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© 2020 Tanja Gitta Sattler

Lektorat: Gitta Geiger

Korrektorat: BoD

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH,Norderstedt

ISBN 978-3-7519-3886-0

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel
  2. Kapitel
  3. Kapitel
  4. Kapitel
  5. Kapitel
  6. Kapitel
  7. Kapitel
  8. Kapitel
  9. Kapitel
  10. Kapitel
  11. Kapitel
  12. Kapitel
  13. Kapitel
  14. Kapitel
  15. Kapitel
  16. Kapitel
  17. Kapitel
  18. Kapitel
  19. Kapitel
  20. Kapitel
  21. Kapitel
  22. Kapitel
  23. Kapitel
  24. Kapitel
  25. Kapitel
  26. Kapitel
  27. Kapitel
  28. Kapitel
  29. Kapitel
  30. Kapitel
  31. Kapitel
  32. Kapitel
  33. Kapitel
  34. Kapitel
  35. Kapitel
  36. Kapitel
  37. Kapitel
  38. Kapitel
  39. Kapitel
  40. Kapitel
  41. Kapitel
  42. Kapitel
  43. Kapitel
  44. Kapitel
  45. Kapitel
  46. Kapitel
  47. Kapitel
  48. Kapitel
  49. Kapitel
  50. Kapitel
  51. Kapitel
  52. Kapitel
  53. Kapitel
  54. Kapitel
  55. Kapitel
  56. Kapitel
  57. Kapitel
  58. Kapitel
  59. Kapitel
  60. Kapitel
  61. Kapitel
  62. Kapitel
  63. Kapitel
  64. Kapitel
  65. Kapitel
  66. Kapitel
  67. Kapitel
  68. Kapitel
  69. Kapitel
  70. Kapitel
  71. Kapitel
  72. Kapitel
  73. Kapitel
  74. Kapitel
  75. Kapitel
  76. Kapitel
  77. Kapitel
  78. Kapitel
  79. Kapitel
  80. Kapitel

1.

„Wieso sollte es etwas Sexuelles bedeuten, wenn ich einem Jungen eine Schlange in seinen Schlafsack stecke?“

„Aufgrund Ihrer hervorragenden Intelligenztestergebnisse bin ich recht zuversichtlich, Frau Hengst. Sie werden von selbst darauf kommen.“

„Etwa wegen der Wörter ‚Schlange‘, ‚Sack‘ und ‚stecken‘?“

„Sehen Sie, volle Punktzahl!“

„Sie haben eine dreckige Fantasie, Dr. Drescher!“

„Wie bitte?“

„Sie haben eine dreckige Fantasie! Ich wollte den Kleinen auf der Klassenfahrt doch bloß ein bisschen erschrecken, weil der immerzu die Mädchen ärgert.“

„Ich muss mich von Ihnen hier nicht beleidigen lassen.“

„Lieber woanders?“

„Frau Hengst, bleiben Sie bitte bei der Sache! Es ist Ihre Stunde und Ihr Geld.“

„Eben drum! Wenn ich an die katastrophalen Geldschwünde denke, die Ihre Rechnungen auf meinem Konto verursachen, würde ich gerne noch ein bisschen gewalttätig werden. Darf ich?“

„Das wäre nicht gut für Ihr Profil.“

„Hallo, mein Profil ist fantastisch!“ Liebevoll tätschelte Livia einen ihrer hübschen Wangenknochen. „Das hält was aus!“

„Ich meine Ihr berufliches Profil. Schließlich sind Sie Pädagogin.“

„Das hält auch was aus. Außerdem, Herr Dr. Drescher, wer sollte davon erfahren?“ Sie grinste frech. „Schließlich unterliegen Sie doch der Schweigepflicht. Oder wollen Sie etwa Rufmord an mir begehen? Das würde den Typen vom Schulamt gar nicht gefallen. Sie sollen mich schließlich resozialisieren!“ Schelmisch fuchtelte Livia mit ihrem Zeigefinger vor seiner Nase herum.

„Ähm.“ Unruhig rutschte Dr. Drescher auf seinem exklusiven Ledersessel hin und her. „Bei Androhung von Gewalttätigkeiten ist das etwas ganz anderes.“

„Kommen Sie, erleuchten Sie mich. Lassen Sie mal ein bisschen was in Sachen Antiaggressionstraining sehen. Oder gibt es da etwa ein fachliches Leck?“

„Frau Hengst, was halten Sie davon, wenn wir die Stunde vertagen?“

„Ach, Sie ziehen den Schwanz ein?“

„Frau Hengst, ich weigere mich, Ihre Therapiesitzung für heute fortzusetzen.“

„Na, sag ich doch!“

Livia fühlte sich wie neugeboren! Noch heute früh hätte sie sich am liebsten die Decke über den Kopf gezogen und krankgemeldet. Ein Termin beim Schulpsychologen und ein Elternabend – zwei waschechte Liebestöter-Events an einem Tag! Doch jetzt? Da sollte nochmal einer behaupten, Therapiesitzungen seien für die Katz! Ganz im Gegenteil! Frisch gestärkt und putzmunter, fühlte sich Livia bereit, es mit allen und jedem aufzunehmen. Selbst mit den gruseligen Eltern ihrer gräulichen Plagen. Na ja, die meisten Kinder waren ja wirklich goldig, sonst hätte sie schon längst das Handtuch geschmissen. Aber die Eltern!

Ganz selten bloß gab es die aufgeschlossenen, willigen und charmanten Exemplare. Häufiger dagegen trat die Marke ‚Besensteif‘ aufs Trapez. Konservativ, besserwisserisch und sterbenslangweilig. Zwischen diesen beiden Extremen tummelten sich die verpeilten und grauzellenfreien. Motto: „Goethe? Ja klar, den kenne ich! Das ist doch dieser Türke aus dem Kinofilm!“ Für den Umgang mit dieser Spezies brauchte es tonnenweise Geduld und Mut zur intellektuellen Endlosschleife.

Fraktion vier bestach durch radikale Unlust am eigen Fleisch und Blut. Den nervigen Nachwuchs am ersten Schultag fröhlich abgeben und nach dem Einser-Abitur fix und fertig erzogen, gebildet und gekämmt wieder abholen, das wäre dieser Elternsorte ihr Himmelreich. Zum Glück stand der Schießstand ihres Onkels jederzeit für sie bereit, sonst würden Livia ab und an die Gäule durchgehen. Das Faszinierende an ihrem Beruf bestand für sie darin, dass ihr als Lehrerin ein fantastischer Einblick in die kunterbunte menschliche Vielfalt geboten wurde. Selbst die Einfalt, die ihr dabei begegnete, garantierte einen nicht zu unterschätzenden Unterhaltungswert.

