Herzlichen Dank an Peter Busch vom Laboratory of Forensic Odontology Research an der School of Dental Medicine, SUNY in Buffalo, für seine Beratung bezüglich der Raster-Elektronenmikroskopie und der energiedispersiven Röntgenspektrografie und an S. Kelly Sears von der Facility for Electron Microscopy Research an der McGill University.
Meine aufrichtige Dankbarkeit gilt Michael Warns, der, wie gewöhnlich, sehr viele Sachen recherchiert hat. Wer wusste zum Beispiel, dass es in der Umgebung von Chicago so viele Steinbrüche gibt?
Michael Cook ließ mich teilhaben an seinem Wissen über Abwasserkanäle. Renate Reichs half mir bei der Topografie Chicagos. Jack Kenney hatte nützliche Tipps zum Büro des Cook County Medical Examiner. William Rodriguez steuerte Details aus der forensischen Anthropologie bei. Michael Bisson klärte mich über die CRM-Archäologie auf, die cultural resources management archeology (Kulturressourcenmanagement/KRM), also den Zweig der Archäologie, der sich mit der Lokalisierung, Dokumentation und wenn möglich dem Erhalt von archäologischen Stätten beschäftigt, die bei Bauarbeiten ans Licht kommen. Ronnie Harrison bearbeitete meine Fragen zur Polizeiarbeit. Und da war natürlich auch die nette Dame, die meinen Anruf in der Bibliothèque et Archives nationales du Québec entgegennahm.
Ich freue mich sehr über die fortdauernde Unterstützung durch Philip L. Dubois, dem Chancellor of the University of North Carolina in Charlotte.
Ich danke meiner Familie für ihre Geduld und ihr Verständnis, vor allem, wenn ich gereizt bin. Oder nicht da. Ein spezieller Dank geht an Paul Reichs, weil er das Manuskript gelesen und kommentiert hat.
Tiefster Dank an meine wunderbare Agentin Jennifer Rudolph Walsh und an meine glänzenden Lektorinnen Nan Graham und Susan Sandon. Ich möchte auch all jene dankend erwähnen, die sich für mich so viele Mühe gemacht haben: Katherine Monaghan, Paul Whitlatch, Anna Simpson, Margaret Riley sowie Britton Schey, Tracy Fisher und Michelle Freehan. Und natürlich stehe ich in der Schuld des kanadischen Teams, vor allem bei Kevin Hanson und Amy Cormier.
Falls dieses Buch Fehler enthält, ist das allein meine Schuld. Falls ich vergessen habe, jemandem zu danken, entschuldige ich mich. Sie wissen ja, wie das alles ist.
Artikel von Bush und Brion Smith:
Smith, B.C., »A Preliminary Report: Proximal Facet Analysis and the Recovery of Trace Restorative Materials from Unrestored Teeth.« Journal of Forensic Sciences; Bd. 35: 4. Juli 1990. 873–80.
Kalt.
Taub.
Verwirrt.
Ich öffnete die Augen.
Dunkelheit. Schwarz wie ein arktischer Winter.
Bin ich tot?
Einem limbischen Befehl gehorchend, atmete ich tief ein.
Mein Hirn registrierte Gerüche.
Schimmel. Modrige Erde. Etwas Organisches, das auf das Vergehen der Zeit hinwies.
War dies die Hölle? Ein Grab?
Ich lauschte.
Stille. Undurchdringlich.
Aber nein. Es gab Geräusche. Luft, die durch meine Nasenlöcher rauschte. Blut, das mir in den Ohren pochte.
Leichen atmen nicht. Tote Herzen schlagen nicht.
Andere Gefühle mischten sich ein. Härte unter mir. Ein Brennen auf der rechten Seite meines Gesichts.
Ich hob den Kopf.
Bittere Galle flutete mir den Mund.
Ich bewegte die Hüften, um Druck von meinem verdrehten Hals zu nehmen.
In meinem linken Bein explodierte der Schmerz.
Ein Stöhnen zerriss die Stille.
Instinktiv rollte mein Körper sich fötal zusammen. Das Pochen wurde lauter.
Ich lag zusammengerollt da und lauschte dem Rhythmus meiner Angst.
Dann die Erkenntnis. Das Geräusch war aus meiner eigenen Kehle gekommen.
Ich spüre Schmerz. Ich reagiere. Ich lebe.
Aber wo?
Ich spuckte Galle und versuchte, die Hand auszustrecken. Spürte Widerstand. Merkte, dass meine Handgelenke gefesselt waren.
Ich zog ein Knie an die Brust. Beide Füße hoben sich gleichzeitig. Ich ließ die Hände sinken.
Ich versuchte es ein zweites Mal, diesmal fester. Wieder feuerten Neuronen mein Bein hoch.
Einen weiteren Schrei unterdrückend, versuchte ich, Ordnung in mein wirres Denken zu bekommen.
Man hatte mich an Händen und Füßen gefesselt und abgelegt. Wann? Wo? Wer?
Warum?
Die Suche im Datenspeicher nach jüngst zurückliegenden Ereignissen brachte nichts. Und die Lücke im Gedächtnis reichte noch viel länger zurück.
Ich erinnerte mich an ein Picknick mit meiner Tochter Katy. Aber das war im Sommer. Der Eiseskälte nach musste es jetzt Winter sein.
Traurigkeit. Ein letzter Abschied von Andrew Ryan. Das war im Oktober. Hatte ich ihn danach wiedergesehen?
Ein leuchtend roter Pullover zu Weihnachten. Dieses Weihnachten? Ich hatte keine Ahnung. Desorientiert suchte ich nach irgendeinem Detail aus den letzten paar Tagen. Doch alles blieb verschwommen.
Vage Eindrücke ohne rationale Form oder Abfolge tauchten kurz auf und verschwanden wieder. Ein Gestalt, die aus dem Schatten trat. Mann oder Frau? Wut. Schreien? Weswegen? Gegen wen gerichtet?
Schmelzender Schnee. Licht, das in Glas funkelt. Der dunkle Rachen eines Türspalts.
Erweiterte Gefäße pochten in meinem Schädel. Sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte meinem umnebelten Verstand keine Erinnerungen entlocken.
Hatte man mich mit Drogen vollgepumpt? Hatte ich einen Schlag auf den Kopf abbekommen?
