Melzer, Nils Der Fall Julian Assange

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Allen, die unerschrocken für die Wahrheit kämpfen


© Piper Verlag GmbH, München 2021
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»Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur wieder auf.«

Otto Gritschneder

Einleitung

Ein Buch zu schreiben gehört für gewöhnlich nicht zu den Aufgaben eines UNO-Sonderberichterstatters. Schon gar nicht eines über einen einzelnen, ganz bestimmten Fall. Eine Erklärung ist daher am Platz. Für mich ist dieses Buch ein dringender Appell. Ein Mahnruf an die Staatenwelt, weil das von ihr erstellte System zum Menschenrechtsschutz auf ganz fundamentale Weise versagt. Ein Weckruf an die Öffentlichkeit, weil dieses Systemversagen jede Bürgerin und jeden Bürger unserer demokratischen Rechtsstaaten in Alarmbereitschaft versetzen sollte. Ein Aufruf, der daher auch als persönliche Aufforderung zum Aufwachen, zum Hinsehen und zur Übernahme von persönlicher und politischer Verantwortung verstanden werden will.

Als UNO-Sonderberichterstatter bin ich vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen beauftragt, die Einhaltung des Folter- und Misshandlungsverbotes weltweit zu überwachen, Hinweise auf Verletzungen zu untersuchen und den betroffenen Staaten im Hinblick auf die Aufklärung von Einzelfällen Fragen zu stellen und Empfehlungen zu unterbreiten. Ich wurde mit dieser wichtigen Aufgabe betraut, weil ich mich als sicherheitspolitischer Berater meiner Regierung, als Völkerrechtsprofessor und Fachbuchautor, aber auch als Rotkreuzdelegierter und Rechtsberater in Kriegs- und Krisengebieten seit mehr als zwanzig Jahren mit Verletzungen der Menschenrechte und des Kriegsvölkerrechts befasse. Ich habe auf vier Kontinenten Tausende von Gefangenen, Flüchtlingen und Angehörigen besucht, viele davon Opfer von Folter und Gewalt. Ich habe in Palästen, Ministerien und Kommandozentren genauso verhandelt wie mit Soldaten und Rebellen im Niemandsland zwischen den Fronten.

Wenn ich daher Hinweise auf Folter- und Misshandlungen untersuche, dann weiß ich, wovon ich spreche. Ich lasse mich nicht schnell aus der Ruhe bringen und neige weder zu Übertreibungen, noch suche ich das Rampenlicht. Meine Welt ist die des diplomatischen Dialoges und des gegenseitigen Respekts, aber immer auch der Wahrheit und der Integrität. Denn Diplomatie darf nie zum Selbstzweck werden, sondern muss immer Mittel bleiben zu einem höheren Zweck. In meinem Fall ist dieser Zweck die Einhaltung des Folter- und Misshandlungsverbotes sowie die Untersuchung, Bestrafung und Wiedergutmachung von Verletzungen. Wenn dies auf diplomatischem Wege nicht mehr zu erreichen ist, dann darf ich diesen Zweck nicht opfern, sondern muss ein anderes Mittel wählen, um die Ziele meines Mandates zu erreichen. Eines dieser Mittel, liebe Leserin, lieber Leser, ist dieses Buch, das Sie in den Händen halten. Es ist, um eine ursprünglich martialische Redewendung für meine friedlichen Zwecke umzuformulieren, gewissermaßen die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln.

Ich schreibe dieses Buch, weil ich bei meiner Untersuchung des Falles »Julian Assange« auf konkrete Hinweise von politischer Verfolgung, schwerer Justizwillkür und vorsätzlicher Folter und Misshandlung gestoßen bin. Die betroffenen Staaten weigern sich aber, bei der Aufklärung dieser Hinweise mit mir zu kooperieren und die völkerrechtlich verlangten Untersuchungsmaßnahmen einzuleiten. Ich habe Julian Assange mit einem Ärzteteam im Gefängnis besucht und habe mit den verantwortlichen Behörden ebenso gesprochen wie mit Anwälten, Zeugen und Experten. Ich habe allen vier direkt involvierten Staaten – Großbritannien, Schweden, Ecuador und den USA – über die mir zur Verfügung stehenden offiziellen Kanäle mehrfach meine Bedenken kundgetan, Klarstellungen verlangt und konkrete Maßnahmen empfohlen. Keine der vier Regierungen war bereit, sich auf einen konstruktiven Dialog einzulassen. Stattdessen wurde ich mit diplomatischen Plattitüden oder rhetorischen Rundumschlägen abgefertigt. Als ich dennoch auf einer Aufklärung des Falles bestand, wurde der Dialog von den Regierungen abgebrochen. Gleichzeitig wurden die Verfolgung und Misshandlung von Julian Assange noch intensiviert, wurden die Verletzungen seiner Verfahrensrechte immer offensichtlicher und wurden selbst meine öffentlichen Aufrufe an die Behörden zur Einhaltung der Menschenrechte ignoriert. Auch innerhalb des UNO-Systems erhielt ich – abgesehen von einigen mutigen und tatkräftigen Einzelpersonen – kaum Unterstützung. Ich berichtete sowohl dem Menschenrechtsrat in Genf als auch der Generalversammlung in New York über die Verweigerungshaltung der betroffenen Staaten. Keine Reaktion. Ich bat die Hochkommissarin für Menschenrechte wiederholt um eine persönliche Besprechung in dieser Angelegenheit und wurde abgewimmelt. Ich forderte andere Staaten zur Einflussnahme auf, stieß aber fast durchweg auf eine Wand betretenen Schweigens. Ich erlebte, wie die rechtsstaatlichen Institutionen, an deren Funktionstüchtigkeit ich immer geglaubt hatte, vor meinen eigenen Augen versagten.

Sie werden sich vielleicht fragen, warum ich mich gerade in diesem Fall so vehement einsetze. Denn Julian Assange ist ja beileibe nicht das einzige Folteropfer, das keine Gerechtigkeit erfährt, und seine Misshandlung ist auch bei Weitem nicht die schwerste Form der Folter, mit der ich in meiner Arbeit konfrontiert bin. Das ist alles richtig. Doch ich setze mich in diesem Fall ganz besonders ein, weil seine Bedeutung weit über Julian Assange als Person hinausreicht und auch weit über die direkt betroffenen Staaten hinaus. Weil er ein generelles Systemversagen sichtbar macht, das die Integrität unserer demokratisch-rechtsstaatlichen Institutionen in schwerer Weise untergräbt. Ein Systemversagen, das mir aus meiner täglichen Arbeit zwar sattsam bekannt ist, das sich normalerweise aber weitgehend hinter den Kulissen abspielt und daher nur selten schlüssig nachzuweisen ist.