Die Schulrektorin, Franziska Gerneschön, sah das ein klein wenig anders. Nach einer Fortbildung hatte sie folgende Worte auf knallroter Pappe ausgedruckt und im Lehrerzimmer an die Wand geklebt: „Eltern sind Kunden und der Kunde ist König.“ Ganz im Sinne von ‚Political Correctness‘ glänzte daneben sogar die weibliche Version im satten Plural: „Eltern sind Kundinnen und Kundinnen sind Königinnen.“ Wunderschön, auf lila Glanzpapier. Livia drehte sich der Magen um. „Jegliche Autorität und Respekt am Arsch! Nicht mit mir“, schwor sie sich, „ich bin doch kein Suppenkasper und ein Wackeldackel schon gar nicht!“ Unter den einen Aushang malte sie einen giftgrün brechenden Smiley und unter den anderen einen gelben mit Lachflash. Niemand konnte ihr nachweisen, dass sie es gewesen war, doch alle wussten es. Mit Buckeln und Samthandschuhen erntete man maximal einen Arschtritt oder einen fetten Burnout, davon war Livia fest überzeugt. Wer ihr in die Suppe spuckte, der musste sie auch auslöffeln. Die Kleinen verstanden das sofort, sie kamen prima damit klar. Die Großen weniger. In regelmäßigen Abständen zitierte die Rektorin Livia zu sich. Zuletzt mit denkwürdigem Ausgang.

„Eine studierte Frau von stattlichen vierunddreißig Jahren sollte in jeder Situation souverän und vernünftig bleiben können. Selbst Sie, Frau Hengst!“

„Aber er hat mein Auto beleidigt“, verteidigte sich Livia empört.

„Meine Güte, Frau Hengst! Wie das klingt. Das sind doch infantile Argumente. Er hat mein Auto beleidigt, er hat mir meinen Radiergummi geklaut, er hat mein Heft vollgekritzelt, als wären Sie selbst noch Grundschülerin. Über so etwas müssen Sie doch meilenweit darüberstehen. Ein Elterngespräch anzuordnen wegen solch einer unwichtigen Angelegenheit!“

„Mein Oldtimer ist keine unwichtige Angelegenheit, Frau Gerneschön. Kinder müssen lernen, auch ältere Dinge zu respektieren!“ So wie dich, du olle Trulla, fügte Livia im Geiste hinzu, wer heult denn immer im Lehrerzimmer herum: „Die Kinder von heute sind ja so unerzogen!“

„Ich verstehe Ihre Einstellung, Frau Hengst“, versuchte es die Rektorin betont freundlich. „Trotzdem hat Ihr Auto nichts mit dem Schulalltag zu tun. Kein Grund für ein Elterngespräch. Vor allem nicht mit solchem Ausgang.“

„Wieso? Ich habe den Eltern doch nur eine schlechte Betragensnote angekündigt, falls Kevin noch einmal mein Fahrzeug beleidigen sollte. Seinen Kopf darf er behalten.“

„Schön, aber dem Vater haben Sie darüber hinaus mit Nachsitzen gedroht. Dem Vater! Also so etwas habe ich in meiner gesamten Laufbahn nicht erlebt.“

„Schlechte Erziehung gehört bestraft, Sie kennen meine Einstellung. Was können die armen Kinder dafür? Und wir Fachkräfte dürfen alles ausbügeln. Da muss man doch etwas tun. Nachsitzen bekäme diesem unterbelichteten Proleten hervorragend, glauben Sie mir! Der schreit geradezu danach!“

„Das finden Sie angemessen?“, fragte Frau Gerneschön streng und tippte dabei auf ihren Aushang.

„Na ja, es war wahrscheinlich noch zu nett. Ich hätte den Vater fragen sollen, warum er seiner hässlichen Karre einen derart riesigen Spoiler aufmontiert hat. Sicher ein Zeichen für einen ganz kleinen …!“

Die Rektorin stimmte nicht in das glucksende Gelächter ihrer Mitarbeiterin mit ein. Im Gegenteil! Das war der Punkt, an dem Livia dazu verdonnert wurde, sich auf der Stelle Termine beim Schulpsychologen zu holen. Ansonsten hätte es eine Abmahnung gehagelt. Zicke, dachte sie und machte sich nichts daraus. Dann ärgere ich eben nicht nur meine Chefin, sondern nebenbei noch einen promovierten Psychospinner! Auch gut!

So kam es also, dass Livia nach einer (für sie) äußerst amüsanten Stunde lachend aus Dr. Dreschers Praxis heraustanzte und sich geradezu fantastisch fühlte. Sie schmetterte zum Abschied noch ein keckes „Tü-te-lü, Doktorlein, bis zum nächsten Stelldichein!“ über die Schulter und wirbelte über die Straße zum Parkplatz hinüber. Ihr langes Haar schlingerte um ihren schlanken Körper wie ein Meer aus lockiger Lava und die schwindelerregend hohen Absätze ihrer ledernen Overknees trommelten im Stakkato über die Bordsteinkante. Ein spanischer Lastwagenfahrer hupte ihr begeistert hinterher, lehnte sich aus dem Fenster und rief: „Olé, guapa! Olé!“ Strahlend warf sie ihm eine Kusshand zu und steppte weiter. Die knopfäugige Evelyn aus der Zweiten stand mit ihrer großen Schwester am Dönerstand gegenüber. Sie entdeckte die tanzende Lehrerin und kreischte zwischen Kebap, Zwiebeln und Tomaten hindurch: „Frau Hengst, Frau Hengst, huhu! Sie tanzen super! Schau doch, Svenja! Schau doch! Los, hol dein Handy raus, das musst du filmen!“ Heftig boxte Evelyn ihrer Schwester in die Rippen, die sich prompt an ihrem Lahmacun verschluckte und verzweifelt zu röcheln begann. Ach, was ist die Kleine so süß, dachte Livia entzückt. Eine weitere Kusshand flog durch die Lüfte. „Ist das Leben nicht herrlich?“, jubelte sie und tanzte weiter, bis sie mit einer gekonnten Pirouette an ihrer ultrascharfen Corvette C3 zum Stehen kam. Es war ein rabenschwarzes Overkill-Oldtimer-Cabriolet mit „Big-Block“-Motor. 7,0 Liter Hubraum und 390 PS. Kurz – der nackte Wahnsinn! So ein Traumschiff brauchte keinen Spoiler. Das war ein Spoiler! „Hallo, meine Schöne!“, schnurrte Livia verliebt, schloss auf und öffnete vergnügt das Verdeck. Schwungvoll glitt sie hinter das Sportlenkrad und strich ein paarmal zärtlich über das Armaturenbrett. Die Sonne hatte heute besonders gute Laune und warf ihr beschwingt ein paar flimmernde Strahlen gegen die Frontscheibe. Livia schnallte sich an, startete und fuhr die Musikanlage hoch.

„I am what I am“, sang Gloria Gaynor auf der Fahrt zum Elternabend.

„Eben!“, frohlockte Livia aufgekratzt, hupte zweimal kräftig und sang aus Leibeskräften mit.

2.

„Diese Mitarbeiterin macht mich noch wahnsinnig, Helga! Keine der anderen Rektorinnen und Rektoren unseres ehrenwerten Freistaats haben solche Probleme mit ihren Mitarbeiterinnen. Wieso ich? Was habe ich bloß verbrochen? Vorhin hat eine Mutter angerufen und sich bitter beschwert. Ihre sechsjährige Tochter habe dem fünfzehnjährigen Bruder einen Stock aus der Hand gehebelt und ihm damit so kräftig den Hintern versohlt, dass er kaum noch sitzen kann. Jetzt weigert er sich zur Schule zu gehen, weil er nicht weiß, was er seinen Klassenkameraden erzählen soll.“

„Was hat das mit Livia zu tun?“, fragte Jutta, die junge Referendarin, erstaunt.

