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Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Vorwort und Kommentaren versehen von Abt Muho
Die Originalausgabe erschien 1997 und 2009 unter dem Titel 子供のための哲学対話 – Kodomo no tame no tetsugaku taiwa bei Kodansha Ltd., Tokio.
© 2009 by Kodansha Ltd., Tokyo
Publication rights for this German edition arranged through Kodansha Ltd., Tokyo.
Für die deutsche Ausgabe sowie die Einleitung und die Kommentare von Abt Muho
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2021
Für das Interview mit Saori Tanaka
© Nakanishi Verlag, Tokio 2016
Für das Gedicht »Lichtung« von Ernst Jandl
© Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München 2016
Illustrationen: Kazuhiro Uchida
Redaktion: Oliver Kobold
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: zero-media.net
Covermotiv: Kazuhiro Uchida
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Es gibt Dinge, über die viele nicht nachzudenken oder zu sprechen wagen. Nicht zufällig ist Penetre, die zentrale Figur dieses Buches, ein Kater: Er kann es sich leisten, die Dinge so zu benennen, wie sie sind. »Was ist Glück?«, »Warum lebt der Mensch?«, »Was passiert, wenn wir sterben?«
Das sind nur einige der fast 40 Fragen, die sich wahrscheinlich jeder irgendwann, irgendwo einmal stellt.
Hitoshi Nagai wurde 1951 in Tokio geboren. Er zählt zu den bekanntesten japanischen Philosophen, wohl auch, weil sich seine Bücher nicht nur an ein ausschließlich akademisches Publikum richten. 1995 erschien von ihm Shotas Sommerferien: philosophische Gespräche zwischen einem vierzehnjährigen Schüler und seinem auf den Namen »Insight« getauften Kater.
1996 veröffentlichte Nagai seine Philosophie für Kinder, ehe dann ein Jahr später sein bis heute erfolgreichstes und auch am leichtesten zugängliches Buch erschien – das vorliegende Penetre & ich. Darin begibt sich wiederum ein Mittelschüler zusammen mit einem sprechenden Kater auf Gedankenexkursion.
Japanischen Lesern war ein solches vernunftbegabtes Tier nicht fremd. Jedes Kind kennt in Japan Ich der Kater, einen literarischen Klassiker von Natsume Soseki. Darin blickt der vierbeinige Erzähler hinter die Kulissen der Menschenwelt und entlarvt die Absurditäten des Daseins, die wir, die vermeintlichen Herrchen und Frauchen der Welt, oft nicht mehr zu erkennen in der Lage sind.
Penetre & ich trägt im japanischen Original den rein beschreibenden Titel Philosophische Dialoge für Kinder. Wie jede Philosophie in Dialogform verweist auch Nagais Buch zumindest indirekt auf das große antike Vorbild der sokratischen Dialoge. Wie viel von Sokrates steckt im Kater Penetre? Eine ganze Menge, würde ich sagen, zumindest was die Art der Gesprächsführung betrifft. Auch Penetre möchte seinen jugendlichen Gesprächspartner Vorurteile, Irrtümer und blinde Flecken selbst erkennen lassen und ihn so zum Wissen führen. Und mit ihm, im besten Fall, auch den Leser von Nagais Buch.
Zumindest bei mir hat Penetres Dialogkunst einen fortwährenden Reflexionsprozess angestoßen. Im Geiste führte ich die Dialoge mit dem Kater fort. Nun war ich der Vierzehnjährige, der Fragen stellte und Einspruch erhob. Und ich bildete mir ein, mich dabei noch geschickter als der Junge im Buch anzustellen, hartnäckiger und herausfordernder zu sein. Unter keinen Umständen wollte ich klein beigeben. Ich versuchte, die Dialoge auf meine ganz persönliche Weise fortzuschreiben.