Der Fall Assange ist die Geschichte eines Mannes, der dafür verfolgt und misshandelt wird, dass er die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen an die Öffentlichkeit gebracht und damit Kriegsverbrechen, Folter und Korruption enthüllt hat. Es ist die Geschichte schwerster Justizwillkür in westlichen Demokratien, die sich im Bereich des Menschenrechtsschutzes sonst gerne als Vorzeigestaaten darstellen. Es ist die Geschichte vorsätzlicher Geheimdienst- und Behördenkollusion hinter dem Rücken der Öffentlichkeit und der nationalen Parlamente. Es ist die Geschichte manipulierter und manipulativer Berichterstattung in etablierten Medien zum Zweck der gezielten Dämonisierung, Entwürdigung und Zerstörung einer Einzelperson. Es ist die Geschichte eines Mannes, der von uns allen zum Sündenbock gemacht wurde für das Versagen unserer Gesellschaft im Umgang mit Behördenkorruption und staatlich sanktionierten Verbrechen. Es ist somit auch eine Geschichte über jede und jeden Einzelnen von uns, unsere eigene Bequemlichkeit, Selbsttäuschung und Mitverantwortung an den politischen, wirtschaftlichen und menschlichen Tragödien unserer Zeit.

Ich habe den Fall Assange zwei Jahre lang intensiv untersucht, habe zwei Jahre lang erfolglos versucht, die verantwortlichen Staaten zur Zusammenarbeit zu bewegen und habe meine Einschätzungen und Bedenken zwei Jahre lang öffentlich kommuniziert – in offiziellen Berichten und Presseinterviews, bei Veranstaltungen und auf verschiedenen Podiumsdiskussionen. Nun ist die Zeit gekommen, der Öffentlichkeit dieses Buch vorzulegen, das meine Untersuchung und meine Schlussfolgerungen in gut zugänglicher Form zusammenfasst und jeweils die relevanten Beweismittel zitiert. Ich habe mich zu diesem Schritt entschlossen, weil ich innerhalb des Systems nicht weiterkomme, weil ich mich durch Schweigen oder Nichtstun aber selbst zum Komplizen machen würde: zum Komplizen bei der Vertuschung schwerer Verbrechen, sowohl derjenigen, die Assange enthüllt hat, als auch derjenigen, die gegen ihn – und damit auch gegen uns alle – verübt wurden und immer noch werden. In der Ausübung meines Mandates fühle ich mich nicht in erster Linie den amtierenden Regierungen verantwortlich, sondern den UNO-Mitgliedstaaten selbst und ihren Bevölkerungen. Sie haben sich zur Einhaltung des Völkerrechts verpflichtet. Sie haben daher auch ein Recht darauf, darüber informiert zu werden, was ihre Regierungen mit der ihnen übertragenen Macht tun. Vor allem, wenn es dabei um Folter und Misshandlung geht, wenn unsere Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit unterdrückt wird und wenn die Mächtigen für sich Straffreiheit beanspruchen für Korruption und schwerste Verbrechen. In gewissem Sinne werde ich mit diesem Buch also selbst zum Whistleblower.

Ich habe meine Untersuchungen stets nach bestem Wissen und Gewissen objektiv und unparteiisch durchgeführt und alle Beweismittel berücksichtigt, welche mir zur Verfügung gestellt wurden. Dies wurde durch die fehlende Gesprächsbereitschaft der Regierungen sehr erschwert, denn keine meiner Aufforderungen, Stellung zu beziehen, Korrekturen vorzunehmen und Gegenbeweise zu erbringen, erhielt eine konstruktive Antwort. Angesichts dieser Verweigerungshaltung war es nicht leicht, zu verlässlichen Schlüssen zu gelangen. Dennoch konnte ich mit der Zeit aus einer Vielzahl von Quellen rund 10 000 Seiten verlässlicher Verfahrensakten, Korrespondenz und anderer Beweismittel zusammenstellen. Auch wenn ich mich aus Gründen des Quellen- und Persönlichkeitsschutzes dazu entschieden habe, in diesem Buch mit Namensnennungen sehr sparsam umzugehen, bin ich unzähligen Einzelpersonen für wertvolle Hinweise und Unterstützung aller Art zu tiefem Dank verpflichtet. Die Betroffenen wissen, dass sie gemeint sind.

Immer wieder werde ich meine Untersuchung des Falles Assange mit dem Zusammensetzen eines riesigen Puzzles vergleichen. Wie bei einer Detektivarbeit geht es um die Aufklärung eines Verbrechens, um die Auflösung einer Gleichung mit vielen Unbekannten. Auch wenn viele wichtige Puzzleteile heute noch fehlen, so ergibt sich inzwischen doch ein in sich schlüssiges und kohärentes Gesamtbild. Solange die Staaten ihrer Pflicht zur Transparenz nicht nachkommen, können meine Schlussfolgerungen jedoch zugegebenermaßen nicht als absolut, vollständig und abschließend betrachtet werden. Sie sind das Resultat einer zweijährigen sorgfältigen und unter widrigen Umständen durchgeführten Untersuchung. Sollten die betroffenen Regierungen ihre Verweigerungshaltung aufgeben und Gegenbeweise oder Klarstellungen vorbringen wollen, so werde ich diese selbstverständlich dankbar entgegennehmen und in meinen zukünftigen Stellungnahmen gebührend berücksichtigen. Ein wichtiger Zweck dieses Buches – die Feststellung der Wahrheit – wäre damit erreicht.

Im Grunde geht es im Fall Assange jedoch gar nicht um Assange. Es geht um die Integrität unserer rechtsstaatlichen Institutionen und damit um den Kerngehalt der »Republik« im ursprünglichen Wortsinn. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Zukunft unserer Demokratie. Ich möchte unseren Kindern nicht eine Welt hinterlassen, in der sich Regierungen ungestraft über Recht und Gerechtigkeit hinwegsetzen können, in der es aber zum Verbrechen geworden ist, die Wahrheit zu sagen. Ich habe mein Mandat als UNO-Sonderberichterstatter immer als Verpflichtung begriffen, meine privilegierte Stellung für den Schutz der Menschenrechte einzusetzen, auf Verstöße und Systemmängel hinzuweisen und für die Integrität unserer Institutionen zu kämpfen – speaking truth to power, wie man auf Englisch so treffend sagt. Das habe ich seit meiner Ernennung durch den UNO-Menschenrechtsrat getan. Ich habe über Polizeigewalt genauso gesprochen wie über die Unmenschlichkeit der vorherrschenden Migrationspolitik, über psychische Foltermethoden ebenso wie über die Grausamkeit häuslicher Gewalt, habe die weltweiten Zusammenhänge zwischen Korruption und Folter ebenso aufgezeigt wie kollektive Muster der Selbsttäuschung, ohne die Folter und Misshandlung nicht weltweit ungestraft praktiziert werden könnten.

