MARK LAWRENCE
KAISER DER
DUNKELHEIT
Roman
Aus dem Englischen von
Andreas Brandhorst
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Titel der englischen Originalausgabe
EMPEROR OF THORNS
Deutsche Erstausgabe 07/2014
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Copyright © 2013 by Mark Lawrence
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagillustration: Jason Chan
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-13200-2
V003
Meinem Sohn Bryn gewidmet
Was bisher geschah
Für die Leserinnen und Leser unter Ihnen, die ein Jahr auf dieses Buch warten mussten, fasse ich die Ereignisse der ersten beiden Romane kurz zusammen, um Ihre Erinnerung aufzufrischen. Ich beschränke mich dabei auf die wichtigsten Dinge für die Geschichte im vorliegenden Buch.
1) |
Jorgs Mutter und sein Bruder William wurden getötet, als er neun Jahre alt war. Er steckte in einem Dornenstrauch und beobachtete ihren Tod. Die Mörder handelten im Auftrag seines Onkels. |
2) |
Jorgs Vater Olidan ist kein netter Mann. Er tötete Jorgs Hund, als Jorg sechs Jahre alt war, und stach Jorg in die Brust, als er vierzehn war. |
3) |
Jorgs Vater herrscht noch immer über Ankrath und ist jetzt mit Sareth verheiratet. Von Sareths Schwester Katherine, seiner Stieftante, ist Jorg regelrecht besessen. |
4) |
Jorg hat seinen kleinen Stiefbruder Degran versehentlich, wenn auch nicht schuldlos, getötet. |
5) |
Ein Mann namens Luntar steckte Jorgs Erinnerungen daran in ein Kästchen. Jorg hat sie zurückgewonnen. |
6) |
Einige magisch begabte Personen wirken hinter den vielen Thronen des Gefallenen Reiches. Sie konkurrieren miteinander und manipulieren Ereignisse, um ihre Kontrolle zu festigen. |
7) |
Wir ließen Jorg auf dem Thron von Renar zurück, mit den Prinzen von Pfeil tot und ihrer Streitmacht zerschmettert. Die sechs Nationen unter der Herrschaft von Orrin von Pfeil sind leichte Beute. |
8) |
Wir verließen Jorg am Tag nach seiner Hochzeit mit der zwölfjährigen Königin Miana. |
9) |
Jorg hatte Männer mit dem Auftrag losgeschickt, seinen schwer verletzten Kanzler Coddin vom Berg zu holen. |
10) |
Katherines Tagebuch wurde in den Trümmern vor der Spukburg gefunden. Es ist nicht bekannt, ob sie im Gegensatz zu ihrem Tross überlebte. |
11) |
Der Rote Kent erlitt beim Kampf schwere Verbrennungen. |
12) |
Jorg entdeckte, dass Geister in den Maschinen stecken, die die Erbauer zurückließen. |
13) |
Von einem dieser Geister, Fexler Brews, erfuhr Jorg, dass Magie existiert, weil die Wissenschaftler der Erbauer die Funktionsweise der Welt veränderten. Sie ermöglichten es dem Willen eines Menschen, direkten Einfluss auf Materie und Energie zu nehmen. |
14) |
Die Waffe, mit der Jorg die Belagerung der Spukburg beendete, entstammte Fexler Brews’ Selbstmord. |
15) |
Die Mächte über Nekromantie und Feuer wurden aus Jorg gebrannt, als sie ihn in der letzten Phase des Kampfes um die Spukburg beinahe umbrachten. |
16) |
Der mächtige Tote König beobachtet die Lebenden aus dem Totland und hat besonderes Interesse an Jorg gezeigt. |
17) |
Die Nekromantin Chella ist zur Helferin des Toten Königs geworden. |
18) |
Alle vier Jahre versammeln sich die Oberhäupter der hundert Splitter des Reiches für die Kongression in der Hauptstadt Vyene, um einen neuen Kaiser zu wählen – während dieser Zeit ruhen die Waffen. In den hundert Jahren seit dem Tod des letzten Kaisers hat es kein Kandidat geschafft, die Mehrheit der Stimmen auf sich zu vereinen. |
19) |
In dem früheren Handlungsstrang Vier Jahre zuvor ließen wir Jorg im Schloss seines Großvaters an der Pferdeküste zurück. Der Mathmagier Qalasadi war geflohen, nachdem er vergeblich versucht hatte, die Adligen zu vergiften. Vom Erbauer-Geist Fexler hatte Jorg einen Seh-Ring bekommen, der ihm die Welt aus der Perspektive von Satelliten und anderen visuellen Apparaten zeigt. |
Prolog
Kai stand vor dem Altstein, einem einzelnen Block, der zu einer Zeit aufgestellt worden war, als die Menschen nichts anderes gekannt hatten als Holz, Fels und Jagd. Oder vielleicht war ihnen doch mehr bekannt gewesen, denn sie hatten den Altstein an einem Ort des Sehens aufgestellt. An einer Stelle, wo sich Schleier hoben und Geheimnisse erfahren und weitergegeben werden konnten. Ein Ort, an dem das Firmament niedriger hing und sich von den Himmelsgängern leichter erreichen ließ.
Die Einheimischen nannten den Felsvorsprung »Finger«, ein Name, den Kai für angemessen, wenn auch langweilig hielt. Und wenn es ein Finger war, so stand der Altstein auf dem Knöchel. Hier reichte der Finger sechzig Meter weit, und noch einmal so viele ging es in mehreren steilen, felsigen Stufen hinab bis zum Sumpf.
Kai atmete tief durch, füllte seine Lunge mit der kalten Luft und ließ sich von ihrer Feuchtigkeit durchdringen. Sein Herz schlug langsamer, als er nach der hohen, traurigen Stimme des Altsteins lauschte, weniger ein Geräusch als eine Erinnerung daran. Mit nur einem Flüstern von Schmerz hob sich der Blick von ihm. Kais Wahrnehmung stieg auf und ließ den Körper neben dem Monolithen zurück. Er beobachtete jetzt von einem hellen Tal zwischen zwei großen, langsam dahinziehenden Wolkenbänken aus; er sah sich selbst als einen Punkt auf dem Finger und die Landspitze als einen hellen Streifen, der ins weite Schilfmeer reichte. In der Ferne zeigte sich der Fluss Rill als ein schmales silbernes Band, das zum Gläsernen See führte.