Ein Ergebnis dieser Überlegungen bildet das Nachwort zu diesem Buch. Dabei handelt es sich weniger um einen zusammenhängenden Text als vielmehr um kleine Kommentare zu bestimmten Kapiteln und Passagen. Vielleicht, so meine Hoffnung, können sie ja ihrerseits dazu anregen, über die eine oder andere Themenstellung weiter und vor allem wiederum anders als ich und damit ganz neu nachzudenken.
Ein weiterer Dialog, nämlich ein Gespräch zwischen Nagai und seiner Schülerin Saori Tanaka, beschließt das Buch. In ihm erfährt man auch etwas über den autobiografischen Hintergrund von Penetre & ich.
Mitte der 1990er-Jahre, als Nagais Buch erschien, steckte Japan in einer tiefen Krise. Der Traum vom ewigen Wirtschaftswachstum und einem »japanischen Modell« für das 21. Jahrhundert war geplatzt, ein Ende der Rezession nicht abzusehen. Zunehmend begannen die Jugendlichen, die Werte der Nachkriegsgeneration zu hinterfragen. Bislang waren Leistung, Disziplin und Fleiß stets wichtiger erschienen als Versuche, sich auf eher abstrakte Weise dem Sinn des Lebens zu nähern. Doch das begann sich nun zu ändern. Die Jugend stellte ihre eigenen Fragen: Was bedeutet Glück? Warum muss man zur Schule gehen? Welchen Sinn hat Arbeit? Muss man etwas tun, auch wenn es keinen Spaß macht? Warum bin ich überhaupt auf der Welt?
Im Frühjahr 1995 forderte ein Erdbeben in Kobe mehr als 6000 Menschenleben. Nur kurze Zeit später kam es zu einem Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn. Das Nervengas Sarin tötete zwölf Menschen, mehrere Tausend wurden verletzt. Erste Gerüchte, rechtsextreme Gruppierungen oder gar der amerikanische CIA könnten hinter dem Anschlag stecken, bewahrheiteten sich nicht. Vielmehr hatten Angehörige des Aum-Shinrikyo, einer buddhistisch-hinduistisch inspirierten religiösen Gemeinschaft mit Hauptsitz unweit des Fuji-Berges, über Jahre hinweg das Giftgas selbst produziert, den Anschlag akribisch geplant und schließlich ausgeführt. Viele Anhänger der Sekte, die auch heute noch unter dem Namen Aleph aktiv ist, hatten an den besten Universitäten des Landes studiert, waren Ärzte oder Anwälte gewesen, bevor sie sich dem Guru Shoko Asahara anschlossen. Der war, noch in den Achtzigerjahren, zunächst als Yogi bekannt geworden. Auf einem Foto sieht man ihn meditieren – knapp zehn Zentimeter über dem Boden schwebend. Später ging Asahara auf Reisen. Er schaffte es sogar, sich mit dem Dalai Lama ablichten zu lassen. »Du musst die Japaner den wahren Buddhismus lehren!«, soll ihm dieser der Legende nach geraten haben.
Ich kann mich noch gut an die Asahara-Poster auf dem Gelände der Universität Kyoto erinnern, wo ich 1990 studiert habe. Als ich meinen japanischen Kommilitonen erzählte, dass ich nach Japan gekommen sei, um Zen-Mönch zu werden, bekam ich des Öfteren zu hören: »Zen? Wie altmodisch! Geh doch lieber zu den Aum-Leuten, da ist mehr dran als am traditionellen japanischen Buddhismus!«
Vielleicht habe ich einfach nur Glück gehabt, dass mich mein Weg nach Antaiji geführt hat, in ein Zen-Kloster, das der eher konservativen Soto-Schule angehört. Im dritten Jahr meiner Novizen-Ausbildung erreichte uns die Nachricht vom Giftgasanschlag in Tokio:
»Was, die waren das!?«
Bei meinen Klosterbrüdern war die Überraschung groß. Geschichten von Ehemaligen, die vor Jahren das Kloster über Nacht verlassen hatten, um sich dem Asahara-Kult anzuschließen, machten die Runde. Vermutlich auch deshalb bekamen wir in den nächsten Monaten ab und zu Besuch von der Polizei. Sie wollte sich davon überzeugen, dass wir keinem der flüchtigen Täter bei uns im Kloster Unterschlupf gewährten.