Ich habe mir damit nicht nur Freunde gemacht, denn ich habe die Privilegien und Unantastbarkeit der Mächtigen infrage gestellt. Gerade im Fall Julian Assange wurde mir immer wieder vorgeworfen, meine Neutralität aufgegeben und einseitig für ihn Partei ergriffen zu haben. Dem ist nicht so. Wenn überhaupt, dann war ich negativ voreingenommen gegenüber Assange und wollte mich auf seinen Fall zunächst gar nicht einlassen. Während meiner Untersuchung habe ich stets großen Wert auf Objektivität, Sachlichkeit und Unparteilichkeit gelegt. Doch sobald meine Untersuchung eines Falles zu der Feststellung führt, dass tatsächlich schwere Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, darf ich nicht neutral bleiben zwischen Täter und Opfer. Dann muss ich zwar nach wie vor sachlich und objektiv bleiben, doch gleichzeitig auch Partei ergreifen für das Folteropfer, für die Menschenrechte und für die Gerechtigkeit. Ich schreibe dieses Buch daher nicht als Anwalt für Julian Assange, sondern als Anwalt der Menschlichkeit, der Wahrheit und der rechtsstaatlichen Integrität.

Teil I

Blick hinter den Vorhang

1 Wie man einen Elefanten übersieht

Aus den Augen, aus dem Sinn!

Kurz vor Weihnachten 2018. Ich saß am Schreibtisch und arbeitete an meinem jährlichen Bericht für den UNO-Menschenrechtsrat in Genf. Von diesem Gremium war ich ernannt worden, ihm musste ich als unabhängiger Experte Bericht erstatten über die weltweite Einhaltung des Folter- und Misshandlungsverbots. Zweimal im Jahr hatte ich die Gelegenheit, vor den UNO-Mitgliedstaaten aufzutreten: im Frühjahr im Menschenrechtsrat in Genf und im Herbst in der Generalversammlung in New York. Dies waren meine Gelegenheiten, ein für das Folter- und Misshandlungsverbot relevantes Thema frei zu wählen und auf die internationale Agenda zu setzen. Die Mandate der UNO-Sonderberichterstatter sind unbezahlte Ehrenämter. Wie die meisten Kolleginnen und Kollegen verdiene ich meinen Lebensunterhalt daher als Professor für Völkerrecht an der Universität Glasgow sowie an der Genfer Akademie für Humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte. Die entscheidende Stärke eines UNO-Sonderberichterstatters ist seine Unabhängigkeit. Einmal gewählt, sind die Mandatsinhaber ausschließlich den Menschenrechten verpflichtet und dürfen sich bei der Ausübung ihres Amtes von niemandem beeinflussen lassen. Sie genießen diplomatische Immunität und agieren außerhalb der von politischen Interessen dominierten Hierarchien, Strukturen und Entscheidungsprozesse der Organisation. Wären die Mandate auch noch mit einem ausreichenden Budget und genügend Personal ausgestattet – engagierte Sonderberichterstatter könnten dann einiges erreichen. So wäre es in einer idealen Welt. In der realen Welt fehlen den Staaten jedoch nicht nur die finanziellen Mittel, sondern vor allem auch der politische Wille zur tatsächlichen und umfassenden Umsetzung der Menschenrechte, denn das würde vielerorts das Ende überkommener Machtstrukturen, Privilegien und Ausbeutereien verlangen, welche oft bis tief in die Politik hineinreichen. Ein probates Mittel der Staaten, den Einfluss von Sonderberichterstattern zu begrenzen, ist die fortlaufende Schaffung zusätzlicher Mandate zu neuen menschenrechtlichen Themen, ohne das hierfür zur Verfügung gestellte Globalbudget zu erhöhen. Der daraus resultierende chronische Mangel an finanziellen und personellen Ressourcen der Sonderberichterstatter ist daher kaum ein Zufall.

In jenem Dezember 2018 schrieb ich also an meinem Bericht, diesmal über die Zusammenhänge zwischen Korruption und Folter, als auf dem Bildschirm vor mir plötzlich ein kleines Fenster aufging und das Eintreffen einer neuen Mail anzeigte. Julian Assange is seeking your protection, stand in der Betreffzeile. Julian Assange? War das nicht der Gründer von WikiLeaks, dieser zwielichtige Hacker mit Lederjacke und weißen Haaren, der sich wegen Vergewaltigungsvorwürfen irgendwo in einer Botschaft versteckte? Wie aus dem Nichts erfüllte mich ein Strom abschätziger Gedanken und erzeugte eine beinahe reflexartige Ablehnung. Assange? Nein, von dem würde ich mich sicher nicht manipulieren lassen, denn ich hatte Wichtigeres zu tun – ich musste mich um wirkliche Folteropfer kümmern! Ich klickte das Fenster weg – aus den Augen, aus dem Sinn! Dann widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder ganz meinem Bericht und der Überwindung von Vorurteilen und Selbsttäuschung der breiten Öffentlichkeit im Bereich der Behördenkorruption. Die frappante Ironie dieser Situation sollte mir erst einige Monate später bewusst werden.

Was macht eigentlich ein UNO-Sonderberichterstatter?

Jede und jeder kann sich mit Hinweisen auf Verstöße gegen das Folter- und Misshandlungsverbot an den UNO-Sonderberichterstatter für Folter wenden. Oder, wie mein vollständiger Titel lautet: »Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung oder Bestrafung«. Interventionsgesuche können jederzeit gestellt werden, per Mail oder per Briefpost, auch bevor es überhaupt zu einem Verstoß gekommen ist und unabhängig von etwaigen Strafanzeigen, Gerichtsverfahren oder sonstigen Formalitäten.

Alle Sonderberichterstatter werden in einem langwierigen Verfahren direkt von den 47 Staaten des UNO-Menschenrechtsrates ernannt und sind während ihrer Amtszeit strengster Unabhängigkeit verpflichtet. Wir haben keine Vorgesetzten und dürfen in der Ausübung unserer Mandate keinerlei Weisung entgegennehmen, weder von der UNO selbst noch von Regierungen oder anderen Akteuren. Mein Büro ist beim Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf angesiedelt und damit demjenigen Arm der UNO, der sich mit dem Schutz der Menschenrechte befasst. Zwei Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter sind mir dort zugeordnet, sogenannte Human Rights Officers. Pro Woche erreichen uns etwa fünfzig Anfragen und Interventionsgesuche. Diese können von Folteropfern selbst gestellt werden, aber auch von Anwältinnen, NGO-Vertretern, Angehörigen, Zeugen oder sogar von anderen Behörden, Staaten oder UNO-Gremien. Es ist dann an meinem Team, die Gesuche zu sichten und allenfalls zusätzliche Recherchen anzustellen, um deren Glaubwürdigkeit einschätzen zu können. Das so konsolidierte Dossier wird mir anschließend zur Beurteilung und Entscheidung über eine etwaige Intervention vorgelegt.

