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Für M. und A., für Eure Geduld
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Bildteilfotos: Carsten Polzin (S. 2, 3 oben, 4, 5, 7, 8), Marathon-Photos.com (S. 1 oben links und unten rechts), FinisherPix® (S. 1 oben rechts), TriRun Linz (S. 1 unten links), Sportograf.com (S. 3 unten), Zugspitz-Gipfelsturm by Laufcoaches.com/Michael Raab (S. 6)
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Igor Emmerich/Getty Images; fottoo / stock.adobe.com
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Eine Nacht Ende November. Ich wische den Schnee vom Display meiner Armbanduhr. 3:22 Uhr. Eigentlich sollte man sich jetzt im warmen Bett auf die andere Seite drehen. Aber während die meisten verständigen Menschen schlafen, stehe ich bei minus achtzehn Grad auf dem Gipfel des Pico del Teide, auf 3715 Meter Höhe. Das ist nicht nur der höchste Berg Spaniens, sondern auch ein Vulkan. Seine aufdringlichen Schwefeldämpfe begleiten mich seit Stunden. Doch ich habe Glück, denn genauso lang bläst mir bereits der Schneesturm ins Gesicht. Das vertreibt die Dämpfe ein wenig. Und übel ist mir schon genug. Es war vor acht Stunden, am Fuß des Berges, dass ich mich zum ersten Mal übergeben habe. Etwas später erneut. Seitdem konnte ich nichts mehr essen oder trinken. Nicht ideal, wenn man bereits fünfzig Kilometer und viertausend Höhenmeter in den Beinen hat und die gleiche Strecke nachher wieder zurückmuss.
Aber das ist momentan egal, denn ich bin oben. Etappenziel erreicht.
Zweitausend Meter unter mir blinken verschwommene Lichter. Da muss eine Stadt sein, aber ansonsten ist die viel beschworene Aussicht vom höchsten Punkt Teneriffas ein Reinfall. Nun ja, im Sommer, am Tag, ohne Schneesturm wäre es vielleicht besser. Doch der Gipfel ist auch nicht schön. Nur ein paar Felsen, nicht einmal ein Kreuz wie in den Alpen. Macht aber auch nichts, denn ich bin nicht zum Fotografieren hier. Vor sechzehn Stunden bin ich aus dem Flugzeug gestiegen, in Laufschuhen und mit Rucksack, habe mich durch die Schlange der Urlauber nach vorn aus der Maschine gedrängelt, aus der Tür des Terminals hinaus und bin losgelaufen. Das war der Plan: direkt auf den Gipfel des Teide laufen und wieder runter. Sechsundzwanzig Stunden später geht der Flug nach Hause. Ein intensiver Kurzurlaub. Am Schreibtisch in München klang die Idee überzeugend.
Doch zu viel ist schiefgelaufen. Statt zehn Stunden habe ich sechzehn Stunden bis zum Gipfel gebraucht. Ich kenne das Gefühl, erschöpft zu sein, aber diesmal ist es anders. Die Kälte betäubt den Hunger und das Durstgefühl, und mir ist klar, es ist gefährlich, so leerzulaufen, erst recht bei diesen Bedingungen.
Doch Sorgen kann ich mir noch morgen darüber machen, denn gerade habe ich keine Wahl. Es kann mir ohnehin niemand helfen. Den letzten Menschen habe ich gestern Nachmittag getroffen, irgendwo da unten im Tal, einen Wanderer im sonnigen Pinienwald. Er ist nur noch eine blasse Erinnerung. Seitdem muss ich mit mir selbst vorliebnehmen, mit dem Heulen des Windes und der Stimme in meinem Kopf, die mich bei jedem knirschenden Schritt durch den Schnee fragt: »Wie kommst du hier wieder raus?« Bei organisierten Rennen gibt es die Möglichkeit, im Notfall auszusteigen. Es gibt immer eine Alternative.
Hier nicht.
Ich bin allein hier oben, die Uhr springt auf 3:23, und irgendwie muss ich runter.
Es war der Tag, an dem ich den Schuhschrank reparierte. Ein schöner Schuhschrank war es, schlank und weiß lackiert, beim Einzug vom Umzugsunternehmen fachmännisch an der Wand verschraubt. Zugleich war er lebensgefährlich. Denn die Magnetverschlüsse bewahrten die Klappen nur notdürftig davor, unvermittelt nach vorn herauszukippen, und dass die Fächer völlig überfüllt waren, machte die Sache nicht besser. Wenn man sich hinhockte und eine der unteren Klappen öffnete, Schuhe herausnahm oder hineinstopfte und sie wieder schloss, fiel die obere Klappe heraus, und wenn man nicht von ihr selbst am Kopf getroffen wurde, dann doch zumindest von ihrem scharfkantigen Metallgriff, der auf einen niederging wie die Spitze eines Hammers.
Heute aber war der Tag, an dem ich dem Treiben des Schuhschranks ein Ende setzen wollte. Ich räumte alles aus, was sich seit Jahren in ihm verbarg: Flipflops und Winterstiefel, Schuhe mit kaputtem Futter und abgelösten Sohlen, Einzelstücke und Schuhspanner. Dann zog ich die Schrauben fester, säuberte die Magneten und hängte die Klappen wieder so ein, wie sie mutmaßlich gehörten. Es war eine schweißtreibende Arbeit für einen sonnigen Frühlingsnachmittag, an dem die Luft heiß und schwer in unserer kleinen Wohnung in München-Schwabing hing.
Schließlich ging es wieder ans Einräumen. Das meiste, was sich nun auf dem Parkett ausbreitete, war Müll. Der Rest musste wieder hinein. So füllte ich Fach um Fach mit den Schuhen, die in den letzten Jahren noch in Gebrauch gewesen waren, und schloss eine Klappe nach der anderen, behutsam und für einen unvermittelten Gegenangriff gerüstet. Schließlich hielt alles, und es sah so aus, als hätte ich die Gefahr, die dieser Schrank für das Wohlergehen meiner Frau und meiner bedeutet hatte, gebannt. Ich war fertig. Nur noch ein Paar Schuhe stand auf dem Boden, bemerkte ich.
Meine alten Hallenturnschuhe von Nike. Ich hatte sie bestimmt schon zehn Jahre und seit mindestens acht aus meinem Gedächtnis gestrichen. Hier standen sie nun und passten nicht mehr in den Schuhschrank.
Ich ging in die Küche, um etwas zu trinken, und sah aus dem Fenster. Als ich zurück in den Flur kam, standen die Schuhe immer noch da.
