Unverhofft nervt oft
Ilona Einwohlt
1. Auflage 2014
© 2014 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandillustration und Innenvignetten: Martina Badstuber
Einbandgestaltung: Frauke Schneider
Innengestaltung: KOKOM Kommunikation GmbH, Darmstadt
ISBN 978-3-401-80348-7
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Hey! Ich bin Alicia. Nicht Alice aus dem Wunderland oder die mit der Flatrate, sondern Alicia.
Diesen besonderen Vornamen verdanke ich meinem Vater, der ein Faible für alles Italienische hat und mich „Alitschia“ ruft.
Meine beste Freundin Bibi, die mich wie alle lieber Alicia nennt, findet, ich sollte froh sein, solch einen Namen zu haben. Immerhin sei er das Aufregendste an mir. Im Gegensatz zu ihr, die nämlich lange blonde Haare hat, jedes Tennisturnier gewinnt, dreimal im Jahr verreist und bereits fünfmal verliebt war (davon einmal mit küssen), bin ich eher der Typ braune Maus: Ich habe langweilige, borstige Haare, genau vier Pickel im Gesicht, eine durchschnittliche Figur mit unterdimensionalen Busenknubbeln und Schuhgröße siebenunddreißig.
Ich trage Normalo-Jeans von H & M, besitze ein paar stumme Fische im Aquarium und spiele Gitarre, klassische natürlich.
Während mein Vater als Tourismusmanager durch die Welt jettet, verbringe ich sechs langweilige Stunden in der Schule und weitere drei mit noch öderen Hausaufgaben. Wenn es ganz schlimm kommt, muss ich Oma Lisa beim Herrichten unserer zehn – Z-E-H-N! – Gästezimmer helfen oder Klos putzen.
Wer jetzt meint, na, aber in der Schule, da hat man doch als Teenie erfahrungsgemäß so seinen Trouble mit den Lehrern: geschnitten! Ich bin eine Durchschnittsschülerin mit Durchschnittsnoten und schreibe zuverlässig Zweier, Dreier und Vierer in allen Fächern.
In meinem Lieblingsfach Bio bin ich auch nicht besser als in Englisch, wo ich so gut wie nie die Hausaufgaben mache. Ich bekomme keine blauen Briefe wie Bibi, weil sie Chemie schwänzt, noch droht mir ein Schulverweis wie Jo, die auf dem Klo erwischt wurde, als sie dort heimlich geraucht hat. An sich ist mein Leben total öde und langweilig. Wenn nicht die Sache mit der Fünf in Mathe passiert wäre …
Weiß und kalt wie Schnee
Schuld daran war der Schnee, der seit Anfang Januar in dicken Flocken vom Himmel fiel und mir die Laune vermieste. Deswegen ging ich nicht vor die Tür, deswegen spielte ich nicht auf meiner Gitarre, deswegen lernte ich nicht für die Schule. Es war, als ob meine Hirnzellen schockgefroren waren. Alles lag wie unter einer Schneedecke begraben, selbst meine Fische schwammen langsamer als sonst.
Ich konnte nichts anderes tun als nichts. Dieses Weiß überall lähmte mich und machte, dass ich von morgens bis abends schlechte Laune hatte und nichts auf die Rille brachte.
Das wiederum ärgerte Oma Lisa, die auf meine Hilfe im Haushalt angewiesen war, weil sie Gästezimmer vermietete, die ständig hergerichtet werden mussten. Jeden Tag war ich aufs Neue ihrem Gezeter über meine Faulheit ausgesetzt, wenn sie wieder einmal alleine die Mahlzeiten für unsere Feriengäste zubereiten oder die Räume putzen musste. Denn obwohl es tiefster Winter war, gaben sich die Gäste die Klinke in die Hand, weil unser Anwesen einen besonderen Charme hatte, wie es in einem Insider-Reiseführer stand. Aber Oma Lisa und ihre Herzlichkeit waren damit sicher nicht gemeint. Es lag vielmehr an dem verwahrlosten Gelände am Stadtrand, auf dem dieses total abgewrackte Bahnhofsgebäude stand, das ich mein Zuhause nannte. Züge hielten hier seit Ewigkeiten nicht mehr. Längst wuchsen zwischen den Gleisen bunte Ringelblumen und Kräuter – wenn nicht gerade alles so wie jetzt unter einer dicken Schneedecke begraben war.
