AbbMehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:
www.piper.de
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.
Die industrielle Zivilisation hat das Antlitz der Erde innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte radikal verändert: An die Stelle von beinahe endlosen Wäldern und vielfältigen Kulturlandschaften sind Megastädte und Industriegebiete, Straßengeflechte und Containerhäfen, landwirtschaftliche Monokulturen und Abraumhalden getreten. Gewaltige Flussläufe wurden begradigt, umgeleitet und aufgestaut, Berge untertunnelt und gesprengt. Was auf der einen Seite als Triumph der Zivilisation über die Natur erscheint, als Beweis der Macht und Intelligenz des Menschen, erweist sich auf der anderen Seite als Verhängnis: Der vermeintliche Sieg über die Naturgewalten hat den Planeten in eine der tiefsten Krisen seiner Geschichte gesteuert. Nie zuvor seit 66 Millionen Jahren, als die Dinosaurier von der Erde weitgehend verschwanden, starben so schnell so viele Tier- und Pflanzenarten aus. Das Klimasystem nähert sich gefährlichen Kipppunkten; werden sie überschritten, drohen ganze Erdregionen unbewohnbar zu werden. Ob die Gattung Homo diesen Prozess letztlich überleben wird, ist alles andere als gewiss.
Obwohl all dies im Prinzip seit Jahrzehnten bekannt ist, ist unsere Zivilisation offensichtlich unfähig, ihren Kurs zu korrigieren. Weder die immer drängenderen Warnrufe von Zehntausenden Wissenschaftlern noch die Millionen von Menschen, die für die Rettung des Planeten weltweit auf die Straße gehen, haben daran etwas Wesentliches geändert. Wie ich in meinem Buch Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation gezeigt habe, reichen die Gründe dafür tief in die ökonomischen, politischen und ideologischen Fundamente unserer Gesellschaft hinein.[1]
Zu diesen Tiefenstrukturen gehört auch ein besonderes Verhältnis zu dem, was wir »Natur« nennen. Für die Pioniere der mechanistischen Wissenschaft, die in der Frühen Neuzeit entstand und prägend für unsere Zivilisation werden sollte, bestand die Natur aus vom Menschen getrennten Objekten, die sich beliebig zerlegen, analysieren, neu zusammensetzen und kontrollieren ließen. Alles, so schien es, könne der Mensch ergründen und schließlich beherrschen. Doch tatsächlich haben sich, wie wir im Laufe dieses Buches sehen werden, genau diese Annahmen mittlerweile auf allen Ebenen als falsch erwiesen: Erstens zeigt sich der Stoff, aus dem wir sind, als immer rätselhafter, je tiefer die Wissenschaft in ihn eindringt; zweitens lässt er sich nicht in isolierte Objekte auftrennen; und drittens führt der Versuch einer totalen Kontrolle über die Natur geradewegs in den ökologischen Kollaps – und damit in einen zunehmenden Kontrollverlust.
Doch diese Erkenntnisse haben sich bisher in unserem alltäglichen Bewusstsein und Handeln nicht durchsetzen können. Wir sprechen noch immer selbstverständlich so, als sei die Natur etwas, das unabhängig von uns »da draußen« existiert, eine »Umwelt«, die uns umgibt, während wir selbst einer anderen Sphäre angehörten: der »Zivilisation«. Wir tun so, als würden uns die Verwerfungen in der Biosphäre kaum mehr angehen als ein Film auf einer Leinwand, den wir bei Bedarf einfach abschalten können. Inzwischen bewegen wir uns die meiste wache Zeit in einer digitalen Technosphäre, in der die nicht menschengemachte Welt nur noch als Bild, als Datensatz vorkommt. Diese Trennung ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses, der nicht nur unser Denken und unseren Alltag durchzieht, sondern auch unsere ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Institutionen.
Doch so hoch die Mauern auch sind, die wir durch Technik zwischen uns und der »Umwelt« errichten, so sehr erweisen sie sich am Ende als Illusion. Durch Atmung und Stoffwechsel werden alle zwei Monate sämtliche Atome meiner Leber ausgetauscht, alle sechs Wochen die meiner Haut.[2] Was eben noch »da draußen« war, ist im nächsten Moment ein Teil von mir. Und umgekehrt. Der Stoff da draußen ist unser Stoff. Was wir ihm antun, tun wir letztlich uns selbst an. Die Ausbreitung von Pandemien wie Covid-19 zeigt das sehr anschaulich, schließlich stammt ein Großteil der neuen Erreger, die unsere Atemwege und Immunsysteme befallen, von wilden Tieren, deren Habitate zerstört wurden.[3] Die Vorstellung, es gebe eine von uns getrennte Natur, mit der wir beliebig verfahren können, die wir abbaggern, aufheizen, zerlegen, neu zusammensetzen und kontrollieren können wie ein Bauingenieur seine Materialien, ist eine tödliche Täuschung.
Dieses Buch erkundet die Ursprünge jener Illusion der Trennung, die tief in der westlichen Zivilisation verankert ist. Dabei zeigt es, wie die modernen Naturwissenschaften, die oft herangezogen werden, um die technische Herrschaft über die Natur zu legitimieren, tatsächlich eine Welt entdeckt haben, die keineswegs auf Trennung, sondern auf Verbundenheit, nicht auf Herrschaft, sondern auf Selbstorganisation beruht. Diese Erkenntnisse können entscheidend dabei helfen, die ideologischen Verengungen unserer Weltsichten zu überwinden und Auswege aus der gegenwärtigen zivilisatorischen Sackgasse zu finden.
Die meisten von uns haben in der Schule gelernt, dass sich der Stoff, aus dem wir sind, im Innersten aus kleinen Kügelchen zusammensetzt: aus Atomen und Elementarteilchen. Im Chemielabor wurden uns Steckmodule von Molekülen gezeigt und im Physikunterricht Modelle, in denen sich Elektronen um einen festen Atomkern drehen wie Planeten um die Sonne. Fortgeschrittene dürfen das Standardmodell der Elementarteilchenphysik studieren, das die verschiedenen Partikel in einer Tabelle wohlgeordnet auflistet. Die Welt gleicht in dieser Sichtweise einem Lego-Bausatz mit sehr kleinen, fein säuberlich getrennten Bausteinen, aus denen sich alles zusammensetzen lässt, ob Planeten, Bakterien oder Menschen.