Plötzlich traf ich eine Entscheidung. Ich ging hinüber ins Schlafzimmer und wühlte ein Paar Shorts heraus, das ich sonst im Freibad anzog. Dazu das nächstbeste alte T-Shirt. »Danger Mouse«. Na ja, passte schon. Nachdem ich in die Schuhe geschlüpft war, rief ich meiner Frau ins Wohnzimmer hinüber: »Ich gehe mal joggen!«
»O. K.«, sagte sie nach einer kurzen Pause. Verwunderung passt auch in zwei Buchstaben. Das kannte sie nicht von mir. Ich von mir ebenfalls nicht. Aber irgendwas musste ich mit den Schuhen ja tun, wegschmeißen konnte ich sie danach immer noch.
Als ich in Richtung Park trabte, streifte ein leichter Wind meine Haut, und die ersten Schritte auf dem unbefestigten Weg fühlten sich herrlich an. Die Schuhe schimmerten in der Sonne, und das gleichmäßige Knirschen unter den Sohlen begleitete mich auf der Runde, die in einem großen Oval durch den Park führte und ziemlich genau drei Kilometer maß. Das, dachte ich, war doch eigentlich ganz wunderbar, an diesem schönen Tag diese große Runde laufen zu dürfen.
»Und, hat es Spaß gemacht?«, erkundigte sich meine Frau, als ich wieder in die Wohnung trat.
»Ja, es war … erfrischend!« Ich hielt die Schuhe in den Händen und entschied, sie doch noch nicht wegzuwerfen. Würden sie eben neben dem Schuhschrank stehen, auf einen Tag kam es nun wirklich nicht an.
Am nächsten Abend kehrte ich von der Arbeit zurück und setzte sofort den Plan um, den ich am Nachmittag im Büro zu meiner eigenen Überraschung gefasst hatte. Wieder schlüpfte ich in Shorts und T-Shirt und zog die Schuhe an.
»Ich gehe noch mal joggen«, schrieb ich meiner Frau, die erst später von der Arbeit kommen würde.
Die etwas verwunderte Antwort: »Ach? O. K.« Fünf Buchstaben. Noch mehr Verwunderung.
Heute war es kühler als am Vortag, aber das gefiel mir fast noch besser. Wieder trabte ich die 3-Kilometer-Runde, zwischen den anderen Läufern in ihren perfekt sitzenden Outfits, den neonfarbenen Schuhen und Finishershirts vergangener Heldentaten. Sie liefen anders als ich. Sie wussten bei jedem Schritt genau, was sie taten. Aber was war das genau? Ich bemerkte, dass ich wieder am Ausgang des Parks angekommen war. Die Runde war beendet, etwas schneller als am Tag zuvor, und ich würde nach rechts abbiegen und die mit Feierabendverkehr verstopfte Straße überqueren müssen, um nach Hause zurückzukehren.
Die Fußgängerampel zeigte Rot.
Meine Beine wollten nicht abbiegen. Sie liefen einfach weiter geradeaus, erneut auf die große Runde. Noch mal das Ganze? Das wären sechs Kilometer. Zu viel. Ich nahm also auf der Hälfte der Strecke den kürzeren Weg und kam mit viereinhalb Kilometern in den Füßen wieder zu Hause an. Es war wieder gut gewesen, und noch immer wollte ich die Schuhe nicht loswerden.
Die sechs Kilometer komplettierte ich am dritten Tag, und am vierten lief ich sie noch einmal. Am fünften Tag begann sich meine Frau zu wundern, dass ich über eine Stunde wegblieb, und fragte mich, ob ich das jetzt eigentlich jeden Tag machen wolle und vor allem, warum?
Zumindest wollte ich es noch zwei Tage lang machen, denn ich hatte mir ausgerechnet, dass ich am siebten Tag drei vollständige Runden in Angriff nehmen könnte: neun Kilometer, das waren beinahe zehn. Es war eine Art Ziel. Und wenn das geschafft war, würden wir weitersehen.
Am siebten Tag, in der dritten Runde, brummten die Oberschenkel, und die Füße jubelten auch nicht gerade. Aber ich wollte nicht aufhören. Es war etwas Neues, was ich da gerade entdeckte. Das war doch mehr als Joggen, dachte ich. Das war Laufen.
War es möglich, dass ich jetzt gerade, während ich mit jedem Schritt weiter lief, als ich es bisher je getan hatte, zum Läufer wurde?
Diese Wendung kam in meinem Leben doch etwas überraschend. Denn bislang war der Sport komplett an mir vorbeigegangen. Meine Kindheit war, zumindest in sportlicher Hinsicht, weitgehend ereignislos gewesen. Ich hatte das getan, was man als Kind eben so macht: ein bisschen Basketball spielen, oder Fußball, sofern man mich auf dem Spielplatz in die Mannschaft gewählt hatte. Besser war ich im Laufen und Schwimmen gewesen, hatte daraus aber keine Konsequenzen gezogen. Die einzigen Wettkämpfe, an denen ich je teilgenommen hatte, waren die Bundesjugendspiele gewesen. Dann lange nichts, denn das echte Leben hatte begonnen. Ich hatte Jura studiert und arbeitete seit einigen Jahren in einem Verlag in München. Mit 33 Jahren war ich weder alt noch jung. Beruflich tat ich das, was ich immer gewollt hatte. In der Freizeit traf man Freunde, feierte Partys, reiste und kam dabei ganz gut in der Welt herum, USA, China, Südafrika, Kambodscha. Es fehlte kaum etwas in meinem Leben, und das Letzte, an das ich gedacht hätte, wäre der Sport gewesen. Dabei hielt ich mich grundsätzlich nicht für unfit. Ich war schlank und hatte keine Rückenleiden, Bandscheibenvorfälle oder sonstige latente Beschwerden. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich laufen können. Ich wollte halt nur nicht.
Warum also wollte ich es jetzt?
Ich tauchte erst aus meinen Gedanken auf, als ich wieder vor der Haustür stand. Das hatte außerordentlich viel Spaß gemacht. Was also, dachte ich, während ich aufschloss, wenn ich für einen Wettkampf trainieren würde, für ein konkretes Ziel? Zehn Kilometer vielleicht, das war nur noch ein Kilometer mehr als heute. Eine Stunde und zwanzig Minuten hatte ich gebraucht, aber welche Zielzeit würde man sich vornehmen? Ein Freund, der regelmäßig lief, hatte mir stets sein Leid geklagt, dass er Schwierigkeiten habe, zehn Kilometer unter einer Stunde zu schaffen. Also schien die Stundenmarke ein sinnvolles Ziel. Vielleicht gab es ja in nächster Zeit ein Rennen, überlegte ich, während ich die Treppen hinauflief. Und ich müsste es ja keinem sagen, dass ich antreten würde.