Kai flog höher. Der Boden fiel unter ihm fort und wurde mit jedem Schlag seiner vom Geist geborenen Schwingen abstrakter. Dunstschwaden glitten vorbei, und die Wolken hüllten ihn in ihre kalte Umarmung.
Ist so der Tod? Kaltes Weiß, für immer und ewig, Amen?
Er widersetzte sich dem Sog der Wolken und fand die Sonne wieder. Wie leicht sich die Himmelsgänger in der Weite des Firmamentes verlieren konnten. Vielen erging es so; ihr Fleisch blieb dem Tod überlassen zurück, während sie weit oben durch endlose Leere reisten. Ein Kern von Selbstsucht verband Kai mit seiner physischen Existenz. Er kannte sich gut genug, um das zu wissen. Eine alte Strähne Gier, eine Unfähigkeit, ganz loszulassen. Schwächen, in gewisser Weise, doch hier ein Vorteil, der ihn davor bewahrte, sich zu verlieren.
Er flog über dem sanften, weichen Glanz der Wolken, zwischen ihren Rondellen und Türmen. Eine Seris kam aus dem fedrigen Alabaster, geisterhaft vage selbst für Kais körperlose Augen, ihre gewundene Gestalt mal sichtbar und mal nicht. Dreißig Meter lang war sie, und dicker als ein Mann. Kai rief sie. Die Wolkenschlange rollte sich zusammen und kam näher, umkreiste ihn langsam.
»Alter Freund«, grüßte Kai. Bis zu hundert Seris tummelten sich in den Gewitterwolken, wenn Unwetter heranzogen, aber jede Seris wusste, was alle Seris wussten, und deshalb gab es für Kais Bewusstsein nur eine. Vielleicht waren die Seris Überbleibsel von Himmelsgängern, die sich vergessen hatten, für die es nur noch den Tanz in den Wolken gab, nichts anderes. Oder es hatte sie immer gegeben, ohne Geburt und ohne Tod.
Die Seris richtete das kalte blaue Glühen ihrer Augenhöhlen auf Kai. Er fühlte die Kühle ihrer geistigen Berührung, sanft und neugierig. »Nach wie vor die Frau?«
»Immer die Frau.« Kai beobachtete das Licht auf den Wolken. Architektonische Wolken, bereit für Gottes Hand, die ihnen Form gab, bereit für Kathedralen, Türme, Ungeheuer … Es amüsierte ihn, dass die Seris glaubte, er brächte immer dieselbe Frau zum Finger.
Vielleicht glauben die Seris, dass es nur einen Mann und eine Frau gibt, und viele Körper.
Die Bewegungen der Seris um Kai folgten einem korkenzieherartigen Muster, als wäre er in Fleisch und Blut präsent. Sie schlang ihren langen Leib um ihn. »Du hast einen Schatten?«
Kai lächelte. Die Seris stellte sich menschliche Liebe als zusammenkommende Wolken vor, die manchmal übereinanderstrichen, sich bei anderen Gelegenheiten zu einem Gewitter vereinten oder ineinander aufgingen und einen Schatten warfen.
»Ja, ein Schatten.« Überrascht hörte Kai den Nachdruck in der eigenen Stimme. Er wollte, was die Seris hatte. Nicht nur im Heidekraut liegen. Diesmal nicht.
»Mach es.« Die Stimme der Seris erklang unter seiner Haut, obwohl er sie weit unten zurückgelassen hatte.
»Ich soll es machen? Es geschehen lassen? So einfach ist das nicht.«
»Du willst nicht?« Die Seris erzitterte und erbebte. Ein Lachen, wusste Kai.
»Oh, ich will es.« Es genügt, dass sie ins Zimmer kommt, schon stehe ich in Flammen. Und ihr Duft! Ich schließe die Augen und bin im Garten von Bethda.
»Ein Sturm kommt.« Kummer erfüllte die Stimme der Seris.
Das erstaunte Kai. Er hat keine Anzeichen eines heranziehenden Unwetters gesehen.
»Sie stehen auf«, sagte die Seris.
»Die Toten?«, fragte Kai, und die alte Furcht regte sich in ihm.
»Schlimmer.« Ein Wort, mit zu viel Bedeutung.
»Lichkin?« Kai starrte, ohne etwas zu sehen. Lichkin kommen nur im Dunkeln.
»Sie stehen auf«, sagte die Seris.
»Wie viele?« Lass es nicht alle sieben sein! Bitte.
»Viele. Wie der Regen.« Die Seris verschwand. Die Dunstschwaden, aus denen sich ihr Körper wand, zerfaserten. Nie zuvor hatte Kai gesehen, wie sich eine Seris auf diese Weise auflöste. »Einen Schatten machen.« Die Stimme hing in der Luft.
Kais Blick richtete sich nach unten, und er fiel dem Finger entgegen. Sula stand an der Fingerspitze, dicht am Rand. Ein weißer Fleck, der schnell größer wurde. Sicht schlug in den Körper, mit solcher Wucht, dass er auf die Knie sank. Er kam auf die Beine, wankte einen Moment desorientiert und lief dann zu Sula. In weniger als einer Minute erreichte er sie, krümmte sich vor ihr zusammen und atmete schwer.
»Ihr wart lange fort.« Sula drehte sich zu ihm um. »Ich dachte schon, Ihr hättet mich vergessen, Kai Sommerson.«
»Euch vergessen, Lady?«, keuchte er. Und er lächelte, denn ihre Schönheit vertrieb seine Furcht, die ihm nun töricht erschien. Von weit oben hatte er nichts gesehen, das Anlass zu Sorge gegeben hätte.