Doch diese so überschaubare und praktische Vorstellung von der Welt hat einen Nachteil: Sie ist vollkommen falsch. Seit den Revolutionen der Relativitätstheorie und der Quantenphysik vor einhundert Jahren hat die Physik erkennen müssen, dass im Inneren der Materie nichts Festes, Greifbares existiert, sondern nur schwingende Felder von Energie, die im Prinzip das ganze Universum durchziehen. Die scheinbar getrennten Dinge und Wesen sind tatsächlich in einem großen Gewebe miteinander verbunden. Die Felder, welche die Grundlage unserer Existenz bilden, verhalten sich so seltsam, dass sie unsere Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität grundlegend herausfordern (Kapitel 1).
Zugleich gibt der Stoff, aus dem wir sind, noch aus anderen Gründen Rätsel auf. Denn aus ihm kann etwas entstehen, das sich auch auf der makroskopischen Ebene vollkommen anders verhält als die Kugeln und schiefen Ebenen aus dem Physikunterricht: Leben. Während eine Kugel, die ich sanft anstoße, eine abschüssige Ebene hinunterrollen wird, kann ein Mensch, den ich sanft berühre, einen ganzen Berg hinaufsteigen. Lebewesen agieren und reagieren vollkommen anders als nichtlebende physikalische Objekte, und aus diesem Grund hat eine Biologie, die versucht, Leben allein aus mechanischen Vorgängen zu erklären, bis heute enorme Schwierigkeiten, das Verhalten von lebenden Wesen angemessen zu verstehen, geschweige denn zu erklären. Allen gewaltigen technischen Fortschritten zum Trotz.
Das wohl hartnäckigste Rätsel dabei ist die Tatsache, dass Lebewesen, zum Beispiel Menschen, sich nicht nur vollkommen anders verhalten als andere physikalische Objekte, sondern auch ein Innenleben entfalten, das sich von außen nicht direkt beobachten lässt. Eine farbenblinde Hirnforscherin etwa, die alles über die Biochemie unseres Körpers weiß, kann trotzdem beim besten Willen nichts darüber in Erfahrung bringen, wie es ist, die Farbe Blau zu sehen, denn sie gehört jenem seltsamen Reich der Innenwelten an, das nicht aus messbaren und zählbaren Dingen besteht, sondern aus erlebten Qualitäten. Wenn ich einen Apfel esse, dann verwandelt mein Stoffwechsel ihn nicht nur in neues Leber- und Hautgewebe, sondern auch in Gedanken, Träume und Empfindungen. Der Apfel verbrennt zu Geist, zu Gefühl. Was ist das für eine seltsame Substanz, die zugleich Stoff und Nichtstoff, Innen- und Außenwelt, tot und lebendig ist?
Es gibt zwei Wege, etwas über diesen Stoff zu erfahren. Zum einen unsere unmittelbare Wahrnehmung. Wir wissen, wie es ist, Farben zu sehen, Musik zu hören, etwas zu riechen, Schmerz oder Freude zu empfinden. Wir wissen, wie sich ein rauer Stein anfühlt und die Haut eines anderen Menschen. Wir wissen, was es heißt, sich an jemanden zu erinnern. Dieses weite Land, dieser Weltinnenraum, steht jedem offen. Um ihn zu betreten, brauchen wir weder Quantenphysik noch Molekularbiologie. Wir werden in ihn hineingeboren. Er wächst mit uns. Er ist unsere primäre Wirklichkeit.
Der andere Weg ist die Beschreibung der Welt, sofern man sie in Teile zerlegen und von außen vergleichen, vermessen, wiegen und zählen kann. Die Naturwissenschaften haben sich auf diesen zweiten Weg begeben. Beide Wege der Erkenntnis erschließen uns etwas über die Wirklichkeit, in der wir leben. Sie lassen sich auch nicht grundlegend voneinander trennen, denn selbst die anspruchsvollste Wissenschaft kann gar nicht anders, als auf der primären Wirklichkeit unserer Wahrnehmung aufzubauen.
Doch über die Jahrhunderte hat sich ein tiefer Graben zwischen diesen beiden Welten aufgetan, ein mittlerweile schier unüberbrückbarer Abgrund. Im Jahr 1970 schrieb der französische Biochemiker und Nobelpreisträger Jacques Monod die denkwürdigen Sätze: »Der Mensch muss endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz […] am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.«[4] Der Graben, den Monod hier beschreibt, durchzieht die westliche Zivilisation auf allen Ebenen. Es ist die Spaltung von Natur und Kultur, Seele und Körper, Materie und Geist, Innensicht und Außensicht.[5]
Während Monod den Menschen noch als eine einsame Insel in einem tauben Universum sah, auf der es zumindest für ihn selbst noch Musik und Empfindungen gibt, gehen manche, die meinen, im Namen der Wissenschaft zu sprechen, wesentlich weiter. Sie verkünden, dass wir nur biologische Maschinen in einem seelenlosen Universum seien und unsere Innenwelt nicht mehr als eine bunte, gefühlsduselige Fassade vor einer eiskalten Wirklichkeit sei. Einige Vertreter des Silicon Valley behaupten sogar, dass sich der menschliche Geist, da er ja lediglich aus Rechenoperationen bestehe, in wenigen Jahrzehnten auf Computer »uploaden« lasse und den Körper überflüssig mache.[6] Diese »transhumanistische« Mythologie ist Teil einer langen Geschichte der Entfremdung des Menschen, die eng mit der Entwicklung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zusammenhängt.
Dieses Buch soll zeigen, dass diese Spaltung und Entfremdung sich nicht aus den Erkenntnissen der Wissenschaften selbst speist, sondern aus ihrer selektiven und verzerrten Interpretation. Es gilt scharf zu unterscheiden zwischen tatsächlichen Forschungsergebnissen und einer technokratischen Ideologie, die Wissenschaft missbraucht, um ein bestimmtes Weltbild zu verbreiten – und nicht zuletzt auch, um handfeste monetäre Interessen durchzusetzen.
Wenn wir die Forschung von diesem ideologischen Überbau befreien, dann erscheinen die Erkenntnisse von Physik, Chemie und Biologie der letzten Jahrhunderte in einem vollkommen anderen Licht. Statt uns eine tote Welt isolierter Objekte zu offenbaren, haben sie nämlich etwas ganz anderes zutage gefördert: ein Universum, das auf Verbundenheit, Selbstorganisation und Kreativität beruht. Weder sind wir isolierte Inseln des Empfindens und Denkens in einer tauben, sinnlosen Welt noch biologische Roboter, sondern Teil eines allesverbindenden kosmischen Selbstentfaltungsprozesses, der von der subatomaren Ebene über die Sphäre des Lebens bis in die Weiten des Universums reicht.
Diese neue Sicht wird auch von großer Tragweite dafür sein, wie wir mit der planetaren Krise umgehen, in die uns eine jahrhundertelange Ausbeutung der Natur einschließlich des Menschen gesteuert hat – eine Krise, die inzwischen nicht nur die Fortexistenz unserer Spezies gefährdet, sondern das gesamte Leben auf der Erde. Denn diese Krise beruht nicht zuletzt auf jener tiefen Spaltung zwischen einem entwurzelten, »total verlassenen« Menschen und einer zum toten Objekt degradierten Natur.