Wie schlimm war mein Bein dran? Falls ich es schaffte, mich zu befreien, konnte ich dann gehen? Kriechen?
Meine Hände waren taub, mein Finger unbrauchbar. Ich versuchte, die Handgelenke nach außen zu drücken. Spürte kein Nachgeben der Fessel.
Tränen der Frustration brannten mir hinter den Lidern.
Nicht weinen!
Ich biss die Zähne zusammen, drehte mich auf den Rücken und riss meine Füße auseinander. Flammen schossen mir in den linken Unterschenkel.
Dann wusste ich nichts mehr.
Ich wachte wieder auf. Augenblicke später? Stunden? Ich hatte keine Ahnung. Mein Mund fühlte sich trockener an, die Lippen noch ausgedörrter. Der Schmerz im Bein war dumpfer geworden.
Obwohl ich meinen Pupillen Zeit ließ, registrierten sie nichts. Wie sollten sie sich auch anpassen können? Die dichte Schwärze bot nicht den winzigsten Schimmer von Licht.
Die alten Fragen kehrten wieder. Wo? Warum? Wer?
Offensichtlich war ich verschleppt worden. Um zum Opfer irgendeines kranken Spiels zu werden? Um als Bedrohung aus dem Weg geschafft zu werden?
Der Gedanke löste meine erste klare Erinnerung aus. Eine Leiche, verkohlt und verdreht, der Mund in einem letzten Schrei aufgerissen.
Dann eine kaleidoskopische Sequenz, Bilder, die einander jagten. Zwei Autopsiesäle. Namensschilder, die zwei Labore kennzeichneten. Temperance Brennan, Forensische Anthropologin. Temperance Brennan, Anthropologue Judiciaire.
War ich in Charlotte? Montreal? Viel zu kalt für North Carolina. Sogar im Winter. War es Winter? War ich in Quebec?
War ich zu Hause verschleppt worden? Auf der Straße? Vor dem Édifice Wilfrid-Derome? Im Institut?
War ich nur durch Zufall zum Opfer geworden? Oder weil ich war, was ich war? Suchte da jemand Rache für einen früheren Beschuldigten? Ein Verwandter mit Verschwörungsfantasien? An was für einem Fall hatte ich zuletzt gearbeitet?
Mein Gott, konnte es wirklich so kalt sein? So dunkel? So still?
Warum dieser Geruch, der mir so verstörend vertraut vorkam?
Wie zuvor schon, versuchte ich, meine Hände zu bewegen. Meine Füße. Vergeblich. Ich war verschnürt, konnte mich nicht einmal aufsetzen.
»Hilfe! Ich bin hier! Ist da jemand? Helft mir!«
Immer und immer wieder rief ich das, bis ich heiser wurde.
»Irgendjemand. Bitte!«
Mein Flehen blieb unbeantwortet.
Panik drohte mich zu überwältigen.
Du wirst nicht hilflos sterben.
Vor Angst und Kälte zitternd und weil ich verzweifelt etwas sehen wollte, drehte ich mich auf den Rücken, drückte die Hüfte nach oben und streckte die Arme so weit aus, wie es ging, ohne auf den Schmerz in meinem Bein zu achten. Ein Stoß. Der zweite. Der dritte. Mein Fingerspitzen spürten einen knappen halben Meter über meinem Gesicht Härte.
Ich bäumte mich noch einmal auf. Bekam Kontakt. Sediment rieselte mir in die Augen und den Mund.
Spuckend und blinzelnd drehte ich mich auf die rechte Seite und schob mich mit einem Arm und beiden Füßen nach vorne. Der raue Boden schürfte mir die Haut an Ellbogen und Fersen ab. Ein Knöchel kreischte protestierend. Es war mir egal. Ich musste mich bewegen. Musste hier rauskommen.
Schon nach einer kurzen Strecke stieß ich gegen eine Wand. Rechteckiger Umriss. Mörtel und Ziegel.
Mit hämmerndem Herzen drehte ich mich auf die andere Seite und schob mich in der Gegenrichtung vorwärts. Wieder stieß ich sehr schnell gegen eine Wand.
Adrenalin flutete meinen Körper, als Entsetzen sich auf Entsetzen legte. Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Meine Lunge sog keuchend die Luft ein.
Mein Gefängnis war keinen halben Meter hoch und keine zwei Meter breit! Die Länge scherte mich nicht. Die Wände schienen schon näher zu rücken.
Ich verlor die Kontrolle.
Ich rutschte ein Stückchen vorwärts und fing an zu schreien und mit den Fäusten gegen die Wand zu hämmern. Immer und immer wieder schrie ich, versuchte die Aufmerksamkeit eines Passanten zu erregen. Eines Arbeiters. Eines Hundes. Egal.
Als meine Knöchel wund waren, drehte ich mich um und bearbeitete die Wand mit den Füßen.
Schmerz schoss mir in den Knöchel. Zu viel Schmerz. Aus meinen Hilferufen wurde Stöhnen.
Niedergeschlagen kippte ich nach hinten. Ich keuchte, und auf meinem eisigen Fleisch kühlte der Schweiß.
Eine Parade von Gesichtern marschierte mir durchs Hirn. Katy. Ryan. Meine Schwester Harry. Mein Kater Birdie. Mein Exgatte Pete.
Würde ich sie je wiedersehen?
Heftiges, keuchendes Schluchzen drang aus meiner Brust.
Vielleicht verlor ich das Bewusstsein. Vielleicht nicht. Meine nächste Wahrnehmung war ein Geräusch.
Ein Geräusch außerhalb meines Körpers. Nicht von mir verursacht.
Ich erstarrte.
Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
Im Hirn öffnete sich ein Spalt.
Die Erinnerung glitt durch.
Noch ein Blick auf die Armbanduhr. Noch ein Seufzen. Noch mehr Füßescharren.
Über uns tickte stetig eine Wanduhr, ein krasser Gegensatz zu Ryans Ruhelosigkeit. Es war eine altmodische Analoge, rund und mit einem Sekundenzeiger, der mit scharfen, kleinen Klick-klicks vorwärts rückte.
Ich betrachtete meine Umgebung. Dieselbe Plastikpflanze. Derselbe schlechte Druck einer winterlichen Straßenszene. Dieselben halb leeren Becher mit schalem Kaffee. LCD-Projektor. Leinwand. Laserpointer. Nichts Neues hatte sich herbeigezaubert, seit ich mich zum letzten Mal umgeschaut hatte.