Wir lebten in dem modernisierten Teil mit fließend Wasser und Heizung, während auf der Westseite der Dachboden vor sich hin bröselte und der Schimmel an den Wänden hochkroch. Was die einen charmant nannten, versetzte mich in höchste Panik. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Verfall mein Zimmer erreicht haben würde, und so setzte ich alles daran, meine Bude warm und trocken zu halten. Ich hatte mir vom Sperrmüll einen elektrischen Heizlüfter organisiert, den ich im Winter auf Hochtouren laufen ließ. Natürlich gegen den Willen von Oma Lisa, die an Knausrigknickrigkeit nicht zu übertreffen war.
Längst hatte ich mich daran gewöhnt, von meiner Oma großgezogen zu werden, weil meine Mutter unsere Familie vor langer Zeit verlassen hatte. Ich beklagte mich auch nicht darüber, dass ich keine Geschwister hatte und mein Vater durch seine Abwesenheit glänzte. Und eine vor sich hin grummelnde Oma war mir ebenso vertraut wie ihr schmerzverzogenes Gesicht an feuchten Regentagen, wenn sie das Rheuma plagte. Aber in jenen verschneiten Tagen dämmerte mir, dass ich mit fast dreizehn Jahren ganz andere Probleme hatte als die Frage, ob jemand mit dem Marmeladenlöffel im Honigglas war, eins der Handtücher hatte mitgehen lassen oder dass die Stromrechnung mal wieder viel zu hoch ausgefallen war.
Denn als mein Vater, heimgekehrt von einer zweiwöchigen Recherchetour auf Sardinien, die Mathearbeit unterschreiben musste, platzte ihm vor Empörung der Kragen seines italienischen Designerhemdes.
„So geht das nicht weiter, Alitschia!“, rief er und fuchtelte mir mit dem Blatt vor der Nase herum. „Das werde ich mit deiner Lehrerin besprechen! Und Nachhilfe bekommst du auch.“
Wie gesagt, das war der Anfang vom Ende.
Ich seufzte tief. So viel väterliche Aufmerksamkeit war ich überhaupt nicht gewohnt und sie verhieß nichts Gutes. Beim letzten Mal hatte sie dazu geführt, dass ich fünf Tage lang in der Kinderklinik durchgecheckt wurde, nur weil mein Vater in Folge einer heftigen Magen-Darm-Grippe bei mir eine Immunschwäche vermutete. Davor hatte ich eine Knochenhautentzündung vom vielen Balletttraining
und konnte drei Monate lang nur humpeln. Jemand hatte behauptet, ich hätte Talent, weswegen mich mein Vater viermal pro Woche von einer ehrgeizigen Primaballerina unterrichten ließ, private Einzelstunden, versteht sich.
Und als ich in der dritten Klasse zum ersten Mal Englisch hatte, steckte mich Papa aus lauter Begeisterung in den Ferien kurzerhand in ein Sprachcamp – und ich verbrachte zwei Wochen voller grässlichem Heimweh. Homesick. Das Wort werde ich mein Leben lang nicht vergessen.
„Nachhilfe kann mir Daniel geben“, beeilte ich mich zu sagen, bevor mein Vater auf die glorreiche Idee kam, mir einen Mathematikprofessor von der Uni zu organisieren. „Ausgerechnet Daniel?“, mischte sich Oma Lisa ein, die gerade dabei war, Handtücher zusammenzulegen. Eine Arbeit, die sie sonst gerne mir auftrug. Aber ich hatte ja eine der seltenen ernsthaften Unterredungen mit meinem Vater.
„Daniel ist Bundessieger im Känguru-Wettbewerb“, erklärte ich schnell, damit keine Missverständnisse aufkamen.
„Alicia, es geht um Mathematik, nicht um Biologie“, warf mein Vater missbilligend ein und schob die schwarze Hornbrille auf seiner Nase zurecht. In diesem Moment konnte ich ihn nicht leiden. Immer wollte er alles besser wissen. Dabei hatte er null Ahnung von mir und meinem Leben.
„Es geht um mich“, antwortete ich sehr selbstbewusst. „Und Daniel hilft mir gerne.“ Ich war aufgesprungen. Daniel wohnte nebenan und ging in meine Klasse. Weil hier draußen außer uns sonst niemand lebte, verbrachten wir zwangsläufig viel Zeit miteinander und waren über die Jahre richtig dicke Kumpelfreunde geworden.