Nach der Dusche war der Gedanke immer noch da. Also setzte ich mich an den Laptop und fand heraus, dass nur vier Monate später, im Oktober, der München Marathon stattfand. Nicht, dass ich mich vorher je für ihn interessiert hatte. Oder irgendeine Begeisterung dafür aufgebracht hätte, dass einmal im Jahr alle Straßen in München gesperrt waren, damit ein Haufen Selbstverliebte sich beweisen konnten, dass sie es schafften, fünf Stunden durch die Stadt zu laufen, oder wie lange auch immer das dauerte. Aber da gab es auf der Website auch einen Button mit der Aufschrift »Münchner 10-Kilometer-Lauf«, und das war doch Schicksal. Vier Monate. Da würde ich schon durchkommen.
Meine Frau sah mir über die Schulter, bevor es mir gelang, den Laptop zuzuklappen. »Zehn Kilometer?«, fragte sie. »Das ist doch nicht dein Ernst!«
»Na ja«, warf ich ein, »es stimmt schon, dass ich eigentlich gar nicht … aber wenn ich trainiere und …«
Sie unterbrach mich: »Wenn du laufen willst, dann richtig. Wenn du laufen willst, lauf einen Marathon!«
Haha, in ihren Worten klang es, als könnte man das tatsächlich in Betracht ziehen. Und so ist sie, so etwas meint sie ernst. Das war mir schon klar, obwohl in meinen Augen sicherlich nichts als Ungläubigkeit zu lesen war. Ungläubigkeit darüber, dass man einen Anfänger mit ausgelatschten Schuhen auf einen Marathon schicken wollte. Also quasi einem Maulwurf den Vorschlag machte, zum Mars zu fliegen.
Wäre es möglich, sich mit ein paar Monaten Training von null auf Marathon zu steigern und ins Ziel zu kommen? Warum musste man sich mit 42 Kilometern abquälen, nur weil vor 2500 Jahren ein griechischer Bote irgendein Telegramm ausgeliefert hatte? 42,195 Kilometer waren es sogar, stellte ich mit Blick auf die Website fest. Wie trainierte man überhaupt für so eine unmenschliche Distanz? Ich dachte wieder an den Freund, der sich mit den zehn Kilometern und der Stundenmarke abquälte.
Im gleichen Moment wusste ich, dass ich es tun würde. Ich hatte keine Schuhe, kein Outfit, keine Erfahrung und keine Ahnung vom Training. Aber ich würde im Oktober, in vier Monaten, meinen ersten Marathon laufen.
Wenn man keine Ahnung von etwas hat, liest man es nach. So war es schon immer in der Weltgeschichte. Wenn der Sohn des Neandertalers fragte, vor welchen Gefahren er sich draußen werde hüten müssen, zeigte der auf die Mammut-Zeichnung an der Höhlenwand. Als die Menschen Moses fragten, ob sie nun ihrer Nächsten Weib begehren dürften oder nicht, erwiderte er: »Schaut halt auf den Tafeln nach.«
Und ich blickte in ein Marathon-Buch, denn auch dies enthielt umfassende Antworten auf alle meine Fragen: Ausrüstung, Trainingspläne, Rennstrategien. Der Trainingsplan war für mich die große Unbekannte. Das Buch war voll davon, Wochen- und Monatspläne schrieben akribisch vor, welche Einheit an welchem Tag abzuleisten war, damit man am Ende das Ziel erreichte. Es kam mir ein wenig komisch vor, dass so ein Plan für jeden Menschen gelten sollte, der einen Marathon in bestimmter Zielzeit laufen wollte, sei er alt oder jung, übergewichtig oder schlank, erfahren oder unerfahren. Zudem schienen die Pläne angesichts ihres Zeitaufwands eher für Privatiers geeignet als für Leute, die nebenbei noch arbeiten oder gar Freizeit haben wollten. Aber es war ja mein Problem, dass ich einen Marathon laufen wollte, die Trainingspläne konnten nichts dafür. Sie meinten es gut mit mir, schließlich versprachen sie, einen Anfänger innerhalb von sechs Monaten in einen Marathonläufer zu verwandeln. Als kleines Detail kam hinzu, dass es in meinem Fall nicht mehr sechs, sondern nur noch vier Monate bis zum Marathon waren. Was bedeutete, dass ich nach ein bisschen Einlaufen gleich in den Plan für Woche zehn einsteigen müsste. Das hieß tägliche Läufe in wechselndem Tempo und ein paar absurde Einheiten über 23 oder gar 30 Kilometer, aber das würde man dann sehen, wenn es dazu kam.
Zunächst mal musste ich mich für eine Zielzeit entscheiden. Es ging ums Durchkommen, aber irgendein Ziel muss man haben. Ein Tempo von sechs Minuten für jeden Kilometer war mir auf Anhieb sympathisch, vor allem, weil es sich um eine ästhetische gerade Zahl handelte und ich ohnehin keine Vorstellung davon hatte, wie sich sechs Minuten pro Kilometer anfühlten. Das würde dann bei 42,195 Kilometern eine Gesamtzeit von knapp unter 4:15 Stunden ergeben. Ausgefertigt und für vollstreckbar erklärt.
Nun ging es ans Einkaufen. Viel braucht man nicht zum Laufen, eigentlich könnte man es nackt und ohne Schuhe schaffen, wenn die gesellschaftlichen Konventionen anders wären. Sind sie aber nicht, deshalb brauchte ich also Laufhose und Laufshirt, als sinnvolles Trainingstool eine GPS-Uhr, mit der ich Entfernung und Geschwindigkeit bestimmen konnte, sowie einen Herzfrequenzmesser. Der schwarze Plastikgurt, den man sich unterhalb der Brust um den Oberkörper schnürt, scheuert vor allem, wenn es regnet, bei langen Läufen und beim Schwitzen. Also eigentlich immer. Aber so ein Gurt muss sein, lernte ich, denn damit lassen sich die Trainingsbereiche (langsam, schnell, sehr schnell) direkt über den Pulsschlag ablesen, und man muss nicht umständlich darüber nachdenken, ob man langsam, schnell oder sehr schnell läuft. Vor allem aber dient er der Sicherheit, denn im Fall eines Cardiac Drift, einer plötzlichen Erhöhung des Pulses ohne erkennbaren Anlass, würde man vor einem ernsten Gesundheitsproblem gewarnt werden.
