Inger-Maria Mahlke
Silberfischchen
Roman
ISBN 978-3-8412-0021-1
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Juli 2010
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2010
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg /
Gundula Hißmann unter Verwendung eines Motivs
von plainpicture/Millennium/Jason Shenai
E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH,
www.le-tex.de
www.aufbau-verlag.de
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
Für Rosy, Christian,
Irene und Fiél
y para
Enrique Peña-Alonso
19. 04. 1949 – 07. 07. 2009
Eine lange Reihe abgasgeschwärzter Häuser, die sich in Pfützen spiegelten, trocknete an der Wäscheleine in der Küche, er stieß sie im Vorbeigehen an. Es schneite, die Autos krochen, die weißen Hauben auf den Mülltonnen waren noch unberührt. Den Tee hatte er bereits in die Thermoskanne gefüllt, ein Streufahrzeug bog um die Ecke. Der bleibt nicht liegen, dachte der alte Mann, prüfte nochmals, ob er den Verschluss fest genug zugedreht hatte, es wird wieder regnen, und die Bürgersteige werden knirschen vom Streusand.
Er wickelte die Kanne in Küchenpapier, holte eine Plastiktüte unter der Spüle hervor, legte die Kanne hinein und drehte die Tüte zu einer Wurst zusammen. Einmal war sie ausgelaufen, die Ausrüstung heil geblieben, aber eine neue Tasche hatte er kaufen müssen. Die Tasche, kastenförmig, schwarz und innen mit rotem Filz ausgeschlagen, stand aufgeklappt auf dem Küchentisch, die Thermoskanne kam ganz nach unten. Er wollte mit dem Zug fahren, nach Frankfurt/Oder, den Fluss fotografieren oder Alleelinden im Schnee, falls vorhanden. Die Brote, zwei Mett, zwei Schmelzkäse, hatte er in Wachspapier verpackt, sie gehörten in die Lücke zwischen Kanne und Taschenwand. Als Kind war er einmal in Frankfurt/Oder gewesen. Er konnte sich an kein Haus, keine Straße, kein Geschäft erinnern, nicht an den Bahnhof und nicht an den Namen der Cousine, die sie besucht hatten. Er faltete zwei Blätter Küchenkrepp akkurat in der Mitte und legte sie auf die Kanne, als Trennschicht zwischen Verpflegung und Ausrüstung. Nur an die Ecke des weinroten Sofas, in der er gesessen hatte, während seine Mutter und die Cousine redeten und lachten. Und an den hellblauen Schmetterling mit Flügeln so groß wie seine Handflächen, der hinter goldgerahmtem Glas über dem Sofa hing. Der Schmetterlingskörper ähnelte einer Zigarre, sah aus, als hätte er ein spürbares Gewicht. Ekel hatte ihn geschüttelt, als er sich das Gewicht auf seiner Hand vorstellte. Auf die Trennschicht kam das zusammengeklappte Stativ, die Schachteln mit den neuen Filmen klemmte er zwischen Stativ und Taschenwand, sonst verrutschte es beim Gehen. Er hatte die Cousine gefragt, ob der Schmetterling beim Präparieren ausgehöhlt und neu gefüllt worden war. Sie wusste es nicht. Auf das Stativ kamen die Kamera, als Letztes die Objektive, in weiche Tücher gewickelt. Aus mehr bestand Frankfurt/Oder nicht, er klappte den Taschendeckel zu. Frankfurt/Oder war ihm gleichgültig, er wollte mit dem Zug fahren durch vorbeifliegenden Wald im Schnee.
Die Filme von gestern mussten in die Dunkelkammer, er überlegte, ob er die Regenhaube für die Kamera einpacken sollte. Er ließ es bleiben, er musste schneller als der Regen sein. Er nahm eine der Mützen vom Garderobenbord, prüfte kurz im Spiegel, ob sie gerade saß. Sein Mantel musste ausgebürstet werden, der Kragen war übersät mit weißen Hautschuppen, sie rührten sich nicht, als er mit der Handfläche drüberrieb. Seine Arme fuhren in die zerknitterten Ärmel, es würde bald regnen, er hatte keine Zeit. Wenn der Zug am Ostbahnhof heute wieder zu spät kam, würde er nicht bezahlen.