Im Einklang mit meinem Mandat geht es bei meinen Interventionen in der Regel um die Verhinderung, Untersuchung, Verfolgung und Wiedergutmachung von Folter, von Körperstrafen und anderer grausamer oder entwürdigender Behandlung, von unmenschlichen Haftbedingungen sowie von Auslieferungen oder Abschiebungen an Staaten, in denen Menschen derartige Missbräuche drohen. Die Verstöße können von staatlichen Behörden selbst oder auf deren Veranlassung begangen worden sein oder auch bloß mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis. Grundsätzlich kann ich über die diplomatischen Vertretungen in Genf direkt bei den Außenministerinnen und -ministern sämtlicher UNO-Mitgliedstaaten intervenieren. Das bedeutet, dass ich dem betroffenen Staat die erhaltenen Hinweise auf Verletzungen des Folter- und Misshandlungsverbots übermittle, die Regierung zur Aufklärung und Stellungnahme auffordere und Empfehlungen über die zu ergreifenden Maßnahmen ausspreche. Diese Korrespondenz und die Antwort des Staates bleibt zunächst vertraulich, wird aber nach 60 Tagen auf der Website des Hochkommissariats veröffentlicht. In dringenden Fällen besteht zudem die Möglichkeit, über eine Pressemitteilung die Öffentlichkeit zu informieren. Als Sonderberichterstatter übe ich allerdings keinerlei richterliche Funktion aus, und meine Schlussfolgerungen und Empfehlungen sind für die Staaten nicht verbindlich.

Von den eingereichten Interventionsgesuchen können wir selbst im besten Fall nur etwa jedes zehnte behandeln. Mehr ist zu dritt einfach nicht zu schaffen, denn wir müssen ja auch noch offizielle Länderbesuche vorbereiten, Berichte schreiben und den Austausch mit anderen Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte pflegen, allen voran mit den anderen UNO-Sonderberichterstattern, Arbeitsgruppen und Ausschüssen. Das führt dazu, dass wir tagtäglich Prioritäten setzen und bedrückende Entscheidungen treffen müssen, ohne lange darüber nachdenken zu können. Im Zweifel wählen wir stets die dringlichen Fälle aus, bei denen eine drohende Menschenrechtsverletzung möglicherweise noch verhindert werden kann. Pro Jahr führen die erhaltenen Gesuche je nach Arbeitsaufwand zu zwischen 100 und 200 offiziellen Interventionen. Davon bleibt in der Regel rund ein Drittel unbeantwortet. Beim Rest bekommen wir zwar eine Rückmeldung, doch bleibt diese mit Blick auf den bezweckten Menschenrechtsschutz fast immer ungenügend. Oft erhalten wir von den Staaten mehrseitige Schreiben voller Floskeln und Zusicherungen, allerdings ohne dass uns die verlangten Auskünfte erteilt oder die völkerrechtlich gebotenen Untersuchungen und Maßnahmen durchgeführt werden. Im Endeffekt werden festgestellte Missstände in den allermeisten Fällen weder anerkannt noch geahndet oder korrigiert, von einer Entschädigung der Opfer ganz zu schweigen. Und das gilt leider nicht nur für Staaten, bei denen man Menschenrechtsverletzungen ohnehin erwarten würde. Gerade auch reife Demokratien, die stolz auf ihre rechtsstaatlichen Traditionen verweisen, nehmen es mit den Menschenrechten plötzlich nicht mehr so genau, wenn es darum geht, vermeintlich »essenzielle« wirtschafts- und sicherheitspolitische Interessen zu schützen.

Nur knapp zehn Prozent meiner Interventionen erhalten die vom Menschenrechtsrat verlangte »volle Kooperation« mit meinem Mandat und werden zu einem zufriedenstellenden Abschluss gebracht. Eine traurige Erfolgsquote, auch wenn man diejenigen Gesuche unberücksichtigt lässt, die aus Ressourcenmangel gar nicht erst behandelt werden können. Dass dieser Trend seit der Schaffung meines Mandates im Jahr 1985 weitgehend unverändert geblieben ist, lässt das regelmäßig gefeierte Bekenntnis aller UNO-Mitgliedstaaten zum universellen Folterverbot in einem mehr als zweifelhaften Licht erscheinen. Ein ernsthafter Dialog zu Einzelfällen, der über diplomatische Floskeln hinausgeht, wird von den Staaten kaum je gewünscht. Denn das würde ihnen eine echte Verhaltensänderung und unbequeme Entscheidungen abverlangen, zu denen sie in aller Regel nicht bereit sind.

Wegen der starken Überlastung meines Büros verweise ich Gesuchsteller, wo immer möglich, an andere Institutionen und Behörden, die über größere Ressourcen verfügen und die einzelnen Fälle besser über längere Zeit begleiten können. So ist es etwa nicht der Sinn meines Mandates, die Untersuchungsbehörden von funktionierenden Rechtsstaaten zu ersetzen, solange man sich in dem betreffenden Fall auch tatsächlich auf den Schutz der Polizei und der Gerichte verlassen kann. Diese Abwägung muss immer mit großer Sorgfalt gemacht werden, denn auch in reifen Demokratien können die Dinge in Schieflage geraten – beispielsweise wenn Verdächtigte mit sogenannter »Beugehaft« zu einem Geständnis gezwungen werden sollen; wenn missbräuchliche Polizeigewalt nicht streng genug beurteilt und geahndet wird oder wenn sich jemand von einer Auslieferung oder Abschiebung in einen Staat bedroht sieht, in dem er einem realen Folterrisiko ausgesetzt wäre.

Anders sieht es mit Gesuchen aus Staaten aus, in denen die Polizei und die Geheimdienste regelmäßig Menschen auf offener Straße entführen und verschwinden lassen. Melden sich dann die Angehörigen bei mir, kann ich ihnen natürlich schlecht den Rat geben, sich erst einmal vertrauensvoll an die Behörden vor Ort zu wenden. Es gilt also immer, genau abzuwägen und auf der Hut zu sein. Ich darf nicht zulassen, dass mein Mandat für politische oder sonstige sachfremde Zwecke missbraucht wird. Der Verlust meiner eigenen Glaubwürdigkeit wäre dabei noch nicht einmal das Schlimmste. Das Mandat selbst könnte irreparablen Schaden nehmen.