Aus Sulas Schmollen wurde ein Lächeln, die Sonne kam herab und berührte ihr Gesicht, und für einen Moment vergaß Kai die Warnung der Seris. Lichkin sind nachts unterwegs. Er nahm Sulas Hände, und sie trat auf ihn zu. Nach Blumen duftete sie, und sie war ihm so nahe, dass er ihre weichen Brüste spürte. Sein Herz schlug schneller, und plötzlich sah er nur noch ihre Augen und Lippen. Die Finger der einen Hand verhakten sich mit ihren, und die der anderen strichen über ihren Hals, fühlten den Puls des Lebens in ihr.
»Ihr solltet nicht so nahe am Rand stehen«, sagte er, obwohl sie ihm den Atem stahl. Nur ein Meter hinter ihr endete die bröckelnde Kuppe des Fingers in einem fünf Dutzend Meter tiefen steilen Hang über dem Sumpf.
»Ihr klingt wie mein Vater.« Sula neigte den Kopf und lehnte sich an ihn. »Wisst Ihr was? Er hat mir gesagt, ich sollte Euch heute nicht begleiten. Kai Sommerson ist ein Nichtsnutz von niederer Geburt, hat er gesagt. Ich sollte in Morl eingepfercht bleiben, während er seinen Geschäften nachgeht.«
»Was?« Kai ließ Sulas Hände los. »Ihr habt gesagt, er sei einverstanden.«
Sula kicherte und ahmte eine ruppige Stimme nach. »Ich lasse nicht zu, dass sich meine Tochter mit einem Hauptmann der Wache herumtreibt!« Sie lachte und kehrte zu einem normalen Tonfall zurück. »Wusstet Ihr, dass er glaubt, Ihr hättet einen ›gewissen Ruf‹?«
Kai hatte tatsächlich einen gewissen Ruf, und ein Mann wie Merik Weinland konnte ihm das Leben sehr schwer machen.
»Wir sollten besser gehen, Sula. Es könnte gefährlich werden.«
Zwei dünne Falten störten die Glätte von Sulas Stirn. »Gefährlich?«
»Ich hatte noch einen Grund, Euch hierher zu bringen«, sagte Kai.
Andere junge Frauen wären jetzt errötet, aber Sula lächelte.
»Nein, das nicht«, sagte Kai. »Na ja, das auch, aber ich sollte diese Gegend überprüfen, den Sumpf beobachten.«
»Ich habe ihn vom Felsen aus beobachtet, während Ihr weg wart. Dort unten gibt es nichts!« Sula wandte sich ab und deutete über das endlose Grün des Sumpfes. Dann sah sie es. »Was ist das?«
Nebel stieg über dem Schilfmeer auf. Er kam aus Osten und streckte grauweiße Arme aus, denen die untergehende Sonne einen rötlichen Ton gab.
»Sie kommen.« Kai versuchte zu sprechen. Er fand die Stimme wieder und rang sich ein zuversichtliches Lächeln ab. Es fühlte sich wie eine Grimasse an. »Sula, wir müssen jetzt sehr schnell sein. Ich muss in Fort Aral Bericht erstatten. Ich bringe Euch über die Mextens und lasse Euch bei Rotstein zurück. Dort seid Ihr sicher. Mit einem Wagen könnt Ihr Morl erreichen.«
Die Pfeile flogen mit einem Geräusch, das sich anhörte, als bliese jemand Kerzen aus, eine Folge von mehreren plötzlichen Atemzügen. Drei blieben unter Sulas rechter Achsel stecken. Drei kleine schwarze Pfeile, deutlich zu sehen vor dem Weiß des Kleides. Kai fühlte ein Brennen am Hals, wie vom Stich einer Bremse.
Die Sumpfghule schwärmten über die Spitze des Fingers, grau und spinnenartig, schnell und leise. Kai riss das Kurzschwert aus der Scheide, doch es schien schwerer als Blei zu sein. Taubheit steckte bereits in seinen Fingern, und das Schwert rutschte ihm aus der Hand.
Ein Sturm kommt.
1
Ich habe vor meinem Bruder versagt. In den Dornen hing ich und habe ihn sterben lassen, und seitdem ist die Welt falsch. Ich habe vor ihm versagt, und der Schmerz hat nicht nachgelassen, obwohl ich seitdem viele Brüder sterben ließ. Der beste Teil von mir hängt noch immer dort, in den Dornen. Das Leben kann einem Mann fortreißen, was wichtig für ihn ist. Es kann ihm das Unerlässliche stehlen, Stück für Stück, bis er mit leeren Händen dasteht, und arm an Jahren. Jeder Mann hat seine Dornen, nicht draußen, sondern drinnen, tief in ihm, so tief wie die Knochen. Die Narben der Dornen zeichnen mich. Eine Botschaft der Gewalt haben sie in meinen Leib gestochen und gekratzt, eine Nachricht in Blut geschrieben, und es wird ein Leben dauern, sie zu übersetzen.
Die Goldene Garde kommt immer an meinem Geburtstag. Sie kam, als ich sechzehn wurde; sie kam zu meinem Vater und meinem Onkel bis zu dem Tag, als ich mein zwölftes Lebensjahr vollendete. Damals ritt ich mit meinen Brüdern, und wir sahen die Soldaten über die Große Westliche Straße nach Ankrath reiten. Als ich acht wurde, habe ich sie aus der Nähe gesehen, wie sie auf ihren weißen Hengsten durchs Tor der Hohen Burg geritten kamen. Will und ich beobachteten sie voller Ehrfurcht.
An diesem Tag beobachtete ich sie mit Miana an meiner Seite. Königin Miana. Durch ein anderes Tor ritten die Soldaten, in eine andere Burg, aber sie boten einen ähnlichen Anblick, wirkten wie eine goldene Flut. Ich fragte mich, ob die Spukburg ihnen allen Platz bieten würde.