Wenn wir uns gegenseitig bei den Hausaufgaben halfen, hatte jeder mehr Freizeit. Ich für mich und Daniel für seinen Hund Carlo, mit dem er eines Tages eine Hundezucht eröffnen wollte.
Im alten Lokschuppen hatten wir uns innerhalb der Meisterbude eine gemütliche Zweitwohnung geschaffen, mit Sofa, Schränken und einem Schreibtisch. In diesem Glaskasten, wo früher der Werkstattmeister seine Pläne studierte und den Papierkram erledigte, trafen wir uns, sooft es ging. Ich, um meine Ruhe vor Oma Lisa und den Gästen zu haben. Und Daniel verkrümelte sich hierher, weil es der einzige Ort war, wo er sich vor seiner überbehütenden Mutter Lydia sicher fühlte, die ihn sonst auf Schritt und Tritt bewachte – auch wenn so ein alter Lokschuppen samt seiner Untersuchungsgrube alles andere als sicher war, denn überall lagen noch Seile, Stangen und Bohlen herum. Aus unerfindlichen Gründen war es Lydia ein Dorn im Auge, wenn Daniel so viel Zeit bei uns drüben verbrachte. Ich glaubte, es hatte etwas mit seinem Opa Georg zu tun, ein alter, gereizter Kauz, der auf seine Nachbarin, nämlich meine Oma Lisa, nicht sonderlich gut zu sprechen war. Aus Gründen, die lange vor meiner Zeit liegen mussten, aber darüber redete sie nie.
Jetzt, im Winter, war es in unserer Bude sibirisch kalt und wir konnten nicht gemeinsam dort lernen. Deswegen hatte ich ja die fette Fünf kassiert.
„Ich weiß nicht …“ Mein Vater kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ich finde, du solltest die Schule ernster nehmen! Ich spreche mit deiner Lehrerin und dann sehen wir weiter.“ Schon hatte er sein Smartphone gezückt und wischte mit dem Zeigefinger darüber.
Ich verdrehte die Augen. Ich hatte auch so ein Teil, sogar mit Flatrate-Vertrag, aber ich nutzte es kaum. Mit wem sollte ich denn skypen oder simsen? Die Eltern meiner Freundinnen Amal und Bibi waren nämlich weniger spendabel und erlaubten nur eine Stunde Internet pro Tag. Solche Diskussionen hatte ich glücklicherweise nicht! Mit Papa nicht, weil er durch und durch ein Medienmensch war und ja sowieso nie da. Und mit Oma nicht, weil sie froh war, wenn sie ihre Ruhe vor mir hatte. Manchmal hatte diese Kleinstfamilie, in der ich leben musste, auch ihre guten Seiten.
„R-o-s-e-l-o-t-t-e F-r-o-b-o-e-s-e, ist sie das?“ Mein Vater las jeden Buchstaben betont einzeln und kriegte sich gar nicht mehr ein vor Lachen. „Wieso müssen Menschen mit den seltsamsten Namen ausgerechnet immer Lehrer werden?“
Das fragte ich mich im Fall von Frau Froboese schon lange. Sie hieß nicht nur seltsam, sie war es auch. Weniger äußerlich, da wirkte sie mit ihren langen blonden Haaren und ihrer sportlichen Figur eher wie eine sexy Lady. Das fanden zumindest Daniel und die anderen Jungs. Mir war es egal, wenn ihr Minirock wieder einmal kürzer war als der von Jo, dem Modemädchen aus meiner Klasse. Oder wenn sie ständig wechselnde Tücher trug, die farblich auf ihr Outfit abgestimmt waren. Aber die anderen lästerten natürlich gerne, allen voran Daniel, der der Meinung war, eine Mathelehrerin wie sie und mit diesem Namen gehöre in die Grundschule und nicht aufs Gymnasium. Er liebte es, mit Frau Gutschlimm über komplizierte Terme oder rationale Zahlen zu diskutieren, und gab nicht eher Ruhe, als bis er ihr einen Fehler nachgerechnet hatte. Daniel würde mir also ganz sicher ein sehr guter Nachhilfelehrer sein und das auch gerne tun, da hatte ich überhaupt keine Bedenken. Die Frage war also: Was wollte Papa dann bei ihr? Dass sie leider zu den Mathematiklehrerinnen gehörte, die nicht besonders gut erklären konnten, und die meisten aus meiner Klasse bei ihr um zwei Noten schlechter waren als sonst, war ein offenes Geheimnis. Außerdem wirkte sie dauergestresst, selbst wenn sie sich für die Schule wie für den Laufsteg stylte. Und in so einem Elterngespräch würde sie meinem Vater nur erzählen, dass ich die letzten Male nicht die Hausaufgaben gemacht hatte und im Unterricht vor mich hin träumte, anstatt mich aktiv zu beteiligen. Ganz sicher würde sie ihm auch brühwarm verpetzen, dass Bibi und ich ihr ständig blöde Streiche spielten. Nein, dieses Gespräch musste ich unbedingt verhindern.