Gefangen in meinen eigenen Vorurteilen

Und nun also ein Hilfegesuch von Julian Assanges Anwälten? Irgendwann im Laufe der nächsten Stunden überflog ich die eingegangene Mail schließlich doch. Man versuchte offenbar zu argumentieren, dass die Lebensbedingungen von Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London, wo er sich seit Juni 2012 aufhielt, das Verbot unmenschlicher Behandlung verletzten und damit in den Bereich meines Mandats fielen. Ich las das, aber ich war von vornherein nicht überzeugt und nahm die Mail einfach nicht ernst. Die Möglichkeit, Assange könne tatsächlich misshandelt werden, kam mir gar nicht in den Sinn. Ich konnte mir schon vorstellen, dass es ihm in der Botschaft nicht mehr gefiel und dass es ihm vielleicht auch gesundheitlich nicht sehr gut ging. Sechs Jahre sind eine lange Zeit, wenn man ein Haus nicht verlassen kann. Aber gleichzeitig wirkten wohl auch die Überschriften der großen Zeitungen in mir nach, die ich in den letzten Jahren beinahe unbewusst absorbiert hatte: Assange, der feige Vergewaltiger, der sich weigert, sich den schwedischen Behörden zu stellen. Assange, der Hacker und Spion, der sich in der ecuadorianischen Botschaft Recht und Gesetz entzieht. Assange, der rücksichtslose Narzisst, Verräter und Schmierfink. Und immer so fort.

Erst später wurde mir klar, wie sehr meine Wahrnehmung von Vorurteilen verzerrt gewesen war. Durch die jahrelange, bewusst kaum wahrgenommene Berieselung durch reißerische Schlagzeilen und tendenziöse Berichterstattung hatte sich in mir eine emotional tief verankerte Meinung gebildet, von der ich überzeugt war, sie beruhe auf gesicherten Fakten. So sah ich auch nach der Lektüre der Mail keinen Grund, mich mit Julian Assange ernsthaft zu befassen. Manufacturing consent haben Edward Herman und Noam Chomsky bereits Ende der 1980er-Jahre das Kommunikationsmodell der amerikanischen Massenmedien genannt, das seither längst globalisiert worden ist. Sie haben gezeigt, wie Selbstzensur, vorauseilender Gehorsam und wirtschaftliche Sachzwänge viele Medienhäuser zu einer geglätteten Berichterstattung im Sinne eines allgemein akzeptierten Konsenses veranlassen. So war es auch im Fall Assange. Das offizielle Narrativ funktionierte. Auch bei mir.

Die Ironie war schlagend – da saß ich also und schrieb an meinem Bericht über den Zusammenhang zwischen Korruption und Folter und bemerkte nicht einmal, dass das Interventionsgesuch von Assanges Anwälten mir geradezu ein Paradebeispiel für mein Thema vor Augen führte. Denn im Fall von Julian Assange geht es in erster Linie um politische Korruption; hier wurden und werden rechtsstaatliche Institutionen und Verfahren für politische Zwecke missbraucht – für die Unterdrückung der Presse- und Informationsfreiheit; für die Straflosigkeit von Folter und Kriegsverbrechen; für die politische Verfolgung von Dissidenten und für die Geheimhaltung von Machenschaften der Behörden, die in jedem demokratischen Rechtsstaat ans Licht der Öffentlichkeit gehören.

Ich war nicht der Einzige bei der UNO, den Assanges Anwälte Ende 2018 kontaktierten. Auch der Sonderberichterstatter zur Lage von Menschenrechtsverteidigern und die UNO-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen (Working Group on Arbitrary Detention, WGAD) wurden angeschrieben. Zusammen veröffentlichten sie am 21. Dezember 2018 eine Pressemitteilung mit der Überschrift: »UNO-Experten fordern Großbritannien dazu auf, seine Rechtsverpflichtungen einzuhalten und Julian Assange zu erlauben, die ecuadorianische Botschaft in London unbehelligt zu verlassen.«

Ich gehörte nicht zu den unterzeichnenden Experten. Ich hatte das Schreiben von Assanges Anwälten mehr oder weniger achtlos ad acta gelegt und auch die Pressemitteilung kaum wahrgenommen. Wie für die meisten Menschen auf dieser Welt war Assange auch für mich einfach ein Vergewaltiger, Hacker, Spion und Narzisst. Wie die meisten Menschen auf dieser Welt hatte ich das sichere Gefühl, die Wahrheit über ihn zu kennen, auch wenn ich nicht wirklich wusste, woher. Es sollten noch drei Monate vergehen, bis sich meine Meinung grundlegend änderte.

2 Die gesellschaftliche Rolle von WikiLeaks

Collateral Murder – Der Krieg wird erfahrbar

Ich bin erst 2010 wirklich auf WikiLeaks aufmerksam geworden: eine Enthüllungsplattform, die ihr brisantes Material von Whistleblowern und anderen Quellen erhält und ihnen Anonymität und damit den Schutz vor Enttarnung und Verfolgung garantiert. Die Organisation legt Wert auf die Klarstellung, dass sie ihre Quellen selbst nicht identifizieren kann. WikiLeaks stellt eine verschlüsselte Datenübermittlungstechnologie zur Verfügung, welche eine Rückverfolgung unmöglich macht, ganz im Dienst des Cypherpunk-Mottos »Privatsphäre für die Schwachen, Transparenz für die Mächtigen«. So entstand ab dem Jahr 2006 ein öffentlich zugängliches Archiv vormals geheim gehaltener Dokumente, dessen wachsende Inhalte mächtige Regierungen, Unternehmen und Organisationen mehr und mehr zu fürchten lernten. Enthüllt wurden beispielsweise die Korruption der kenianischen Regierung, das Giftmüll-Dumping des Trafigura-Konzerns in der Elfenbeinküste, die Methoden von Scientology, die Richtlinien der US-Armee für die Behandlung von Guantanamo-Häftlingen und die zweifelhaften Geschäftsgebaren der Schweizer Bank Julius Bär. Erste Coups, aber noch weit entfernt von der Wucht des Kommenden.

