersprechen. Um diesen gerecht zu werden, wurden sogar gewisse Perversionen in Kauf genommen. So war die „Sodomie“ oder „Bestialität“, der sexuelle Umgang mit Tieren, in den Augen Forels „eine der harmlosesten Formen der pathologischen Verirrungen des Sexualtriebs“. Denn es werde beim Geschlechtsverkehr mit großen Tieren niemand geschädigt und keine Nachkommenschaft oder Infektion riskiert. „Es ist für die menschliche Gesellschaft wohl doch besser, wenn ein Idiot oder ein Schwachsinniger sich an einer Kuh sexuell vergeht, als wenn er ein Mädchen schwängert und für Weitererzeugung von Idioten sorgt; die Kuh frißt gemütlich weiter und alles bleibt beim alten.“

Forels „utopische Gedanken über die Zukunftsehe“ am Ende seines Werkes enthalten lebenspraktische Ratschläge. Diese kreisen um zwei Techniken. Einerseits um die „Kunst, lange zu lieben“, sozusagen um eine erotische Variante von Hufelands „Makrobiotik“. Hierbei ging es dem Autor vor allem um das Problem, wie „verirrte Liebesleidenschaft in das Ehebett zurückgeleitet“ werden kann – durch „geistige“ oder „höhere Liebe“, welche die sexuelle zu begleiten habe. Andererseits sollte die Kunst der Ablenkung hierzu dienen: „Die Arbeit sowie die Verfolgung sozialer Lebensideale sind und bleiben die gesündeste Ablenkung für den Geschlechtstrieb. Müßiggang, Luxus und großstädtische Sittenkorruption sind es besonders, die den Geschlechtstrieb durch einseitige Züchtung als Selbstzweck zur individuellen Entartung führen, wie man es bei den Helden beider Geschlechter in modernen Romanen sieht. Außerdem frischt die Arbeit die Liebe auf und läßt zum Ehestreit wenig Zeit.“ Forels Plädoyer für „Arbeit“ erscheint hier als ein sexualpädagogisches Analogon zu Sebastian Kneipps „Abhärtung“ durch die Kaltwasserkur. Es kam am Fin de siècle zu einer Liaison zwischen Psychiatern und Naturheilkundlern, schienen doch die die Methoden der Naturheilkunde und insbesondere Badekuren die allenthalben vermutete „Nervenschwäche“ (Neurasthenie) beheben zu können.

Forels großes Aufklärungsbuch liest sich wie ein Kompendium der Sexualwissenschaft unter dem Vorzeichen des Biologismus und seiner sozialhygienischen (rassenhygienischen) Zielsetzung, den „Verfall unserer Rasse“ nicht tatenlos hinzunehmen. Der Geschlechtstrieb wurde in dieser Perspektive als Naturtrieb evolutionsbiologisch begriffen. Als eingeborenen Instinkt konnte man ihn nur mit psychologischen oder geistigen Mitteln in Schach halten und idealer Weise durch „Arbeit“ von ihm ablenken. Die romantische Idee, Sexualität mit kosmischen oder religiösen Weiterungen in Beziehung zu setzen, lag Forel und seiner Generation fern.