Zurück zur Uhr. Ein Logo nannte die Firma Enterprise als Hersteller. Vielleicht war das aber auch der Name für dieses spezielle Modell.
Gab man Zeitmessern eigentlich Namen? Arnie Analog? Reggie Regulator?
Okay. Ich war genauso nervös wie Ryan. Und sehr, sehr gelangweilt.
Wieder dieses Fingertrommeln auf der Tischplatte. Seit einer halben Stunde tat Ryan das in regelmäßigen Abständen. Das Stakkato ging mir allmählich auf die Nerven.
»Er kommt zu uns, sobald er kann«, sagte ich.
»Dass wir hierher kommen sollen, war seine Idee.«
»Ja.«
»Wie kann man in einer Leichenhalle eigentlich eine Leiche verlieren?«
»Du hast Corcoran doch gehört. Sie haben über zweihundert Leichen. Die Einrichtung hier arbeitet jenseits ihrer Kapazität.«
Man hat mich zwar auch schon ungeduldig genannt, aber Lieutenant-détective Andrew Ryan, Section de crimes contre la personne, Sûreté du Québec, hob die Bedeutung dieses Worts auf eine ganz neue Ebene. Ich wusste, wie er reagierte. Bald würde er auf und ab marschieren.
Ryan und ich saßen in einem Besprechungszimmer im Büro des Cook County Medical Examiners in der West Side von Chicago. Wir waren auf Bitten von Christopher Corcoran, einem Pathologen am CCME, von Montreal hierher geflogen.
Vor mehr als drei Jahren war eine neunundfünfzigjährige Frau namens Rose Jurmain von Chicago nach Quebec geflogen, um dort das herbstliche Laub zu genießen. Am vierten Tag ihres Besuchs hatte sie ihren Landgasthof für einen Spaziergang verlassen und war nie zurückgekehrt. Ihre persönliche Habe blieb in ihrem Zimmer. Niemand sah oder hörte je wieder etwas von ihr.
Dreißig Monate später wurden in einem Waldgebiet etwa eine halbe Meile nördlich des Gasthofs menschliche Überreste gefunden. Die Verwesung war weit fortgeschritten, es gab ausgedehnte Schädigungen durch Tierfraß. Ich hatte die Identifikation übernommen. Ryan hatte die Ermittlungen geleitet. Jetzt brachten er und ich Rose nach Hause.
Warum dieser persönliche Service? Für mich war es die Freundschaft mit Corcoran und eine Ausrede, um meine alte Heimatstadt wieder einmal besuchen zu können. Für Ryan? Ein kostenloser Ausflug in die Windy City.
Für Corcoran und seinen Chef? Das würde eine meiner ersten Fragen sein. Natürlich hätte ein Angestellter des CCME nach Montreal kommen können, um die Überreste abzuholen. Oder ein Transportdienst. Bis jetzt hatte die Familie noch kein Interesse an dem gezeigt, was von Rose Jurmain übrig geblieben war.
Und warum diese Bitte um unsere Anwesenheit in Chicago neun Monate nach Abschluss des Falls? Das Bureau du coroner hatte Roses Tod zum Unfall erklärt. Warum jetzt dieses besondere Interesse?
Trotz meiner Neugier hatte es bis jetzt noch keine Zeit für Fragen gegeben. Als Ryan und ich ankamen, fanden wir die Harrison Street voller Übertragungswagen und das Institut unter Belagerung.
Corcoran hatte uns nur schnell in dieses Besprechungszimmer geführt und dabei eine äußerst knappe Erklärung geliefert. Am Tag zuvor hatte ein Bestattungsinstitut versucht, eine Leiche zur Verbrennung abzuholen. Unerklärlicherweise war diese Leiche nirgendwo zu finden gewesen.
Das ganze Institut war mit Krisenmanagement beschäftigt. Der Chef redete sich vor der Presse den Mund fusselig. Eine hektische Suche war im Gange. Ryan und ich standen uns die Beine in den Bauch.
»Schätze, die Familie ist stinksauer«, sagte Ryan.
»O ja. Und die Presse liebt es. Verlorene Leichen. Schockierte Hinterbliebene. Peinlich berührte Politiker. Aus dem Stoff werden Pulitzer-Preisträger gemacht.«
Ich bin ein Nachrichten-Junky. Zu Hause lese oder zumindest überfliege ich die Tageszeitung von hinten bis vorne. Auf Reisen schalte ich CNN oder einen Lokalsender ein. Kurz zuvor in meinem Hotelzimmer hatte ich zwischen WFLD und WGN hin– und hergezappt. Ich wusste also von der Geschichte, hatte allerdings das daraus resultierende Chaos nicht erwartet. Oder die Wirkung auf uns.
Tatsächlich stand Ryan nun auf und marschierte hin und her. Ich schaute auf meinen Kumpel Enterprise. Detective Dauerstress hielt sich genau an seinen Zeitplan.
Nach dreißig Metern Fußmarsch setzte Ryan sich wieder auf seinen Stuhl.
»Wer war Cook?«
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte.
»Cook County?«
»Weiß nicht«, sagte ich.
»Wie groß ist es?«
»Das County?«
»Nein, das Hinterteil meiner Tante Dora.«
»Du hast eine Tante Dora?«
»Drei.«
Ich merkte mir dieses familiäre Detail, um später darauf zurückkommen zu können.
»Cook ist das zweitbevölkerungsreichste County in den Vereinigten Staaten und die neunzehntgrößte Regionalverwaltung der Nation.« Ich hatte das irgendwo gelesen.
»Was ist das größte?«
»Sehe ich aus wie ein Almanach?«
»Atlas.«
»Einige Almanache enthalten statistische Daten.« Abwehr. Nach dem Flug war ich nicht mehr in der Stimmung für Wortgefechte.
Ryan ist normalerweise ein fröhlicher Mensch, aber Reisen verdirbt ihm die Laune, und das sogar, wenn die Luftfahrtgötter lächeln. Gestern waren sie verdammt mürrisch gewesen.