Als die modernen Naturwissenschaften vor gut 400 Jahren in Europa entstanden, war noch nicht ausgemacht, in welche Richtung sie sich entwickeln würden. Der Astronom, Mathematiker und Philosoph Johannes Kepler (1571 – 1630), einer der Wegbereiter der neuen Wissenschaften, glaubte etwa, dass die Erde ein lebendes Wesen sei und eine Seele besitze, die »anima terrae«. Die Vorstellung einer toten, seelenlosen Natur war ihm wie vielen anderen Renaissance-Gelehrten fremd (Kapitel 4). Kepler nahm an, dass der gesamte Kosmos, einschließlich der Erde, ein zusammenhängendes Ganzes sei. Das Universum war in seinen Augen in musikalischen Harmonien geordnet, die sich in bestimmten Zahlenverhältnissen spiegelten.[7]
Die Vorstellung eines toten und leeren Universums, wie es Monod später skizzierte, war zu keinem Zeitpunkt seit Kepler Konsens unter führenden Wissenschaftlern (ganz zu schweigen von der übrigen Bevölkerung und außereuropäischen Kulturen). Selbst Isaac Newton, der gemeinhin als Vollender des mechanistischen Weltbildes gilt, sah den gesamten Kosmos als eine Einheit, die zugleich geistig und materiell ist.[8]
Trotz des Einspruches hochrangiger Forscher setzte sich jedoch in Europa seit dem 17. Jahrhundert nach und nach eine »mechanistische« Konzeption der Natur durch. »Mechanistisch« bedeutet hier die Vorstellung, dass alles in der Natur berechenbaren Gesetzen von Ursache und Wirkung folgt, wie man sie etwa beim Stoß von Billardkugeln finden kann: Eine Ursache A bringt durch einen Stoß eine vorhersagbare Wirkung B hervor. Diese Art zu denken wurzelt in einer grundlegenden menschlichen Erfahrung von Kausalität. Kleine Kinder etwa haben große Freude daran, herauszufinden, wie sie durch Schieben, Ziehen und Stoßen Dinge bewegen können. Wenn man etwas ihrem Blick zunächst entzieht und dann heimlich verschwinden lässt, suchen sie intuitiv nach einer mechanischen Ursache: Jemand oder etwas muss dieses Ding verschoben oder weggenommen haben.[9] Diese Hypothese von Kausalität durch Berührung und Krafteinwirkung ist für einen bestimmten Bereich von Erscheinungen ausgesprochen hilfreich und plausibel, sie hat einen wichtigen evolutionären Sinn, vor allem, was die Tätigkeit mit unseren Händen und den Gebrauch von Werkzeugen angeht.
Kinder lernen aber mindestens ebenso früh auch noch eine ganz andere Art von Kausalität kennen, die ohne Berührung funktioniert und weit weniger vorhersagbar ist. Ich weine, und jemand kommt (manchmal aber auch nicht); ich bewege mich ruckartig, und die Katze verkriecht sich blitzschnell unter dem Sofa (manchmal aber auch nicht); ich lache, und jemand anders lacht mit (manchmal aber auch nicht). Das Kind lernt auf diese Weise, dass die Kausalität in der Welt der Lebewesen ganz anders funktioniert als in der Welt von Bauklötzen und Babyrasseln; dass Lebewesen nicht allein auf Stöße reagieren, sondern auch und vor allem auf Gesten, Zeichen und Laute. Und auch diese Erkenntnis hat einen fundamentalen, lebenswichtigen Sinn.
Die mechanistische Philosophie und Wissenschaft in ihrer reinen Form nun behauptet, dass diese zweite Form der Kausalität eine Illusion sei; dass also auch das Leben, genau wie die Welt der Bauklötze, in Wahrheit auf Stößen von Partikeln beruhe, die nur so klein seien, dass wir sie mit bloßem Auge nicht sehen können. Aus dieser Hypothese formulierten die frühen Mechanisten im 17. Jahrhundert ein umfassendes Forschungs- und Welterklärungsprogramm, das einen ebenso universalen Wahrheitsanspruch wie das Christentum geltend machte – wobei die neuen Gewissheiten nicht aus heiligen Schriften zu beziehen seien, sondern aus überprüfbaren Experimenten.[10]
Doch je mehr die Wissenschaft über die Jahrhunderte in die Materie eindrang und sie in immer kleinere Teile zerlegte, desto mehr entzog sie sich ihr. Atome erwiesen sich nicht als feste Kügelchen, sondern als zusammengesetzt aus lauter noch kleineren Einheiten, die sich bei näherer Betrachtung in substanzlose Energie- oder gar Wahrscheinlichkeitswellen auflösten.
Währenddessen versuchten Biologen, das Leben als eine Art Uhrwerk zu verstehen, so wie man zuvor die Himmelsmechanik wie ein Uhrwerk studiert hatte. Doch die Prämisse, dass die Welt ausschließlich von mechanischen Ursachen bewegt sei, führte unweigerlich dazu, dass die Forscher das, was Leben ausmacht, nicht zu fassen bekamen. Die Eigendynamik, Spontaneität und Kreativität des Lebendigen blieben ebenso unerklärlich wie das Phänomen des Bewusstseins. War zuvor, in einem als lebendig verstandenen Kosmos, der Tod das große Rätsel, so schien nun, in einem Universum aus toter Materie, das Leben ein verwirrendes Mysterium.
Die Entdeckungsreisen und Irrfahrten der Physik und Biologie haben, das ist eine der wesentlichen Thesen dieses Buches, die Rätsel unserer Existenz keineswegs gelöst, sondern vertieft, präzisiert und in immer größerer Deutlichkeit hervortreten lassen. Das ist keineswegs nur eine Niederlage, sondern auch ein großes Verdienst. Denn sie zwingen uns, wenn wir sie ernst nehmen, dazu, unser Bild des Universums und unserer selbst grundlegend zu überdenken.