»Hauptmann Harran!«, rief ich nach unten. »Schön, dass Ihr gekommen seid. Möchtet Ihr ein Bier?« Ich deutete auf die langen Tische vor ihm. Unsere Throne hatte ich auf den Balkon bringen lassen, damit wir uns die Ankunft der Garde ansehen konnten.
Harran schwang sich aus dem Sattel, ein beeindruckender Mann in seiner feuervergoldeten Rüstung. Hinter ihm strömten immer mehr Gardisten auf den Hof. Hunderte. Sieben Schwadronen aus jeweils fünfzig Mann. Eine Schwadron für jedes meiner Länder. Vor vier Jahren war die Goldene Garde mit nur einer Schwadron gekommen, aber Hauptmann Harran hatte sie auch damals angeführt.
»Ich danke Euch, König Jorg!«, rief er zurück. »Aber wir müssen noch vor Mittag losreiten. Die Straßen nach Vyene sind schlimmer als erwartet. Es wird nicht leicht sein, die Kongression rechtzeitig zu erreichen.«
»Nur wegen der Kongression wollt Ihr einen König bei seiner Geburtstagsfeier doch sicher nicht zur Eile treiben, oder?« Ich trank einen Schluck Bier und hob den Becher. »Heute werde ich zwanzig, wisst Ihr.«
Harran zuckte entschuldigend die Schultern und drehte sich zu seinen Soldaten um. Mehr als zweihundert hatten sich bereits in die Burg gezwängt. Es hätte mich sehr beeindruckt, wenn es allen dreihundertfünfzig gelungen wäre, auf dem Hof Platz zu finden, denn so groß war er auch nach den Erweiterungen beim Wiederaufbau nicht geworden.
Ich beugte mich zu Miana und legte die Hand auf ihren weit gewölbten Bauch. »Er befürchtet, dass es bei der Abstimmung wieder keine Mehrheit gibt, wenn ich mich nicht auf den Weg mache.«
Sie lächelte bei diesen Worten. Die letzte Abstimmung, die einer Entscheidung nahe gekommen war, hatte bei der zweiten Kongression stattgefunden – die dreiunddreißigste würde dem Ziel, einen neuen Kaiser auf den Thron zu setzen, nicht näher kommen als die dreißig vorherigen.
Makin kam hinter der Goldenen Garde durchs Tor, begleitet von einigen meiner Ritter – er hatte Harren durchs Hochland eskortiert. Es war eine rein symbolische Eskorte gewesen, denn niemand, der einigermaßen bei Verstand war, und selbst kaum ein Verrückter, hätte es gewagt, auch nur eine Schwadron der Goldenen Garde anzugreifen, geschweige denn sieben.
»Jetzt siehst du, warum ich dich verlassen muss, Miana, obgleich mein Sohn kurz davor ist, sich einen Weg in die Welt zu kämpfen.« Ich fühlte seinen Tritt unter meiner Hand. Miana rutschte auf ihrem Thron ein wenig zur Seite. »Sieben Schwadronen kann ich nicht Nein sagen.«
»Eine von ihnen ist für Lord Kennick«, erwiderte Miana.
»Für wen?«, fragte ich, um sie ein wenig aufzuziehen.
»Manchmal denke ich, du bedauerst, Makin zu meinem Lord von Kennick ernannt zu haben.« Sie warf mir einen kurzen missmutigen Blick zu.
»Ich glaube, er bedauert es ebenfalls. In den letzten beiden Jahren kann er dort nicht mehr als einen Monat verbracht haben. Die guten Möbel aus dem Baronsaal hat er hierher in seine Zimmer schaffen lassen.«
Wir schwiegen und beobachteten, wie sich die Garde auf dem kleinen Hof formierte. Ihre Disziplin stellte alle anderen Soldaten in den Schatten. Selbst die Pferdeküsten-Kavallerie meines Großvaters wirkte wie Pöbel im Vergleich mit der Goldenen Garde. Einst hatte ich Orrin von Pfeils Gardisten bestaunt, aber diese Männer waren eine Klasse für sich. Es gab nicht einen von den dreihundertfünfzig, der nicht in der Sonne glänzte; ihr vergoldeter Stahl zeigte nirgends Schmutz oder Abnutzung. Der letzte Kaiser hatte tiefe Taschen, und seine persönliche Garde griff noch immer hinein, auch fast zweihundert Jahre nach seinem Tod.
»Ich sollte nach unten gehen.« Ich machte Anstalten aufzustehen, blieb aber sitzen. Der Thron war zu bequem. Drei Wochen anstrengendes Reiten übten kaum Reiz auf mich aus.
»Das solltest du.« Miana knabberte an einer Paprikaschote. In den letzten Monaten hatte sie zwischen Extremen geschwankt. Seit Kurzem war sie zu den scharfen Aromen ihrer Heimat an der Pferdeküste zurückgekehrt, wodurch ihre Küsse zu einem Abenteuer wurden. »Aber erst möchte ich dir dein Geschenk geben.«
Ich wölbte eine Braue und klopfte auf ihren Bauch. »Ist er schon bereit?«
Miana stieß meine Hand beiseite und winkte einem Bediensteten im Schatten des Flures zu. Manchmal sah sie noch immer wie das Kind aus, das die Spukburg bei seinem Eintreffen umzingelt vorgefunden hatte, dem Untergang geweiht. Mit knapp fünfzehn – ihr fehlte nur ein Monat – war sie noch immer klein neben selbst dem zierlichsten Dienstmädchen, aber die Schwangerschaft hatte ihr wenigstens einige Kurven gegeben, die Brust gefüllt und Farbe in die Wangen gebracht.
Hamlar kam mit etwas unter einem Seidentuch, ein Objekt lang und schmal, aber nicht lang genug für ein Schwert. Mit einer kurzen Verbeugung reichte er es mir. Zwanzig Jahre hatte er meinem Onkel gedient, aber nie geklagt, seit ich seine alte Anstellung beendet hatte. Ich zog das Tuch beiseite.