Doch dann kam Collateral Murder – ein 18-minütiges Video, welches Julian Assange am 5. April 2010 im Washingtoner National Press Club der Weltöffentlichkeit präsentierte. Es beginnt mit einem Zitat von George Orwell: »Die Sprache der Politik dient dazu, Lügen wahr klingen zu lassen und Mord respektabel, und um dem reinen Wind den Anschein von Solidität zu geben.« Danach folgen nur noch verstörende Bilder in Schwarz-Weiß. Collateral Murder versetzt den Zuschauer direkt in einen US-Kampfhubschrauber hinein, der im Tiefflug über dem Häusermeer von Bagdad kreist. Es ist der 12. Juli 2007, ein weiterer Tag in einem unseligen Besatzungskrieg, dessen Berichterstattung bis dahin fast ausschließlich von der westlichen Militärkoalition dominiert wird. Nun wähnt man sich plötzlich selbst vor Ort und sieht alles aus der Echtzeitperspektive des Bordkanonen-Schützen. Funksprüche gehen hin und her. Irgendwo am Boden, außerhalb des Blickfelds, sind amerikanische Truppen unterwegs, und die Umgebung wird aus der Luft nach Aufständischen und anderen potenziellen Gefahren abgesucht. Plötzlich meldet die Hubschraubercrew etwa zwanzig Männer, die in mehreren kleinen Gruppen auf der Straße zusammenstehen. Dann sieht man sie. Alle tragen zivile Kleidung, und die meisten von ihnen sind eindeutig unbewaffnet. Zwei der Männer haben etwas um die Schulter gehängt, was von der Form und Größe her mit Sicherheit keine Gewehre sein können – Journalisten mit Fotokameras, wie sich später herausstellt –, und zwei scheinen Sturmgewehre oder ähnliche Langwaffen zu tragen. Alle bewegen sich sorglos, reden miteinander, einige überqueren die offene Straße – es ist offensichtlich, dass sie nicht im Begriff sind, in Deckung zu gehen oder einen Hinterhalt vorzubereiten. Auch andere Passanten scheinen alltäglichen Geschäften nachzugehen. Niemand scheint die zwei Hubschrauber zu bemerken. Die Crew meldet über Funk: »Wir haben fünf bis sechs Individuen mit AK-47s [Anmerkung: Sturmgewehre des Typs Kalaschnikow]. Bitte um Erlaubnis, das Feuer zu eröffnen«. Wenige Sekunden später kommt die Feuererlaubnis, doch im letzten Augenblick schiebt sich – bedingt durch die Flugbahn – ein Gebäude zwischen Bordkanone und Menschengruppe. Während der Hubschrauber in der Distanz seinen Kreis zieht und sich wieder in Position bringt, wird das erhobene Teleobjektiv eines Journalisten noch mit einer schussbereiten Panzerfaust verwechselt. Kurz darauf ist die Sicht wieder frei, und der Schütze eröffnet das Feuer. Zehn Männer werden richtiggehend niedergemäht, einige versuchen noch zu entkommen, doch der Schütze fängt sie mit der nächsten Salve ab, und nach weniger als 30 Sekunden liegen alle tot oder schwer verwundet am Boden. Der Hubschrauber kreist weiter um die Einsatzstelle, und man hört die Soldaten kommentieren: »Hahaha, ich hab sie gekriegt«. – »O ja, schau dir die toten Bastarde an.« – »Hübsch.« – »Gut geschossen.« – »Danke.«

Wenig später kommt ein Schwerverletzter ins Blickfeld, der kriechend versucht, sich in Sicherheit zu bringen – vergeblich, in seiner Hilflosigkeit kommt er nicht vom Fleck. »Da unten bewegt sich einer, aber er ist verwundet«, meldet die Crew. »Roger, wir gehen hin«, antworten die Bodentruppen. »Roger, wir machen Feuerpause«, sichert die Crew darauf zu. Offenbar bestand zunächst durchaus die Absicht, den Verwundeten zu bergen, so wie es das Kriegsvölkerrecht verlangt. Kurz darauf meldet sich die Crew wieder: »Er versucht aufzustehen.« – »Hat er vielleicht eine Waffe in der Hand?« – »Nein, ich habe noch keine gesehen.« Der Verwundete schafft es allerdings nicht einmal, sich hochzustemmen, sondern bricht gleich wieder zusammen. »Komm schon, Kumpel«, kommentiert der Schütze und richtet das Fadenkreuz auf den Verletzten. »Jetzt musst du nur noch nach einer Waffe greifen.« Doch der Verwundete tut ihm den Gefallen nicht. Wie sich später herausstellt, handelt es sich um den 40-jährigen Reuters-Journalisten Saeed Chmagh. Weniger als eine Minute später fährt ein ziviler Minibus heran, der Fahrer steigt aus und versucht zusammen mit zwei anderen Männern, den Verwundeten zu bergen. Alle drei Retter tragen Zivilkleidung und sind eindeutig unbewaffnet. Aufgeregt meldet die Hubschraubercrew: »Wir haben einen Minibus, der sich nähert … möglicherweise, um Leichen und Waffen aufzulesen. Kann ich schießen?« – Einige Sekunden später kommt die für die rechtliche Beurteilung entscheidende Rückfrage: »Die Verwundeten werden aufgelesen?« – »Ja, wir versuchen, Feuererlaubnis zu erhalten.« – »Komm schon, lass uns schießen!« Man sieht, wie der Verletzte zum Minibus getragen wird. Dann kommt die Feuererlaubnis, und der Bus wird mit der 30-Millimeter-Bordkanone regelrecht in Stücke geschossen. Der Fahrer und seine Rettungshelfer sind sofort tot. Seine fünfjährige Tochter und der zehnjährige Sohn werden auf der Rückbank des Minibusses schwer verletzt. Sie waren offenbar mit ihrem Vater auf dem Schulweg gewesen. Chmagh selbst erliegt kurz darauf seinen Verletzungen, auch er vierfacher Familienvater. Die Soldaten gratulieren sich wieder gegenseitig zur vollbrachten Tat, als handle es sich um einen Mannschaftssport. Als die Bodentruppen am Einsatzort ankommen und melden, dass sich unter den Verwundeten im Minibus auch zwei Kinder befinden, kommentiert die Crew nur: »Ah verdammt – o well.« Und dann, nach einer Pause, die von bleiernen Zweifeln beschwert gewesen sein dürfte: »Selber schuld, wenn sie ihre Kinder mit zum Schlachtfeld bringen.« – »Genau.« Gemäß US-Militär werden am Einsatzort später ein Sturmgewehr des Typs AK-47 gefunden, ein RPG-Raketenwerfer mit zwei Granaten sowie die Kameras der zwei getöteten Reuters-Journalisten.

Collateral Murder – Ein Kriegsverbrechen?

Ob die im Video Collateral Murder gezeigten Handlungen Kriegsverbrechen darstellen und wer dafür die persönliche Verantwortung trägt, sollte eigentlich von einem Gericht entschieden werden. Da eine gerichtliche Beurteilung jedoch bis heute nicht stattgefunden hat, stellt sich zu Recht die Frage, wie diese Unterlassung der US-Behörden einzuordnen ist. Hat WikiLeaks rechtmäßige Kriegshandlungen aus dem Kontext gerissen und unfair dramatisiert? Oder haben sich die amerikanischen Behörden tatsächlich der Vertuschung eines Mordes schuldig gemacht? Wenn ich nachfolgend hierzu meine persönliche Meinung darlege, dann geht es mir nicht in erster Linie darum, die Schuld oder Unschuld individueller Soldaten zu beurteilen. Vielmehr möchte ich damit gleich von Anfang an die Frage nach dem guten Glauben der Regierung in den Raum stellen und den Blick des Lesers dafür schärfen. Denn die Frage nach der Gutgläubigkeit staatlicher Behörden zieht sich wie ein rotes Band durch den gesamten Fall Assange und bietet dem Außenstehenden auch bei komplexen Sachverhalten stets eine verlässliche, objektive Orientierungshilfe.