Doch über allem schwebte eine ganz andere Frage, die nicht nur die Mönche in Antaiji umtrieb: Trug nicht auch die japanische Gesellschaft und damit jeder, der in ihr lebte, einen Teil der Verantwortung für den schrecklichen Anschlag? Wäre es nicht die Aufgabe der Schulen, der Medien und vor allem der Religion gewesen, Antworten zu finden auf die Hilflosigkeit jener jungen Japaner, die nicht länger an das Märchen vom neuen Wirtschaftswunder glauben konnten?
Zwei Jahre später, 1997, saßen die für den Anschlag Verantwortlichen hinter Gittern. Auch im Fernsehen war längst wieder Alltag eingekehrt und mit ihm die übliche Mischung aus Quiz-, Reise- und Kochsendungen. Da folgte die nächste erschütternde Nachricht: In Kobe wurde der abgetrennte Kopf eines Grundschülers vor einem Schultor gefunden. In seinem Mund steckte ein Zettel: »Das Spiel hat begonnen, haltet mich auf, wenn ihr könnt!«
Die Mordrate in Japan liegt gefühlt nur knapp über derjenigen von Vatikanstadt. Kein Wunder, dass das ganze Land heftig auf die Tat reagierte. Die Polizei tat ihr Bestes, tappte aber zunächst völlig im Dunkeln. Die Schriftzeichen auf dem Zettel konnten nicht zugeordnet werden, und auch die Tat selbst ähnelte keinem anderen Mord in der Vergangenheit.
Nach zehn Tagen ging bei einer lokalen Zeitung ein anonymes Bekennerschreiben ein. Darin hieß es unter anderem:
»Bis heute war ich eine unsichtbare Existenz, und daran wird sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. Ich bitte Euch, mich wenigstens in Eurer Vorstellung zu einem real existierenden Menschen zu machen. Gleichzeitig solltet Ihr nicht vergessen, dass diese Tat eine Rache an der schulischen Erziehung ist, die mich zu dieser unsichtbaren Person gemacht hat, und an der Gesellschaft, die mir die Schulpflicht auferlegt hat.«
Der dies schrieb, wurde schließlich doch gefasst. Und wieder stand die Gesellschaft für einen Moment still. Denn beim Täter handelte es sich um einen gerade einmal vierzehn Jahre alten Mittelschüler, wohnhaft in der Nähe der Schule, völlig unauffällig in seinem Alltag.
Vierzehn Jahre. Damit war der Täter genauso alt wie die Protagonisten in Nagais Büchern. Wie hatte es zu diesem Mord kommen können? Was war schiefgelaufen? Handelte es sich lediglich um eine bizarre Einzeltat, oder steckte mehr dahinter, eine generelle Erkrankung der Gesellschaft? Überlegt wurde in alle Richtungen. Musste das japanische Erziehungssystem reformiert werden? Lag es an der allgegenwärtigen Pornografie in den Manga-Heften? Oder war die Aufweichung traditioneller Werte durch die westliche Kultur der Grund?
In einer Diskussionsrunde, in der Politiker, Erziehungswissenschaftler und auch einige Prominente mit Jugendlichen über diese Themen ins Gespräch kommen sollten, machte die Frage eines Jungen die versammelten Erwachsenen sprachlos:
»Warum darf man eigentlich nicht morden?«
Dieser Frage sollte man in den folgenden Jahren immer häufiger begegnen. Auch im philosophischen Diskurs. Nagai beantwortet sie im vorliegenden Buch auf seine Weise. Ohne zu viel verraten zu wollen, möchte ich dennoch den Leser vorwarnen: Es handelt sich dabei um eine durchaus beunruhigende Antwort, die nicht wenig zur Bekanntheit des Autors in Japan beigetragen hat.