Herzfrequenzgurte sind, erfuhr ich später, etwas typisch Deutsches. Sie sind so deutsch, dass man auf Hawaii anlässlich der Ironman-WM jedes Jahr den Underpants Run veranstaltet, in Unterwäsche und mit Herzfrequenzgurt, »zu Ehren« der deutschen Teilnehmer und ihres Lieblingsoutfits.
Fehlte noch das Wichtigste: die Schuhe. Überall las ich, wie entscheidend sie sind. Na ja, so schwierig würde es schon nicht sein, welche zu finden, schließlich hatte ich keine besonderen Fußleiden und außerdem keine Zeit zu verlieren. Da gab es diesen kleinen, spezialisierten Laufschuhladen in der Nähe, und die mussten es wissen. Als Anfänger war es sicherlich besonders wichtig, auf so viel Dämpfung wie möglich zu bauen. Schließlich würde ich nicht im Park, sondern auf Asphalt laufen. Gut gedämpfte Schuhe wollte ich also, sagte ich dem freundlichen Verkäufer, und er tat wie geheißen und verkaufte mir ein Paar, das Sohlen wie Speckschwarten hatte und auch abgesehen davon nicht sonderlich schick aussah. Aber wenigstens teuer war es.
Nun hatte ich keine Ahnung von Laufschuhen, und er offenbar auch nicht, denn wir beide wussten nicht, dass dies die Schuhe des Todes für mich waren. Die ersten paar Trainingseinheiten lief es noch ganz gut. Dann begannen die Schmerzen, und alles ging bergab.
An den Außenseiten der Knie verlaufen empfindliche Bänder, und wenn die überreizt sind, tut das verdammt weh. Für mich war Laufen bereits nach zwei Wochen nicht mehr möglich. Aber ein Blick in die Bücher oder in Foren tröstete schnell: Denn es war offenbar ganz natürlich und gar unvermeidlich, dass man Gelenkprobleme bekam, wie sollte man sonst eine so lange Distanz überstehen? Völlig normal war es, dass man zum Arzt ging, um weiterlaufen zu können. Wochen- oder gar monatelange Verletzungsphasen, das kannten sie alle, willkommen in der Welt des Marathons. Kälte- und Elektrotherapie bereits nach zwei Wochen Training, das war zwar nicht schön, aber musste sein. »Zur Not gibt es immer noch Vitamin I«, grinste mein Physiotherapeut, während er mein Knie massierte. Womit er Ibuprofen meinte. Läufer schluckten so etwas massenhaft, meinte er, und dazu noch ganz andere Dinge. Unter Einfluss von Tabletten zu laufen schien auf den ersten Blick höchst schwachsinnig, aber was wusste ich schon. Ich war seit nicht einmal acht Wochen in der Laufszene, und schon saß ich jede Woche zweimal beim Arzt, häufiger als jemals zuvor in meinem Leben. Ich verpasste Trainings, um zur Massage zu gehen. Oder um individuell gefertigte Einlagen zu bekommen, die noch mehr Dämpfung versprachen.
Den Plan auch nur ansatzweise einhalten zu können war vollkommen utopisch. An tägliches Training war schon längst nicht mehr zu denken, und nach einem Lauf über fünf, sechs Kilometer brauchte ich zwei Ruhetage, um einigermaßen qualfrei wieder lostraben zu können. Und da drohten in ein paar Wochen noch die langen Läufe über 23 und 30 Kilometer. Wie sollte das gehen?
Inzwischen zeigte der Wandkalender September, nur noch sechs Wochen bis zum Marathon, und nichts funktionierte. Meinen letzten Versuch eines regulären Trainingslaufs unternahm ich während eines Urlaubs in Israel, am Strand von Tel Aviv. Der Sand war weich, das Wetter gut, die Motivation überbordend. Aber die Knie machten nicht länger als zehn Minuten mit. Wieder diese gnadenlosen Schmerzen, die vom rechten Knie bis zur Hüfte wanderten. Ich kannte sie so gut und hasste sie so innig. Abbruch des Laufs, Frustration und Ratlosigkeit. Mir blieb nur noch eine waghalsige, letzte Trainingsmethode: gar nicht mehr zu laufen bis zum Tag des Marathons. Und zu hoffen, dass die Beine hielten.
Was für ein grandioser Plan.
Oktober, Sonntagmorgen, 6:30 Uhr.
Das gleichmäßige Piepen des Weckers durchbrach die Stille, und ich musste die Augen nicht öffnen. Die letzten Stunden über hatte ich ohnehin an die Decke gestarrt.
Nun war es so weit. Unweigerlich. Duschen, frühstücken, Herzfrequenzgurt anlegen, Schuhe nicht vergessen und los.
Der Startpunkt des Rennens war nur eine Viertelstunde von zu Hause entfernt. Von Weitem sah ich bereits die rosafarbenen Banner am Eingang zum Olympiapark: »Willkommen beim München Marathon«. Ich war so früh hier, dass die anderen vor Ort dachten, ich sei ein Helfer.
Ein kühler, sonniger Oktobertag würde es werden, ein schöner Tag zum Laufen. Ich wusste nicht, ob es ein perfekter Tag zum Laufen werden würde, so wie es nachher immer in der Presse steht, denn ich hatte keine Ahnung, was einen perfekten Tag zum Laufen ausmachte. Zum Warten gab es aber wahrscheinlich schlechtere Tage, denn es regnete nicht, und über allem lag eine geschäftige, aber friedliche Stimmung. All die Arbeit, die ich in diesen Tag gesteckt hatte, war erledigt. In diesen zwei Stunden vor dem Start gab es nichts Sinnvolles mehr zu tun, ich war wie betäubt und harrte einfach der Dinge, die da kamen.
Aufwärmen? Zu gefährlich, nach dem, was mir in den letzten Wochen widerfahren war. Etwas essen? O. K., aber nicht zu viel. Eine Banane, die beschäftigte mich noch einmal drei Minuten, inklusive des Umwegs, um die Schale zu entsorgen.
Während ich so herumtrottete, sammelten sich endlich mehr und mehr Teilnehmer auf der abgesperrten Straße. Bald war der Pulk zu einem Haufen aus mehreren Tausend Läufern angewachsen. Ganz vorn die Wahnsinnigen, die das Ganze in 2:15 Stunden angehen wollten. Ich reihte mich wie geplant in die 4:15-Stunden-Gruppe ein. Das hatte den rechnerischen Vorteil, dass ich einfach nur sechs Minuten pro Kilometer laufen musste, vom Anfang bis zum Ende. Kein Nachdenken nötig.