„Die Mutter meinte, ihre Tochter habe das von einer unserer Lehrerinnen gelernt. Nun ratet mal von welcher!“

Franziska Gerneschön seufzte zum Erbarmen und überlegte kurz, ob sie zum alten Alois gehen und seinen Flachmann einkassieren sollte. Irgendetwas in ihr schrie nach hochprozentigem Alkohol. Da fiel ihr ein, dass der Hausmeister heute Vormittag einen Arzttermin hatte. Verzweifelt schielte sie zum Kühlschrank. Ob da vielleicht noch Sekt drin wäre?

„Sie geht nicht in die Kirche, wahrscheinlich ist sie sogar ausgetreten“, gab Helga düster zu bedenken. „Das sagt doch schon alles!“ Als Religionslehrerin und als engagiertes Mitglied der katholischen Kirchengemeinde von Rosenhain war ihr die Kollegin Hengst von Anfang an suspekt gewesen. Sie konnte gar nicht nachvollziehen, wie jemand derart Schrilles und Aufsässiges überhaupt auf die Idee kam, Lehramt studieren zu wollen und noch weniger konnte sie verstehen, dass die Kinder so verrückt nach ihr waren. Das Entsetzen der Eltern und ihrer Vorgesetzten wiederum, das verstand sie sehr gut!

„Du meinst, sonntägliche Kirchgänge würden die Kollegin Hengst läutern? Ha! Sie würde die Predigt sprengen, den Chorknaben dreckige Witze erzählen, beim Abendmahl den Wein leer saufen und nach ihrer Beichte würde der liebe Pfarrer Köbig mit Sicherheit vom Glauben abfallen!“

„Wegen ihrer kurzen Röcke und unverschämt tiefen Ausschnitte, Franziska, oder wegen dem, was sie ihm alles zu beichten hätte? Das ist sicher durchweg äußerst delikat, um es gelinde auszudrücken!“ Natürlich handelte es sich hierbei bloß um eine rhetorische Frage. Helga war felsenfest davon überzeugt, dass die Kollegin Hengst im Fegefeuer landen würde. Armer Teufel! Wahrscheinlich würde nicht einmal der Lord der Finsternis mit ihr klarkommen und umgehend die Kündigung einreichen!

„Ich finde sie ausgesprochen kompetent, innovativ und sehr nett!“, meldete sich Jutta erneut zu Wort. „Ihr übertreibt wirklich maßlos!

„Da siehst du es, Franziska! Livias freche Art verdirbt unseren Nachwuchs! Hättest du dir damals deinen älteren Kolleginnen gegenüber eine solche Rüge erlaubt? Noch dazu gegenüber einer Vorgesetzten?“, schimpfte Helga konsterniert. Sie bildete sich viel darauf ein, dass sie die Einzige im Kollegium war, die die Schulrektorin duzen durfte. Schließlich trafen sie sich auch privat, gingen zusammen in den Gottesdienst und zum wöchentlichen Spitzenklöppeln in der Rosenhainer Trachtengruppe.

„Ich finde es nicht in Ordnung, über eine Kollegin in ihrer Abwesenheit schlechtzureden. Und wenn es doch getan wird, wieso sollte ich meine Meinung dazu nicht ebenfalls äußern dürfen?“, fragte Jutta ungerührt.

„Ganz einfach, junge Frau, weil es dir in deiner Position nicht zusteht! Du bist noch keine gleichwertige, zertifizierte Lehrkraft, vergiss das nicht!“

„Aber doch ein gleichwertiger Mensch, oder etwa nicht?“ Jutta setzte sich kerzengerade und streckte selbstbewusst ihr Kinn in die Luft. „Hier geht es schließlich nicht um fachspezifische Themen, sondern um eine uns allen bekannte Kollegin.“

„Franziska, jetzt sag was!“, verlangte Helga empört.

Die Rektorin winkte ab. Sie stand kurz vor der Pensionierung und wollte ihr letztes Schuljahr in Würde und Frieden beschließen. Ihr war sehr wohl bewusst, dass der Einwand der jungen Referendarin einen wahren Kern besaß, aber sie fühlte sich im Augenblick viel zu erschöpft, dagegen ins Feld zu ziehen. Sie wollte bloß noch nach Hause und nichts mehr hören von der ganzen leidigen Geschichte. Konnte Helga nicht aufhören?

„Helga! Jutta! Der Name Livia Hengst ist für heute tabu! Es ist meine Schuld, ich hätte gar nicht erst damit anfangen sollen. Wenden wir uns doch lieber dem kommenden Osterfest zu. Das ist wenigstens ein erquickendes Thema. Pfarrer Köbig wünscht, dass unsere Kinder etwas basteln und einige schöne Frühlingslieder im Gottesdienst singen. Was meint ihr? Wollen wir Vorschläge dazu sammeln?“

„Einverstanden! Aber ich finde euer Verhalten trotzdem nicht richtig“, sagte Jutta trotzig.

„Selbstverständlich, Franziska!“, tat Helga besonnen. „Lass uns über Ostern reden. Aber nicht, dass dieses Küken hier denkt, ich hätte ihretwegen eingelenkt.“

„Weißt du was?“, brauste Jutta daraufhin auf. „Das Küken macht der Henne jetzt einen konstruktiven Vorschlag. Morgen setzen wir uns mit Livia zusammen an den Tisch und machen eine offene Feedbackrunde. Das müsste zwischen zivilisierten Menschen doch möglich sein.“

„Zwischen zivilisierten Menschen vielleicht schon“, erwiderte Helga mit hochgezogenen Augenbrauen, „aber wir reden hier schließlich von Livia Hengst. Außerdem, Henne? Unverschämtheit! Franziska!“

Plötzlich stand die Schulsekretärin Susi Huber in der Tür. Schüchtern winkte sie mit dem Telefon.

„Entschuldigung, Frau Gerneschön, wenn ich Sie störe. Aber ich habe ein dringendes Telefongespräch für Sie! Darf ich es weiterreichen oder sind Sie zu beschäftigt?“

Der Rektorin fiel ein Stein vom Herzen. Die blonde Susi schickte der Himmel! Sollten sich die beiden Kolleginnen wegen Livia doch die Augen auskratzen. Sie würde an diese Person heute keinen einzigen Gedanken mehr verschwenden. Unendlich dankbar für die Ablenkung sprang sie auf und lief der Sekretärin strahlend entgegen.

„Geben Sie ruhig her, Frau Huber. Das ist schon in Ordnung. Ich gehe mit Ihnen, dann können sich die Damen hier in aller Ruhe weiter die Schädel einschl… ähm, ich meine, in aller Ruhe weiter unterhalten. Wer ist es denn? Vielleicht unser lieber Pfarrer Köbig?“

„Nein, Dr. Drescher.“

3.