Jo und Amal fanden das mit den Streichen kindisch und Daniel hielt sich ebenfalls aus unseren Aktionen heraus, aber Bibi und ich hatten aus lauter Langeweile eine lange Liste angelegt, die wir Punkt für Punkt genüsslich abhakten. Angefangen bei einem versteckten Klassenbuch, Wackelkontakten im Smartboard bis hin zu der Sache mit dem zerrissenen Stoff … Das war besonders witzig, weil Frau Hässlichschön just an jenem Tag ihren engsten Rock trug, an dem sie ständig herumzupfte. Und als sie sich nach einem heruntergefallenen Stift bücken musste, riss ich heimlich unter meinem Tisch ein Stück Stoff auseinander.
Es machte Ritsch! – und Frau Munterlahm ein erschrockenes Gesicht. Panisch lief sie aus der Klasse und ließ sich die restliche Woche krankschreiben. Natürlich hatte sie keinen blassen Schimmer, dass ich dahintersteckte, weil unsere Klasse eisern zusammenhielt und niemanden verpetzte. Aber garantiert würde sie Papa bei dieser Gelegenheit stecken, was es mit meinem Lernverhalten auf sich hatte – und dass meine Fünf nur die logische Folge davon war.
„Ich krieg das schon wieder hin!“, versuchte ich, ihn zu beschwichtigen. Bei dieser Gelegenheit war ich auf seinen Schoß geklettert und schmiegte mich an ihn wie früher als kleines Mädchen, als er mir noch jeden Abend „Alice im Wunderland“ vorgelesen hatte. Natürlich die Original-Version, nicht die Disney-Variante, mein Vater hat schon immer großen Wert auf meine Bildung gelegt.
„Davon bin ich überzeugt“, mischte sich abermals Oma Lisa ein. Sie schenkte mir ein missbilligendes Lächeln, nach dem Motto »Was will denn eine fast Dreizehnjährige auf Papas Schoß?«.
„Wenn Alicia sich in Zukunft anstrengt, wird sie das schon schaffen“, fuhr sie energisch fort. „Oder willst du etwa die Zeit dieser schicken Frau Froboese vergeuden?“ Jetzt sah sie meinen Vater streng an und ich fragte mich, woher Oma wusste, dass meine Mathelehrerin so umwerfend gut aussah?!
Die Wahrheit nämlich lautete: Mein Vater war ein unverbesserlicher Casanova, der sich nur allzu gerne von hübschen Frauen um den Finger wickeln ließ. Ob auf seinen unzähligen Dienstreisen oder von wechselnden weiblichen Gästen hier im alten Bahnhof.
Oma sagte: „Ständig diese Liebschaften, lass mich bloß damit in Ruhe!“
Daniel meinte: „Der ist ja schlimmer als Carlo!“
Mir war er einfach nur peinlich.
„Es ist, weil er deine Mutter so geliebt hat“, erklärte mir Oma Lisa, als ich sie einmal in meiner Verzweiflung darauf ansprach. Da hatte Papa innerhalb eines Jahres zwölf Frauen geküsst und ich fand das einfach nur eklig. Es sei eine Wette gewesen, behauptete er mir gegenüber, aber ich glaubte ihm nicht. Was Oma da erzählte, allerdings auch nicht. Wenn er Mama wirklich noch lieben würde, würde er keine andere angucken. Und Oma sagte das nur, um mich zu trösten. Denn als ich klein war, hatte ich sie einmal dabei überrascht, wie sie mit tränennassen Augen ein vergilbtes Foto von meinem Vater und einer wunderschönen Frau betrachtete. Es war nicht meine Mutter, so viel erkannte ich, selbst mit meinen damaligen vier Jahren. Auf meine erschrockene Frage hin erklärte sie mir, dass mein Vater keiner Frau treu bleiben könne und meine Mutter deshalb an einem fremden Ort lebte, wo ihr als Märchenprinzessin sämtliche Männer zu Füßen lagen. Ich habe es lange Zeit geglaubt.