Die allgemeine Stimmung stieg, und schließlich blieben nur noch zehn Minuten bis zum Start. Der Sprecher rief zu Aufwärmübungen und Sprüngen auf. Die Menge um mich herum wurde lauter und klatschte begeistert im Takt. Ich hingegen blieb reglos stehen, weil ich befürchtete, dass jede unnötige Bewegung die Schmerzen zurückbringen würde.
10:00 Uhr. Startschuss.
Vorn setzten sich die Ersten in Bewegung. Nun war alles Vorangegangene egal, und es ging nur noch ums Laufen. Die ersten zwei Kilometer schwebte ich wie auf Wolken des Glücks und warf dem einen oder anderen ein breites Grinsen zu. Das klappte viel besser als gedacht. Vielleicht stimmte es doch, was in den Büchern steht: dass man mit dem Adrenalin die Qualen vergisst und es im Rennen oft viel besser läuft als im Training.
Ich blickte auf mein rechtes Knie, um mich zu versichern, dass heute tatsächlich alles in Ordnung war. Das hätte ich wohl besser gelassen. Denn augenblicklich meldete sich das Knie mit der altbekannten Statusanzeige: Ein quälender Schmerz schoss urplötzlich das Bein hinauf, brennend, als stünde die ganze Sehne unter Starkstrom. Ein anderer Läufer prallte auf mich und zog fluchend an mir vorbei. Wieder das rechte Knie. Das linke wäre mir lieber gewesen, denn es hatte im Vergleich über die letzten Wochen weniger wehgetan. Das rechte allerdings war das Gelenk aus der Hölle, und ich wusste sofort, dass dies das Ende war. Wie sollte ich die nächsten vier Stunden überstehen, wenn jedes Auftreten unmöglich war? Ich blickte mich um: überall frische, motivierte Läufer. Sie hatten ihr Ziel vor Augen und alle Chancen, es zu erreichen. Und ich inmitten dieser Menge, vollkommen allein mit meiner Erkenntnis, dass der ganze Aufwand der letzten Monate umsonst gewesen war.
Nein, ich wollte diesen Marathon schaffen, nur einmal, egal wie. Ich griff in meine Gürteltasche und zog die Notfallration heraus, das Gegengift für den Biss jeder feindseligen Sehne in meinem Körper: eine Ibuprofen. Es war ein sehr früher Notfall, aber es war einer. Ich schluckte sie runter. Dann besann ich mich und schluckte eine weitere hinterher, dann noch eine und, weil es auch schon egal war, noch eine. Ich trottete weiter und hoffte, dass die Erlösung kommen würde. Schon sah ich den Verkäufer meiner Laufschuhe an der Strecke stehen, wie eine bösartige Halluzination. »Das wird schon!«, rief er mir freundlich zu, und ich nickte etwas verzweifelt, bevor ich mich zu etwas weniger Freundlichem hinreißen ließ. Aber da bogen wir zum Glück bereits in den Englischen Garten ab, und ich spürte den weichen Untergrund, atmete die frische Luft, und eine halbe Stunde später waren die Schmerzen wie vom Erdboden verschluckt. Vier Ibuprofen, das war wohl eine Tagesdosis, oder mehr, aber sie wirkte.
Es war, als wäre die Sehne im Koma, und sie erwachte auch nicht mehr. Ich lief wie auf Luftkissen, nur dass sie nicht von den Schuhen, sondern vom Schmerzmittel herrührten, was sich vollkommen falsch anfühlte. Aber dennoch, bis Kilometer 28 blieb ich beseelt von der Hoffnung, dass nun alles gut würde. Die Lehre vom Mann mit dem Hammer, der ab Kilometer 30 auf den Marathonläufer einschlägt, kannte ich und hoffte, er würde in meinem Fall danebenhauen, auf die keuchende, schwitzende Frau vor mir oder den ohnehin schon an den Grenzen einer würdevollen Existenz dahinkriechenden Mittfünfziger. Doch er traf auch mich. Zwischen Kilometer 32 und 36 nahm der Kurs eine grausame und aus Sicht jedes verständigen Menschen vollkommen überflüssige Extrarunde über den verlassenen Königsplatz. Viele Teilnehmer saßen hier auf dem Boden. Stöhnen und Aufgeben an jeder Ecke. Ich versuchte einige aufzumuntern, hauptsächlich, um mich selbst zu motivieren. Aber von den meisten kamen nur patzige Antworten, also ließ ich sie sitzen. Da kam er endlich, der nächste Verpflegungsstand mit seinen Hunderten von platt getretenen Bechern. Noch ein Gel aus der Tasche, das ich mit zwei Portionen Münchner Leitungswasser runterspülte. Eines der besten Wasser der Welt. Egal, momentan hätte ich auch aus der Kanalisation in Mexico City getrunken. Nehmen lassen wollte ich mir das Finish nun nicht mehr. Sechs Kilometer noch, das waren zwei Runden durch den Park, in dem der ganze Schlamassel angefangen hatte. Ich hatte es damals geschafft, und ich würde auch jetzt nicht daran sterben. Nur noch über die Leopoldstraße und die Elisabethstraße zurück, in den Olympiapark einbiegen, dann ins Stadion. Die letzte Runde, vierhundert Meter Glück und Leichtigkeit. Ich grinste für die Teilnehmerfotos.
Dann war ich im Ziel. Man hängte mir eine Medaille um und wickelte mich in Goldfolie.
4:15 Stunden. Ausgefertigt und vollstreckt. Perfektes Pacing.
Da saß ich nun. Das Rennen war irgendwie toll gewesen, zumindest besser als die Zeit davor. Aber ich fühlte mich wie ein Betrüger. Es war sicherlich auch ohne Ibuprofen möglich, ahnte ich. Aber offenbar nicht für mich. Ich hatte zwanzig Sitzungen in der Physio zugebracht und aus einem gesunden einen kranken Menschen gemacht, ich hatte auf die schamanischen Kräfte farbiger Klebetapes vertraut und auf irrwitzig teure Einlagen für meine schiefen Füße, und letztlich hatte ich es doch nur mit Ibuprofen durchgestanden, nicht bloß mit einer, sondern vier, weil ich zu schwach war und keine Schmerzen ertragen konnte. Ein später Sieg des Schuhschranks. Hätte ich ihn nur nie repariert. Das war die Wahrheit, und auch wenn sie nicht so wehtat wie mein Knie, reichte sie mir als Erniedrigung völlig aus, um eine Entscheidung zu treffen.
