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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-538-3
In Gedanken hatte sie diese Szene in vielen Jahren mehr als nur einmal durchgespielt, ohne zu denken, dass sie wirklich einmal eintreten würde.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, und Gerda versuchte, all ihre Gefühle niederzudrücken. Sie brauchte ihren klaren Verstand, sie durfte sich keine Sentimentalitäten erlauben.
Es gab nur zwei Möglichkeiten, hierzubleiben, sich der Situation zu stellen oder zu gehen.
Sie musste gehen, weil ihr das andere nichts bringen würde, ihr Weg mit Leonie war so oder so zu Ende, dann war es besser, jetzt an sich zu denken.
Sie nahm ein Foto von Leonie in die Hand, wollte es in ihre Tasche stecken, doch dann besann sie sich.
Nichts durfte an ihre Vergangenheit erinnern, sie musste Leonie in ihrem Herzen behalten, und das würde sie. Weiß Gott, das würde sie. Die Zeit mit Leonie war die schönste ihres Lebens, und sie wollte keinen Augenblick davon vermissen.
Sie zwang sich, nicht daran zu denken, wie es hätte sein können, wären sie nicht in diesen Sonnenwinkel gekommen.
Es brachte nichts, sie waren gekommen. Und obwohl sie es hätte verhindern können, war es geschehen. Und sie hatte sich von Anfang an unbehaglich gefühlt.
Sie hatte es gespürt, ohne es wahrhaben zu wollen, dass das das Ende ihrer gemeinsamen Reise war. Vom ersten Tag an hatten Leonie und sie sich voneinander entfernt. Leonie war eingetaucht in ein neues Leben, und sie hatte sich immer mehr zurückgezogen.
Und dann war dieser Mann gekommen!
Es war wie eine Naturkatastrophe über sie hereingebrochen, wie ein Tsunami, wie ein zerstörender Erdrutsch, als der Name Isabella Duncan plötzlich aufgetaucht war. Ein Name, den sie in all den Jahren verdrängt hatte.
Es war ja nicht nur der Name – Leonies plötzliches Interesse für das Klavierspiel, für das sie eine unglaubliche Begabung hatte.
Gerda schloss die Augen. Es war vorbei!
Sie durfte und wollte nicht zurückdenken. Sie ging noch einmal durch das Haus, ignorierte, dass der Kater miauend an der Terrassentür kratzte. Er hatte hier auch nichts mehr verloren. Merkwürdig war schon, dass sie zusammen gekommen waren, dass er am Tag ihres Einzugs aufgetaucht war, wie aus dem Nichts, denn niemand hatte ihn vermisst.
Der Kater musste sich ein neues Zuhause suchen, aber das ging sie nichts mehr an.
Gerda sah sich aufmerksam um, überprüfte den Inhalt ihrer Tasche, dann legte sie den Haustürschlüssel auf den Tisch, weil sie den nicht mehr brauchte, dann ging sie.
Sie hatte Tränen in den Augen, und es zerriss ihr beinahe das Herz. Doch da musste sie jetzt durch. Sie hatte keine andere Wahl.
Als sie das Haus verließ, sah sie sich sorgfältig um, von dem Mann, von dem sie nun wusste, dass er Magnusson hieß, Lars Magnusson, gab es zum Glück keine Spur. Sie wollte nicht mit ihm zusammentreffen, sie hatte keine Lust auf Konfrontation.
Sie stieg in ihr Auto, ein paar Häuser weiter schwatzten zwei Frauen miteinander, sahen neugierig zu ihr hinüber. Um nicht aufzufallen, grüßte Gerda kurz, dann fuhr sie los.
Sie wusste, es war eine Fahrt ohne Wiederkehr.
Den Sonnenwinkel würde sie, weiß Gott, gewiss nicht vermissen. Doch Leonie …
Sie durfte an sie nicht mehr denken, sie musste so tun, als habe es das Mädchen nie gegeben.
Ehe sie die Siedlung verließ, kam ihr Manuel Münster entgegengeradelt, winkte ihr zu. Sie winkte zurück. Es war ein netter Junge. Unter normalen Umständen hätte sie es begrüßt, dass ihre Tochter einen so netten Freund hatte, unter normalen Umständen …
Nichts war normal, und nichts mehr würde normal sein.