Ein Blick auf die Uhr verriet Livia, dass vor dem Elternabend noch ein schönes Käffchen drin wäre. Neben coolen Autos, der Antibabypille und Aperol Spritz war ein ordentlicher Kaffee für sie das absolut perfekte Mittel, sich mit dem schnöden Alltag arrangieren zu können, und ein erfreulicher Beweis dafür, dass Menschen nicht aus allem Scheiße backten, was sie anfassten. Um das Café Highlight herum herrschte reger Betrieb, kein Parkplatz war in Sicht. Typisch! Ein Opel hatte zwei Stellplätze für sich alleine in Beschlag genommen, so dass Livia, die normalerweise wie ein Stück Seife in jede, auch noch die kleinste Parklücke flutschte, drei Straßen weiter parken musste. So etwas brachte sie in Rage. Mit gerunzelter Stirn musterte sie das Tätermobil in undefinierbarem Musstmichehnichtwaschenbraun. Die vordere Stoßstange befand sich ungefähr eineinhalb Meter vom Parkstreifen entfernt, weswegen zwischen dem Opel und dem dahinter parkenden Geländewagen keine Chance für ein zweites Auto bestand, maximal ein halbes. Livias Blick fiel auf die abgefahrenen Allwetterreifen des Opels. Kopfkino: Ein blauer Kombi rast mit heruntergefahrenen Reifen an der Grundschule vorbei und kommt am Zebrastreifen ins Rutschen. Die siebenjährige Lena wird erfasst und liegt mit einem Schädelbasisbruch auf der Intensivstation. Die Eltern sind verzweifelt. Das war vor zwei Wochen. Wütend kickte Livia gegen den linken Vorderreifen des Opels und lunzte durch die Scheibe. Im Auto lagen edle Papiertaschen von Chanel, Dior und Bottega Veneta. Aha! Wir waren wohl gerade in München ein bisschen auf der Maximilianstraße shoppen. Für sowas ist also Geld da! Wer wird sich denn auch mit so unnötigen Dingen wie Sicherheit im Straßenverkehr aufhalten, nicht wahr? Livia beschloss ergrimmt, ein persönliches Statement zu setzen. „Ich dagegen habe schließlich ein ausgezeichnetes Profil.“ Livia lachte leise. „Sogar auf meinen Reifen!“ Entschlossen zog sie ein italienisches Springmesser aus der Hosentasche, warf es in die Luft, fing es geschickt wieder auf und ließ die Klinge herausschnellen. Als Livia den linken Vorderreifen in Angriff nehmen wollte, stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen die Opelfahrerin an der Fahrertür und kramte in ihrer Gucci-Handtasche nach dem Autoschlüssel. Passend zum Autolack sah sie aus wie ein blasses, verhuschtes Mägdelein. Kein Wunder, dass die sich mit Markenfirlefanz aufpeppen muss, dachte Livia spöttisch. Jetzt wird mir einiges klar! Lässig lehnte sie sich an die Kühlerhaube, ließ mit der Rechten gekonnt das Messer wirbeln und flötete:

„Das ist schon eine Leistung, so intelligent und umsichtig zu parken. Bravo!“

„Oh“, sprach’s verlegen, mit leicht verängstigtem Blick auf das kreisende Messer, „danke schön!“

„Sie haben extra achtgegeben, dass vor und hinter Ihrem Auto genügend Platz ist, stimmt’s?“

„Genau!“, versicherte das Frauchen begeistert. Endlich lobte sie mal jemand für ihre Umsicht. Auch wenn es sich anscheinend um eine völlig Durchgeknallte handelte.

„Fast mittig geparkt, wow!“ Livias Stimme triefte vor Sarkasmus.

„Ähm, meinen Sie das nun ernst?“

„Aber ja!“, flötete Livia und deutete mit der Messerspitze direkt in ihre Richtung. „Es ist nur so, dass der Parkplatz eigentlich für zwei Autos ausgelegt ist. Was meinen Sie? Wächst Ihr Opel noch oder hatten Sie Angst, dass die Reifen auseinanderfallen? Ich könnte Letzteres problemlos beschleunigen!“

„Wie bitte?“ Angesichts der scharfen Klinge fragte sich das Mägdelein, ob es nicht lieber flüchten oder um Hilfe schreien sollte. Es stotterte: „Also … ich weiß ja nicht …?“

„Ja, das glaube ich gern! Vielleicht liegt er noch irgendwo hier herum“, meinte Livia und blickte suchend zu Boden.

„Wer denn? Soll ich suchen helfen?“, fragte das blasse Wesen artig und bückte sich beflissen.

„Na, der Grips!“

„Wer?“

„Lassen wir’s gut sein“, beschied Livia nach einem kurzen Blick auf die Uhr, „den finden wir mit Sicherheit weder auf dem Asphalt noch in diesem Leben!“

„Das ist doch …“ Mit offenem Mund starrte ihr die Opelfahrerin hinterher, bis Livia durch die Eingangstür des Highlights verschwunden war.

„Wegen solcher Modelle da draußen geraten Frauen bei Männern ständig in Misskredit“, schnaufte sie ärgerlich, während sie ihren etwas abgewetzten, aber extrem stylischen, schwarzen Ledermantel auszog. Sie selbst hatte von irgendwelchen Kerlen sogar schon Applaus fürs Einparken bekommen. Chauvinistische Arschlöcher! Andererseits, wenn man das schlaffe Pflänzchen da draußen besah, kein Wunder! Kaum hatte sie sich auf einen der knallroten Barhocker geschwungen, verflüchtigte sich jeder schlechte Gedanke wie durch Zauberhand. Köstlicher Kaffeeduft umfing sie, röstfrisch und stark. Genüsslich zog sie sich die Nase damit voll. Einmal, zweimal, ach, es war herrlich! Schon kam ein eifriger Kellner angerannt. Frischfleisch, sieh an! Den kenne ich noch gar nicht, freute sich Livia.

„Ist sie gut, deine Latte?“, schnurrte sie anzüglich. Der Jüngling bremste ab.

„Also, ich …“, stammelte er, während flammendes Rot seine Wangen flutete. Er sah wie siebzehn aus, süß!

„Lass mal eine rüberwachsen, Kleiner. Eine ganz große und schön schaumig. Kannst du das?“

Der Jüngling nickte und stolperte hastig davon. Livia kicherte. Sie liebte es, ihre Mitmenschen aus dem Konzept zu bringen. Der junge Mann fand es sicher ganz unmöglich, von einer Frau, attraktiv, aber deutlich jenseits von jugendlich, so frech angebaggert zu werden. Dafür kann ich nichts, das sind Onkel Charlys Gene, rechtfertigte sich Livia im Stillen, ohne es wirklich ernst zu meinen. „Normal kann jeder“, lautete dessen Credo, wenn er auch in letzter Zeit einen auf spießig machte und sie behandelte, als sei sie noch ganz hellgrün hinter den Ohren. Die Latte kam. Livia nahm sie andächtig entgegen, senkte die langen schwarzen Wimpern verführerisch über ihre schönen grünen Katzenaugen und schleckte mit der Zunge langsam und genüsslich das Zimtherz vom Schaum. Der Kellner beobachtete sie gebannt und begann zu schwitzen.

„Ist dir heiß, Kleiner?“, fragte Livia ungeniert. Ihr Blick wanderte lasziv an seiner Kellnerschürze hinab und verweilte an einer ganz bestimmten Stelle.

Der Bursche riss schützend das Tablett vor seinen erhitzten Leib und haspelte: „Nein, ja, also ich muss jetzt wieder in die …“

„Küche!“, ergänzte Livia den Satz. Feixend schaute sie ihm hinterher. Ob er jetzt wohl ins Kühlfach springt? Sollten sich die anderen ruhig langweilen und gediegen tun, sie lebte frei nach dem Credo ihres Onkels. Aus den Boxen über der Bar schäkerte Roberto Blancos Stimme: „Ein bisschen Spaß muss sein!“ Livia hielt den Daumen hoch.

4.