„Ja, du hast recht“, antwortete mein Vater, nachdem er mir ausführlich durch meine Haare gewuschelt hatte. Gleich würde er wieder „Asinello“ sagen, was auf Italienisch Eselchen bedeutete und auf meine braunen, widerspenstigen Haare anspielte. Die Haare hatte ich leider nicht von meiner Mutter geerbt, wie ich von dem Foto, das auf dem Wohnzimmerschrank stand, wusste. Mama hatte wunderschöne lange, glatte blonde Haare gehabt. Ob sie mittlerweile ein bisschen grau waren?
„Dann rufe ich gleich mal Daniel an!“, rief ich erleichtert, bevor er seine väterlichen Anwandlungen bekam. Für heute hatte ich genug von ihnen. Ich sprang auf.
„Aber danach hilfst du beim Frühstückstischdecken, damit für morgen früh alles bereit ist!“, rief Oma Lisa mir nach, aber da war ich schon im Büro, um mir das Funkteil zu angeln.
Genervt rollte ich mit den Augen, während ich die Kurzwahltaste drückte.
„Ja-a!“, rief ich ihr nach.
„Sie ist groß geworden, findest du nicht?“, hörte ich meine Oma mit einem gewissen Unterton in der Stimme noch sagen.
Daniel war sofort dran. „Wo brennt’s?“, kam er ohne Umschweife zur Sache. Wie gesagt, wir kannten uns gut.
„Mathe, du musst mit mir lernen“, antwortete ich ebenso knapp, während ich wieder Richtung Küche schlich, um zu lauschen, was Papa und Oma sich zu sagen hatten.
„Oh ja“, seufzte mein Vater. „Wem sagst du das!“
„Höchste Zeit, dass du dich mehr um sie kümmerst!“
„Klar, und wann?“
„Am besten gleich morgen. Damit sie die Sache so schnell wie möglich vergessen.“
„Das arme Mädchen ist ja total durcheinander! Diese ständigen Frauengeschichten! Kein Wunder, dass sie in der Schule so schlecht ist. Du musst wohl doch mit der Lehrerin reden.“
„Wie du meinst. Dann spreche ich eben mit dieser Frau Froboese.“
„Super. Aber nicht im Schuppen, da ist es zu kalt.“
„Das will ich dir auch geraten haben. Die Heizung knackt übrigens.“
„Dann treffen wir uns lieber bei mir, bevor deine Mutter wieder blöde Fragen stellt.“
„Einverstanden. Was ich dir übrigens noch sagen wollte…“ Der Rest ging in Stuhlgeschiebe und -gerücke unter, weil mein Vater aufstand und die Küchentür schloss. Er konnte ja nicht ahnen, dass ich die ganze Zeit über draußen im Flur stand und lauschte, während ich mit Daniel telefonierte.
Zu gerne hätte ich an jenem Abend noch erfahren, was er meiner Oma zu sagen hatte. So musste ich Daniels Monolog über mich ergehen lassen.
„Carlo hat Zuchtpotenzial!“ erzählte er begeistert. „Ich war heute bei der Zuchtwartin und sie meint, noch drei Prüfungen und dann sollte er an den Start gehen können.“
„Das wäre ja großartig“, murmelte ich abwesend, nicht wirklich begeistert über Daniels Ausführungen. Daniel träumte davon, ein erfolgreicher Hundezüchter zu werden. Seit er seinen Hovawart-Rüden Carlo hatte, der vor Männlichkeit nur so strotzte, war er seinem Ziel ein großes Stück näher gekommen. Während Daniel mir weiter davon vorschwärmte, wie er mit Bierhefe und Rapsöl Carlos Fell auf Hochglanz bekäme, versuchte ich, heimlich an der Küchentür zu lauschen, welch wichtige Mitteilung mein Vater wohl meiner Oma zu machen hatte. Aber sosehr ich mich auch anstrengte, es gelang mir nicht, auch nur einen Gesprächsfitzel zu verstehen.