Sie hatte einen hohen Preis gezahlt. Und es war noch nicht zu Ende. Ihr Leben ohne Leonie würde sehr einsam sein.
Gerda fuhr vorsichtig, hielt sich an die Verkehrsregeln. Sie durfte nicht auffallen!
Sie war froh, endlich auf die Autobahn fahren zu können.
An dem ersten Rastplatz hielt sie an. Er war nicht besucht, kein Auto stand herum, und das war gut so.
Gerda holte aus ihrer Tasche ihren Personalausweis, ihren Reisepass, dann stieg sie aus, ging zu dem nächsten Abfallbehälter, warf beides hinein, und dann nahm sie aus ihrer Jackentasche ein Benzinfläschchen, ein Feuerzeug.
Sie zündete den Behälter an, es begann zunächst zu qualmen, dann kamen Flammen aus ihm heraus.
Gerda ging zu ihrem Auto zurück, wartete, bis alles niedergebrannt und der Behälter verkohlt war.
Niemand würde in den verkohlten Resten herumstochern und nach etwas suchen, sondern glauben, jemand habe den Behälter mutwillig und ohne Grund angezündet.
Das mit dem mutwillig stimmte, aber sie hatte einen Grund.
Sie hatte ihre Vergangenheit vernichtet.
Ehe sie endgültig losfuhr, griff sie in ihre Handtasche, holte einen Personalausweis und einen Reisepass heraus.
Sie sah ihr Bild, nur hieß sie jetzt … Beate Möller. Nach der würde niemand suchen.
Welch ein Glück, dass sie vorgesorgt hatte, und welch ein Glück, dass man für Geld alles kaufen konnte. Auch eine neue Identität.
Sie war ein Mensch, sie hatte auch Gefühle, und die gestattete sie sich jetzt. Sie begann zu weinen, denn sie vermisste Leonie jetzt schon. Es würde sehr schwer sein, ohne sie zu leben.
Sollte sie doch umkehren, sich stellen, alles erzählen? Vielleicht kam sie ja glimpflich davon.
Nein!
Es hatte keinen Sinn, Leonie würde sich von ihr abwenden, und das war schlimmer als eine Gefängnisstrafe, das war unerträglich.
Sie wischte sich energisch die Tränen weg, dann beschleunigte sie das Tempo, auf der Autobahn ging das.
Es war ein Weg ohne Wiederkehr.
*
Leonie stieg am Abend aus dem Bus aus. Sie war müde und glücklich. Der Schulausflug war herrlich gewesen, und sie freute sich darauf, ihre Erlebnisse mit ihrer Mami zu teilen. Die Ärmste würde vielleicht sogar ein wenig lächeln, was sie, seit sie im Sonnenwinkel wohnten, verlernt zu haben schien.
Hoffentlich war die Mami nicht ernsthaft krank. Leonie machte sich ganz große Sorgen. Sie hatte doch nur ihre Mami, die war ihre Familie, ihre Freunde waren der Manuel und Hilda. Doch es ging nichts über Familie. Die Mami musste unbedingt zu der Frau Doktor gehen. Ewig konnte man keine Kopfschmerzen haben, immer konnte man nicht müde sein. Da musste etwas dahinterstecken. Und wegen ihrer Krankheit war die Mami manchmal auch so unleidlich, sie hatte sich wirklich sehr verändert, seit sie im Sonnenwinkel lebten, und nirgendwo war es doch so schön!
Auf jeden Fall würde die Mami ganz gewiss gleich ein bisschen lachen, wenn sie ihr so manch lustige Begebenheit vom Schulausflug erzählte. Da waren aber auch ein paar komische Dinge geschehen, und die hatten alles noch schöner gemacht.
Es war wirklich ein herrlicher Tag gewesen, von dem würde Leonie noch lange zehren, denn immerhin war es der erste Schulausflug ihres Lebens.
Leonie rannte die Straße entlang, sie hatte es eilig.
Verwundert bemerkte sie, dass Blacky, ihr schwarzer Kater, vor der Haustür hockte und kläglich miaute. Warum hörte Mami das denn nicht?
Leonie bückte sich, nahm den Kater auf den Arm, der sofort begann, behaglich zu schnurren.
»Bist der Mami wohl entwischt?«, fragte sie. »Ja, ja, das hat man davon, wenn man nicht hört.«
Sie schloss die Haustür auf, trat ein, ließ den Kater vom Arm, der merkwürdigerweise nicht davonstob, sondern an ihrer Seite blieb.