Unser Flug von Pierre Elliot Trudeau International nach O’Hare hatte anstatt zwei sechs Stunden gedauert. Zuerst gab es eine Verzögerung wegen schlechten Wetters. Dann ein mechanisches Problem. Dann wurde die Crew verhaftet, weil sie nackt auf der Rollbahn getanzt hatte. Oder etwas in der Richtung. Verärgert und frustriert wie Ryan daraufhin war, hatte er sich die Zeit damit vertrieben, an allem, was ich sagte, herumzumäkeln. Was er sich eben unter einem amüsanten Geplänkel vorstellte.
Einige Augenblicke vergingen.
Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
Ryan sprang eben wieder auf, als die Tür aufging und Christopher Corcoran in Labormantel, Jeans und Turnschuhen eintrat. Mit seiner blassen Haut und den grünen Augen, den roten Haaren und den Sommersprossen war Corcoran die Verkörperung des irischen Klischees. Und entschieden nervös.
»Tut mir wirklich leid wegen der Verzögerung. Aber diese Sache mit der verschwundenen Leiche entwickelt sich zu einer italienischen Oper.«
»Ich hasse es, wenn Leichen Beine kriegen.« Der alte Ryan-Humor.
Corcoran lächelte freudlos. »Vor allem, wenn man verantwortlich ist für den Verstorbenen.«
»Das war dein Fall?«, fragte ich.
Corcoran nickte. Als ich ihn anschaute, gingen mir unzählige Erinnerungen durch den Kopf. Ein schmächtiger Junge, steckendürre Glieder und wilde, karottenfarbene Haare. Gusseiserne Tische, die in langen Reihen an den Boden geschraubt waren. Endlose Messen auf harten Kirchenbänken.
Als Kinder waren Corcoran und ich direkte Nachbarn in einem Viertel in der South Side mit dem Namen Beverly und eingetragene Mitglieder der St. Margaret’s Church of Scotland gewesen. Man darf nicht vergessen, dass die Katholiken Chicagos die Bevölkerung nach Pfarrgemeinden unterteilen, nicht nach der Geografie. Merkwürdig, aber so ist es eben.
Als ich acht war, starben mein Vater und mein Bruder, und meine Familie siedelte um nach North Carolina. Corcoran blieb in Chicago. Wir verloren uns natürlich aus den Augen. Ich wuchs heran, besuchte die University of Illinois und machte dann meinen Master an der Northwestern. Er studierte in Michigan, machte seinen Bachelor in Medizin und absolvierte dann eine Spezialausbildung in Pathologie. So war es die Forensik, die uns beide wieder in Kontakt brachte.
Zu einem Wiedersehen kam es schließlich ‘92 anlässlich eines Falls, in dem es um ein Baby in einem Koffer ging. Corcoran hatte inzwischen geheiratet, war nach Chicago zurückgekehrt und hatte sich ein Haus am Longwood Drive gekauft. Auch wenn er jetzt ein wenig weiter östlich und in einer deutlich besseren Gegend lebte, war Corcoran doch zu seinen Wurzeln zurückgekehrt.
»Jetzt hat sich herausgestellt, dass die Leiche die ganze Zeit hier war.« Corcorans Stimme brachte mich in die Gegenwart zurück. »Der Kerl war so dürr, dass er hinter einer fetten Frau auf einem der oberen Kühlregale einfach verschwand. Die Techniker haben ihn schlicht übersehen.«
»Happy End«, sagte Ryan.
Corcoran schnaubte. »Sagen Sie das Walczak.«
Von Stanley Walczak hieß es, dass sein Ego seinen Ehrgeiz um Längen überragte. Auch seine Gerissenheit war gigantisch. Nach dem Rücktritt des früheren Medical Examiners vor neun Monaten hatte Walczak sein weit verzweigtes Netz politischer Beziehungen aktiviert und einige Gefallen eingefordert und war so, zur Überraschung einiger und zum Missfallen vieler, zum Cook County Medical Examiner ernannt worden.
»Walczak ist sauer?«, fragte ich.
»Der Mann hasst schlechte Publicity. Und ineffizientes Arbeiten. « Corcoran seufzte. »Wir bearbeiten hier ungefähr zwanzig Einlieferungen pro Tag. Zwischen gestern und heute Morgen mussten unsere Leute sechzig Bestattungsinstitute anrufen, um herauszufinden, ob eine Lieferung vielleicht an eine falsche Adresse gegangen war. Vier Techniker und ein Ermittler mussten von ihren normalen Arbeiten abgezogen werden, damit sie mithelfen konnten, Zehenetiketten zu kontrollieren. Drei Mal mussten wir alles durchgehen, bis wir den Kerl gefunden hatten. O Mann, wir haben einen halben Kühlraum nur für langfristig Unbekannte reserviert.«
»Fehler passieren schon mal.« Ich versuchte, ermutigend zu klingen.
»Hier wird das Verlegen einer Leiche nicht gerade als karrierefördernder Schachzug betrachtet.«
»Du bist ein fantastischer Pathologe. Walczak kann sich glücklich schätzen, dich zu haben.«
»Seiner Ansicht nach hätte ich viel schneller Herr der Lage sein müssen.«
»Erwarten Sie Konsequenzen?«, fragte Ryan.
»Die Familie sieht sich vermutlich jetzt in diesem Augenblick nach einem Anwalt um. Es gibt doch nichts Besseres als ein paar Dollar, um unerträglichen Schmerz zu lindern, auch wenn niemand wirklich leiden musste. Die amerikanische Art eben.«
Corcoran kam um den Tisch herum, und wir alle setzten uns.
»Walczak sagt, er braucht nicht mehr lange. Er sitzt gerade im Konklave mit dem Familienanwalt der Jurmains. Ihr werdet ihn lieben.«
»Ach so?«
»Perry Schechter ist eine Legende hier in Chicago. Ich habe mal ein Interview mit ihm gehört. Bezeichnete seinen Stil als konfrontativ. Meinte, barsch zu sein bringt die Leute aus dem Konzept, verleitet sie dazu, Fehler preiszugeben.«
»Charakterfehler oder Fehler in ihrer Aussage?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass dieser Kerl ein Pitbull ist.«
Ich schaute Ryan an. Er zuckte die Achseln. Wie auch immer.
»Bevor sie kommen«, sagte ich. »Warum sind wir hier?«
Wieder dieses freudlose Lachen. »Schon mal einen Muh-Muh-Riegel oder ein Gack-Gack-Teilchen gesehen?«
Als Harry und ich noch klein waren, hatte Mom uns immer kleine Gebäckteilchen in unsere Lunchpakete gesteckt. Ich wusste zwar nicht, was für eine Bedeutung das haben sollte, aber ich nickte, weil ich die Namen kannte.