Er hängte die Fototasche über seine Schulter, nahm die Handschuhe aus der Konsolenschublade, braune Lederhandschuhe, an den Ballen hellgescheuert. Sie waren eng, es dauerte, bis er sie über die Finger gezogen hatte. Die Handschuhe waren wichtig, seine Finger froren immer zuerst. Und mit steifen Fingern dauerte das Herumtasten an der Kamera, das Suchen nach den ständig kleiner werdenden Knöpfen und Rädchen noch länger.
Vor der Haustür lag seine zusammengefaltete Zeitung auf dem grauen Linoleum, die Schlitze der Briefkästen waren zu eng. Vor drei Jahren hatte die Hausverwaltung das letzte Mal auf einen seiner Briefe geantwortet. Seitdem ging er ein Stockwerk tiefer von Zeit zu Zeit eine große Kurve über die Zeitungen der Nachbarn, darauf achtend, dass auf jeder mindestens ein kompletter Schuhabdruck zu sehen war. Sollten sie doch Briefe schreiben.
Als er die Eingangstür öffnete, wäre er fast mit dem Jungen aus dem dritten Stock zusammengestoßen. Der Junge zuckte zurück, und kurz sah es aus, als wollte er weglaufen. Ein schmächtiges, blasses Kerlchen, der Schulranzen ragte rechts und links über die Schultern hinaus, ein hellblauer Turnbeutel lag neben ihm auf dem Boden. Er selbst war auch so ein Kerlchen gewesen, »mickrig«, hatte sein Vater gesagt. Der Junge grüßte nicht.
Der alte Mann ging vorsichtig die Straße hinunter, es war glatt.
An der Ampel stand eine Frau mit langen braunen Haaren und wartete. In der Hand hielt sie eine blaue Plastikschale mit Erdbeeren. Es war so kalt, dass sie Wollhandschuhe trug, aber sie aß Erdbeeren und ließ die Kelchblätter achtlos auf die Erde fallen. Die Blätter sahen auf dem Schnee aus wie grüne gezackte Blüten. Er hob die Hand, wollte ihr auf die Schulter tippen, Sie verschmutzen den öffentlichen Raum sagen. Sie trug eine dicke Pelzjacke, sie würde ein Tippen kaum bemerken. Er zögerte, die Hand auf halbem Weg zu ihrer Schulter, überlegte, ob er seine behandschuhten Finger von hinten fest in ihren Rücken stoßen sollte. Sein Arm stand noch in der Luft, als die Ampel auf Grün wechselte. Er ging hinter ihr, die Augen fest auf die Stelle zwischen ihren Schulterblättern gerichtet, wo er sie hatte stoßen wollen.
Mit Erdbeeren waren sie ins Bordell gefahren, mit Erdbeeren statt Blumen. Hatten sie auf der Hinfahrt an einem Stand am Straßenrand gekauft. Die Früchte in den Spankörben auf dem Rücksitz waren überreif gewesen. Es hatte zu dämmern begonnen, die Luft staute sich im Auto, und Schweißperlen ließen die Bremsenbisse auf seinem Rücken jucken. Er hatte unten im Auto gewartet, er war frisch verheiratet gewesen. Hatte gewartet, bis die Nacht so kühl geworden war, dass er die Fenster hochkurbelte. Die Scheiben beschlugen, Kondenswassertropfen rannen an ihnen herab, als seine Kollegen wiederkamen, die Türen aufrissen und gähnend einstiegen.