Onanie als Quelle allen Übels

Das Klischee von der Leib- und Lustfeindlichkeit des Christentums wird bis heute eifrig gepflegt. Vor allem die Unterdrückung der Sexualität wird dabei beklagt, die gesundheitsschädigende Auswirkungen habe. Ab den 1950er Jahren wurden Störungen, die man der triebfeindlichen Erziehung nach rigiden Vorgaben der Kirche zuschrieb, als Symptome der „ekklesiogenen Neurose“ angesehen.7 Ein herausragendes Zeugnis hierfür stellte der autobiografische Bericht „Gottesvergiftung“ des Psychoanalytikers Tilmann Moser dar.8 Doch bei aller Kritik einer kirchlich verordneten Sexualmoral sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass die „Triebfeindlichkeit“ seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert primär nicht mehr von Religion und Kirche, sondern von Medizin und Gesundheitspolitik ausging. Das Sexualverhalten geriet wie andere Lebensbereiche ins Visier der Medizin und wurde zum Gegenstand der Gesundheitspolitik, was heute als „Medikalisierung der Gesellschaft“ bezeichnet wird. So ging die heftig geführte Debatte über die Onanie und ihre Gefährlichkeit, die im 18. Jahrhundert in Gang kam, nicht von einer Moralkampagne katholischer Priester aus, sondern entsprang einem Feldzug aufgeklärter Ärzten für die Volksgesundheit. Diese argumentierten zum einen physiologisch im Sinne der Humoralpathologie, wonach der Verlust an Samenflüssigkeit (der dem Schleim, dem phlegma im Gehirn zugeordnet wurde) sowie die übermäßige Nervenreizung eine „Rückenmarksdarre“ verursachten. Zum anderen argumentierten sie psychologisch im Sinne der Imaginationslehre, wonach wollüstige Einbildungen zu Verirrungen des Geistes und des Körpers führen würden. Das Schreckgespenst der Onanie als Krankheit verursachendes Übel verschwand letztlich erst mit der „sexuellen Revolution“ in den 1960er Jahren. Kirchen- bzw. religionskritische Autoren wie Tilmann Moser traten just da auf den Plan, als die Medizin selbst sich wandelte und ihren dogmatischen Paternalismus in Frage stellte. Die Lehre von der „ekklesiogenen Neurose“, die ja durchaus eine gewisse Plausibilität hat, sollte den historischen Rückblick auf die nicht weniger problematische „iatrogene Neurose“ verstellen, die von einem – gerade auf sexuellem Gebiet – extrem normativen Menschenbild der Medizin ausging. Denn „Perversionen“ wurden insbesondere von der Psychiatrie unerbittlich gegeißelt und Homosexualität und Onanie oft in einem Atemzug als solche „Perversionen“ oder Kennzeichen der „Psychopathie“ gebrandmarkt.

Der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Thomas Laqueur lässt die Debatte über die Schädlichkeit der Onanie mit dem Jahr 1712 beginnen, als in England die anonyme Schrift „Onania or the Heinous Sin of Self-Pollution“ erschien.9 Das Buch sei „von einem Quacksalber und Pornografen aus Profitstreben verfasst“ worden, den er namentlich identifizieren könne: John Marten, „der 1708 wegen Obszönität verklagte Chirurg und Quacksalber.“10 Die deutsche Übersetzung erschien in der Erstauflage 1736 unter dem Titel „Onania oder die Sünde der Selbst-Befleckung, mit allen ihren entsetzlichen Folgen“.11 Die Wirkung dieser Schrift war offenbar beachtlich, wurde sie doch bereits wenige Jahre später in dem betreffenden Band von Zedlers „Universal-Lexicon“ im Artikel „Selbst-Befleckung“ als eine Hauptquelle ausführlich zitiert12 – 17 Jahre vor dem Erscheinen der klassischen Schrift „L’Onanisme“ des Lausanner Arztes Samuel-Auguste Tissot.13 Bereits lange zuvor wurde dem großen Publikum das Schreckenspanorama dieser „Sünde“ ausgemalt, die auch als „Onania“ und „Crimen onanitium“ bezeichnet wurde. Crimen war in jener Zeit ein Synonym für „Laster, Übelthat, Missethat, Verbrechen“, wobei die Onanie als ein Crimen occultum, ein „heimlich und verborgen Laster“ aufgefasst wurde.14 Als verwerflich galt, dass sich die betreffenden Personen „in ihren Gedancken bemühen, der Natur nachzuäffen“ und sich die Empfindung selbst verschaffen, die Gott verordnet habe, um die „fleischliche Vermischung“ zum Zwecke der Fortpflanzung „angenehmer“ zu machen.15 Mit Hinweis auf den biblischen Onan (Gen 18,9-10) wurde der zutiefst sündhafte Charakter der Onanie herausgestellt. „Die Selbst-Befleckung ist nicht nur eine Sünde wider die Natur, sondern auch eine solche Sünde, so die Natur umkehret, und gleichsam ausrottet, und wer sich deren schuldig machet, der bemühet sich um den Untergang seines Geschlechts, und suchet gleichsam der Schöpfung selbst Schaden zuzufügen.“