Das Ganze hatte keinen Sinn. Ich war nicht dafür gemacht.
Nicht noch einmal.
Nie wieder so eine Quälerei.
Nie wieder laufen.
Eine Woche verging, und ich war zufrieden mit meiner Entscheidung.
Die zweite Woche war ich zuversichtlich, dass die Entscheidung Bestand haben würde.
In der dritten Woche begann die Unruhe. Ich wusste nicht einmal, woher sie rührte, nur dass sie in den Beinen begann und jeden Tag weiter hinaufwanderte. Ein forderndes Kribbeln war es, ein eindringlicher Hinweis darauf, dass etwas fehlte. Ein Haufen Informationen wurden von Nervenzellen an Synapsen weitergegeben, elektrische Impulse wurden in chemische umgewandelt, und eine Botschaft wurde weitergetragen, bis sie sich endlich in meinem Kopf zu einem Gedanken formte: laufen.
Ich wollte laufen. Das »Nie wieder« hatte genau sechzehn Tage gehalten. Nun, in der Weltgeschichte hatten Menschen schon schneller ihre Meinung geändert. Und mir ging es inzwischen besser. Das Knie hatte sich seit der Finish Line im Olympiastadion nicht mehr gemeldet, so als hätte die Kombination aus 42 Kilometern und vier Ibuprofen es geheilt. Vielleicht lag es aber nur daran, dass ich seitdem nicht mehr gelaufen war.
Und so gern ich wieder in die Laufschuhe schlüpfen mochte, so wenig wollte ich die Grenze in dieses dunkle Land überschreiten, das Schmerzen für jeden bereithielt, der sich dorthin verirrte. Es gab keine Grenzkontrollen bei der Einreise, man war drin, bevor man es bemerkte. Ich wollte auch keine Tabletten mehr schlucken müssen, um Sport zu machen. Ich wollte ich selbst sein, der etwas schaffte.
Also brauchte ich eine Alternative. Mein Hausarzt wiegte bonbonlutschend den Kopf, als ich ihn um seine Meinung fragte. »Na ja, wenn das Laufen wehtut – haben Sie schon mal an Rennradfahren gedacht?«
»Niemals«, erwiderte ich. Seit mein erstes Rennrad zerfallen war, hatte ich auf keinem mehr gesessen. Und überhaupt, diese ganze Szene, die Tour de France mit ihren mittelalten Männern. Warum sollte sich jemand freiwillig die Beine rasieren und diese lächerlichen Helmchen aufsetzen? Desillusioniert verließ ich die Praxis und machte erst mal gar nichts.
Bis sich herausstellte, dass die Nervenzellen und Synapsen sich gar nicht für meine Erwägungen interessierten. Sie arbeiteten unermüdlich weiter und schickten ihre elektrischen Impulse und chemischen Boten den Körper rauf und runter. Rennrad zu fahren war womöglich doch besser als nichts. Und wenn ich nebenbei noch etwas laufen könnte?
Vielleicht also Triathlon, das war das auf Hawaii. Gab es aber auch woanders, entdeckte ich. Und vor allem in Distanzen, die mir im Gegensatz zu einem Ironman machbar erschienen: Eine Volksdistanz beinhaltete zwanzig Kilometer Radfahren und fünf Kilometer Laufen. Als Triathlet müsste ich viel weniger Strecke in Laufschuhen verbringen, was definitiv weniger Pein bedeuten würde. Nun gut, fünfhundert Meter musste man vorab auch noch schwimmen, und das waren immerhin zehn Bahnen im Becken des Olympiabads. Die ganze Distanz zu kraulen war völlig undenkbar. Aber, so las ich, es handelte sich durchaus um einen anfängerfreundlichen Sport, in dem auch Brust- oder Rückenschwimmen toleriert wurde. Das klang schon besser.
Nachdem ich einige Zeit an dem Thema herumgelesen hatte, wurde mir klar, dass diese Sportart für mich gewissermaßen alternativlos war. Meinen Kollegen Sebastian, der früher selbst Triathlon gemacht hatte, fragte ich unauffällig danach, ob er es für eine blöde Idee halte, wenn jemand wie ich das mal ausprobierte. Nein, er finde das hervorragend. Natürlich sei es genau das Richtige für mich, und er gehe davon aus, dass ich auch im ersten Jahr mit der begrifflich etwas Furcht einflößenden Olympischen Distanz einsteigen könne: 1,5 Kilometer Schwimmen, 40 Kilometer Radfahren und 10 Kilometer Laufen. Das war schon wieder mehr Laufen, als ich mir vorgenommen hatte, klang aber nach einer Herausforderung. Also meldete ich mich für den kommenden Juni kurzerhand beim Stadttriathlon Erding an.
Vorher musste ich noch ein paar unwesentliche Dinge kaufen: Rennrad, Neoprenanzug, Triathloneinteiler. Es ist ein Shopping-Sport. Alles ist hip, alles ist neu, alles ist teuer. Aber schließlich hatte ich Outfit und Ausrüstung beisammen und stürzte mich ins Training. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn regelmäßig kippte ich mitsamt Rad um, wenn ich die Schuhe nicht aus den Klickpedalen bekam. »Das gehört dazu«, beruhigte mich Sebastian per Ferndiagnose. Einmal im Training, wollte ich nun aber auch lernen, einigermaßen ordentlich zu schwimmen.
Beim ersten Kraulversuch im Schwimmbad war ich zwar von einem älteren Herrn überholt worden, der mich als Anfänger beschimpft hatte, aber ich hatte fast eine 25-Meter-Bahn durchgehalten. Das war mehr Kraul, als ich in den letzten zwanzig Jahren geschwommen war. Von meiner Frau, die offensichtlich spürte, dass das so nichts werden würde, bekam ich zum Geburtstag private Schwimmstunden bei einem ehemaligen Triathlonprofi geschenkt.
»Lass mal sehen«, schickte mich mein weitsichtiger Coach ins Becken. »Kraul einfach mal eine Bahn durch.«
Ich tat wie geheißen und stieg hinten wieder aus dem Wasser. Lange sagte er gar nichts und murmelte dann: »Na gut, du bist ja hier, um zu lernen.«
Ja, lernen wollte ich. Und ich sog fortan alles auf, was ich über das Schwimmen finden konnte. Unzählige Videos von Rennen und Anleitungen zum Kraulschwimmen machten es vor, und ich machte es nach. Im März war ich ganz zufrieden mit dem, was ich erreicht hatte. Fünfhundert Meter Kraul gingen sensationellerweise nonstop, vielleicht gar etwas mehr. Anderthalb Kilometer waren im Juni zu absolvieren, noch dazu im Baggersee, aber für meinen ersten Wettkampf behielt ich mir vor, zu Brust, Rücken oder Hundepaddeln zu wechseln, sobald es angezeigt war.