Ryan schaute verständnislos drein.
»Denk an Vanchon«, übersetzte ich ins Québecois. »Jos. Louis. May West. Doigts de Dame.«
»Süßes Gebäck«, sagte er.
»Dreizehn Sorten«, sagte Corcoran. »Seit zwei Generationen gebacken und verkauft von Smiling J. Foods.«
»Gibt’s die eigentlich immer noch?« Ich hatte diese kleinen Köstlichkeiten seit Jahren nicht mehr gesehen.
Corcoran nickte. »Unter neuem Namen.«
»Ein ziemlicher Schlag ins Gesicht der Freunde des ländlichen Lebens.«
Nun schaffte Corcoran fast ein echtes Grinsen. »Das J. in Smiling J. stand für Jurmain. Die Familie verkaufte zweiundsiebzig an einen Konzern. Für einundzwanzig Millionen Dollar. Nicht dass sie die Kohle gebraucht hätten. Sie schwammen schon damals im Geld.«
Allmählich verstand ich, worauf er hinauswollte.
Ryan ebenfalls.
»Familienvermögen ist gleich politischer Einfluss«, sagte ich.
»Kann man so sagen.«
»Deshalb die Samthandschuhe.«
»Genau.«
»Ich versteh das nicht. Der Fall wurde vor über neun Monaten abgeschlossen. Die Familie Jurmain hat einen vollständigen Bericht erhalten, aber nie darauf reagiert. Obwohl der Coroner ihnen Briefe per Einschreiben schickte, hat bis jetzt noch keiner Interesse an einer Rückholung der Überreste gezeigt. «
»Ich werde mich bemühen, eine lange, aber keineswegs originelle Geschichte möglichst kurz zusammenzufassen.«
Corcoran schaute zur Decke, als wollte er seine Gedanken ordnen. Dann begann er:
»Die Jurmains sind eine alteingesessene Chicagoer Familie. Kein uraltes, aber doch ziemlich altes Geld. Residenz in East Winnetka. Indian Hills Country Club. Per Du mit Gouverneuren, Senatoren, Kongressabgeordneten. Für die Kinder zuerst North Shore Country Day School, dann irgendeine Ivy-League-Uni. Alles klar?«
Ryan und ich signalisierten Klarkeit.
»Roses Vater ist der gegenwärtige Patriarch der Familie, ein elender, alter Mistkerl namens Edward Allen. Nicht Ed. Nicht Al. Nicht E. A. Edward Allen. Rose war das schwarze Schaf, weil sie sich Zeit ihres Lebens weigerte, einen Kurs einzuschlagen, den Edward Allen als angemessen erachtete. Achtundsechzig machte sie keine Schlagzeilen durch ihren Auftritt auf dem Debütantinnenball, sondern schaffte es gleich in die Tribune, weil sie auf dem nationalen Parteikongress der Demokraten einen Polizisten angriff. Anstatt sich an der Smith oder der Vasar einzuschreiben, ging sie nach Hollywood, weil sie ein Star werden wollte. Anstatt zu heiraten, entschied sie sich für den lesbischen Lebensstil.
Als Rose dreißig wurde, hatte Edward Allen die Nase voll. Er strich sie aus seinem Testament und verbat der Familie jeden Kontakt mit ihr.«
»Bis sie zur Einsicht kommen würde«, vermutete ich.
»Genau. Aber das war nicht Roses Stil. Sie streckte Daddy die Zunge raus und beschloss, lieber von einem kleinen Treuhandfonds zu leben, den Grandpa ihr vermacht hatte. Geld, an das Edward Allen nicht herankam.«
»Ein wirklich freier Geist.«
»Ja. Aber es ist nicht nur alles eitel Sonnenschein. Laut ihrer Partnerin Janice Spitz war Rose zum Zeitpunkt ihres Verschwindens depressiv und litt an chronischer Schlaflosigkeit. Außerdem trank sie sehr viel.«
»Das passt zu dem, was wir herausgefunden haben«, sagte Ryan.
»Hielt Spitz sie für selbstmordgefährdet?«, fragte ich.
»Falls ja, sagte sie das nicht.«
»Was soll dann das Ganze?«, fragte ich. »Warum dieses plötzliche Interesse?«
»Vor zwei Wochen erhielt Edward Allen zu Hause einen anonymen Anruf.«
Corcoran wurde schon immer leicht rot, vor allem, wenn er verlegen oder verunsichert war. Er wurde es auch jetzt.
»In Bezug auf Roses Tod?«, fragte ich.
Corcoran nickte, wich aber meinem Blick aus. Plötzlich bekam ich ein ungutes Gefühl.
»Was hat dieser namenlose Tippgeber gesagt?«
»Das hat Walczak mir nicht mitgeteilt. Ich weiß nur, dass ich den Auftrag erhielt, eine Revision dieses Falls von unserer Seite her zu leiten.«
»Tabernouche.« Ryan lehnte sich angewidert zurück.
Ich war sprachlos.
Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
Corcoran brach das Schweigen.
»Edward Allen ist jetzt einundachtzig Jahre alt und bei schlechter Gesundheit. Vielleicht schämt er sich, weil er Rose aus seinem Leben verbannt hat. Vielleicht ist er immer noch derselbe kontrollversessene Hurensohn wie eh und je. Vielleicht ist er einfach nicht mehr richtig im Kopf. Ich weiß nur, dass Jurmain seinen Anwalt angerufen hat. Und der Anwalt hat Walczak angerufen. Und deshalb sind wir hier.«
»Jurmain glaubt, dass der Fall fehlerhaft bearbeitet wurde?«, fragte ich.
Corcoran nickte, ohne den Blick vom Tisch zu heben.
»Walczak glaubt das ebenfalls?«
»Ja.«
»Fehlerhaft bearbeitet von wem?« Die Frage klang schärfer, als ich beabsichtigt hatte.
Corcoran hob den Blick und schaute mich an. Ich sah echten Kummer in seinen Augen.
»Hör zu, Tempe. Das ist alles nicht auf meinem Mist gewachsen. «
Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. Dann wiederholte ich meine Frage.
»Schlecht bearbeitet von wem, Chris?«
»Von dir.«
Ich schaute Ryan an. Er schüttelte nur den Kopf.