Als besondere Ursachen – abgesehen den „Ursachen der Unreinigkeit überhaupt“ wie „ärgerliche Bücher, böse Gesellschaft, […] unzüchtige Gespräche“ – wurden drei genannt: (1) die Unwissenheit über die „Erschrecklichkeit des Lasters“, seine die Gesundheit ruinierenden Folgen; (2) die „Heimlichkeit dieser Sünde“, die ohne Zeugen begangen wird; und (3) die „fälschlich eingebildete Straflosigkeit“, da das Laster nicht, wie die Hurerei, Geld koste und eine Ansteckungsgefahr mit sich bringe. Der Katalog der „erschrecklichen Folgen und Plagen“ ist lang und betrifft beide Geschlechter. Es sei hier nur eine Auswahl von Stichwörtern wiedergegeben: Verhinderung des Wachstums bei beiden Geschlechtern; bei Männern und Knaben werden u. a. Phimosen, Strangurien, Priapismus, Gonorrhöen, Ohnmachten, Fallsucht, Schwindsucht, körperliche Abzehrung, Penisschwäche, Unfruchtbarkeit, kränkliche und schwache Kinder genannt; bei Frauenzimmern führe die Onanie zum Ausfluss, zu bleichem bzw. schwarzgelbem und bleifarbenem Aussehen, hysterischem Paroxysmus, „Mutter-Beschwerung“, Abzehrung des Leibes und Unfruchtbarkeit. Der Artikel in Zedlers „Universallexicon“, der mit einer religiösen Brandmarkung des Lasters begonnen hat, greift diese im Schlussteil noch einmal auf und verstärkt sie: Dieses Laster, die „Gewohnheit der Unreingkeit durch die Selbst-Befleckung“, sei besonders gefährlich, da sie den anderen, wie Ehebruch und Hurerei, den Weg bahne. Im Grunde können auch alle andern Laster von der „ersten Schooß-Sünde“ hervorgerufen werden, wie Lügen, Schwören, „ja vielleicht Mord und Todtschlag.“ Es erscheint auf den ersten Blick paradox und absurd, dass die Onanie just im Zeitalter der Aufklärung ihre intensivste und penetranteste Unterdrückung erfuhr. Die tatsächliche Durchschlagskraft des Onanie-Verbots verdankte sich wie gesagt weniger theologischen Verdikten, als vielmehr der strikt medizinischen Argumentation, welche die schrecklichen Folgen der Sünde für Leib und Leben im Diesseits höchst dramatisch auf der öffentlichen Bühne darzustellen wusste und diese performance im Namen der Wissenschaft mit religiöser Sündenrhetorik einrahmte.

Wie bereits erwähnt, veröffentlichte der Arzt und medizinische Schriftsteller Samuel Auguste Tissot schließlich 1860 seine berühmte Abhandlung „L’Onanisme“. Im selben Jahr erschien bereits die erste Ausgabe der deutschen Übersetzung unter dem Titel „Versuch von denen Krankheiten, welche aus der Selbstbefleckung entstehen“.16 Auf der Rückseite des Titelblatts ist folgende bedrohlich klingende Strophe des Friedrich Rudolph Ludwig Freiherrn von Canitz zu lesen, die in der französischen Ausgabe fehlt und von der originalen Fassung an einer Stelle abweicht:

„Wenn schnöde Wollust dich erfüllt,

So werde durch ein Schrökenbild

Verdorrter Todenknochen

Der Küzel unterbrochen.“

Bei dem 1699 gestorbenen Diplomaten und Lyriker von Canitz lautet der erste Vers (aus den „Geistlichen Gedichten“ entnommen): „Wenn schnöde Wollust mich erfüllt“. 17 Das reuevolle In-sich-Gehen wurde vom Tissot-Übersetzer zur pädagogischen Ermahnung anderer umgemünzt. Diese Verse erschienen auch in leicht veränderter Schreibweise als Legende zu einem Kupferstich, der in einer 1787 erschienenen Abhandlung gegen die Onanie als Frontispiz vorangestellt wurde.18 (Abb. 1) Es zeigt einen Erzieher, der seinen Zögling vor einem Skelett schwören lässt. Ein solches setting, das an den Einsatz von Skeletten zur Abschreckung in der Irrenheilkunde erinnert, war im ausgehenden 18. Jahrhundert offenbar beliebt. Der Pietist Georg Sarganeck schrieb: „Ich kenne einen Freund, der ein Sceleton oder Totengerippe von einem Weibsbilde, so ihrer Unzucht und Kindsmordes wegen am Leben erst vor 5 Jahren bestraft worden, besitzet und selbiges zu dergleichen Vorstellungen für sich und ander gebrauchet.“19 Mit diesem Bild illustrieren übrigens heutige Autoren im Bereich der Kulturwissenschaften gerne ihre Studien zur Geschichte der Sexualität.20