Der Geruch von frisch gebackenem Zwiebelbrot schwebte durch die hypermoderne, auf Hochglanz polierte Küche. Ein brodelnder Kochtopf stand auf dem Herd und im Kühlschrank wartete eine sündhaft teure Flasche Chardonnay. Pit war gerade dabei, sich eine leckere Kräuterbutter zu kneten, als es klingelte. Fix schnitt er die sattgrünen, duftigen Gartenkräuter klein und streute sie, zusammen mit dem Knoblauch, über das goldgelbe Butterstück.

„Hm“, stöhnte der etwas abgerissen aussehende Besucher, als ihm aufgetan wurde. „Da komme ich wohl gerade recht. Riecht geil!“

„Sind ja auch Schnecken“, erwiderte Pit trocken. „Probieren?“

Er hob den Deckel des gusseisernen Topfes in die Höhe. Zwölf Weinbergschnecken schaukelten wild auf einer schleimigen, graubraunen Masse herum.

„Igitt, Mann! Du bist ja pervers!“ Leicht grün im Gesicht, stolperte der Gast drei Schritte rückwärts.

„Da erkennt man doch sofort den echten Gourmet“, spottete Pit.

„Na und? Nuggets und Fritten sind mir lieber.“

„So siehst du aus!“, ätzte der Hausherr mit abfälligem Blick auf den sich deutlich abzeichnenden Bauchansatz des jungen Mannes.

Pit selbst war mit seinen achtunddreißig Jahren in ausgezeichneter Form. Kein Gramm Fett, nur vorbildlich definierte Muskelmasse am gesamten Körper. Er hasste es, wenn Menschen sich gehen ließen. Geistig wie körperlich. Dafür besaß er keinerlei Verständnis.

„Kann ja auch wieder gehen, du Arschloch!“

Pit zuckte mit den Schultern. Da fiel sein Blick auf das Paket, das unter Steves Arm klemmte. Ihm wurde heiß vor Neugierde.

„Komm schon, Junge“, lenkte er ein, „du darfst auch am Zwiebelbrot knabbern.“

Mit dem Öffnen der Backofenklappe hatte Pit schon gewonnen. Gierig griff der Besucher zu, jonglierte das frisch gebackene Brot mit viel Geautsche von links nach rechts und warf es schließlich auf das Schneidebrett der Arbeitsplatte. Grob riss er sich ein Stück davon ab, pustete zweimal kräftig und stopfte es sich hastig in den Schlund.

„Heisch“, nuschelte er, „aber scheißguuuut!“

Ungefragt riss er sich ein weiteres Stück ab. Perlen vor die Säue, dachte Pit angewidert und reichte ihm ein Stück von seiner selbst geräucherten Wildschweinsalami. Als Steve beide Hände voll hatte, schnappte sich Pit das Paket.

„He!“

„Krieg dich ein“, sagte Pit gelassen, „hast du sie mir mitgebracht?“

„Klar! Piss dir nicht ins Hemd, Alter!“ Steve verdrückte schmatzend seine beiden Häppchen und griff sich provokativ rülpsend in den Schritt.

Jetzt war es genug. Pit schnappte sich Steves linke Hand. Mit einem geschickten Griff zwang er ihn in die Knie und setzte ihm sein Takumi-Messer an den Hals. Als Steve es panisch abwehren wollte, schnitt er sich in die Hand.

„Haiku-Kurouchi-Klingen sind extrem scharf!“ Pits Stimme klirrte vor Kälte. Steves Augenlider flatterten, als er fühlte, wie warmes Blut über sein Handgelenk lief.

„Ich benutze immer nur bestes Werkzeug. Sei es beim Kochen oder beim Schlachten. Ich begebe mich regelmäßig auf die Jagd. Ich töte gerne. Wusstest du das?“ Tief sah er dem röchelnden Boten in die Augen. Zwei Sekunden später ließ er ihn los, wirbelte herum und in null Komma nichts fiel der mitgebrachte Karton auseinander. Ein schwarzer Koffer kam zum Vorschein. Die pure Sünde, mit einem solchen Messer Karton zu schneiden, schalt sich der Hausherr, während er den Koffer öffnete. Da war sie – eine nagelneue HK416, speziell für ihn personalisiert. Er inspizierte das Sturmgewehr penibel und befand alles exakt nach Wunsch.

„Munition?“, fragte er knapp. „Draußen vor der Tür“, schnaufte Steve und starrte wie ein hypnotisiertes Karnickel auf seine blutende Hand. Pit ging hinaus, um im nächsten Moment eine harmlos aussehende Obstkiste ins Haus zu schieben. „Okay, wir sind uns einig“, brummte er, nachdem er auch diese sorgfältig kontrolliert hatte. Er zog eine Schublade auf und holte ein Bündel Geldscheine heraus. „Hier, sag deinem Kolumbianer einen Gruß. Ich bin zufrieden.“

Steve hielt sich wimmernd die verletzte Hand und reagierte nicht. Genervt reichte ihm Pit ein Küchentuch, stopfte ihm die Scheine in die Hosentasche und wies ihm mit einer eindeutigen Geste die Tür. Da sprangen ihm die Blutflecken ins Auge. In seiner noblen Küche sah es wie in einem Schlachthaus aus. Pit hasste Schmutz, bei ihm musste alles blitzsauber sein. Daher packte er den Boten am Kragen und befahl: „Du hörst jetzt auf zu heulen und putzt die Sauerei weg, kapiert? Aber gründlich! Danach zischst du ab! Eil dich, ich habe Hunger und bekomme gerade verdammt schlechte Laune!“

„Aber meine Hand!“

Pit reichte Steve einen Gummihandschuh. „Hier, zieh über. Mach schon! So, jetzt stopfst du noch ein Küchentuch drunter, machst einen Gummi ums Handgelenk und legst los. Mannomann, stellst du dich an! Unter der Spüle sind Eimer und Lappen. Gib dir Mühe, Kleiner, sonst verdirbst du mir noch den Appetit! Und glaube mir, das willst du nicht erleben!“

Mit verschränkten Armen lehnte sich Pit gegen die Arbeitsplatte und spielte mit seinem Messer. Angesichts der riesigen Klinge tat Steve wie geheißen. Er zog sich den Handschuh über die verletzte Hand und rutschte Lappen schwingend über den Küchenboden. Das wirst du mir büßen, dachte er fuchtig, eines Tages mach ich dich fertig! Aus den Augenwinkeln heraus nahm er wahr, wie sein martialischer Kunde jede seiner Bewegungen mit stechendem Blick verfolgte.

5.

Zehn vor acht. Livia tätschelte ihrer Corvette noch schnell die elegant geschwungene Kühlerhaube, bevor sie strammen Schrittes zum Schulgebäude lief, vor dem schon drei Frauen und ein Pärchen warteten. Sie vertrat heute ihre Kollegin Astrid Schepper, die ausgerechnet am ersten Elternabend ihrer neuen Schulklasse mit einem ekligen Magen-Darm-Virus darniederlag.

„Die anderen Lehrerinnen sind immer früher da, um alles ordentlich vorzubereiten“, knotterte eine von der besserwisserischen Sorte. Sicher hatte diese Mutti noch Kinder in höheren Klassen und wähnte sich außerordentlich elternabendfirm.

„Bescheuert!“, meinte Livia verständnislos. „Dann können die Eltern doch gar nicht beim Räumen helfen. Darf ich?“

Sie schob die Marke Besensteif zur Seite und schloss zackig das Schulgebäude und Astrids Klassenraum auf. Er schien zwar geputzt zu sein, doch es herrschte darin ein heilloses Durcheinander. Genau wie bei ihr, oben in der Vierten.