Die Durchsetzung der mechanistischen Philosophie spielte sich nicht zufällig in der Zeit eines gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchs ab: der Entstehung des kapitalistischen Weltsystems. Während Galileo Galilei am Anfang des 17. Jahrhunderts an den Fallgesetzen arbeitete und die Phasen der Venus mit seinem selbstgefertigten Teleskop studierte, eröffnete in Amsterdam die erste Aktiengesellschaft der Welt und wenig später die erste dauerhafte Wertpapierbörse.[11] Zugleich schufteten Zehntausende indigener Zwangsarbeiter in den spanischen Silberminen Boliviens, um den rasant wachsenden Geldhunger Europas zu befriedigen. Ein beträchtlicher Teil dieses Silbers wiederum floss durch die Hände Genueser und Augsburger Bankiers in die boomende Rüstungsindustrie, die Kriege bisher unbekannter Zerstörungskraft ermöglichte.[12] Galileo selbst verwandelte sein Haus in Padua in eine Art Militärakademie, wo er Offiziere in Kriegsführung, Geometrie und Festungsbau unterrichtete. Das von ihm entwickelte Fernrohr sollte ursprünglich vor allem militärischen Zwecken dienen. Und das Silbergeld, das er verdiente, stammte mit einiger Wahrscheinlichkeit aus den Minen Südamerikas.
Die Verbindung von endloser Geldvermehrung, staatlichem Expansionsdrang und rasanter technischer Entwicklung sollte diese moderne »Megamaschine« zum dynamischsten und aggressivsten System der Weltgeschichte machen.[13] Sowohl der Kapitalismus als auch die modernen Naturwissenschaften und ihre technischen Anwendungen haben seit dieser Zeit einen Siegeslauf um die Welt angetreten. In ihrem Zusammenwirken haben sie einem Teil der Weltbevölkerung nie dagewesenen materiellen Reichtum beschert. Doch zugleich befinden wir uns heute in einer ebenso beispiellosen globalen Krise: durch Klimachaos, ein rasantes Artensterben, die Plünderung von Böden, Wäldern und Gewässern und nicht zuletzt durch Atomwaffen. Keine Zivilisation in der Geschichte der Menschheit hat je ein solches planetares Zerstörungspotenzial entfaltet.
Obwohl immer wieder gesagt wird, dass wir in einer Wissens- oder gar Wissenschaftsgesellschaft leben, zeigt sich diese Zivilisation seltsam unfähig, adäquate Antworten auf diese epochalen Krisen zu finden. Klimawissenschaftlerinnen, Atomphysiker und Biologinnen, die seit Jahrzehnten auf einen Kurswechsel drängen, finden bei den politischen und ökonomischen Steuerleuten der Großen Maschine kaum Gehör. Ernsthafte Programme für einen grundlegenden und raschen Umbau der Gesellschaft sind nicht in Sicht. Stattdessen sehen wir Lippenbekenntnisse, Ablenkungsmanöver und bestenfalls einige lächerlich unzureichende kosmetische Reparaturen, während die Zerstörung der Biosphäre nicht nur ungebremst, sondern beschleunigt voranschreitet. Wissenschaft scheint nur so lange willkommen zu sein, wie sie Technologien bereitstellt, die der Geld- und Machtakkumulation dienen; sobald sie aber unbequeme Wahrheiten liefert, die Sand ins Getriebe streuen könnten, werden ihre Erkenntnisse ignoriert. Obwohl unser Leben immer mehr von Technik und Wissenschaft geprägt wird, erweist sich unsere Gesellschaft ausgerechnet, wenn es um unser Überleben geht, als strukturell irrational.
Der Hauptgrund für die Krise des Lebens auf der Erde ist die Ausbreitung eines Wirtschaftssystems, das ohne permanente Expansion, ohne endloses Wachstum nicht existieren kann. 400 Jahre nach der Gründung der ersten Aktiengesellschaft wird der Planet heute von einigen Hundert bürokratischen Monstern beherrscht und ausgebeutet, deren einziger Zweck die endlose Vermehrung von Geld ist. Koste es, was es wolle.[14]
Die Macht dieses Systems gründet aber nicht nur in seinen wirtschaftlichen und politischen Strukturen, sondern auch in einer Ideologie, die dazu dient, diese Verhältnisse zu rechtfertigen und als Inbegriff der Natur erscheinen zu lassen. Und hier kommt die technokratische Mythologie ins Spiel. Obwohl die moderne Physik tatsächlich das mechanistische Weltbild längst überwunden hat, ist im Schulunterricht noch immer von kugelförmigen Elektronen die Rede, die um einen festen Atomkern kreisen – als habe es die quantentheoretische Revolution niemals gegeben. Nicht nur in Schul- und Lehrbüchern, sondern auch in zahllosen populärwissenschaftlichen Schriften und Filmen wird weiterhin der Eindruck vermittelt, die Welt bestehe in ihren tiefsten Schichten aus isolierten Objekten. Doch genau diese Sichtweise hat sich bereits vor 100 Jahren als fundamental falsch erwiesen. Wie es der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, ein langjähriger Mitarbeiter von Werner Heisenberg, formulierte: »Wir haben festgestellt, dass die kleinsten Teilchen überhaupt nicht mehr die Eigenschaft von Materie haben, sondern dass die Materie verschwindet. Was bleibt, sind eigentlich nur Beziehungsstrukturen.«[15] Solche Einsichten haben allerdings bisher kaum Eingang in die populäre Vermittlung von Wissenschaft und ins allgemeine Bewusstsein gefunden.
Der Grund dafür ist offensichtlich: Die Ideologie des Getrenntseins, die behauptet, die Welt gleiche einem Baukasten, ist zu fundamental für unsere Wirtschaftsweise, als dass man sie einfach aufgeben könnte. Denn unser Wirtschaftssystem braucht genau diese Art von Welt, nämlich überall frei verfügbare und kombinierbare Ressourcen, die man ohne Rücksicht auf ihre Einbettung in ökologische Zusammenhänge herausreißen und anderswo verwerten kann. Es braucht außerdem atomisierte Menschen, die ebenfalls frei kombinierbar und einsetzbar sind und möglichst wenige soziale und kulturelle Beziehungen unterhalten, die ihre Verwertbarkeit beeinträchtigen könnten.
Daher ist es sehr nützlich zu behaupten, der Mensch sei von Natur aus ein verlassenes, beziehungsloses Geschöpf in einer seelenlosen, kalten Welt. Damit lassen sich nämlich die konkreten gesellschaftlichen Vorgänge verschleiern, die zu dieser Situation geführt haben. Der Triumphzug der modernen Megamaschine hat gewachsene soziale Beziehungen und Kulturen über Jahrhunderte zerstört, sowohl in Europa als auch in der kolonisierten Welt. Die »totale Verlassenheit« Monods ist, wie wir in Kapitel 4 sehen werden, das Ergebnis dieses gewaltsamen, traumatisierenden Prozesses, nicht Teil einer unabänderlichen conditio humana.