Zurück zu Tissot: Er schilderte vor allem eigene Fallbeispiele für krank machende, ja tödliche Ausschweifung bzw. Onanie, etwa die Geschichte eines älteren Mannes, der wegen zu häufigen Beischlafs mit seiner jüngeren Frau zu Tode gekommen sei: „Ich kenne einen sehr gelehrten aber dabei zärtlichen und pflegmatischen [sic] Mann / der in seinem neun und fünfzigsten Jahre eine junge und sehr geile Frau heurathete, in der dritten Woche nach der Hochzeit von wegen des allzufleißigen Beischlafs in eine plözliche und gänzliche Blindheit verfallen ist / in dem vierten Monat gieng er den Weg alles Fleisches.“21 Die Schreckensbilder der Onanie bzw. der sexuellen Ausschweifung gleichen denen, die uns bereits in Zedlers „Universallexicon“ begegnet sind. Interessant ist Tissots Schilderung der weiblichen Onanie und seine Begründung ihres geringeren Gefahrenpotenzials. Die Frauen bewegten sich sozusagen im Windschatten der Männer. Zunächst stellte er fest, „daß auch selbst das schöne Geschlecht von der Schändlichkeit der Selbstbefleckung nicht völlig frei ist“, wobei ihm die „weibliche Schändung, welche mit dem Küzler geschiehet“, besonders am Herzen lag. Aber Frauen seien sowohl durch übermäßigen Geschlechtsverkehr als auch durch Onanie weniger gefährdet als Männer, was eine physiologische Ursache habe, „weil der sogenannte weibliche Samen keine belebende Kraft hat, mit weit weniger Zubereitung und Umständen abgesondert wird, und von geringerem Werth ist, als der rechte Hoden-Samen der Männer“. Immerhin zählte Tissot eine Reihe von Krankheiten auf, welche durch weibliche Onanie hervorgerufen würden: „grausame Mutter [Gebärmutter] Beschwerden, peinliches [schmerzhaftes] Zuken, die gelbe Sucht […], grose und hartnäkige Verstopfung des Leibes, […] weisen Flus [Scheidenausfluss], […] die geile Wuth [Nymphomanie]und dergleichen mehr.“

In diesem Zusammenhang wäre die Aufklärungsschrift des sozialmedizinisch interessierten Arztes Bernhard Christoph Faust zu erwähnen, der bis 1785 in Rotenburg an der Fulda praktizierte: „Wie der Geschlechtstrieb der Menschen in Ordnung zu bringen und die Menschen besser und glücklicher zu machen“. Die Gewährsleute des Autors waren Tissot und Rousseau. Er prangerte die Selbstbefleckung als das größte Übel an und sah in ihr ein Zeichen des allgemeinen Sittenverfalls. Seit zwei Generationen seien Zucht und Ordnung angesichts von Üppigkeit, Wollust und Weichlichkeit verloren gegangen. „Ginge dies fürchterliche um sich greifende Uebel, in eben der Progression, mit der es angefangen hat, steigend fort: so würde es um das Menschengeschlecht, das schon jetzt so sehr verfallen ist, bald gänzlich gethan seyn.“22 Er meinte, die weibliche Ordnung bzw. Unordnung würde dem männlichen Vorbild folgen. Deshalb müsse man die erste und größte Sorge auf das männliche Geschlecht verwenden: „Mit dem männlichen kommt auch das weibliche Geschlecht in Ordnung.“ Sein Rezept war die „Abhärtung“, das auch die Forderung nach Abschaffung der Kopfbedeckung einschloss. Faust schlug in einem umfangreichen Kapitel eine detaillierte Kleiderordnung vor, eine „Landesordnung über künftige einförmige Kleidung der Kinder der Landleute“. Der Zweck dieser Uniformierung war, die Geschlechtsteile „vorzüglich des männlichen Geschlechts, in den ersten 14 bis 15 Jahren des Lebens kühl und frei zu halten“ und die Kinder „wieder in den Stand der Kindheit einzusetzen – und so einen Anfang zur Ordnung und zum Glück im Menschengeschlechte zu machen“.