„Na, hier sieht’s ja aus!“, echauffierte sich die Mecker-Mutti erneut.

„Hübsch nicht?“, zwitscherte Livia betont fröhlich. „Ich nenne das kreatives Chaos.“

„Saustall trifft’s besser!“, brummte die männliche Hälfte des Pärchens.

„Passt!“, konterte Livia. „Meine Kollegin meinte, Ihre Frischlinge fühlen sich hier schon ganz wie zuhause!“

Bevor der Mann über diese Aussage nachdenken konnte, hatte Livia ihm schon einen Stuhl in die Hand gedrückt und zeichnete mit nach unten gerichtetem Zeigefinger einen Kreis in die Luft. Sofort begann ein kollektives Stühlerücken. Die Eltern schoben die Tische weg und ordneten die Stühlchen zu einem ordentlichen Kreis. Livia holte sich einen gepolsterten Erwachsenenstuhl aus dem Lehrerzimmer, schob zwei der Kinderstühle beiseite und machte es sich bequem. Na, also! Fast fühle ich mich wie König Arthur an der Tafelrunde, grinste Livia in sich hinein, doch der trug wahrscheinlich keine Overknees zum Ledermini.

Achtzehn Personen füllten mittlerweile den Raum und hatten sich mit hochgezogenen Knien auf den Stühlchen platziert. Immer wieder lustig dieses Bild, dachte Livia schadenfroh und genoss die bewundernden Blicke der Vatis sowie die neidischen der Muttis auf ihren langen schlanken Beinen. Da schlug Nummer neunzehn auf. Die Opelfahrerin! Na, prost Mahlzeit! Livia lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Frau erblickte die mutmaßliche Klassenlehrerin ihres Kindes und glotzte, als hätte sie ein Gespenst gesehen.

„Na, noch zwei Parkplätze gefunden?“, spöttelte Livia und freute sich diebisch daran, wie der laschen Trine der Mund auf- und zuklappte. Es sah aus wie bei einem Karpfen. Auf und zu, auf und zu.

„Nun denn! Im Namen meiner Kollegin Astrid Schepper, die leider erkrankt ist, möchte ich Sie heute Abend herzlich willkommen heißen. Zuerst möchte ich Ihnen das Unterrichtskonzept erläutern, danach Arbeitsmaterial und AG-Angebote vorstellen, schulinterne Termine mitteilen und …“ Der Finger von Stuhl Nummer sieben schnellte in die Luft. Das Sumpfhuhn soll gefälligst warten, bis ich fertig bin, dachte Livia genervt, fragte aber freundlich:

„Ja, bitte?“

„Gibt es denn keine Vorstellungsrunde?“

Heilige Scheiße, so eine! Womit habe ich das nur verdient? Eines dieser armseligen Modelle, die Elternabende als Kontakthotline missbrauchten und für die ein Elternstammtisch das aufregendste Event des Jahres darstellt. Livia verdrehte die Augen und seufzte: „Langweilig!“

Achtunddreißig Augen blickten irritiert. Ups! Ist mir das jetzt wirklich laut herausgerutscht? Livia improvisierte: „Ich meinte, langatmig! Das kann manchmal sehr langatmig werden. Wir möchten doch alle wieder recht früh nach Hause kommen, oder etwa nicht?“ Sie erntete zögerliches bis heftiges Nicken und jubelte innerlich: Anscheinend gibt es Gleichgesinnte! Hurra!

Laut sprach sie: „Und sind wir doch ehrlich! Wer kann sich schon am Anfang alle Namen merken? Ich reiche jetzt eine Liste herum, auf der können Sie sich eintragen. Mit Namen, E-Mail-Adressen, Telefonnummern und wenn Sie alle damit einverstanden sind, kann ich die Liste für Sie heute Abend noch kopieren und verteilen.“

„Ich fände eine Vorstellungsrunde trotzdem sehr nett!“, meinte die Kontaktgeile bockig.

Livia hielt einige Sekunden inne, schloss die Augen und zählte bis zehn. So hatte es ihr der Schulpsychologe empfohlen. Half nichts. Dr. Drescher hatte es einfach nicht drauf. Sie würde keine einzige Rechnung mehr bezahlen. Langsam beugte sich Livia vor, fixierte die Bockige und sprach mit eiskalter Stimme: „Okay! Wenn wir das jetzt tatsächlich tun sollen, werde ich Sie danach hier in die Mitte setzen und abfragen, ob Sie sich auch wirklich alle Namen der Anwesenden merken konnten. Falls nicht, war es offensichtlich vertane Zeit und Sie bekommen dafür eine Strafarbeit.“

Ein verblüfftes Raunen ging durch den Raum. Ja, da waren sie platt.

„Ähm, Sie machen gerade Spaß, oder?“ Die Bockige schwitzte.

„Ich bin normalerweise für jeden Spaß zu haben, aber nicht in diesem Fall! Fragen Sie mal meine Schulkinder, so etwas meine ich immer ernst. Todernst sogar! Deshalb herrscht bei mir auch Zucht und Ordnung!“ Verblüffte Blicke schwirrten durch den Klassenraum. Nach Ordnung sah das hier beileibe nicht aus und, wenn man das sündhaft kurze, extravagante Leder-Outfit dieser Lehrerin betrachtete, nach Zucht schon gar nicht.

„Und jetzt“, Livias Blick schoss wie ein Laserpointer von links nach rechts, „jetzt wird demokratisch abgestimmt. Elternwünsche nehme ich äußerst ernst, müssen Sie wissen. Also, meine Damen und Herren, wer von Ihnen ist für eine Vorstellungsrunde? Bitte melden!“

Alle Finger schossen in die Höhe, außer der von Madame Bockig. Aha, schau an, sinnierte Livia und lachte sich ins Fäustchen, wenn man sich auf etwas verlassen kann, dann auf die gute alte Gruppendynamik! Sie sind heiß darauf, dass ich das durchziehe und die Tussi sich blamiert. Sogar die brave Opeline will sie an den Pranger stellen. Nicht übel! Könnte doch noch witzig werden heute Abend!

6.

Pit trainierte gewissenhaft. Eine Stunde Calisthenics, eine halbe Stunde mit den Wurfmessern und eine weitere Stunde mit seiner nagelneuen HK416 in einem schallgedämmten Kellerraum seines Hauses. Pits Erfahrungen mit diesem Gewehr waren erstklassig. Es schoss präzise, zuverlässig und hatte wirklich Bums, anders konnte man es nicht nennen. Er hatte einiges für das spezielle Equipment hingeblättert und sich dafür, über diese miese kleine Ratte Steve, mit richtig schweren Jungs einlassen müssen. Kolumbianisches Waffen- und Drogenkartell, damit war nicht zu spaßen. Aber für Spaß gab es in Pits Leben ohnehin keinen Platz. Manche träumten von einer Weltreise, manche von beruflicher Karriere, manche von Liebe, manche von einem Hund. Pit träumte von einem lauten, blutigen und katastrophalen Ende. Jedem das Seine.