»Du darfst dir nicht anmerken lassen, dass ich dir das alles schon gesagt habe.« Corcoran sah ängstlicher aus, als ich ihn je gesehen hatte.
»Natürlich nicht.« Mein Tonfall war erstaunlich ruhig. »Vielen Dank, dass du –«
Die Tür ging auf. Corcoran und ich lehnten uns zurück, lässig bis zum Gehtnichtmehr.
Zwei Männer traten ein, beide in Anzügen, die von Armani persönlich geschneidert waren, der eine blau, der andere grau.
Im blauen Anzug erkannte ich Stanley Walczak, Pfau und Legende nach eigener Einschätzung. Vor allem, was seine Wirkung auf Frauen anging.
Ich hatte Walczak bereits bei einigen Konferenzen der American Academy of Forensic Sciences getroffen, und mindestens bei einer Gelegenheit erwies er mir die Gunst seiner Aufmerksamkeit. Ganze fünf Minuten lang.
Warum ich nicht mehr Eindruck auf ihn gemacht hatte? Ganz einfach. Ich bin über vierzig. Walczak ist zwar deutlich über fünfzig, bevorzugt seine Damen aber frisch aus dem Schulsport-BH. Aus einem großen.
Im grauen Anzug steckte, wie ich vermutete, Perry Schechter. Er hatte schütteres Haar und ein langes, furchiges Gesicht, das mindestens sechs Jahrzehnte gebraucht hatte, um so zu werden. Sein Aktenkoffer und sein Auftreten schrien förmlich Anwalt.
Als wir aufstanden, warf Walczak einen schnellen, verstohlenen Blick in die Runde. Dann ging er zu Andrew Ryan und streckte die Hand aus.
»Stanley Walczak.«
»Andrew Ryan.«
Die beiden schüttelten sich die Hand. Corcoran klimperte mit den Schlüsseln in seiner Labormanteltasche.
»Tempe.« Meterbreite, überkronte Zahnreihen kamen in meine Richtung. Walczak folgte. »Sie sehen mit jedem Mal jünger aus.«
Ich musste sehr tief graben, um die Kraft zu finden, Walczaks berühmtem Charme zu widerstehen.
»Schön, Sie zu sehen, Stan.«
Walczak umkrallte meine Finger mit beiden Händen und hielt sie viel zu lange fest.
»Soweit ich weiß, kennen Sie und Dr. Corcoran sich bereits.«
Corcoran und ich bestätigten dies.
Walczak stellte Schechter vor.
Wieder wurden Hände geschüttelt.
»Gentlemen, Dr. Brennan.« Noch einmal blitzten viele Zähne in meine Richtung. »Können wir beginnen?«
Walczak ging zum Kopfende des Tisches und setzte sich.
Ryan und ich holten Akten hervor, er aus seinem Aktenköfferchen, ich aus meiner Computertasche. Während Schechter sich neben Corcoran setzte, fuhr ich meinen Laptop hoch.
»Nun gut«, begann Walczak. »Ich nehme an, Sie beide wundern sich, warum der Tod einer exzentrischen, alten Dame mit ernsten Alkohol– und psychiatrischen Problemen solche außerordentlichen Unbequemlichkeiten Ihrerseits erforderlich macht.«
»Jeder Todesfall verdient angemessene Aufmerksamkeit.« Sogar in meinen eigenen Ohren klang ich pedantisch. Aber ich meinte es ernst. Ich teile Hortons Weltsicht. Ein Mensch ist ein Mensch. Egal, wie exzentrisch. Oder alt. Rose Jurmain war noch nicht einmal sechzig gewesen.
Walczak betrachtete mich einen Augenblick. Mit seinen silbernen Haaren und seiner Sonnenstudiobräune sah er gut aus, das musste ich zugeben. Äußerlich.
»Das ist genau der Grund, warum ich Dr. Corcoran gebeten habe, die Revision dieses Falls zu leiten«, sagte Walczak.
Corcoran rutschte verlegen auf seinem Stuhl hin und her.
»Dr. Brennan und ich werden sehr gerne alle Fragen beantworten, die meine Ermittlungen, ihre Untersuchung der Überreste und den Befund des Coroners betreffen«, sagte Ryan.
»Ausgezeichnet. Dann übergebe ich diese Besprechung nun an Mr. Schechter und Dr. Corcoran. Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas, irgendetwas, brauchen.«
Mit einem bedeutungsvollen Blick in Corcorans Richtung verließ Walczak das Zimmer.
»Es freut mich sehr, dass Sie Englisch sprechen, Detective.«
Ein leichtes Anspannen der Haut um Ryans Augen verriet, dass Schechters erste Bemerkung bei ihm nicht gut ankam.
»Mais oui, monsieur.« Ryans Akzent war eine Überdosis Paris.
» Mr. Jurmain verlangt eine Klärung diverser Punkte.« Schechters Ton wies darauf hin, dass Ryans Humor nicht gewürdigt wurde.
»Klärung?« Ryan setzte cool gegen cool.
»Er ist sehr besorgt.«
»Sie haben Kopien unserer Berichte?«
Schechter zog einen gelben Notizblock, einen goldenen Cross-Kugelschreiber und einen großen, weißen Umschlag aus seinem Aktenkoffer. Ich erkannte das Logo des Umschlags und die Wörter Laboratoire de sciences judiciaires et de médicine légale.
»Dr. Brennan und ich haben Fundort– und Autopsiefotos vorbereitet, anhand derer wir Sie durch die Ermittlungen führen wollen.«
Schechter klickte die Minenspitze aus seinem Kuli und machte mit der anderen Hand eine herrische Geste.
Ryan warf mir einen französischen Satz zu. »Lass uns diesen hochnäsigen Wichser in Grund und Boden klären.«
»Certainement«, stimmte ich ihm zu.
Ich schloss meinen Laptop an den Projektor an, öffnete PowerPoint, wählte eine Datei mit dem Namen LSJML 44893 aus und doppelklickte auf ein Bild. Eine Weitwinkelansicht der L’Auberge des Neiges füllte die Leinwand. Gebaut aus Redwood-Stämmen und mit geschnitzten Balkonen und Fensterrahmen sah der Gasthof aus wie direkt aus einer Volksmusiksendung.
Corcoran gab mir den Laserpointer.
Ryan begann.