»Ein Stock? Das wäre nicht nötig gewesen, meine Liebe.« Ich schürzte die Lippen. Es war ein hübscher Stock, das ließ sich nicht bestreiten. Das Holz, aus dem er bestand, kannte ich nicht.
Hamlar legte ihn auf den Tisch zwischen den Thronen und ging.
»Es ist ein Stab«, sagte Miana. »Lignum vitae. Hart, und so schwer, dass es im Wasser versinkt.«
»Ein Stock, der mich ertrinken lassen könnte …«
Miana winkte erneut, und Hamlar kehrte mit einem großen Buch aus der Bibliothek zurück. Ein Lesezeichen aus Elfenbein markierte die Stelle, an der es geöffnet war.
»Hier steht, dass der Lord von Orlanth das Erbrecht erwarb, bei der Kongression seinen Amtsstab zu tragen.« Mianas Finger zeigte mir die betreffende Textstelle.
Ich nahm den Stab mit neuem Interesse. In meiner Hand fühlte er sich wie eine Eisenstange an. Als König des Hochlands und von Pfeil, Belpan, Conaught, Normardie und Orlanth – außerdem war ich auch noch Lehnsherr von Kennick – schien ich jetzt das Recht zu haben, einen hölzernen Stab dort zu tragen, wo alle anderen unbewaffnet sein mussten. Und dank meiner kleinen Königin mit den rosaroten Wangen konnte mein Stab wie eine Eisenstange sein, dazu imstande, selbst einem Helmträger den Schädel zu zertrümmern.
»Danke«, sagte ich. Es war nie meine Art, Gefühle wie Zuneigung und dergleichen offen zu zeigen, aber ich glaube, Miana und ich verstanden uns so gut, dass sie wusste, wann mir etwas gefiel.
Ich holte versuchsweise mit dem Stab aus, ließ ihn durch die Luft zischen und fand genug Inspiration, meinen Platz auf dem Thron zu verlassen. »Ich schaue auf dem Weg nach unten bei Coddin vorbei.«
Coddins Pflegerinnen schienen von meinem Kommen gewusst zu haben, denn die Tür seines Zimmers stand weit offen, ebenso das Fenster, und einige Duftstäbchen brannten. Trotzdem hing der Gestank seiner Wunde in der Luft. Bald war es zwei Jahre her, dass ihn der Pfeil getroffen hatte, aber die Wunde eiterte und faulte noch immer unter dem Verband des Arztes.
»Jorg.« Er winkte mir vom Bett aus zu, das am Fenster stand, und setzte sich auf, damit er die Gardisten draußen sehen konnte.
»Coddin.« Wieder stellte sich ein vages Schuldgefühl ein.
»Hast du ihr Lebewohl gesagt?«
»Miana? Natürlich. Na ja …«
»Sie wird dein Kind zur Welt bringen, Jorg. Allein. Während du fort bist.«
»Sie wird ohne mich zurechtkommen. An Dienstmädchen und Zofen mangelt es gewiss nicht. Die meisten von ihnen kenne ich gar nicht; es scheinen jeden Tag neue zu kommen.«
»Du bist daran beteiligt gewesen, Jorg. Sie wird wissen, dass du fort bist, wenn der Zeitpunkt kommt, und das macht es schwerer für sie. Du solltest dich wenigstens richtig von ihr verabschieden.«
Nur Coddin konnte mich auf diese Weise belehren.
»Ich habe … danke gesagt.« Ich zeigte Coddin den Stab. »Ein Geschenk von ihr.«
»Geh noch einmal zu ihr, wenn du hier fertig bist. Sprich die richtigen Worte.«
Ich gab ihm ein Nicken, das »vielleicht« bedeutete. Es schien ihm zu genügen.
»An den Jungs auf den Pferden kann ich mich gar nicht satt sehen«, sagte Coddin und blickte erneut auf die glänzenden Reihen im Hof.
»Übung macht den Meister. Aber sie sollten besser den Kampf üben. Ein Pferd in die Enge manövrieren zu können, mag eine eindrucksvolle Schau sein …«
»Dann genieße sie, die Schau!« Coddin schüttelte den Kopf und versuchte, eine Grimasse zu verbergen. Dann sah er mich an. »Was kann ich für dich tun, mein König?«
»Wie immer«, lautete meine Antwort. »Ich möchte einen Rat von dir.«
»Wie soll ich dir da helfen? Ich bin nie selbst in Vyene gewesen, nicht einmal in der Nähe. Ich habe nichts, das dir in der Heiligen Stadt helfen könnte. Wachsamkeit und das Wissen aus den Büchern sollten dir nützlich sein. Die letzte Kongression hast du überlebt, nicht wahr?«
Die Erinnerung daran entlockte mir ein mattes Lächeln. »Ich verfüge vielleicht über eine gewisse Gewitztheit, alter Knabe, aber was ich von dir brauche, ist Weisheit. Ich weiß, dass du dich hier durch meine ganze Bibliothek gearbeitet hast, ein Buch nach dem anderen. Die Männer bringen dir Geschichten und Gerüchte von überall. Wo liegen meine Interessen in Vyene? Wohin soll ich meine sieben Stimmen legen?«
Ich ging über nackten Stein und näherte mich dem Bett. Coddin war durch und durch Soldat. Teppiche oder Binsenmatten kamen selbst für ihn als Invaliden nicht infrage.
»Du willst nicht meine Weisheit hören, Jorg. Wenn man dabei überhaupt von Weisheit sprechen kann.« Coddin wandte sich erneut dem Fenster zu. Die Sonne fing sein Alter ein und zeigte die Falten, die ihm der Schmerz gegeben hatte.
»Ich habe gehofft, du hättest deine Meinung geändert«, sagte ich. Es gibt schwere Wege, und es gibt die schwersten aller Wege.
Der Gestank seiner Wunde wurde stärker, als ich nahe am Bett stand. Von der Stunde der Geburt an frisst Fäulnis an uns, und ihr Geruch verrät, in welche Richtung uns unsere Füße tragen, wohin sie zeigen.