Am Abend joggte er zügig am Rosenhainer Dornenbach entlang und kam schließlich an seiner ehemaligen Grundschule vorbei. Sie wirkte verträumt, einladend und nett. Durch die Rosenranken und das Efeu an den Mauern könnte sie glatt als Märchenschloss durchgehen. Wie der Schein trügen kann, fuhr es Pit durch den Kopf. Er brachte mit diesem Gebäude ganz andere Bilder in Verbindung. Ihm wurde fast schlecht von dem Hass, der ihn unweigerlich übermannte. Kraftvoll trippelte er auf der Stelle, um nicht kalt zu werden, und bemerkte, dass im ersten Stockwerk Lichter brannten. Um diese Uhrzeit sicher die Putzfrau oder ein Elternabend, dachte er und wollte schon weiterlaufen, als eine innere Stimme ihm riet, einen schnellen Blick durch das Fenster zu werfen. Er versuchte den Gedanken abzuschütteln, doch die Stimme wurde so lästig, dass er schließlich die Straße überquerte und mit einem eleganten Sprung über den Zaun setzte. Geduckt schlich er durch den kleinen Vorgarten und kletterte an den Fenstersims. Was er sah, entsprach nicht gerade seinen Erwartungen.

Achtzehn Erwachsene saßen im Kreis, zusammengekauert auf lächerlichen Zwergenstühlen. Eine schlanke, rotgelockte Frau saß lässig und entspannt auf einer Art Chefsessel und eine leicht abgezehrte Blondine kauerte in der Mitte. Es schien, als stünde sie kurz vor einem hysterischen Anfall, so hektisch gestikulierte sie. Ach du Scheiße, sicher so eine bekloppte Selbsthilfegruppe, dachte Pit voller Abscheu. Dann fielen ihm die grinsenden Gesichter der anderen teilnehmenden Personen auf, was ihm äußerst spanisch vorkam. Normalerweise trieften die doch vor Mitleid in solchen Gruppen. Plötzlich sprang die Blonde auf und schüttelte wild ihr dünnes Haar. Die Rothaarige erhob sich ebenfalls. Sie besaß eine auffallend sportliche Figur. Mit großartiger Geste deutete sie auf ihr Opfer und nickte dabei bedächtig. Alle nickten mit. Was ging denn da ab? Das ist garantiert keine Selbsthilfegruppe, resümierte Pit, vielleicht eine Art Rollenspiel?

„Hey du, was machst du denn da?“

Erschrocken sah Pit nach unten. Da stand so eine kleine Rotznase und gaffte ihn an.

„Zieh Leine!“, knurrte er genervt. Kinder waren ihm ein Gräuel.

„Nee, meine Mama hat heute Elternabend. Ich muss warten. Das ist so langweilig! Spielst du mit mir?“

„Elternabend?“ Ungläubig warf Pit noch einen schnellen Blick durch die Scheibe.

„Bist du ein Spion?“, fragte die Göre sensationslüstern.

„Viel besser!“, kommentierte Pit die Frage und sprang herunter. Die zarte Gestalt zitterte vor Neugierde.

„Was dann? Bitte, bitte, sag schon!“

Es fiel ihm schwer, den Mund zu halten. Gerne hätte er die Wahrheit gesagt, um das Balg zu schockieren. Doch die neugierige Göre würde mit Sicherheit petzen und dann wären sie alle vorgewarnt. Kinder konnten doch nie die Klappe halten.

„Na? Jetzt sag schon!“, verlangte das Mädchen und hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere.

„Lass dich überraschen“, flüsterte Pit geheimnisvoll. Er zwinkerte der Kleinen zu, sprang elegant über den Zaun und joggte davon.

7.

„Aperol Spritz!“ Das war keine Bestellung, sondern ein Befehl. Der diensthabende Kellner beeilte sich, denn hier handelte es sich ganz eindeutig um einen Notfall! Kaum serviert, verschwand das knallorangene Getränk hinter blutroten Lippen.

„Noch einen!“, verlangte die durstige Dame.

„Sehr gerne!“, ließ der Kellner eifrig verlauten.

Er brachte ein frisches Glas und stellte einen kleinen Appetizer daneben, der, wie erwartet, sofort verschlungen wurde. Außerdem verschwanden in null Komma nichts sämtliche Erdnüsse und Paprika-Chips, die er am frühen Abend dezent auf den Tischen drapiert hatte. Diese unmäßige Gier bei einer so bildhübschen, derart sportlich aussehenden Frau zeugte von akutem Stress. Gier war wie ein Schlüssel. Sie öffnete Türen, die normalerweise nur schwer zu knacken waren. Am zweiten Appetizer knabberte Livia deutlich gelöster und ihre grünen Augen fixierten ihn amüsiert. Ihre schlanken Finger fuhren am Saum des mikroskopisch kleinen Lederminis entlang und strichen über die hauchdünne Seidenstrumpfhose hinweg zum Reißverschluss ihrer Overknees. Dort angekommen, ließen sie spielerisch den kleinen Metallschieber klimpern. Wow, dachte der Kellner fasziniert, die ist scharf wie eine Chilischote! Das könnte was werden!

„He!“, riss ihn eine tiefe Stimme aus seinen anregenden Träumen heraus und eine schwielige Hand knallte hart auf die Schulter des jungen Mannes hinab. „Roll mal die Zunge wieder ein und hol mir ’n Bier. Hopp, hopp, Papa hat mächtig Durst!“ Der Angesprochene fühlte sich empfindlich gestört und wurde zornig, doch mit einem schrägen Blick auf die mächtige Gestalt des Wirtes und seine berufliche Zukunft tat er wie geheißen.

„Na Süße, harten Tag gehabt?“ Der Wirt, der sich selbst gerne „Papa“ nannte, ließ seine beträchtliche Körpermasse gemächlich neben Livia auf den Barhocker gleiten.

„Elternabend“, seufzte Livia.

„Oha! Also Alarmstufe rot, ja?“

„Sowas von!“

„Zum Brechen langweilig, stimmt’s?“ Papa liebte diese Stammkundin ganz besonders und das nicht bloß, weil es sich bei ihr um die Nichte seines alten Kumpels Charly handelte.

„Langweilig? Nun, das kann man so jetzt nicht sagen.“ Livias Schmunzeln ließ einiges vermuten.

„Erzähl!“

Papa war angespitzt. Er kannte sie gut genug, um sich jetzt auf eine herrlich skurrile Gute-Nacht-Geschichte freuen zu dürfen. Da knallte ihm der frustrierte Kellner ein Pils vor die Nase, dass es nur so spritzte. Bevor Papa losbrüllen konnte, zwinkerte Livia dem jungen Mann zu und gab dem Wirt einen Kuss auf den angegrauten Bart. Wild mit Händen und Füßen gestikulierend, begann sie vom Elternabend zu erzählen. Es dauerte nicht lange, da bebte Papas dicker Bauch vor Lachen. Als der dritte Spritz serviert wurde, hielt Livia inne.

„Ist was?“, fragte Papa, enttäuscht von der Unterbrechung.

„Nicht umdrehen, Feind auf elf Uhr!“

Papa erstarrte. Feind? Sein Lieblingsgast hatte einen Feind? Wer würde es wagen?

„Soll ich …?“ Der beleibte Wirt lief krebsrot an und ballte seine große Hand zur Faust.