»Ms. Jurmain checkte am zwanzigsten September in der L’Auberge des Neiges ein, nachdem sie bereits vorab für zwei Wochen reserviert hatte. Am dreiundzwanzigsten September erzählte sie anderen Gästen, sie wolle am folgenden Tag eine Wanderung unternehmen.«
»Und diese anderen Gäste sind?«, fragte Schechter.
Ryan schaute in seine Notizen.
»John William Manning aus Montreal. Isabelle Picard aus Laval. Laut Manning und Picard wirkte Ms. Jurmain an diesem Abend angetrunken und hatte im Verlauf dieser drei Tage bei mehreren Gelegenheit so gewirkt.«
Ryan schob mehrere Blatt Papier über den Tisch, Zusammenfassungen der Vernehmungen des Personals und der Gäste des Gasthofs, wie ich annahm.
Corcoran überflog die Seiten nur kurz. Schechter nahm sich Zeit mit der Lektüre. Dann sagte er:
»Die sind ja auf Französisch abgefasst.«
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Ryans Tonfall war so weit von entschuldigend entfernt, wie ein Tonfall es nur sein konnte.
Schechter machte in seiner Kehle ein nicht entschlüsselbares Geräusch.
Ich schaltete zu einer Distanzaufnahme von Roses Zimmer. Es zeigte einen Flickenteppich, lackierte Kiefernmöbel und ein Überangebot an rosa Chintz mit Blumenmuster. Ein Koffer stand geöffnet auf einem kleinen Sofa, daraus quollen Kleidungsstücke hervor wie Lava aus einem schläfrigen Vulkan.
Ich schaltete zu einem Foto auf dem Nachtkästchen, dann zu einer Großaufnahme der Etiketten von fünf kleinen Tablettenfläschchen. Oxycodone. Diazepam. Temazepam. Alprazolam. Doxylamin.
Ich deutete mit dem Laserpointer. Während der kleine rote Punkt von Fläschchen zu Fläschchen sprang, nannte Corcoran Schechter die generischen Namen der Medikamente.
»Das Schmerzmittel OxyContin, die Angstlöser Valium und Xanax und die Schlafhilfen Restoril und Unisom.«
Schechter sog Luft durch die Nase ein und atmete langsam wieder aus.
»Wenn Rose sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war nicht mehr mit ihr zu reden. Immer ging sie in den Wald. Vor drei Jahren passierte es in Quebec.« Er sagte Quie-beck mit dem Abscheu, den man sonst höchstens für »Mundfäule« oder »Darfur« aufbot. »Obwohl es« – er hielt inne, um nach dem angemessenen Ausdruck zu suchen – »mit ihrer Gesundheit nicht zum Besten stand, konnte man sie nicht davon abbringen.«
Ryan fuhr ohne weiteren Kommentar fort.
»Am vierundzwanzigsten September um fünfzehn Uhr zwanzig wurde Ms. Jurmain gesehen, wie sie alleine auf dem Chemin Pierre-Mirabeu in Richtung Sainte-Marguerite spazierte. Obwohl die Temperatur nahe des Gefrierpunkts lag, berichtete ein Autofahrer, sie habe nur eine leichte Jacke, keine Kopfbedeckung und keine Handschuhe getragen.«
Während ich eine Karte der Region auf die Leinwand warf, schob Ryan Schechter ein weiteres Papier zu.
»Der Sonnenuntergang an diesem Tag war etwa gegen siebzehn Uhr. Um neunzehn Uhr war es völlig dunkel. Die Nachttemperaturen fielen auf minus acht Grad Celsius.
Am fünfundzwanzigsten September wurde bemerkt, dass Ms. Jurmain nicht in den Gasthof zurückgekehrt war. Nun wurde bei einer Nummer mit einer Drei-eins-zwei-Vorwahl angerufen, die Ms. Jurmain beim Check-in angegeben hatte. Anschließende Ermittlungen ergaben, dass dieser Anschluss nicht existierte.
Am sechsundzwanzigsten September wurde der SQ, die für Sainte-Marguerite zuständig ist, Ms. Jurmains Verschwinden gemeldet. Die Waldstücke, die an die Straße grenzen, sowie die in der Umgebung des Gasthofs wurden mit Spürhunden abgesucht. Ohne Erfolg.«
Weitere Blätter.
»Was ist diese SQ?«, wollte Schechter wissen.
»La Sûreté du Québec. Die Provinzpolizei.«
»Warum ruft man da nicht die örtliche Dienststelle?«
Ryan setzte nun zu einem Abriss der polizeilichen Strukturen in Quebec an und machte dabei kräftig einen auf Maurice Chevalier, sooft sich ihm Gelegenheit dazu bot.
»In Städten und größeren Orten gibt es örtliche Einheiten. Auf der Insel Montreal zum Beispiel ist der Service de police de la Ville de Montréal, der SPVM zuständig, der früher Police-Communauté urbaine de Montréal oder CUM genannt wurde. Dieselbe Einheit, ein neuer Name.
In ländlichen Gegenden ist für die Polizeiarbeit La Sûreté du Québec, die SQ, zuständig. In Gegenden ohne Provinzpolizei, das heißt in allen Provinzen außer Ontario und Quebec, ist es die Royal Canadian Mounted Police, die RCMP, oder, für Frankofone, die Gendarmerie royale du Canada, die GRC. Gelegentlich werden die Mounties auch zu einer Ermittlung in Quebec eingeladen, aber das kommt selten vor.«
Mit anderen Worten, die polizeiliche Zuständigkeit in la belle province kann ebenso verwirrend sein wie in irgendeinem amerikanischen Staat. FBI. Die Bureaus of Investigation des jeweiligen Staates. Die städtische und die Bezirkspolizei. Die Verkehrspolizei. Das Sheriff’s Department. Wen soll man anrufen? Viel Glück. Bonne chance. Das sagte Ryan nicht.
»L’Auberge des Neiges liegt fünfundsiebzig Kilometer nördlich der Insel Montreal, in den Laurentian Mountains. Die nächste Stadt ist Sainte-Marguerite. Deshalb fiel Ms. Jurmains Fall an die SQ. Soll ich fortfahren?«
Schechter machte eine arrogante Handbewegung. Am liebsten hätte ich mich über den Tisch gebeugt und dem selbstgerechten kleinen Scheißer eine verpasst.