Faust schickte sein Buch an zahlreiche „weise, edle Männer“ in Europa, darunter auch an den Naturforscher und Jakobiner Georg Forster und den Anatomen Samuel Thomas Sömmerring. Er legte es pathetisch vor dem „Altar der Menschheit“ nieder, was er entsprechend illustrierte – ein schönes Beispiel für die Sakralisierung profaner Naturwissenschaft, die sich dann in ihren Laboratorien des 19. Jahrhunderts im „Tempel der Wissenschaft“ wähnte. (Abb. 2) Johann Heinrich Campe, ein Vertreter der Aufklärungspädagogik in Deutschland, lobte in seiner „Vorrede“ die lauteren Absichten des Autors, dem es um das Wohl der Menschheit und nicht um sich selbst gehe. Auch er machte ungünstige „Beinkleider“ der Knaben für die Sittenverderbnis verantwortlich. Campe wollte den Einwurf dagegen, dass auch in früheren Zeiten solche Kleidungsstücke ohne Schaden in Gebrauch waren, entkräften: „Was das rohe, unverderbte und durch jede Art von Abhärtung gestählte Kind der Natur, ohne merklichen Schaden erträgt, das kann für den durch Kunst und Ueppigkeit verweichlichten und verkrüppelten Schwächling die gefährlichsten Folgen haben.“23

„Todsünde“ wider die Natur

Die Gefährlichkeit der Onanie (wie des übermäßigen Geschlechtsverkehrs) ergab sich aus der Vorstellung, dass mit dem Verlust des Samens zugleich Lebenskraft verloren gehe. Diese Lehre konnte sich in der abendländischen Tradition auf Aristoteles berufen, der tatsächlich in „De generatione animalium“ festgestellt hatte, dass im allgemeinen bei den meisten Männern der Geschlechtsverkehr zu Erschöpfung und Schwäche führe.24 Wir werden nun sehen, wie Christoph Wilhelm Hufeland in den 1790er Jahren die oben skizzierte Lehre von der verderblichen Onanie unverändert aufgriff und höchst wirkungsvoll in seine „Makrobiotik“ einbaute. Hufeland war seinerzeit noch Hofmedikus in Weimar. Zu seinen Patienten gehörten die dort ansässigen Geistesgrößen wie Goethe und Schiller. Nach seiner Berufung 1801 nach Berlin stieg er zu einer führenden Figur der deutschen Universitätsmedizin auf. Seine Lehre repräsentierte die medizinische Wissenschaft seiner Zeit. Deshalb sind seine Ausführungen zur Onanie besonders aufschlussreich und sollen im Einzelnen vorgestellt werden. Der Titel von Hufelands populärer Programmschrift lautete „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“. Sie erschien erstmals 1796 bzw. 1797 und wurde in zahlreichen späteren Auflagen unter dem Obertitel „Makrobiotik“ in weiten Teilen der Bevölkerung auch als „Volksausgabe“ bekannt. Es lohnt sich, das dem Abschnitt „Verkürzungsmittel des Lebens“ zugeordnete Kapitel „Ausschweifungen der Liebe. – Verschwendung der Zeugungskraft. – Onanie, sowohl physische als moralische“ etwas genauer in Augenschein zu nehmen.25 Es stand bereits in der ersten Auflage von 1797 an zweiter Stelle von insgesamt 12 Kapiteln, was die Wichtigkeit seiner Thematik von Anfang an unterstrich. Auf wenigen Seiten malte Hufeland ein unüberbietbares Schreckensgemälde an die Wand. Die Ausschweifung sei das zerstörende „von allen Lebensverkürzungsmitteln“: „Was kann aber wohl mehr die Summe der Lebenskraft vermindern, als die Verschwendung desjenigen Saftes, der dieselbe in der concentrirtesten Gestalt erhält, der den ersten Lebensfunken für ein neues Geschöpf, und den größten Balsam für unser eigenes Blut in sich faßt?“ Seelenorgane (Gehirn) und Zeugungsorgane seien eng miteinander verbunden und verbrauchten „beide den veredeltsten und sublimirtesten Theil der Lebenskraft“. Je mehr wir die Denkkraft anstrengen würden, desto weniger lebe unsere Zeugungskraft und „je mehr wir die Zeugungskräfte reizen und ihre Säfte verschwenden, desto mehr verliert die Seele an Denkkraft, Energie, Scharfsinn, Gedächtniß.“ Hufeland empfahl nun ein allgemeines therapeutisches Konzept gegen die triebhafte Säfteverschwendung, nämlich die Ehe, „die den Reiz des Wechsels ausschließt und den physischen Trieb höhern moralischen Zwecken unterwirft“. Somit könne „dieser Trieb auch physisch geheilt, d. h. unschädlich und heilsam gemacht werden.“ War nun die sexuelle Ausschweifung per se schon schlimm genug, so erschien die Onanie als der Gipfel der Schädigung, als Todsünde wider die Natur. Denn es gelte der Grundsatz, „daß die Natur nichts fürchterlicher rächt, als das, wo man sich an ihr selbst versündigt. – Wenn es Todsünden giebt, so sind es zuverlässig die Sünden gegen die Natur.“ Onanie schade bei beiden Geschlechtern „unendlich mehr […] als der naturgemäße Beischlaf.“ Hufeland malte ein entsprechendes Schreckensbild des „Sünders“ aus, der wegen seines Lasters von so gut wie allen Krankheiten, die seinerzeit diagnostiziert wurden, heimgesucht werden konnte. Es soll hier ausführlich wiedergegeben werden, da es jene medizinische Doktrin prägnant zusammenfasste, die erst im ausgehenden 20. Jahrhundert ihre Gültigkeit verlor.