Der Mensch lebt nur zum Vergnügen.
Du musst nicht zur Schule gehen.
Du darfst lügen.
Der Wal ist ein Fisch.
Die Erde ist nicht rund.
…
Das behauptet zumindest Penetre. Was denkst du?
»Penetre« heißt der Kater, der uns vor drei Jahren, als ich noch in der fünften Klasse war, zugelaufen ist. Alles an diesem Kater ist so seltsam wie sein Name. Beispielsweise spricht er die Sprache der Menschen. Aber auch das, was er sagt, ist sonderbar. Denn wovon normale Menschen sprechen, davon spricht er nie. Noch kein einziges Mal habe ich ihn etwa sagen hören, dass er hungrig sei oder müde. Stattdessen spricht er über Fragen wie: »Warum lebt der Mensch?« Oder: »Muss man zur Schule gehen?«
Penetres Meinungen unterscheiden sich vollkommen von denen der Menschen. Wenn man sie hört, kann es schon mal vorkommen, dass einem die Spucke wegbleibt. Aber je länger man dann über sie nachdenkt, desto mehr überzeugt einen das, was Penetre so von sich gibt. Könnte es sein, dass er ganz einfach recht hat?
In diesem Buch sind meine Gespräche mit Penetre festgehalten. Meist ist es allerdings Penetre, der spricht, während ich bloß zuhöre.
Penetre: Was eigentlich nur Mittel zum Zweck des Lebens sein sollte, raubt einem den Großteil der eigenen Lebenszeit. Beim Leben selbst fällt es aber schwerer, zwischen Mittel und Zweck genau zu unterscheiden. Das ist das Interessante am Leben: Was ursprünglich nur ein Mittel war, wird irgendwann zum Zweck des Lebens selbst!
Das Mittel wird zum Zweck des Lebens selbst – das verstehe ich nicht! Was ist denn dieser Zweck? Warum lebt der Mensch eigentlich?
Am Ende lebt der Mensch – aus reinem Vergnügen! Wer arbeitet, um Geld zu verdienen, tut das, um sich anschließend zu vergnügen. Wenn die Arbeit aber irgendwann zum Leben wird, dann hat man die Arbeit selbst zu seinem Vergnügen gemacht. Das ist gar nicht so seltsam, wie es klingt. Eigentlich ist es eine ganz feine Sache.
Willst du damit sagen, dass das Ziel des Lebens das Vergnügen ist? Und nicht etwa, die Welt zu verbessern oder eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen? Bist du dir wirklich sicher, dass es nur ums Vergnügen geht?
Penetre: Die meisten Menschen bezeichnen mit dem Wort »Vergnügen« etwas, das im Vergleich zur Arbeit unproduktiv ist. Während des Vergnügens verstreicht die Zeit ungenutzt. Aber wenn ich von »Vergnügen« spreche, meine ich damit etwas anderes. Vergnügen bedeutet für mich, das, was man tut, wirklich zu genießen. Ein Zustand der Erfüllung also, in dem es nicht nötig ist, nach einem Sinn oder Zweck zu suchen. Im Vergnügen lebt man einfach, für nichts und niemanden! Man lebt dann nicht, um etwas zu schaffen, sondern nur, weil es Spaß macht.
Wenn das stimmt, dann wäre das Ziel des Lebens, ohne ein Ziel zu leben. Das ist doch seltsam!
So seltsam ist das gar nicht. Nur achte darauf: Solange du dir zum Ziel setzt, ohne ein Ziel zu leben, wird es dir nicht gelingen, ziellos zu leben.
Wie soll ich dann leben?
Dein Ziel, ohne ein Ziel zu leben, muss selbst zum ziellosen Leben werden!
Penetre: Weißt du, was einen echten Optimisten ausmacht?
Ich: Du meinst einen, der daran glaubt, dass am Ende immer alles gut wird?