In diesem Buch soll der dunkle Schleier, den die technokratische Ideologie über die Welt und das menschliche Dasein geworfen hat, gelüftet werden, und zwar mithilfe der Wissenschaften selbst. Was darunter zum Vorschein kommt, ist keineswegs eine trostlose Weltmaschine aus toten, isolierten Einzelteilen, sondern ein Kosmos voller Lebendigkeit und Verbundenheit. Mit jedem Atemzug sind wir mit unserer menschlichen, tierischen, pflanzlichen und mikrobiellen Mitwelt und sogar dem gesamten Universum existenziell verknüpft. Diese Verbundenheit und die damit einhergehende Verantwortung wiederzuentdecken, ist ein wesentlicher Teil des tiefen gesellschaftlichen Wandels, den wir brauchen, um der fortschreitenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu entgehen.
Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind, und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt.[16]
Die Physik galt lange als die Leitwissenschaft der Neuzeit. Ihr Anspruch war, zu ergründen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, von den kleinsten subatomaren Größenordnungen bis in die Weiten des Universums. Sie war und ist einerseits die philosophischste aller Wissenschaften, weil sie die letzten Fragen über Wesen und Ursprung von Materie, Zeit, Raum und Energie zu beantworten sucht; andererseits bildeten ihre Entdeckungen auch die Grundlage für entscheidende technische Erfindungen, die erhebliche Bedeutung für die Geschichte des modernen Weltsystems erlangten, von der Entwicklung der Feuerwaffen über die Dampfmaschine, den Verbrennungsmotor und das Fernsehen bis zur Atombombe und zum Internet.
Doch die mächtigen Technologien täuschen leicht darüber hinweg, dass die Physik seit langer Zeit in eine tiefe Krise geraten ist, die – wie wir noch sehen werden – bereits mit Isaac Newton begann und sich mit den Entdeckungen der Relativitäts- und Quantentheorie erheblich verschärfte. In den vergangenen 40 Jahren hat sie trotz zahlreicher Erfolge im Bereich technischer Anwendungen keine wirklich großen Erkenntnisdurchbrüche mehr erzielt. Die großen Fragen, welche die Revolutionen Einsteins und der Quantenphysik vor 100 Jahren aufgeworfen haben, sind im Wesentlichen unbeantwortet geblieben. Währenddessen sind neue, noch größere offene Fragen hinzugekommen, die sich hinter Chiffren wie »dunkle Materie« oder »dunkle Energie« verbergen. Um die zunehmenden Rätsel zu lösen, postulieren manche Theoretiker Dinge wie »eingerollte Raumdimensionen« oder »Paralleluniversen«, für die es nicht nur keine Belege gibt, sondern keine denkbaren Experimente, die ihre Existenz bekräftigen oder widerlegen könnten. Die Formelgebäude werden immer imposanter, doch der Stoff, aus dem wir sind, scheint sich zugleich dem Zugriff der Physik immer weiter zu entziehen.
Um zu verstehen, was uns die Geschichte der Physik über den Stoff, aus dem wir sind, zu sagen hat, müssen wir zunächst weit in die Vergangenheit zurückgehen, und zwar bis in die griechische Antike, als einige der Grundlagen der neuzeitlichen Physik erstmals formuliert wurden. In der Zeit von 600 bis 500 vor unserer Zeitrechnung ereigneten sich in Kleinasien zwei Umwälzungen, die für die Geschichte der westlichen Zivilisation entscheidende Bedeutung erlangen sollten. In den Griechisch sprechenden Städten Ioniens wurden etwa gleichzeitig das Münzgeld erfunden und die Grundlage der westlichen Wissenschaft und Philosophie geschaffen. Lange wurde diese bemerkenswerte Koinzidenz in Raum und Zeit von der Forschung kaum beachtet. Der britische Historiker Richard Seaford aber wies darauf hin, dass diese Gleichzeitigkeit kein Zufall war.[17] Die »vorsokratischen« Philosophen, von Thales bis Empedokles, spekulierten über den Grundstoff aller Dinge, über die innersten Bausteine der Welt, aus denen sich alle anderen Stoffe, wie sie glaubten, zusammensetzten. Demokrit prägte dafür um 500 v. Chr. den Begriff des A-toms, des Unteilbaren. Demokrit und seine Philosophenkollegen lebten in der ersten durchkommerzialisierten Gesellschaft der Geschichte, in der ein Großteil der Beziehungen durch den Tausch von Geld gegen Waren und Arbeitskraft geregelt wurde. Es war die Heimat des historischen Krösus und des mythischen Königs Midas, dem sich alles, was er anfasste, in Gold verwandelte.[18]
Geld verlieh seinen Besitzern geradezu magische Kräfte. Nicht nur alle denkbaren Güter konnte man kaufen, sondern auch menschliche Beziehungen und Macht, etwa indem man Gefolgsleute, Söldner und Prostituierte mietete. Mit dem Geld gab es erstmals einen Stoff, der sich in fast alles andere konvertieren ließ. Seaford argumentiert, dass es die Erfahrung dieser unpersönlichen und allmächtigen Substanz war, die den Hintergrund lieferte für die atomistische Theorie eines abstrakten Stoffes, der sich in alles verwandeln kann. In Indien, wo das Münzgeld etwa zur selben Zeit eingeführt wurde, entstand ebenfalls ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. eine atomistisch-materialistische Naturphilosophie, sowohl in vedischen als auch in jainistischen und etwas später buddhistischen Traditionen.[19]
Die Geldwirtschaft zerschnitt das komplexe Geflecht menschlicher Beziehungen und ersetzte es durch eine Wettkampfarena, in der vereinzelte Individuen (damals ausschließlich freie Männer) miteinander um die Anhäufung von Geld konkurrierten. Das lateinische Wort in-dividuum ist nicht zufällig die Übersetzung des griechischen á-tomos: das Unteilbare. Die Projektion dieser gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Natur trug in Wissenschaft und Philosophie zu der Vorstellung bei, dass die Welt aus unverbundenen Atomen besteht, die durch einen leeren Raum jagen. Oder wie Demokrit es ausdrückte: »Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und leeren Raum.«[20] Übertragen auf die gesellschaftliche Realität könnte man es auch so formulieren: Nur scheinbar gibt es echte menschliche Beziehungen, nur scheinbar gibt es Empfindungen; in Wahrheit gibt es nur Geld und einen leeren, kalten Raum zwischen den Menschen. Ein Echo Demokrits hören wir zweieinhalb Jahrtausende später in Monods Diagnose einer »totalen Verlassenheit« und »radikalen Fremdheit« des Menschen im Universum.[21]