»Stimme für deinen Vater. Schließe Frieden mit ihm.«
Gute Medizin hat oft einen üblen Geschmack, aber manche Pillen sind zu bitter, um sie zu schlucken. Ich zögerte, bis ich sicher sein konnte, dass sich kein Ärger in meine Stimme stahl. »Es ist mir schwer genug gefallen, meine Armeen nicht nach Ankrath zu schicken und das ganze Land zu verwüsten. Wenn es mir Mühe bereitet, einen offenen Krieg zu vermeiden … wie soll ich da Frieden schließen?«
»Ihr ähnelt euch. Dein Vater ist vielleicht ein bisschen kälter und strenger, und nicht ganz so ehrgeizig, aber ihr seid vom selben Baum gefallen, und ähnliches Übel hat euch geschmiedet.«
Nur Coddin konnte mir sagen, dass ich der Sohn meines Vaters war, und am Leben bleiben. Nur ein Mann, der bereits in meinen Diensten gestorben war und dahinsiechte, noch immer in meinen Diensten, nur ein solcher Mann konnte die Wahrheit aussprechen.
»Ich brauche ihn nicht«, sagte ich.
»Hat dir dein Geist, der Erbauer, nicht gesagt, dass zwei Ankraths zusammen die Macht der verborgenen Hände brechen würden? Denke nach, Jorg! Sageous hat deinen Onkel gegen dich gestellt. Er wollte dich und deinen Bruder in der Erde. Und als es ihm nicht gelang, euch beide ins Grab zu bringen, trieb er einen Keil zwischen Vater und Sohn. Und was könnte die Macht von Männern wie Sageous oder der Stillen Schwestern und Skilfar und all der anderen brechen? Frieden! Ein Kaiser auf dem Thron. Glaubst du, dein Vater ist die ganze Zeit über untätig gewesen, all die Jahre, in denen du aufgewachsen bist, und vorher? Er mag nicht deinen ausgeprägten Ehrgeiz haben, aber er ist nicht ohne eigene Pläne. König Olidan hat Einfluss an vielen Höfen. Ich will nicht behaupten, dass er Freunde hat, aber er gebietet über Loyalität, Respekt und Furcht gleichermaßen. Olidan kennt Geheimnisse.«
»Auch ich kenne welche.« Mit einigen von ihnen wäre ich lieber nicht vertraut gewesen.
»Die Hundert werden nicht dem Sohn folgen, solange der Vater vor ihnen steht.«
»Dann werde ich ihn töten.«
»Dein Vater hat diesen Weg gewählt, und er hat dich stärker gemacht.«
»Weil er den Weg nicht bis zum Ende beschritt.« Ich sah auf meine Hand hinab und erinnerte mich daran, wie ich sie rot von meiner Brust gehoben hatte. Mein Blut, und meines Vaters Messer. »Er brachte nicht zu Ende, was er begann. Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen.«
Wenn es der Traumhexer gewesen war, der einen Keil zwischen uns getrieben hatte, so hatte er gute Arbeit geleistet. Ich war nicht bereit, meinem Vater zu verzeihen, und ich bezweifelte, ob er bereit gewesen wäre, meine Vergebung entgegenzunehmen.
»Die verborgenen Hände glauben vielleicht, dass zwei Ankraths nötig sind, um ihre Macht zu beenden. Ich denke, einer genügt. Er hat für Corion gereicht, und auch für Sageous. Er wird für alle genügen, wenn sie versuchen, mich aufzuhalten. Jedenfalls, du weißt, was ich von Prophezeiungen halte.«
Coddin seufzte. »Harran wartet auf dich. Du hast meinen Rat bekommen. Nimm ihn mit. Er macht dich nicht langsamer.«
Die Hauptleute meiner Armeen, Adlige aus dem Hochland, ein Dutzend Lords aus unterschiedlichen Ecken der sieben Königreiche auf Petitionsbesuch und zahlreiche Mitläufer warteten im Eingangssaal auf mich. Der Moment, unbemerkt fortzuschlüpfen, war … fortgeschlüpft. Ich begrüßte die Menge mit erhobener Hand.
»Lords, Krieger meines Hauses, ich breche auf zur Kongression. Seid versichert, dass ich nicht nur meine eigenen Interessen mitnehme, sondern auch Eure, und sie mit der für mich typischen Mischung aus Takt und Diplomatie wahrnehmen werde.«
Das brachte mir leises Lachen ein. Ich hatte viele Männer ausgeblutet, um meine kleine Ecke des alten Kaiserreiches zu bekommen, und deshalb hielt ich es für angebracht, für meinen Hof die Rolle zu spielen, die er von mir erwartete, solange es mich nichts kostete. Außerdem lagen die Interessen dieser Leute in meinen; ich hatte also kaum gelogen.
Ich entdeckte Hauptmann Marten in der Menge, groß und gereift. Nichts erinnerte mehr an den Bauern, der er einst gewesen war. Ich verleihe keinen Rang höher als Hauptmann, aber Marten hatte fünftausend Soldaten und mehr in meinem Namen geführt.
»Sorgt dafür, dass sie sicher ist, Marten. Dass sie beide sicher sind.« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Mehr musste nicht gesagt werden.
Flankiert von zwei Rittern meiner Tafel, Sir Kent und Sir Riccard, trat ich auf den Hof. Der Frühlingswind konnte den Geruch von Pferdeschweiß nicht schnell genug forttragen, und die Herde aus mehr als dreihundert Tieren schien bestrebt zu sein, eine kniehohe Schicht aus Dung auf dem Hof zu hinterlassen. Ich bin immer der Ansicht gewesen, dass man eine große Kavallerie am besten aus sicherer Entfernung beobachtet.