„Schrecklich ist das Gepräge, was die Natur einem solchen Sünder aufdrückt! Er ist eine verwelkte Rose, ein in der Blüthe verdorrter Baum, eine wandelnde Leiche. Alles Feuer und Leben wird durch dieses stumme Laster getödtet, und es bleibt nichts als Kraftlosigkeit, Unthäthigkeit, Todtenblässe, Verwelken des Körpers und Niedergeschlagenheit der Seele zurück. Das Auge verliert seinen Glanz und seine Stärke, der Augapfel fällt ein, die Gesichtszüge fallen in das Länglichte, das schöne jugendliche Ansehen verschwindet, eine blassgelbe bleyartige Farbe bedeckt das Gesicht. Der ganze Körper wird krankhaft, empfindlich, die Muskelkräfte verlieren sich, der Schlaf bringt keine Erholung, jede Bewegung wird sauer [...]. Knaben, die Genie und Witz hatten, werden mittelmässige oder gar Dummköpfe; die Seele verliert den Geschmack an allen guten und erhabnen Gedanken; die Einbildungskraft ist gänzlich verdorben. Jeder Anblick eines weiblichen Gegenstands erregt in ihnen Begierden, Angst, Reue, Beschämung und Verzweiflung an der Heilung des Uebels macht den peinlichen Zustand vollkommen.“

Der Onanist sei auch von „Anwandlungen zum Selbstmord“ wegen peinigender Gefühle und geheimer Vorwürfe bedroht: „Das schreckliche Gefühl des lebendigen Todes macht endlich den völligen Tod wünschenswerth.“ Aber auch andere schreckliche Leiden der Körperorgane und des Organismus insgesamt könnten entstehen: „Überdies ist die Verdauungskraft dahin, Winde und Magenkrämpfe plagen unaufhörlich, das Blut wird verdorben, die Brust verschleimt, es entstehen Ausschläge und Geschwüre in der Haut, Verdrocknung und Abzehrung des ganzen körpers, Epilepsie, Lungensucht, schleichendes Fieber, Ohnmachten und früher Tod.“ Das Übel werde noch komplettiert durch die Folgen der „moralischen Onanie“, der „Anfüllung und Erhitzung der Phantasie mit lauter schlüpfrigen und wollüstigen Bildern“. Dies könne zur „Gemüthskrankheit“ führen, zu einem schwächenden Reizfieber, einer „Reizung ohne Befriedigung“. Hufeland sah besonders drei Gruppen von der „moralischen Onanie“ betroffen: „Wollüstlinge“, Menschen „im religiösen Cölibat“, die ihre „Geistesonanie“ hinter heiligen Entzückungen verstecken könnten, sowie ledige Frauen, die durch die Lektüre von Romanen „oft im innern gewaltig ausschweifen“.