Wenn ich mich aus kriegsvölkerrechtlicher Sicht zum Collateral-Murder-Video äußere, dann bin ich natürlich nicht unfehlbar, tue das aber dennoch mit einer gewissen Expertise und Erfahrung. Als ehemaliger Rechtsberater und Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und als Professor für Völkerrecht habe ich mich mehr als zwanzig Jahre lang intensiv mit der Praxis des Kriegsvölkerrechts befasst, insbesondere mit den Regeln über die Gewaltanwendung im Einsatz. Ich habe Hunderte von Operationen analysiert, sowohl auf dem Papier als auch vor Ort in verschiedenen Kriegsgebieten. Ich habe nicht nur Bücher und Fachartikel zum Thema geschrieben, sondern habe die Zerstörung und das Leiden des Krieges mit eigenen Augen gesehen und habe mit den verantwortlichen Einsatzkräften und Politikern ebenso gesprochen wie mit Zeugen, überlebenden Opfern und Hinterbliebenen. Und ich habe einen siebenjährigen internationalen Expertenprozess zur Klärung der Frage geleitet, unter welchen Bedingungen Zivilpersonen ihren kriegsvölkerrechtlichen Schutz verlieren und zu legitimen militärischen Zielen werden können – mithin die Schlüsselfrage, die sich bei der Analyse von Collateral Murder stellt.

Die für diesen Fall relevanten Grundregeln des Kriegsvölkerrechts klingen einfach: Soldaten und andere Kämpfer dürfen angegriffen werden, Zivilisten nicht. Sobald Kämpfer wegen Verwundung oder aus anderen Gründen »außer Gefecht« sind, dürfen sie nicht mehr angegriffen werden, sondern müssen unabhängig von Status und Zugehörigkeit geborgen und medizinisch versorgt werden. Zivilisten können ihren Schutz verlieren, wenn und solange sie unmittelbar an Kampfhandlungen teilnehmen. Ebenfalls geschützt sind Sanitäter und Rettungspersonal, die selbst nicht an Kampfhandlungen teilnehmen, unabhängig davon, ob sie zu den feindlichen Truppen gehören oder Zivilisten sind. Sie dürfen zum Zweck der Selbstverteidigung und zum Schutz der Verwundeten sogar Pistolen, Sturmgewehre und andere leichte Waffen mitführen. Auch die persönlichen Waffen von evakuierten Verwundeten dürfen von Rettungsdiensten eingesammelt und mitgeführt werden, solange sie nicht für Kampfhandlungen eingesetzt werden. In all diesen Fällen muss jede Person im Zweifel als geschützt betrachtet werden, darf also nur dann angegriffen werden, wenn die rechtlichen Kriterien dafür eindeutig erfüllt sind: entweder Kombattantenstatus oder unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten. Nun, da wir über das kriegsvölkerrechtliche Grundwissen verfügen, schauen wir uns Collateral Murder noch einmal an.

Der operationelle Kontext ist, dass zwei Apache-Kampfhubschrauber aus der Luft nach Aufständischen suchen, die ihre Bodentruppen angreifen könnten. Die Hubschrauber kreisen aber nicht – wie man von der Bildauflösung her vielleicht annehmen könnte – knapp hundert Meter über dem Einsatzort, sondern in rund eineinhalb Kilometer Distanz, sodass das Kamerabild durch ein hochsensibles und automatisch gesteuertes Teleobjektiv aufgenommen wird. Die Soldaten können also nicht einfach mit einem kurzen Blick durchs Fenster noch zusätzliche Details aufnehmen, sondern müssen sich auf das Kamerabild verlassen und dieses überdies in Echtzeit interpretieren. Anders als wir haben sie also nicht die Möglichkeit, sich die Szenen mehrmals anzusehen, sondern müssen innerhalb von Sekunden entscheiden, ob sie eine Gefahrenquelle für ihre Bodentruppen identifiziert haben, die bekämpft werden muss. Die Rechtmäßigkeit eines Angriffes muss daher immer danach beurteilt werden, was von einem korrekt handelnden Soldaten unter den vorherrschenden Umständen vernünftigerweise erwartet werden kann und muss.

Der Einsatz findet nun nicht über einem offenen Schlachtfeld statt, sondern über einem Stadtteil von Bagdad: einem dicht besiedelten Gebiet, in dem der allergrößte Teil der Bevölkerung zwangsläufig aus geschützten Zivilisten besteht. Wie man an der Schattenlänge erkennen kann, ist es helllichter Tag, und die Sicht ist klar. Es sind keine bewaffneten Konfrontationen im Gange, und es besteht offenbar keine Ausgangssperre – die Soldaten müssen in dieser Umgebung und zu dieser Tageszeit also überall mit zivilen Passanten rechnen. Seit der amerikanisch-britischen Invasion ist die öffentliche Ordnung im Irak weitgehend zusammengebrochen. Wegen der ständigen Gefahr von Plünderungen sah sich die amerikanische Besatzungsmacht im Jahr 2003 sogar gezwungen, der irakischen Zivilbevölkerung den Besitz von Sturmgewehren zu Zwecken der Verbrechensabwehr ausdrücklich zu erlauben. Im Jahr 2007 sind Kalaschnikows in irakischen Privathaushalten daher so weit verbreitet, dass sogar das öffentliche Mitführen einzelner Waffen nicht ohne Weiteres bereits als Ausdruck »feindlicher Absichten« interpretiert werden kann. Das gilt zugegebenermaßen zwar nicht für RPG-Raketenwerfer, doch wurde die Feuererlaubnis im vorliegenden Fall eindeutig bereits aufgrund des angeblichen, eher salopp berechneten Verdachts von »fünf bis sechs Personen mit AK-47s« gegeben. Einzig die nach der Feuererlaubnis erfolgte Verwechslung einer Kamera mit einem Raketenwerfer könnte allenfalls noch als gutgläubige – wenn auch irrtümliche – Feststellung einer »feindlichen Absicht« interpretiert werden. Doch auch dieser vermeintliche Raketenwerfer ist beim Eröffnen des Feuers bereits nicht mehr zu sehen und das Sturmgewehr ebenfalls nicht. Ein Angriff auf den Hubschrauber oder die Bodentruppen steht offensichtlich nicht unmittelbar bevor, und der Status dieser Männer ist bestenfalls zweifelhaft. Man kann also nicht von der für einen Angriff notwendigen positive identification eines legitimen Ziels oder einer unmittelbaren Bedrohung ausgehen. In dieser Situation müsste ein korrekt handelnder Schütze zumindest innehalten, um ein klareres Bild zu erhalten. Dass stattdessen eine Gruppe von zehn augenscheinlich unbewaffneten Männern massakriert wird, kann bestenfalls als ein leichtfertiger, unprofessioneller und menschenverachtender Fehler bezeichnet werden. Ganz nach dem Motto: »Zuerst schießen und dann fragen!« Schlimmstenfalls müsste man auch hier bereits von der vorsätzlichen Tötung vermutungsweise geschützter Personen ausgehen – also einem Kriegsverbrechen.