Der Bus zum Ostbahnhof war pünktlich, er setzte sich auf den Behindertensitz, sollten sie ihm doch nachweisen, dass er nicht behindert war. Am Abend würde er den Film von gestern entwickeln, Berliner Dom, Touristen unter dem Portal eng zusammengedrängt, grauer Himmel gespiegelt in Pfützen. Zwei Männer stiegen hinter ihm ein, blieben im Mittelgang stehen, neben seinem Sitzplatz, hielten sich mit einer Hand an den grauen Gummischlaufen fest. Er sah geradeaus, die braune Plexiglas-Trennscheibe vor ihm war mit Fingerabdrücken übersät. »Ein Gig Speicher, neunzehn MB Lesegeschwindigkeit, Corsair Voyager drei, zwölf Euro sechzig«, der eine hielt dem anderen einen kleinen roten Plastikklotz hin. »Sensationell«, sagte der.
Er sah aus dem Busfenster, sie fuhren am Kanal entlang, auf der Böschung winterkahle Büsche, zwischen ihnen Müll. Nicht weit von hier war er Lehrling gewesen, beim Atelier Wagner – Portraits und Werbefotografie. Hatte weiße Leinenanzüge mit weiten Beinaufschlägen getragen und versucht, mit den Mannequins anzubändeln. Hatte nach wenigen Wochen kündigen müssen, Vater gestorben, ich brauch dich so sehr, hatte Mutter telegrafiert.
Der Zug nach Hause war überfüllt gewesen, Schulkinder mit sonnenbrandgeröteten Gesichtern und kurzgeschorenen Haaren saßen lachend im Gang und riefen einander Scherze zu. Nachdem sie umgestiegen waren und die Räder in die Stille hinein Delmenhorst, Delmenhorst stampften, war etwas Beschämendes von unten, aus seinem Bauch aufgestiegen, bis hinauf zu seinen Augen. Die übriggebliebenen Fahrgäste starrten ihn an, Ellbogen stießen in Rippen. Er war aufgestanden, hatte sich in der Toilette eingeschlossen. Hatte sein Gesicht beim Weinen im Spiegel betrachtet, und dann betrachtete er sein Gesicht nach dem Weinen, denn er konnte unmöglich in das Abteil zurück.
Der alte Mann lehnte sich in das Polster, als der Zug anfuhr. Es roch nach kalter Asche im Abteil, sobald er sich vorbeugte, stärker. Der Aschenbecher in der rechten Armlehne stand einen Spalt offen, braun verfärbte Filterenden ragten heraus, der Aschenbecher war so voll, dass er nicht mehr schloss. Er versuchte die Kippen mit den Fingerspitzen hineinzudrücken, die Stummel gaben nach, Asche staubte auf seine Hose. Ekel zog ihn zurück, er würde sich beschweren, beim Schaffner beschweren. Er hatte keine Fahrkarte. Der Zug rollte langsam am alten Depot vorbei, rund und mit eingeschlagenen Scheiben und Schmierereien auf den teerbestrichenen Holzwänden. Die Schmierereien seien Buchstaben, hatte er in der Zeitung gelesen, er konnte keine Buchstaben erkennen. Das Schienenmuster verrostet, sah aus, wie für Kinder zum Spielen gedacht. Er könnte den Sitz gegenüber nehmen, oder ein anderes Abteil. Er hatte immer nur im Freien geraucht, seine Frau hatte gesagt, Rauchen verdopple die Hausarbeit.
Seine Frau war schön gewesen, schwanger, als sie einwilligte, ihn zu heiraten, er hätte nie gewagt, sie zu schwängern. Wochen später sagte sie, sie habe es verloren, das ändere nichts, dafür sei es zu spät. Er hatte genickt. Hatte zugesehen, wie sie das Haus mit Möbeln füllte, jeden Morgen ihre Lippen nachzog und beim Frühstück mit einem geübten Messerhieb ihr Ei köpfte. Wie sie ihren Finger anfeuchtete, ehe sie die Seite einer Illustrierten umblätterte. Bei jeder Zeile leise nickte, wenn sie die französischen Vokabeln für den Volkshochschulkurs durchging. Hatte gewartet, doch sie musste mehr verloren haben, denn, gleich wie oft und fest und entschlossen sie es versuchten, in ihr wuchs nichts.