Makin lenkte sein Pferd durch Reih und Glied auf uns zu. »Alles Gute zum Geburtstag, König Jorg!«
»Danke«, sagte ich. Es fühlte sich alles zu angenehm an. Glückliche Familien, mit meiner kleinen Königin, die uns vom Balkon zusah. Geburtstagsgrüße und eine goldene Eskorte. Zu viel bequemes Leben und Frieden können einen Mann ebenso erdrosseln wie ein Strick.
Makin ahnte vielleicht etwas. Er blieb stumm, doch ein wissendes Lächeln lag auf seinen Lippen.
»Deine Berater sind bereit für den Ritt, Majestät.« Kent hatte sich angewöhnt, mich »Majestät« zu nennen; es schien ihm zu gefallen.
»Du wolltest kluge Köpfe mitnehmen, keine Ritter«, sagte Makin.
»Und wen nimmst du mit, Lord Makin?« Ich hatte beschlossen, ihn den einen Berater auswählen zu lassen, zu dem er bei der Kongression berechtigt war.
Über den Hof hinweg deutete er auf einen dürren Alten mit verkniffenem Gesicht. Gelegentlich hob der Wind den roten Umhang, in den er gehüllt war. »Osser Gant, Kämmerer des letzten Barons von Kennick. Wenn ich gefragt werde, was meine Stimme kosten wird, so kann mir Osser sagen, was für Kennick Wert genug hat und was nicht.«
Diese Worte entlockten mir ein Lächeln. Er hätte es abgestritten, aber etwas im alten Makin wollte seine neue Rolle als einer der Hundert mit Glanz und Gloria spielen. Unklar blieb, welches Vorbild er für seine Rolle wählte, meinen Vater oder den Fürsten von Pfeil.
»Es gibt nicht viel von Kennick, das kein Sumpf ist, und die Ken-Sümpfe brauchen Holz. Pfähle, damit die Hütten deiner schmutzigen Bauern nicht über Nacht im Schlamm versinken. Und das Holz erhältst du von mir. Daran sollte dein Mann denken.«
Makin hustete, als sei ihm etwas von dem Schlamm in die Lunge geraten. »Und wen nimmst du als Berater mit?«
Es war keine schwere Wahl für mich gewesen. Coddins letzte Reise war gekommen, als man ihn nach dem Kampf um die Spukburg den Berg heruntergetragen hatte. Er würde nie wieder reiten. An grauen Häuptern mangelte es an meinem Hof nicht, aber es befand sich keins darunter, dessen Inhalt ich zu schätzen wusste. »Du siehst hier zwei von ihnen.« Ich nickte Kent und Riccard zu. »Rike und Grumlow warten draußen. Keppen und Gorgoth sind bei ihnen.«
»Himmel, Jorg! Du kannst doch nicht Rike mitbringen! Wir reden hier vom Hof des Kaisers! Und Gorgoth! Er mag dich nicht einmal.«
Ich zog mein Schwert, eine glatte, glänzende Bewegung, und Hunderte von goldenen Helmen drehten sich und folgten seinem Bogen. Ich hielt die Klinge hoch, drehte sie hin und her, damit sie das Licht der Sonne einfing. »Ich bin schon einmal bei der Kongression gewesen, Makin. Ich weiß, welche Spiele dort gespielt werden. Dieses Jahr wird ein neues Spiel stattfinden. Meins. Und ich bringe die richtigen Spielfiguren mit.«
2
Mehrere Hundert Reiter wirbeln eine Menge Staub auf. Wir verließen die Matteracks in einem von uns selbst geschaffenen Schleier, und die Goldene Garde reichte eine halbe Meile weit über den gewundenen Bergpfad. Ihr Glanz überlebte nicht lange; als wir die Ebene erreichten, waren aus den goldenen Gardisten graue geworden.
Makin und ich ritten nebeneinander über den kurvenreichen Weg, auf dem wir einst dem Fürsten von Pfeil begegnet waren, unterwegs zu meinen Toren. Makin sah jetzt älter aus, ein wenig Eisen im Schwarz und mit Sorgenfalten auf der Stirn. Auf der Straße hatte Makin immer glücklich ausgesehen. Seit es Reichtum und Schlösser für uns gab, machte er sich Sorgen.
»Wirst du sie vermissen?«, fragte er. Eine Stunde lang nur das Klappern der Hufe auf dem steinigen Boden, und dann aus dem Nichts: »Wirst du sie vermissen?«
»Ich weiß nicht.« Ich hatte meine kleine Königin lieb gewonnen. Sie konnte mich reizen und erregen, wenn sie es darauf anlegte, wie die meisten Frauen – es ist nicht schwer, meinem Auge zu gefallen. Aber ich brannte nicht für sie, ich brauchte sie nicht, verspürte nicht den Wunsch, sie ständig zu sehen. Ich mochte sie, ja, ich wusste ihren wachen Verstand zu schätzen, ihre gelegentliche Schonungslosigkeit. Aber ich liebte sie nicht, nicht auf die irrationale, dumme Art und Weise, die einen Mann überwältigen, ihn fortspülen und an unbekannten Gestaden stranden lassen kann.
»Du weißt es nicht?«, fragte Makin.
»Wir werden es herausfinden, nicht wahr?«, erwiderte ich.
Makin schüttelte den Kopf.
»Du bist wohl kaum ein Meister der wahren Liebe, Lord Makin«, sagte ich. In den sechs Jahren, seit wir zur Spukburg gekommen waren, hatte er keine Frau an seiner Seite gehabt. Und wenn er gelegentlich mit einer Mätresse oder auch nur einer Hure zusammen gewesen war, so hatte er ein gut gehütetes Geheimnis daraus gemacht.
Er zuckte die Schultern. »Ich habe mich auf der Straße verloren, Jorg. Es waren schwarze Jahre für mich. Ich bin keine gute Gesellschaft für eine Frau, die ich begehren sollte.«
»Bin ich das etwa?« Ich drehte mich im Sattel und sah ihn an.