Für den Befund, dass Geldwirtschaft und Atomistik historisch verbunden sind, spricht auch die Tatsache, dass die atomistische Weltsicht mit dem Niedergang der Geld- und Marktökonomie im europäischen Mittelalter weitgehend verschwand[22] und erst in der Neuzeit wiederauferstand – und zwar just zu der Zeit, als die kapitalistische Geldökonomie begann, die westlichen Gesellschaften zu durchdringen. Mit Francis Bacon und mechanistischen Naturforschern wie Pierre Gassendi, René Descartes, Robert Boyle und Christiaan Huygens erlebte der Atomismus im 17. Jahrhundert einen enormen Aufschwung.[23] Die große Hoffnung dieser Forscher war, dass sich alles, was wir in der »materiellen Welt« beobachten können, aus einigen einfachen mechanischen Gesetzen erklären – und damit auch vorhersagen – ließe. Mit »mechanisch« war dabei gemeint, dass jede Bewegung nur durch Stöße von festen Körpern zustande kommen kann. Diese Ideen wurden in einer Zeit dominant, als immer größere Teile der Welt der expandierenden Maschinerie aus endloser Geldvermehrung und Militärstaat unterworfen wurden. Die Idee der Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit in der Wissenschaft spiegelte die Verhältnisse in Ökonomie und Staat (siehe Kapitel 4).[24]
Doch je weiter die Forscher auf diesem Weg voranschritten, desto größer wurden auch die Schwierigkeiten. Die Krise des mechanistischen Weltbildes begann bereits mit Isaac Newton (1643 – 1727), dessen Werk oft als Gipfelpunkt dieser Weltsicht angesehen wird. Newtons Bewegungsgesetze waren ein entscheidender Durchbruch in der Wissenschaftsgeschichte. Ihr Kern bestand darin, die Schwerkraft und die Bewegung der Planeten, die bisher als vollkommen verschiedene Phänomene wahrgenommen wurden, in einem Gedanken- und Formelgebäude zusammenzubringen und aus denselben Prinzipien abzuleiten. Die Schwerkraft, so Newtons Entdeckung, war nicht nur dafür verantwortlich, dass Äpfel von Bäumen fallen, sondern auch dafür, dass Planeten auf ihren Bahnen um die Sonne bleiben, für Ebbe und Flut und viele andere Phänomene. Hatte man zuvor geglaubt, im Himmel und auf Erden gälten verschiedene Gesetze, so konnte Newton erstmals universelle Prinzipien formulieren.[25]
Newtons Triumph hatte allerdings einen entscheidenden Schatten aus Sicht der mechanistischen Philosophie: Er führte unweigerlich zu dem Schluss, dass es mit der Gravitation eine Kraft gab, die offenbar quer durch den leeren Raum ohne jede Berührung wirkte. Die Idee einer solchen »spukhaften Fernwirkung«, wie Einstein es später ausdrückte, bestürzte Newton und erschütterte ihn in seinen Grundüberzeugungen. 1692 schrieb er dazu:
Dass ein Körper auf einen anderen über eine Entfernung durch Vakuum hindurch und ohne die Vermittlung von etwas Sonstigem wirken soll, ist für mich eine so große Absurdität, dass ich glaube, kein Mensch, der eine in philosophischen Dingen geschulte Denkfähigkeit hat, kann sich dem jemals anschließen. Gravitation muss durch einen Vermittler verursacht werden, welcher beständig und nach bestimmten Gesetzen wirkt.[26]
Newton glaubte daran, dass ein solcher »Vermittler« in der Zukunft gefunden werden könnte. Doch das sollte nie der Fall sein. Newton war nicht der Einzige, der die mysteriöse Anziehungskraft als Absurdum ansah. Sein Zeitgenosse Leibniz etwa beschuldigte ihn, »okkulte Ideen«, die man überwunden geglaubt hatte, wieder in die Physik einzuführen.[27]
In den folgenden zwei Jahrhunderten sah sich die Physik mit einer Reihe von weiteren Problemen ähnlichen Typs konfrontiert. Eines davon war die Frage, was die physikalischen Grundlagen des Lichtes seien. Newton hatte geglaubt, Licht bestehe aus winzigen Partikeln (»Korpuskeln«), die durch den leeren Raum fliegen und auf die Netzhaut treffen. Doch 1802 wies der englische Augenarzt und Physiker Thomas Young durch sein berühmtes Doppelspaltexperiment nach, dass sich Licht wie »Wellen« verhält, und bestätigte damit eine frühere Voraussage von Newtons Konkurrenten Christiaan Huygens. Das Experiment zeigte, dass ein Lichtstrahl, der durch zwei getrennte Spalte gesendet wird und sich anschließend wieder vereint, Überlagerungen und Interferenzmuster bildet, ähnlich wie Wasserwellen. Dieser Befund stürzte die Gelehrten und ihre mechanistischen Vorstellungen erneut in eine tiefe Krise. Denn wie sollten sich solche Wellen in einem leeren Raum ausbreiten können? Wo doch alles »Wirkliche«, wie sie glaubten, nur durch materielle Stöße bewegt werden kann! Um diese »Absurdität« aus der Welt zu schaffen, griffen die Physiker auf die Idee zurück, der leere Raum sei gar nicht leer, sondern mit einer Trägersubstanz, einem Medium gefüllt, das die Lichtwellen überträgt, so wie das Wasser die Wasserwellen oder die Luft die Schallwellen überträgt. Diese hypothetische unsichtbare Substanz nannte man »Lichtäther«. Praktisch alle bedeutenden Physiker des 19. Jahrhunderts waren davon überzeugt, dass er existieren müsse, weil für sie die Vorstellung spukhafter Fernwirkungen inakzeptabel war.
Zu diesen Forschern gehörte auch James Clerk Maxwell, dem es in den 1860er-Jahren gelang, die Theorien des Magnetismus, der Elektrizität und des Lichts in einem einzigen Gedanken- und Formelgebäude zu vereinigen, so wie es fast 200 Jahre zuvor Newton mit der Planetenbewegung und der Gravitation getan hatte. Bereits 1820 hatte der dänische Physiker Hans Christian Ørsted entdeckt, dass bewegte elektrische Ladungen Magnetismus hervorrufen können, etwa indem sie eine Kompassnadel ablenken. Zehn Jahre später wies Michael Faraday nach, dass die Bewegung eines Magneten in einer Drahtspule Strom erzeugt. Elektrizität und Magnetismus waren also offenbar zwei Seiten derselben Medaille. Faraday war auch der Erste, der zur Beschreibung dieser Phänomene den Begriff des Feldes benutzte, den man bis dahin nur auf feste Körper angewendet hatte, etwa um die Wärmeverteilung in einer Eisenplatte zu beschreiben. Maxwell nun entwickelte mathematische Gleichungen für das Verhalten dieser Felder. Dabei stellte er fest, dass die Geschwindigkeit ihrer Ausbreitung genau der des Lichts entsprach. Licht ließ sich offenbar mit denselben Formeln beschreiben wie Magnetismus und Elektrizität, und so fasste er alle drei Phänomene unter dem Begriff der »elektromagnetischen Felder« zusammen.