Um die nächste Frage gleich zu beantworten: Nein, auch das Thema Jungs ist bei mir langweilig.
Bibi meint, kein Wunder, ich wäre ja noch so kindisch und würde lieber den Fischen in meinem Aquarium zugucken als nach Jungs Ausschau halten. Dass ich Gitarre spiele und gerne Pferdebücher lese, in denen noch nicht einmal geküsst wird, macht die Sache in ihren Augen auch nicht besser. Sie erzählt mir jeden Tag, dass sie heimlich in Daniel verknallt ist und nicht weiß, was sie machen soll. Schließlich ist Tim aus der 8b auch so toll und Kamil aus der Parallelklasse hat sie total süß angelächelt, sodass sie sich jetzt andauernd fragt, ob er etwas von ihr will oder nicht. Stundenlang muss ich mir ihre Schwärmereien über Jungs anhören.
Dass sie sich nicht traut, Daniel anzusprechen, um ihm ihre Liebe zu gestehen, dass sie nicht weiß, ob Tim ihr Outfit mag und auf ihre blonden Haare steht oder ob Kamil sie nur toll findet, weil sie schon einen BH trägt.
Wenn sie wüsste, dass sich Daniel aktuell nur für Carlo interessiert, würde sie sich wahrscheinlich mit ihren High Heels von der Brücke stürzen. Ich bin nach solchen Nachmittagen mit Bibi immer unsäglich erschöpft und frage mich dann, was mit mir los ist. Ob ich fehlentwickelt bin, weil ich all ihre Aufregung nicht nachvollziehen kann und warum ich mich nicht für ihre Themen wie Schminken, Küssen und Jungs interessiere.
Alles Spitze oder was?
Es war ein paar Tage später, an einem Sonntag, als sich mein Leben für immer veränderte. Nach wie vor schneite es in einer Tour und aus lauter Frust war ich im Bett liegen geblieben, anstatt Oma Lisa beim Frühstücksgeschäft zu helfen. Ich hörte das laute, vorwurfsvolle Geklapper der Teller und Schälchen bis hoch auf mein Zimmer, aber ich hatte keine andere Wahl, als liegen zu bleiben. Bibi hatte mir gestern eine ihrer Mädchenzeitschriften ausgeliehen und ich blätterte lustlos darin herum. Partyoutfits oder die Frage nach dem richtigen Nagellack interessierten mich einfach nicht. Oma Lisa würde mir was husten, wenn ich ihr erklären würde, dass ich ihr ausnahmsweise nicht beim Marmeladekochen helfen könne, weil gerade die dritte Schicht meiner french manikürten Fingernägel trocknen müsse.
Aber Bibi fühlte sich verantwortlich für mich und war der Meinung, ich könne viel mehr aus meinem Typ machen. Ich müsse mich nur mal trauen und mir ein paar blonde Strähnchen färben, enge Hosen tragen und die passenden T-Shirts dazu. Außerdem bräuchte ich ein aufregendes Hobby wie Modern Dance oder Creative Work, dann würden andere endlich mal merken, was in mir steckt.
Sie hatte mir diesen Test empfohlen, bei dem es um die Frage ging, wie weit entwickelt man ist. Also tat ich ihr den Gefallen und kreuzte an, welche Duftrichtung mein Lieblings-Deo hatte, ob ich lieber Bustier oder BH trug und ob ich schon mal einen Jungen geküsst hatte. Schwierig, schwierig, wenn man wie ich kein Deo benutzte, nur zwei winzige Busenknubbel besaß und um Jungs (außer Daniel, aber der zählte nicht) einen großen Bogen machte. Aber ich quälte mich tapfer durch und setzte ein Kreuzchen nach dem nächsten.
Müßig zu erwähnen, dass ich in der Rubrik „Spätzünder“ landete. Wenn ich Bibi morgen davon erzählen würde, würde sie mich garantiert mit ihren kajalschwarzen Augen verzweifelt anschauen und für beratungsresistent erklären. Ich konnte nur hoffen, dass sie daraus Konsequenzen zog und mich nicht zu ihrer Wellness-Party einlud, ich würde absagen müssen. Denn ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, mir Gurkenscheiben aufs Gesicht zu legen oder mir gar von Bibi die Füße massieren zu lassen. Ich blätterte weiter und las noch SEHR interessiert den Artikel über Schamhaarfrisuren.