Auch beim Laufen schien nun plötzlich alles prima. Denn im Triathlon trug man keine 500-Gramm-Klötze an den Füßen, sondern Minimalschuhe, schnelltrocknend und superleicht. Also brauchte ich neue Schuhe. Wieder den alten Laden zu betreten kam natürlich nicht infrage. Allein der Anblick des Verkäufers hätte mich erneut einem schweren Trauma ausgesetzt. Also suchte ich ein anderes Geschäft aus und traf dort auf eine freundliche, aber bestimmte Verkäuferin, die sich weigerte, mir Schuhe zu verkaufen, wenn ich keine Videoanalyse machte. Mir blieb also keine Wahl, ich stieg aufs Band und trabte los.
»Hm«, machte sie. »Zieh doch mal eben die Einlagen aus, bitte.« Ich hatte ihr gar nicht gesagt, dass ich welche trug. Außerdem wollte ich einwenden, dass ich ohne diese Dinger keinen Meter weit schmerzfrei laufen könne, doch sie duldete keinen Widerspruch.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte sie wenig später. »Du läufst absolut gerade, nicht nach außen, nicht nach innen. Du brauchst einen Neutralschuh. Keine Einlagen. Kein nix.«
Ich sah sie an, dann meine Füße. Ein Augenblick der Entscheidung. Ich hätte nun wimmernd darüber zusammenbrechen können, dass all die Leiden, die Arztbesuche, die Trainingsausfälle, die ganze Verzweiflung möglicherweise nur den falschen Schuhen geschuldet gewesen waren. In ihren Armen liegend, hätte ich klagen können, was gewesen wäre, hätte ich gleich zu Anfang eine Laufanalyse gemacht, und sie hätte mir durchs Haar streifen und mich beruhigen können, dass sie ja jetzt da sei und ich mir keine Sorgen mehr machen müsse … Nein, das war keine Option. Lieber war ich erleichtert. Konnte das tatsächlich der Beginn eines Lebens in Freiheit sein? Der Start einer neuen Laufkarriere? Ich warf die Einlagen noch im Laden in den Müll, stieg in die neuen Schuhe und lief. Tage, Wochen, Monate. Ich konnte auf Knieschmerzen warten, solange ich wollte.
Sie kamen nicht wieder.
Schließlich hatte sich die Welt bis zum Juni vorangedreht, dann bis zur Rennwoche, dann bis zum Renntag. Einen Kälteeinbruch und Regen hatte sie gleich mitgebracht.
Nun, zumindest im Neoprenanzug würde mir nicht kalt werden. Ich ordnete mein Rad in den riesigen Pulk der Wechselzone ein und bereitete mich auf den Schwimmstart vor. Wie jeder Neoprenanzug saß auch meiner wahnsinnig eng, was nicht nur beim Schwimmen unangenehm ist, sondern auch danach, wenn man ihn unter immensem sozialem Druck so schnell wie möglich wieder loswerden möchte. Der Wechsel, die vierte Disziplin beim Dreikampf, ist wie eine Operation am offenen Herzen, bei der es um Sekunden geht. Keine überflüssige Bewegung, kein Handgriff zu viel. Wer hier pfuscht, hat sich selbst den Tag verdorben, und den anderen irgendwie auch, denn sie müssen sich das mit ansehen. Der Stress beginnt in dem Moment, in dem man mit rasselndem Atem aus dem Baggersee steigt und versucht, sich das Neopren vom Körper zu zerren. Am Oberkörper machbar, aber die Fersen gebärden sich wie Widerhaken. Noch schlimmer, wenn es kalt ist, denn dann kann man die Füße ohnehin nicht bewegen. Vor dem Start in Erding hatte ich mir also Gedanken gemacht, wie ich Verstöße gegen diese Etikette im Rennen vermeiden könnte, und war auf einen Geheimtipp gestoßen: die Füße und Knöchel vor dem Schwimmen mit Vaseline einschmieren.
Ich schraubte die Dose mit der Mineralölmasse auf und begann in aller Ruhe das Fett auf meinen Füßen zu verteilen.
»Was immer du da tust, du solltest dich beeilen!«, rief mir ein anderer Teilnehmer zu und rannte davon. Ich sah auf die Uhr. Zwei Minuten bis zum Start, jetzt noch 1:59, längst waren alle unten am Strand versammelt. Ich hatte Vaseline an den Füßen, aber nicht einmal die Badekappe auf. Ohne Kappe erwischt zu werden bedeutete Disqualifikation, nicht weil die Veranstalter ihre rosafarbene Kappe so schick fanden, sondern weil man einen untergehenden Kopf im Gewühl am besten sieht, wenn er möglichst farbenfroh leuchtet. Hektisch zerrte ich mir das Silikon über die Ohren, griff zur Schwimmbrille und rannte dem anderen hinterher. Schuss. Der Pulk stolperte in den See und ich hinterher, während ich mir die Brille über die Augen zog.
Sofort sah ich nichts mehr. Meine Mitschwimmer waren im Nebel verschwunden, aber als ich die Brille abnahm, waren sie alle wieder da. Ich starrte auf die Gläser: alles voller Vaseline. Hektisch versuchte ich sie im Baggersee abzuwaschen, während die Arme der anderen um mich herum ins Wasser klatschten. Keine Chance. Das Zeug klebte wie, nun ja, zähes Öl. Zumindest sprach es für die Wasserqualität, dass die Gläser nicht nach dem ersten Wischen in neuem Glanz erstrahlten. Es gab also nur noch eine Möglichkeit: Brille auf und den Schemen folgen, sie würden schon wissen, wo es langging. Eigentlich musste ich doch gar nicht sehen, wohin ich schwamm.
Das war ein schmerzhafter Irrtum, für mich und jeden, der mir in den nächsten Sekunden in die Quere kam. Schwenkte ich nach einem Zusammenstoß zur anderen Seite, bekam ich von dort den nächsten Neopren-Ellenbogen ins Gesicht. O. K., Planänderung. Ich setzte die Brille ab und schwamm die restlichen 1400 Meter Brust und Rücken, denn so konnte ich den Kopf über Wasser halten.