War der erste Angriff bestenfalls fahrlässig, so ist der zweite ohne jede Frage kriminell. Wie die Funksprüche zeigen, wissen die Soldaten genau, dass sie den verwundeten Chmagh nicht angreifen dürfen. Sie suchen aber geradezu nach einem Vorwand, betteln ihn fast an, er möge doch nach einer Waffe greifen, damit sie ihn erschießen dürfen. Als Soldaten im Kriegseinsatz wissen sie natürlich auch – oder müssten zumindest wissen –, dass Sanitäter und andere Lebensretter kriegsvölkerrechtlich geschützt sind, und zwar unabhängig von einer offiziellen Kennzeichnung oder Zugehörigkeit zu einem Sanitätsdienst. Im gegebenen Fall ist offensichtlich, dass es den unbewaffneten Helfern nur um lebensrettende Maßnahmen geht. Kriegsvölkerrechtlich könnte das Bergen von Verwundeten nicht einmal dann als »feindlicher Akt« betrachtet werden, wenn dabei – anders als hier – auch noch persönliche Waffen der Verwundeten eingesammelt würden. Überdies werden die amerikanischen Bodentruppen wenige Augenblicke später am Einsatzort eintreffen und könnten die Situation problemlos unter Kontrolle bringen. Vor dem Hintergrund dieser unbestrittenen Fakten muss der Angriff auf den verwundeten Chmagh und seine Retter jedoch nicht nur als fahrlässiger Irrtum, sondern als vorsätzlich begangenes Kriegsverbrechen qualifiziert werden.

Die Soldaten wussten das, ihre Kommandanten wussten das und genauso das US-Verteidigungsdepartement. Dass die Armeeführung ihre interne Untersuchung dennoch mit der Schlussfolgerung abschloss, die verantwortlichen Soldaten hätten das Kriegsvölkerrecht respektiert, und dass es weder zu einer Strafverfolgung noch zu Entschädigungszahlungen kam, lässt tief blicken. Nicht nur machten sich die Vorgesetzten dadurch wohl selbst der Komplizenschaft mit einem Kriegsverbrechen schuldig, sie verrieten damit auch die Rechtsordnung ihres eigenen Landes, den Ruf ihrer eigenen Streitkräfte sowie das Vertrauen und die Sicherheit ihrer eigenen Bevölkerung. Ginge es nach der US-Regierung, hätte die amerikanische Öffentlichkeit nie etwas von diesem Mord erfahren, denn das Video war dazu bestimmt, für immer im schwarzen Loch der Staatsgeheimnisse zu verschwinden. So wie die »Pentagon Papers«, die während des Vietnamkrieges die absichtliche Täuschung der amerikanischen Öffentlichkeit durch die Regierung enthüllten. So wie die Foltervideos, welche die spätere CIA-Direktorin Gina Haspel als Kommandantin eines thailändischen black site zerstören ließ. So wie die noch unveröffentlichten Fotos aus dem Gefängnis Abu Ghraib, auf denen die sadistische Folter, Vergewaltigung und Erniedrigung wehrloser Gefangener in abstoßenden Details zu sehen sein soll. So wie der Bericht des US-Senatsausschusses, der auf 7000 Seiten die persönlichen und institutionellen Verantwortlichkeiten für die systematische Folterpraxis der CIA feststellt.

All das darf Amerikas Öffentlichkeit nicht wissen, und die Weltöffentlichkeit schon gar nicht. Denn die strafrechtliche Verantwortlichkeitskette für diese Verbrechen endet nicht bei den unteren Rängen derjenigen, die die schmutzige Arbeit vollbringen, sondern führt in fein tapezierte Büros mit dicken Teppichen. Also wird die Öffentlichkeit schamlos angelogen: Es gehe um die »nationale Sicherheit« und den »Schutz anständiger Männer und Frauen in Uniform« und nicht um die Straflosigkeit von Mördern, Folterern, Vergewaltigern und – vor allem – ihrer Vorgesetzten. Die Whistleblower seien »Landesverräter« und nicht die Kriegsverbrecher und ihre Vorgesetzten. Die Enthüllungsjournalisten handelten »unverantwortlich« und nicht die verlogenen Behörden. Allfällige Missetäter seien isolierte »schwarze Schafe« und nicht Sündenböcke für systemische Missstände. Die Öffentlichkeit glaubt das alles gerne, denn die Wirklichkeit eines breiteren Systemversagens anzuerkennen wäre zu bedrohlich, zu verunsichernd, zu anstrengend. Es ist dieser Hang zur Bequemlichkeit, Konformität und Selbsttäuschung, welcher verantwortlich ist für das Scheitern des wohl wichtigsten WikiLeaks-Slogans: »Wenn Kriege durch Lügen begonnen werden können, können sie durch die Wahrheit beendet werden.« Das Problem ist in der Regel allerdings nicht, dass wir Menschen die Wahrheit nicht kennen, sondern dass wir sie nicht kennen wollen.

Zum Unterschied zwischen Vertraulichkeit und Geheimhaltung

Collateral Murder hat die Weltöffentlichkeit aufgerüttelt. Das Video holt einen Ausschnitt aus dem alltäglichen Töten des Irakkriegs so nah heran, dass es fast nicht auszuhalten ist. Jede Sekunde des Videos schreit einen geradezu an: Schau hin, das ist das wahre Gesicht des Krieges. Von nun an kannst du nicht mehr sagen, du hättest von nichts gewusst. Von nun an bist du mit-wissend und daher auch mit-verantwortlich für das, was deine Regierung mit deinen Steuergeldern tut. Blindes Vertrauen in die an Pressekonferenzen, auf Behördenwebsites und in Sonntagsreden verbreiteten offiziellen Narrative geht nun nicht mehr.

Doch Collateral Murder ist nur der Auftakt zu einer wahren Flut von WikiLeaks-Enthüllungen in diesem Jahr 2010. Dabei kooperiert Assange mit renommierten Tageszeitungen und Wochenzeitschriften, allen voran mit der New York Times, dem Guardian, dem Spiegel, Le Monde und El País. Die schiere Fülle des zu bewältigenden Materials verlangt die Unterstützung durch professionelle journalistische Strukturen: 90 000 Dateien mit Feldberichten aus dem Afghanistankrieg, mehrere Hunderttausend aus dem Irakkrieg und ab November dann noch eine Viertelmillion Depeschen US-amerikanischer Botschaftsmitarbeiter aus allen Ländern der Erde. Wichtig ist, dass auf Anweisung von Assange allen diesen Publikationen ein rigoroser »Schadensminimierungsprozess« vorangeht, bei dem Namen von potenziell gefährdeten Personen einzeln zensiert werden. So hält Assange bereits bei der Veröffentlichung des Afghan War DiaryGuardian