Sie habe nicht geheiratet, um arbeiten zu gehen, sagte sie. Sie war zu Hause geblieben, hatte Kurse besucht, einen Lesezirkel. Bridge gespielt. Wenn er Nacht- oder Frühschicht hatte, hatte er ihr den Frühstückstisch gedeckt, ehe er zum Dienst ging. Mit Eierbecher und Stoffserviette, Letztere zu einem Segel gefaltet. Hatte Marmelade in Schälchen gefüllt, je zwei Käse- und zwei Wurstscheiben aufgerollt und auf einen Teller getan, Butter in kleine Vierecke geschnitten und dazwischengelegt, hatte alles mit Klarsichtfolie überzogen und in den Kühlschrank gestellt. Am Anfang, um ihr eine Freude zu machen, später, damit sie nicht fragte, warum er es unterließ.
Sie kaufte Bücher, ließ Regale anfertigen, dunkel und massiv an der kurzen Seite des Wohnzimmers. Wenn sie ausgingen, lachte sie viel und erzählte von dem Vertreter, der gesagt habe, sie müsse nichts über sich sagen, ein Blick auf ihre Bücher sei eine Offenbarung gewesen. Ihr Haar wurde immer kürzer, begann sich in erzwungenen Drehungen und Wellen zu winden, am Ende färbte sie es braun. Ihr Kinn, keck hatte er es genannt, gerne behutsam mit dem Zeigefinger drübergestrichen, wenn sie ihn ließ, wurde weicher, dehnte sich aus in Richtung Hals. Die wunderbare Wölbung zwischen Auge und Braue kam ins Rutschen. Ihre Wangen verlängerten sich nach unten, hingen in weichen Bögen über die Kinnlinie hinab. Er hörte auf, sie anzusehen, später auch, sie zu berühren. Irgendwann stellte er sich vor die Regale und suchte. Fand nichts außer Menschen im Hotel von Vicki Baum, Nofretete, Kaiserin und Liebende oder Nero, Wahn der Macht. Darunter zwei Bände Nietzsche, ungelesen. Camus mit Lesezeichen auf Seite zwölf. Die anderen bekämen immer den Kuchen und sie nur die Krümel, die übrigblieben, sagte sie, und nachts hörte er sie manchmal weinen.
Einfamilienhäuser und Parzellen mit Datschen zogen vorbei, der Himmel immer noch klar, der Schnee intakt. Vorbei an Gärten mit hartgefrorenen Gemüsebeeten, mit Holzschuppen, mit Apfelbäumen, an denen kleine, saure Winteräpfel hingen, die trotz ihrer roten Backen blass und kränklich aussahen.
Er war heimgekommen vom Dienst. War durch die Terrassentür in den Garten gegangen, denn er hatte gerufen, und sie hatte nicht geantwortet. Still lag sie. Inmitten der feuchten, sich schwerfällig im Wind wölbenden Wäsche, der ächzenden, schwarz lackierten Pfähle, zwischen denen die Leine gespannt war, der hüpfenden Amseln auf dem kurzgemähten Rasen, inmitten der Bienen, Wespen, Hummeln, die um Blüten kreisten, lag sie still. Lag auf der Seite, ein paar Zentimeter neben ihr der bunte Klammerbeutel. Neben dem Klammerbeutel blühten Gänseblümchen. Er war ins Haus zurückgegangen, hatte die Dienstmütze an die Garderobe, die Jacke auf einen Bügel gehängt. Hatte die Kamera geholt.
Die Bücher verschenkte er mitsamt den Regalen an einen Trödler. Der Trödler war zuerst misstrauisch, untersuchte Regale und Bücher mehrmals nach Holzbock und anderem Ungeziefer, ehe er sie abholte.
Der Zug fuhr eine große Kurve, nächster Halt Frankfurt/Oder wurde über den Lautsprecher angesagt, zwei leere Bierdosen, pulvrig graue Zigarettenasche um die Trinköffnung, kippten um, rollten erst langsam und dann immer schneller den Gang hinunter.
Lichtstrahlen schossen durch schnell vorbeiziehende Tannenstämme. Trommelfeuer hatten sie das genannt, als der Zug ihn an Sommermorgenden zur Volksschule nach Stettin fuhr. Lichttrommelfeuer – nicht fotografierbar.