Das Problem war allerdings auch diesmal die Fernwirkung. Denn die maxwellschen Felder breiteten sich auch im Vakuum aus, etwa im interstellaren Raum. Bereits 1675 hatte Robert Boyle festgestellt, dass elektrische Anziehungskraft im Vakuum wirkt.[28] Dass Magneten durch das Vakuum hindurch Kraft ausüben, wusste man ebenfalls schon lange. Auch Radiowellen (die Maxwell voraussagte) verbreiten sich im Vakuum. Das maxwellsche Feld schien also ohne Trägersubstanz im Nichts zu schweben – ein weiterer Spuk, ohne physischen Kontakt von Körpern. Da eine solche Auffassung für Maxwell, ebenso wie einst für Newton, nicht hinnehmbar war, griff auch er auf die Äthertheorie zurück, um dieses erweiterte Spektrum von Phänomenen zu erklären.[29]
Allerdings zeigte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dass die Annahme eines Äthers zu unzähligen Widersprüchen führte und sich mit Messergebnissen nicht in Einklang bringen ließ.[30] Trotzdem wehrten sich alle führenden Physiker, darunter Faraday, Hermann von Helmholtz, Heinrich Hertz und Hendrik Lorentz, nach Kräften gegen die für sie inakzeptable Vorstellung, dass es Fernwirkungen geben könne, ohne dass diese auf einer Kausalkette von einander stoßenden, billardkugelartigen Mikrokörpern beruhen würden. Unzählige Experimente wurden durchgeführt, um die Existenz des Äthers nachzuweisen, immer neue Formeln in die immer verwirrenderen Theoriegebäude eingebaut – vergeblich. Auch zur Erklärung der nach wie vor rätselhaften Gravitation gab es seit Newton diverse Äthertheorien, die aber ebenfalls nicht weiterführten. Die wuchernden Hypothesen, die benutzt wurden, um das mechanistische Weltbild zu retten, sind typische Symptome für das, was der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn als Krise eines herrschenden »Paradigmas« bezeichnete.[31]
Albert Einstein räumte schließlich mit diesem Wirrwarr auf, indem er die bisherigen Ätherkonzepte aufgab und in der Allgemeinen Relativitätstheorie die Gravitation als geometrische Eigenschaft der Raumzeit beschrieb, nicht als Fernwirkung. (In Einsteins Modell krümmt sich der Raum in der Nähe von schweren Objekten, etwa Planeten, die Zeit läuft langsamer ab.) Doch diese Lösung zerstörte zugleich die traditionellen Vorstellungen von Raum, Zeit, »festen Körpern« und Energie. In Einsteins Modell gibt es keinen präexistenten Raum mehr, in dem sich davon unabhängige Körper bewegen und aufeinanderstoßen können wie Billardkugeln auf einem Billardtisch, der auch ohne die Kugeln existieren würde, sondern die Körper und ihre Bewegung schaffen die spezifische Raumzeit erst. Raum, Zeit und Körper sind nicht mehr voneinander zu trennen, sie sind ein einziges dynamisches Gewebe. Erschwerend kommt hinzu, dass die Massen in Einsteins Theorie letztlich als eine Form von Energie verstanden werden und jede Masse im Prinzip in Energie umgewandelt werden kann – ein Umstand, der sich in der berühmten Formel E=mc2 ausdrückt.* Damit war die Idee solider materieller Grundbausteine, aus denen alles andere besteht, dahin. Hatten die Pioniere der modernen Physik geglaubt, dass die ganze Welt aus nichts als Materie besteht, so beruhte Einsteins Modell darauf, dass es nichts als »Felder« gibt: Gravitationsfelder und elektromagnetische Felder. Einstein notierte dazu: »In der modernen Physik ist kein Platz für beides, Feld und Materie, denn das Feld ist die einzige Realität.«[32] Weiter, so schien es, konnte man sich von den Ideen der Mechanisten nicht mehr entfernen.
Bereits einige Jahre bevor Einstein die Masse-Energie-Äquivalenz in der Speziellen Relativitätstheorie formulierte, waren einige Physiker auf ein Phänomen gestoßen, das Einsteins Theorie auf spektakuläre Weise bestätigen sollte. 1896 ließ der französische Physiker Henri Becquerel zufällig ein Stück Uransalz auf einer dicht verpackten Fotoplatte liegen. Als er diese Platte später entwickelte, war ein heller Fleck zu sehen. Offensichtlich hatte das Uran durch die schwarze Verpackung hindurch eine Strahlung emittiert und damit die Platte belichtet. Marie Curie und ihr Mann Pierre nannten diese Strahlung später Radioaktivität (was nichts mit dem Radio, sondern mit dem lateinischen Wort für Strahlung zu tun hat). Wie die Curies im Laufe ihrer Untersuchungen herausfanden, führte diese Strahlungsaktivität dazu, dass sich bestimmte Elemente wie Uran, Thorium oder Radium ohne äußeres Zutun in andere Substanzen verwandelten und dabei an Masse verloren. Das widersprach allem, was man damals über Atome und Elemente zu wissen meinte, die als stabil und unwandelbar galten. Mehr noch: Die Entdeckung der verschiedenen Arten von radioaktiver Strahlung – Alphastrahlung, die aus Heliumkernen besteht, Betastrahlung in Form von Elektronen und der extrem energiereichen Gammastrahlung – bewies anschaulich Einsteins These, dass sich Materie tatsächlich in Energie verwandeln konnte.
Einstein war auch an der Entwicklung einer weiteren Theorie entscheidend beteiligt, die ihm später große Kopfschmerzen bereiten sollte: der Quantentheorie. Das Problem begann damit, dass Max Planck nach jahrelangen Berechnungen und Experimenten feststellen musste, dass rot glühende Körper Wärmeenergie nicht kontinuierlich und stufenlos abgaben, sondern abgestuft in kleinen »Paketen«. Dieser Befund ließ sich mit den damaligen Auffassungen über »Strahlung« und »Wellen« nicht vereinbaren. Denn Strahlung, so glaubte man, konnte stufenlos zu- oder abnehmen, so wie man beim Dimmen einer Glühlampe die Helligkeit scheinbar stufenlos regulieren kann. Einstein nahm Plancks Entdeckung in seinen Untersuchungen über Lichtemissionen auf und interpretierte diese »Pakete« als »Lichtquanten«, also als Partikel. Plötzlich war Newtons »Korpuskeltheorie« wieder da: Das Licht verhielt sich offenbar wie Teilchen. Aber hatte Youngs Experiment nicht zweifelsfrei erwiesen, dass sich das Licht wie eine Welle verhält? Wie konnte ein und dasselbe Phänomen zugleich Welle und Teilchen sein? Ein Teilchen ist stets nur an einem bestimmten Ort, eine Welle dagegen wirkt zu jedem Zeitpunkt an verschiedenen Punkten. Bei geeigneter Anordnung können sich zwei Wellen sogar gegenseitig aufheben und zum Verschwinden bringen. Dass sich zwei kollidierende Teilchen gegenseitig auslöschen und in nichts auflösen, schien unmöglich.