„Guten Abend, Frau Hengst. Na? Wie lief der Tag heute noch? Weiterhin fleißig über Leichen getrampelt? Unschuldige in die Verzweiflung gestürzt? Oder“, anzüglich schielte der Psychologe in Richtung Kellner, „zünftig ein paar Minderjährige versaut?“

Livia staunte nicht schlecht. Da stand ein beschwipster Dr. Drescher, der sich nach einem harten Arbeitstag offensichtlich einen hinter die Binde kippen musste. Genau wie sie. Was für ein lustiger Zufall! Sie wollte ihm gerade vorschlagen Brüderschaft zu trinken, als ihr die Erleuchtung kam, dass womöglich sie selbst den Grund für seinen Zustand darstellte. Papa kam ihr ohnehin zuvor. Wie vom wilden Watz gebissen fuhr er hoch.

„He, Freundchen, halt mal ganz schnell den Ball flach! Sonst bekommst du Flugstunden im Turbospeed-Modus! Kapiert?“

„Offensichtlich befinden Sie sich in angemessener Gesellschaft, Frau Hengst. So wie dieser Mensch hier sich ausdrückt, verstehen Sie sich mit Sicherheit blind! Hicks!“

Ratzfatz hatte ihm Papa sein Pils in die Augen gekippt. „Ha! Wer ist hier blind? Wer? Klebst und stinkst ja wie ein Schwein, du blasierter Fatzke! Kohle auf den Tisch und raus aus meinem Laden! Sofort!“

Dr. Drescher rührte sich vor Schreck keinen Zentimeter von der Stelle, doch das war ein Fehler! Sekunden später fühlte er sich wie von einem riesigen Schraubstock gepackt und in die Höhe gerissen. Der erboste Wirt schüttelte ihn durch, als sei er nur eine billige Lumpenpuppe. Dr. Dreschers Begleitung, ein seriös wirkender Schlipsträger mittleren Alters, wollte beschwichtigend dazwischengehen, doch Livia stellte ihm ein Bein. Der Mann stürzte und riss dabei mehrere Barhocker mit sich. Zu seinem Pech hatte auf einem der Hocker ein testosterongefluteter Bodybuilder gesessen und sich verzweifelt im Versuch ergangen, seinen Liebeskummer in einer Flasche Tequila zu ersäufen. Seine Liebste hatte ihn am Wochenende wegen eines Investmentbankers verlassen. Dummerweise sah Dr. Dreschers Freund ihm sehr ähnlich. Tische fielen um, Geschirr und Gläser knallten zu Boden und zerschellten, Flaschen flogen durch die Luft. Der Koch kam im Schweinsgalopp aus der Küche gerannt und warf sich mit gezücktem Kochlöffel ins Getümmel. Panisches Gekreische. Ein Handy schrillte. Chaos pur.

8.

Pit stand vor dem offen stehenden, hübsch verschnörkelten Jugendstilfenster des Highlights und traute, nun schon zum zweiten Male an diesem Tag, seinen Augen nicht. Für gewöhnlich ging es in dieser Bistro-Lounge sehr gediegen zu. Gerne trank er an der Bar einen guten Wein oder einen Espresso. Jetzt sah es darin aus wie in einer schlechten Westernverfilmung. Umgekippte Stühle, kaputte Gläser, wild prügelnde Männer, plärrende Weiber. Was um alles in der Welt war hier passiert?

Und dann, als hätte jemand einen Bühnenstrahler angeknipst, sah er sie. Mitten in diesem Tohuwabohu saß die Rothaarige vom Elternabend. Seelenruhig grinsend von einem Ohr bis zum anderen. Wer war diese Frau? Eine Vorbotin der Apokalypse? Für einen kurzen Moment schauten sie sich in die Augen. Der Lärm wurde leiser, die Bewegungen langsamer, das Licht schien heller und irgendwelche Krabbelwesen in Pits Magengrube waren offenbar im Begriff, den großen Preis von Monte Carlo zu gewinnen. Pit war sich nicht sicher, ob es sich hier vielleicht um eine seiner immer wiederkehrenden Visionen handelte. Das heillose Durcheinander im Highlight wirkte unglaublich und doch erschreckend realistisch. Seine Mundwinkel zuckten, fast musste er lächeln. Hexerei! Ja, sie ist eine Hexe, ganz klar, dachte Pit gebannt. Diese Haare, diese Augen, dieses extrem lebendige Antlitz und im Kontrast dazu dieses dreckige, diabolische Grinsen! Aber vielleicht ist sie auch die Brut meines Dämons, schoss es ihm durch den Kopf, vielleicht wurde sie geschickt, um mir meinen Plan, mein lang ersehntes Vorhaben zu vereiteln?

Das Getöse, welches aus dem Highlight zu ihm hinaushallte, verwandelte sich augenblicklich in höhnisches Gelächter. Die Stimme, zu der das Gelächter gehörte, war ihm vertraut und verhasst zugleich. In Form von stechenden Schmerzen tobte sie hinter seiner Stirn und verzerrte seine markanten Gesichtszüge zu einer abstoßenden, leidvollen Fratze. Die grünen Augen der Rothaarigen schienen genau zu wissen, was in ihm vorging. Ihr intensiver Blick drang bis tief in sein Innerstes und schien zu flüstern: „Ich kenne dich! Ich weiß, wer du bist!“

Brüsk wandte sich Pit vom Fenster ab und ergriff die Flucht. Schneller und schneller, immer weiter und weiter, rannte er davon, bis er schließlich keuchend innehielt. Mit der rechten Hand stützte er sich an einer Mauer ab, mit der linken drückte er auf sein rasendes Herz. War er wahnsinnig geworden? Wie konnte er sich so gehen lassen? Seit Jahren war es niemandem mehr gelungen, ihn derart aus der Fassung zu bringen. Niemand hatte ihn in irgendeiner Weise berühren oder ihm zu nahe treten können. Vor allen Dingen keine Frau! Seine Mutter hatte gründlich dafür gesorgt, dass weibliche Wesen, abgesehen von einigen emotionslosen Intermezzi, keinerlei Rolle in seinem Leben spielten. Die Sehnsucht nach Liebe in seiner Seele war mit der Zeit verdorrt wie die Blätter einer nie gegossenen Kübelpflanze.

Langsam rutschte Pit an den bröckeligen Steinen hinab zu Boden. Dort blieb er sitzen. Das Plätschern des Dornenbachs, der unterhalb der Mauer vorbeifloss, wirkte ein Stück weit deeskalierend auf ihn. Wieso dieser Kontrollverlust? Pits Gedanken trudelten wie abfallendes Laub in die Tiefe, landeten auf dem Wasser und schwammen schaukelnd in die Ferne. Er ging auf Zeitreise. Der kleine Bachlauf trug ihn mit sich, mündete in die große blaue Donau und floss mit ihr zusammen in den dunkelgrünen Schwarzwald hinein. Beim KSK, dem Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr in Calw, hatte sich Pit fünfzehn Jahre lang durch sein streng diszipliniertes Verhalten und überragende Leistungen ausgezeichnet. Er war im In- und Ausland aktiv gewesen. Weder Krieg, Leid noch Tod konnten ihn schrecken. Aufgrund seiner Einsätze im Tschad, in Mali, Libyen und Afghanistan hätte er einiges über die umstrittenen „Kill or Capture“-Missionen für die Nato berichten können. Doch sein damals geleisteter Eid war ihm bis heute heilig. Im KSK ging es weder um Selbstbeweihräucherung noch um Urkunden oder Orden. Was zählte, war das Funktionieren