»Mami, ich bin wieder da, und es war ganz toll«, rief Leonie, »und wenn ich dir erzähle, was …«
Leonie brach ihren Satz ab, ein unbehagliches Gefühl beschlich sie, das sie sich nicht erklären konnte. Auch der Kater war anders als sonst.
»Mami …«
Leonie wusste nicht, warum sie so beunruhigt war, ihre Mutter nicht sofort zu sehen. Sie stand nicht immer parat, wenn sie nach Hause kam, dafür war das Haus viel zu groß, und wenn man sich oben aufhielt, wusste man nicht, was unten los war.
Leonie rannte ins Wohnzimmer, in die Küche, ins Gästebad.
Von ihrer Mutter keine Spur!
Ihr Herz begann zu klopfen, als sie die Treppe hinaufrannte. Ihrer Mami war doch nichts passiert? Schließlich war sie den ganzen Tag weggewesen.
Sie ging ins Schlafzimmer ihrer Mutter. Da war nichts, nur der Kleiderschrank war ein wenig verrückt. Im Badezimmer war auch niemand, nicht im Gästezimmer.
War ihre Mami wieder ein wenig sentimental und hielt sich in ihrem Prinzessinnenzimmer auf? Das tat sie manchmal, wenn sie Sehnsucht nach ihr hatte. Ja klar, nur da konnte sie sein.
»Mami, da bin ich wieder.«
Von ihrer Mutter gab es auch hier keine Spur, doch Leonie entdeckte sofort das kleine Babytäschchen und den dicken Umschlag.
Was hatte das zu bedeuten?
Sie blieb wie angewurzelt stehen, traute sich nicht, auf ihr Bett zuzugehen, weil sie wusste, dass das alles nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Ihr Herz schlug wie verrückt, sie merkte, wie sie zitterte, all ihre Freude war wie weggeblasen, Angst beschlich sie.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so dagestanden hatte, irgendwann lief sie auf ihr Bett zu, öffnete zuerst einmal das kleine Täschchen. Darin fand sie eine winzige Babyrassel und eine goldene Kette, auf der ein Name eingraviert war, den sie noch nie zuvor gehört hatte – ›Claire‹.
Was hatte das zu bedeuten?
Warum hatte sie diese Dinge noch nie zuvor gesehen?
Warum hatte die Mami niemals darüber gesprochen?
Wo war dieses Täschchen mit dem unerklärlichen Inhalt aufbewahrt gewesen?
Vor lauter Fragen wurde Leonie ganz schwindelig.
Irgendwann griff sie nach dem Umschlag, öffnete ihn, begann zu lesen, und dann brach sie stöhnend zusammen. Es durfte alles nicht wahr sein. Man spielte ihr einen bösen Streich.
Sie las den Brief wieder und wieder, es war kein böser Streich, es war die bittere Wahrheit, und Mami war nicht mehr da, um ihr eine Erklärung zu geben.
Mami …
Sie begann bitterlich zu weinen, denn ihre heile Welt war zusammengebrochen, war zusammengestürzt wie ein Kartenhaus.
Was sollte sie jetzt tun?
Ihre Tränen versiegten, sie war wie gelähmt, und nicht einmal Blacky konnte sie trösten, der um ihre Füße strich.
So war es also, wenn man allein war, wenn die Welt in Scherben vor einem lag.
Ganz allmählich begriff sie, dass ihre Mami nicht ihre Mami war, und sie war auch nicht Leonie, sie war Claire. Und es gab eine andere Frau, die ihre leibliche Mutter war.
All das war mehr als ein Mensch aushalten konnte. Sie begann zu begreifen, dass es niemals mehr so sein würde, wie es gewesen war. Es war alles aus und vorbei. Und sie hatte keine Ahnung, was kommen würde.
Ihre heile Welt gab es nicht mehr!
Was sollte sie jetzt tun?
Zu Manuel gehen?
Nein, diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Der arme Manuel hatte seine eigenen Probleme. Was bei den Münsters geschehen war, das war ganz schrecklich.