Nach vielen Jahren unzähliger Experimente und intensiver intellektueller Kämpfe mussten schließlich Werner Heisenberg, Niels Bohr, Max Born, Wolfgang Pauli, Erwin Schrödinger, Louis de Broglie und andere Atomphysiker Mitte der 1920er-Jahre eingestehen, dass sich dieser Widerspruch beim besten Willen nicht auflösen lässt.[33] Mehr noch: Der Doppelcharakter betraf, wie sich zeigen sollte, nicht nur das Licht, sondern auch Elektronen und andere »Teilchen«, die man bisher für solide Materie gehalten hatte und die nun plötzlich auch als »Materiewellen« beschrieben werden mussten.[34] Man einigte sich darauf, dass Phänomene wie Licht und Materie sowohl als Welle als auch als Teilchen aufgefasst werden können.[35] Bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich, dass beide Begriffe, »Teilchen« und »Welle«, nur hilflose Metaphern für etwas sind, das sich unseren Begriffen und Bildern weitgehend entzieht.[36] Im Innersten der Materie fanden sich keine Dinge, keine winzig kleinen Kügelchen, die im Atom berechenbar umeinander kreisten wie Planeten um eine Sonne, sondern ein schwer greifbares Geflecht von immateriellen Beziehungen, das, wie wir noch sehen werden, im Prinzip mit dem ganzen Kosmos verbunden ist. Die Quantentheorie zertrümmerte damit endgültig die Vorstellung eines Kosmos, der aus isolierten Dingen wie ein Baukasten zusammengesetzt ist.
Was ebenso schwer wog: Exakte und zugleich vollständige Beschreibungen dessen, was auf subatomarer Ebene geschieht, sind in der Quantentheorie grundsätzlich nicht mehr möglich.[37] Die mathematischen Formeln beschreiben keine Bewegungen von Körpern, etwa von Elektronen um Atomkerne, so wie die keplerschen und newtonschen Formeln die Bewegung der Planeten um die Sonne beschreiben, sondern lediglich »Wahrscheinlichkeitswellen«. Außerdem ist in der Quantenphysik der Beobachter samt seinen Messinstrumenten von dem zu beobachtenden Phänomen grundsätzlich nicht zu trennen: Es ist erst der Vorgang der Messung, der dazu führt, dass sich aus dem Möglichkeitsfeld ein konkreter Zustand herauskristallisiert, also ein genauer Aufenthaltsort oder ein bestimmter Impuls.[38] Dieser Zustand ist weder exakt prognostizierbar noch existiert er unabhängig vom Beobachter.[39] Es ist kein Wunder, dass sich Einstein zeitlebens gegen die Quantentheorie wehrte, denn sie bedeutete nichts Geringeres als die Aufgabe der Grundannahmen der neuzeitlichen Naturwissenschaften, die angetreten waren, um die Welt als eine durch und durch berechenbare und objektivierbare darzustellen. Sein Ausruf »Gott würfelt nicht« ist sprichwörtlich geworden.
Einsteins Bemühungen, einen grundlegenden Fehler in der Quantentheorie zu finden, um die Idee eines berechenbaren und objektivierbaren Universums zu retten, führten schließlich zur Entdeckung eines Phänomens, das die Grundlagen der Physik noch tiefer erschüttern sollte: der sogenannten Quantenverschränkung. Zusammen mit zwei Kollegen formulierte Einstein 1935 ein Paradox, das als Einstein-Podolsky-Rosen-Paradox in die Geschichte der Physik eingehen sollte. Aus den Quantengleichungen folge, so die Autoren, dass zwei Teilchen, die einmal miteinander interagiert hatten, über beliebig weite Entfernungen so verbunden blieben, dass bei der Messung eines Zustandes von Teilchen A gleichzeitig auch der Zustand von Teilchen B festgelegt wird, ohne dass irgendeine Art von Signal zwischen den beiden durch Raum und Zeit wandert.[40] Eine Zustandsänderung des einen Teilchens, das sich, sagen wir, in Berlin befindet, wäre also mit der Änderung eines anderen, das sich auf dem Mars befindet, streng gekoppelt. Ändert das Berliner Elektron zum Beispiel seine Rotationsrichtung, dann ändert sie sich gleichzeitig auch auf dem Mars, ohne dass zwischen den beiden irgendeine Art von Kommunikation stattfindet. Eine solche »spukhafte Fernwirkung« aber sei, so Einstein, unmöglich, denn sie widerspräche allem, was wir über Raum, Zeit und Kausalität wissen, insbesondere der Relativitätstheorie, die besagt, dass sich keine Ursache-Wirkungs-Kette, und damit auch keine Kommunikation, schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten kann.
1964 gelang es dann dem nordirischen Physiker John Stewart Bell, zu zeigen, dass sich das Paradox der Verschränkung experimentell testen lässt, und 1972 wurde der erste entsprechende Versuch durchgeführt: Gleichzeitig erzeugte und damit »verschränkte« Photonen wurden an verschiedenen Stellen auf ihren Drehimpuls (»Spin«) gemessen, und zwar in so großer Zahl, dass sich statistisch gültige Aussagen machen ließen.[41] Das Ergebnis war eindeutig: Die »spukhafte Fernwirkung« war real, Einstein hatte unrecht. Das aber bedeutete, dass die bis dahin gültigen Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität tatsächlich nicht mehr haltbar waren.
Um sich die Bedeutung dieser Entdeckung bildhaft vor Augen zu führen, können wir uns zum Beispiel zwei Dominosteine vorstellen. Stehen die Steine nah genug beieinander, kann das Umkippen eines Steins den nächsten ebenfalls stürzen. Diese kausale Abfolge spielt sich in Raum und Zeit ab: Der umfallende Stein legt in einer bestimmten Zeit eine Strecke zurück, bevor er den anderen trifft. In der Quantenwelt der Verschränkung dagegen verhält es sich vollkommen anders: Das Umfallen eines Dominosteines in Berlin erzwingt zugleich, ohne jede Berührung, das Kippen eines Steines auf dem Mars oder gar im Andromedanebel. Es ist so, als würden Raum und Zeit hier überhaupt nicht existieren. Shohini Ghose[42][43]