Als einer der Letzten spürte ich den Boden des Baggersees unter meinen Füßen und taumelte ans Ufer. Das erste Schwimmen bei einem echten Triathlon war geschafft. Es war alles andere als elegant gewesen, aber ich hatte es gemeistert. Eine gewisse Zufriedenheit durchströmte mich, während ich über den Strand nach oben in Richtung Wechselzone lief. Nun folgte das Prozedere, das ich im Kopf bis ins kleinste Detail durchgeplant hatte: halb aus dem Neopren schälen und ab zum Fahrrad. Das eigene Fahrrad wiederzufinden war allerdings gar nicht so einfach. Sämtliche Teilnehmer rannten kreuz und quer durch die Wechselzone, alles sah gleich aus, und die Nummer meines Standplatzes hatte ich längst vergessen. Ist man bei einem Rad angekommen, das dem eigenen weitestgehend ähnlich sieht, wird es erst richtig hektisch: Der Neoprenanzug wird weggestrampelt. Die Laufuhr wird aus dem Helm genommen und umgebunden. Die Radbrille wird aus dem Helm genommen und aufgesetzt. Der Helm wird aufgesetzt. Nein, noch nicht losrennen. Jetzt nicht das Startnummernband vergessen, das groß und breit am Zeitfahrlenker baumelt, damit man es nicht vergisst. Wie beim Gummitwist reinsteigen und die Startnummer bis über die Hüfte ziehen, auf den Rücken wenden, wo sie im Fahrtwind schön flattern wird.
Was das Umziehen in der Wechselzone angeht, wird der Unterschied zwischen Profi und Anfänger am deutlichsten: Der Profi steigt im nassen Einteiler aufs Rad, egal, ob es draußen vierzig Grad plus oder minus sind. Der Anfänger zieht alles aus und wühlt splitternackt zwischen fünfhundert anderen Teilnehmern in seiner Sporttasche nach trockenen Sachen. Ich wählte den Mittelweg und zog eine Regenjacke über, denn am Himmel war alles dunkelgrau und schwer. Schließlich noch in die Radschuhe. Fertig! Ich hatte sechs Minuten für den Wechsel gebraucht, das waren ungefähr fünf mehr als erstrebenswert. Aber halt, noch nicht aufsteigen, denn das ist in der Wechselzone aus Sicherheitsgründen verboten. Dann endlich ein gemalter Strich auf dem Boden, in den Sattel und los. Das erste Mal auf dem Rad bei einem Triathlon. So weit war ich zumindest schon mal gekommen. Die nächsten vierzig Kilometer hätte ich mich darüber freuen können.
Doch gleich hinter der Wechselzone begann der Regen. Das Tempo war hoch, die Straßen rutschig, aber ich hielt mich zurück und ließ alle davonfahren, die den Eindruck machten, sie hätten mehr Ahnung als ich, oder zumindest Zutrauen in die Kraft ihrer Bremsen bei Nässe.
Es goss für den Rest der Radstrecke, und es schüttete bei der Rückkehr in die Wechselzone. Das Wasser stand inzwischen so hoch auf der Wiese, dass ich Laufschuhe in Plastiktüten vorbeischwimmen sah. Meine standen aber noch da, wo ich sie zurückgelassen hatte. Also Helm ab, runter vom Rad, Laufvisor auf und Startnummer wieder nach vorn drehen, damit die Offiziellen wissen, wer da läuft und man später seine Rennfotos schneller in der Datenbank findet.
Ich schaltete meine Uhr auf »Laufen« und lief davon. Auf dem Asphalt hinter der Wechselzone klackten meine Sohlen verdächtig. Ich trug noch die Radschuhe. Nach einem Moment der Panik überlegte ich, was es bedeuten würde, zehn Kilometer in Radschuhen zu laufen. Es war wohl keine gute Idee und vermutlich auch verboten. Also gegen den Strom wieder zurück, vorbei an fluchenden Teilnehmern und einem Offiziellen, der fragte, was passiert sei, und erneut zum Fahrrad. Da warteten sie immer noch, die Laufschuhe, und weichten vor sich hin. Nach hektischem Gefummel hatte ich sie endlich an den Füßen. Und erneut ging es los, zweiter Versuch. Wenn jetzt noch etwas fehlte, konnte ich auch nichts mehr daran ändern.
Dem Tross der Läufer folgend, ging es auf einem Kurs kreuz und quer durch den Ort. Die Zuschauer feuerten uns trotz des schlechten Wetters an, und ich fühlte mich besser und besser. Noch ein paar Kilometer, dann war es geschafft. Ich freute mich auf ein alkoholfreies Finisherbier. Nach dem letzten Wendepunkt waren es nur noch zwei Kilometer, und die Sonne drang wie zum Hohn durch die Wolken. Die letzten zweihundert Meter bis zum Ziel. Ich verfiel in einen Sprint. Noch ein, zwei Läufer überholen und dann in vollem Tempo ins Ziel laufen, so hatte ich es geplant. Und da stick to the plan im Allgemeinen das wichtigste Wettkampfmotto ist, hielt ich mich daran.
Ich stemmte die Handflächen auf die Knie und wartete darauf, dass sich der Atem beruhigte, während mir eine Medaille um den Hals gehängt wurde.
Ich war da.
Nicht nur am Ziel in Erding. Angekommen im magischen Reich des Triathlons. Ich schlenderte aus der Zielzone in Richtung des Finisherbüfetts und war Triathlet. Eine ganze Welt stand mir auf einmal offen. Eine Welt, in der es nur darum ging, zu schwimmen, Rad zu fahren und zu laufen. Eine Welt, in der alles andere – Beruf, Familie, Freunde – plötzlich weniger Bedeutung hatte. Und ich war nun mittendrin.
Für die nächsten Jahre würde ich nicht wieder aus ihr auftauchen.
In einer denkwürdigen Folge der Achtzigerjahre Sitcom Alf geht Alf ins Kloster, weil er es bei Familie Tanner nicht mehr aushält. Als Willy ihn dort aufspürt und fragt, was er den ganzen Tag im Kloster mache, erwidert Alf: »Ich folge nur den Regeln: Faulheit, Neid, Gefräßigkeit …« – »Aber Alf«, mahnt Willy, »das sind doch die sieben Todsünden.«
So wie der Außerirdische sind auch wir Triathleten nicht immer sicher, was Gebot und was Sünde ist. Die Regeln und ungeschriebenen Gesetze unseres Sports sind eben von Widersprüchen und Missverständnissen geprägt. Aber eines ist klar: Man muss sie kennen, um sie zu brechen. Und so oder so verändern sie uns.
day off.