»Dreißig Monate nach Ms. Jurmains Verschwinden, am einundzwanzigsten März, stolperten André Dubreuil und sein Sohn Bertrand über etwas, das sie für menschliche Überreste hielten. Die Fundstelle befand sich zwanzig Meter von einer Provinzstraße entfernt, etwa eine halbe Meile nördlich der L’Auberge des Neiges. Die SQ, der Coroner und das LSJML wurden benachrichtigt. In dieser Reihenfolge.«
Während ich eine zweite Karte auf die Leinwand warf, machte sich Schechter seine erste Notiz auf seinem Block. Dann fragte er: »Sie sind ein Mordermittler bei dieser SQ?«
» Section des crimes contre la personne.«
Ich übersetzte. »Detective Ryans Abteilung ist das Äquivalent des Morddezernats, eine Abteilung, die man Verbrechen gegen Personen nennt. Er bearbeitet spezielle Fälle.«
»Und dieser Fall wurde als speziell betrachtet wegen?« Schechter dehnte das letzte Wort seines unvollständigen Satzes.
»Von Anfang an bestand der Verdacht, dass die fraglichen Überreste die von Ms. Jurmain sein könnten. Da sie eine Nicht-Kanadierin, konkret eine Amerikanerin war, wurde Detective Ryan dieser Fall zugewiesen.«
Schechter und Corcoran warfen einen Blick auf den Polizeibericht, den Ryan ihnen zuschob. Als sie ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf die Leinwand richteten, klickte ich durch eine neue Reihe von JPEGs.
Das erste Bild war eine Weitwinkelaufnahme einer schmalen, zweispurigen Teerstraße, deren Kiesbankette an dichten Wald stießen. Die nächsten sechs dokumentierten den Weg von der Straße zu der Leiche. Vereinzelt lagen Schneeinseln auf toter Vegetation, ihre Ränder waren vom davonfließenden Schmelzwasser dunkel gefärbt.
Das achte Bild zeigte gelbes Absperrband, das um eine Kieferngruppe gespannt war. Im neunten standen Leute innerhalb der Absperrung. Ryan war da in einem erbsengrünen Parka und einem leuchtend blauen Halstuch. Zwei Spurensicherungstechniker trugen marineblaue Overalls mit der Aufschrift Service de l’identité judiciaire, Division des scènes de crime. Ich ebenfalls. Aus meinem Mund quoll Dampf.
Bild zehn war die Nahaufnahme eines kleinen, dunklen, aus dem Schnee herausragenden Hügels. Eingebettet in das Gewirr aus Blättern, Zweigen, Moos und Kiefernnadeln war ein glänzendes, braunes Objekt etwa von der Größe eines Kohlkopfs. Rechts davon lag ein Knäuel verfilzter, grauer Haare.
»Der Schädel.« Ich umkreiste das Objekt mit dem Laserpointer.
Die nächsten Aufnahmen konzentrierten sich auf die Skelettreste, die vom Schädel ausgehend in fast linearer Ausrichtung auf dem Boden lagen. Unterkiefer. Wirbel. Rippen. Brustbein. Die Beckenhälften. Kreuzbein. Rechte Hand. Rechtes Bein. Alles war identisch dunkelbraun verfärbt.
Einen nach dem anderen benannte ich die Knochen.
»Offensichtlich menschlich«, sagte Corcoran.
»Tiere hatten die Knochen auf einer Fläche von etwa zwanzig Quadratmetern verstreut«, sagte ich.
Während ich eine Fundortkarte auf die Leinwand warf, legte Ryan Berichtkopien auf den Tisch. »Dr. Brennan dokumentierte die Position jedes einzelnen Skelettteils.«
Als Corcoran und Schechter wieder aufsahen, fuhr ich mit meiner Präsentation fort und bewegte mich von der zentralen Knochengruppe ausgehend durch die verstreut liegenden Überreste.
»Jeder Plastikkegel markiert die Position eines Knochens oder einer Knochengruppe.« Ich klickte durch die Bilder und identifizierte wieder jeden einzelnen Körperteil. »Rechter Oberschenkelknochen, Schienbein und Kniescheibe. Rechtes Fersenbein. Rechte Fußwurzelknochen und Mittelfußknochen und Zehenglieder. Rechter Speichenknochen. Rechte Elle und Handknochen. Linker unterer zentraler Schneidezahn. Rechter oberer zentraler Schneidezahn.«
»Können wir das ein wenig beschleunigen?«, fragte Schechter.
Ryan nahm den Bericht wieder auf. »Ausgehend von Ms. Jurmains bekannter Vorgeschichte des Alkoholismus, des Missbrauchs verschreibungspflichtiger Medikamente, den Augenzeugenberichten und den klimatischen Bedingungen in der Nacht ihres Verschwindens aus dem Gasthof, bestimmte der Coroner die Todesart als Unfall und die Todesursache als Unterkühlung, die durch Intoxikation noch verschlimmert wurde.«
»Sie sagen also, Rose betrank sich, spazierte davon und erfror. « Schechter.
»Im Wesentlichen ja. Dr. Brennan wird in Kürze die skelettale Identifikation und die Verletzungsanalyse erläutern.«
»Nicht in Kürze. Jetzt.«
»Sir?«
»Genug von diesen lächerlichen Ausflüchten.«
Ich schaute Ryan überrascht an. Sein Gesicht war eine zu dem Anwalt auf der anderen Tischseite gerichtete, steinerne Maske. Ich kannte diesen Ausdruck und nahm deshalb das Heft in die Hand.
»Detective Ryan hat nur die Hintergründe für die Entscheidung des Coroners geliefert. Aber wenn Sie lieber zu einem anderen Thema kommen wollen, haben wir keine Einwände.«
»Ich würde vorschlagen, wir kommen direkt zu Ihrem Bericht, Dr. Brennan.«
»Ich würde vorschlagen, Sie sagen uns genau, was Sie wollen. « Ryans Tonfall war wie eine Stahlklinge.
»Nun gut, Detective.« Schechter hob ganz leicht das Kinn. »Mein Mandant glaubt nicht, dass seine Tochter an Unterkühlung starb. Er glaubt, dass sie ermordet wurde.«
Schechter stützte beide Arme auf die Tischplatte, verschränkte die Finger und beugte sich vor.
»Des Weiteren glaubt er, dass Dr. Brennan diese Tatsache vertuscht hat.«