Aber immerhin hatte man Manuel nicht sein Leben weggenommen. Er war noch immer Manuel, sein Vater noch immer sein Vater, und seine Stiefmutter: Ja, die gab es wirklich, auch wenn die Ärmste jetzt im Krankenhaus lag nach diesem schrecklichen Autounfall, den sie durch ihre Raserei selbst verschuldet hatte. Sie hatte ihr ungeborenes Baby verloren, das war schlimm, ihr schnittiger Sportwagen war nur noch ein Haufen Schrott. Wenn man so reich war wie die Münsters, dann konnte man sich leicht einen neuen Sportwagen kaufen, die Verletzungen von Frau Münster würden wieder heilen. Doch ihre eigenen? Sie begann verzweifelt zu weinen, sie hatte niemanden mehr.
Plötzlich richtete sie sich auf. Das stimmte nicht! Warum hatte sie denn nicht an die Frau gedacht, die wie eine Omi zu ihr war? Natürlich! Sie musste zu Hilda, ihrer großmütterlichen Freundin, zu der flüchtete sie sich doch immer, wenn sie Probleme hatte, und Hilda konnte so wunderbar trösten, und sie machte den allerbesten Kakao von der ganzen Welt.
Sie packte das Täschchen und den Brief zusammen, stopfte beides in eine Umhängetasche, dann nahm sie Blacky auf den Arm, lief mit ihm hinunter. Als sie an der Küchentür vorbeikam, begann Blacky zu miauen, sprang von ihrem Arm, lief in die Küche, und da begriff sie, was er wollte. Er hatte Hunger.
»Armer Blacky«, murmelte sie, »du sollst nicht darunter leiden, dass alles so anders ist, so schrecklich.«
Automatisch bereitete sie sein Futter zu, sah, wie gierig er das hinunterschlang.
Sie überlegte, dann fasste sie einen Entschluss. Sie würde niemals mehr in dieses Haus hier zurückkehren, auch nicht in ihr Prinzessinnenzimmer, das sie gekauft hatten, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Sie war so stolz und glücklich gewesen, doch jetzt spürte sie nichts mehr. Aber Blacky durfte nicht zurückbleiben.
Sie griff nach dem Einkaufskorb, den sie sich immer auf den Gepäckträger klemmte, wenn sie einkaufen ging, weil Mami, nein, die war sie ja überhaupt nicht, nicht in der Lage dazu gewesen war.
Es war schrecklich! Sie war durcheinander! Sie war unglücklich! Es war überhaupt nicht zu beschreiben, was sich in ihr abspielte. Aber Blacky, der konnte nichts dafür. Ahnte der Kater etwas?
Er ließ sich in den Korb setzen, und aus dem sprang er auch nicht, als sie ihn auf den Gepäckträger klemmte. Tiere waren schlau. Blacky wusste, dass das seine einzige Chance war.
Sie redete beruhigend auf ihn ein, und dann radelte sie los.
Sie war den Weg nach Rottenburg so oft geradelt!
Mit einem Gefühl der Vorfreude, wenn sie sich zu Hilda geschlichen hatte, um sich von ihr heimlich Klavierstunden geben zu lassen.
Wenn sie traurig gewesen war, weil sie nicht verstehen konnte, was mit Mami los war, die ihre Mami nicht mehr war.
Ihr Verstand begriff das, doch ein Herz ließ sich nicht einfach abstellen. Sie wusste nicht mit den Gefühlen umzugehen, die in ihr waren, die zwischen Enttäuschung, Verzweiflung, aber auch Wut und Ärger schwankten.
Sie radelte, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Blacky gefiel das nicht, doch er sprang nicht aus dem Korb.
Das machte sie froh, denn Blacky war zu ihnen gekommen, als sie in das wunderschöne Haus gezogen waren, und jetzt ging er mit ihr. Sie hätte ihn wirklich nicht zurücklassen dürfen. Es reichte, wenn man sie zurückgelassen hatte, einfach so, ohne Verantwortungsgefühl, ohne daran zu denken, was das alles mit ihr machte.
Sie konnte nichts dafür, die Tränen verschleierten ihren Blick, und sie riss sich erst ein wenig zusammen, als ein Auto sie anhupte, weil sie urplötzlich bis zur Mitte der Fahrbahn gefahren war.
*
Hilda Hellwig freute sich auf einen gemütlichen Fernsehabend. Sie war ein Krimi-Fan, und heute gab es einen Film der Serie, die sie besonders liebte.