»Du warst jung. Ein Knabe, oder kaum mehr als das. An der Haut eines Kindes klebt die Sünde nicht so fest wie an der eines Mannes.«
Woraufhin ich die Schultern hob und senkte. Der tötende und plündernde Makin hatte zufriedener auf mich gewirkt als der andere, der in seinen Gewölben saß und grübelte. Vielleicht brauchte er etwas, über das er sich Sorgen machen konnte, damit die Sorgen für ihn endeten.
»Sie ist eine gute Frau, Jorg. Und sie wird dich bald zum Vater machen. Hast du darüber nachgedacht?«
»Nein«, sagte ich. »Es ist völlig neu für mich.« Die Wahrheit lautete: In jeder wachen Stunde tauchte dieser Gedanke in mir auf, und oft suchte er mich auch in meinen Träumen heim. Vater zu werden, war eine seltsame Vorstellung, die ich irgendwie nicht auf mich beziehen konnte. Ich wusste, dass bald ein schreiender Säugling erscheinen würde, aber was das für mich bedeutete, was es bedeutete, Vater zu sein … Das entzog sich mir. Coddin hatte gesagt, dass sich meine Gefühle verändern würden. Der Instinkt würde mir diesen Weg weisen, etwas, das im Blut geschrieben stand. Vielleicht würde es tatsächlich zu mir kommen, wie ein Niesen bei Pfeffer in der Luft, aber bis dahin hatte ich keine Ahnung, was mich erwartete.
»Vielleicht wirst du ein guter Vater«, sagte Makin.
»Nein.« Ob ich die Veränderung schließlich verstand oder nicht: Ich wusste, dass ich ein schlechter Vater sein würde. Ich hatte vor meinem Bruder versagt, und zweifellos würde ich auch vor meinem Sohn versagen. Der Fluch, den Olidan von Ankrath auf mich gelegt hatte, vermutlich ein Erbe seines Vaters, würde sich auf jedes meiner Kinder übertragen.
Makin schürzte die Lippen, hatte aber den Anstand oder die Weisheit, mir nicht zu widersprechen.
Im Hochland von Renar gab es kaum Gegenden, die flach genug waren, um Getreide anzubauen, aber nahe der Grenze zu Ankrath hörte das Land lange genug mit seinem Hoch und Runter auf, um ein wenig Landwirtschaft zu ermöglichen. Dort gab es auch eine Art Stadt. Hodd, meine Hauptstadt. Ich sah ihren Fleck am Horizont.
»Wir lagern hier«, sagte ich.
Makin beugte sich in seinem Sattel vor und gab die Anweisung an Sir Riccard weiter, der die Lanze mit meinen Farben hob.
»Wir könnten Hodd erreichen«, sagte Makin. »Etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang wären wir dort.«
»Schlechte Betten, grinsende Beamte und Flöhe.« Ich schwang mich aus Braths Sattel. »Lieber schlafe ich in einem Zelt.«
Gorgoth setzte sich und sah zu, wie die Gardisten um ihn herum arbeiteten, die Pferde anbanden, ihnen zu fressen gaben und Zelte aufbauten, jedes von ihnen groß genug für sechs Männer – an ihren Spitzen in der Mitte wehten zwei Bänder in den Farben des Kaisers, Schwarz und Weiß. Keppen und Grumlow legten ihre Satteltaschen neben den Leucrota, setzten sich darauf und begannen mit einem Würfelspiel.
»Wir sollten wenigstens morgen durch die Stadt reiten, Jorg.« Makin verzurrte den Futterbeutel am Maul seines Rosses und wandte sich mir zu. »Den Leuten dort würde es gefallen, die Garde vorbeireiten zu sehen. Zumindest das solltest du ihnen gönnen.«
Ich zuckte die Achseln. »Es sollte genügen, dass ich meinen Hof im Hochland habe. Glaubst du, die Leute haben vergessen, dass mein Palast größer ist als die ganze Stadt Hodd in Pfeil?«
Makin sah mir in die Augen. »Manchmal scheinst du es zu vergessen, Jorg.«
Ich wandte mich ab, ging in die Hocke und beobachtete die Würfel. Der Schmerz in meinen Oberschenkeln teilte mir mit, dass ich zu viel Zeit auf dem Thron, im Bankettsaal und im Bett verbracht hatte. Makin lag mit seinem Hinweis nicht falsch. Ich sollte öfter durch meine sieben Königreiche reisen, wenn auch nur zu dem Zweck, mehr Zeit auf der Straße zu verbringen und die Erinnerung an ihre Lektionen aufzufrischen.
»Verdammter Hurensohn!«, fauchte Keppen. Grumlows fünf Würfel zeigten alle die Sechs. Keppen begann damit, seinen Geldbeutel zu leeren, fauchte erneut und warf die Münzen Grumlow vor die Füße. Ich schüttelte den Kopf. Es schien mir eine Verschwendung von Glück zu sein, einen ganzen Geldbeutel Würfeln anzuvertrauen.
»Vergeude nicht dein Glück, Bruder Grumlow. Später brauchst du es vielleicht noch.« Ich richtete mich auf und hätte fast meine Beine verflucht.
Ich hatte nicht in dem Palast wohnen wollen, der von Fürst Orrin stammte und für Katherine bestimmt gewesen war. Nach dem Treueschwur der überlebenden Lords von Pfeil hatte ich dort einige Wochen verbracht. Das Gebäude erinnerte mich an Orrin: streng und gleichzeitig prächtig, hohe Bögen, Säulen aus weißem Stein, wie eine Kopie aus den Ruinen von Macedon, wo Alexander zu Größe aufgewachsen war. Ich geisterte durch die vielen Räume, begleitet von meinen Brüdern, während meine Hauptleute die Übernahme von Pfeils übrigen Eroberungen planten. Der Palast fühlte sich leer an, obwohl es Hunderte von Bediensteten in ihm gab, alles Fremde für mich. Schließlich war es eine Erleichterung für mich gewesen, ihn zu verlassen und nach Normardie zu reiten, eine Erleichterung, obwohl es der blutigste Feldzug in jenem Frühling gewesen war.
Wenn das Leben in der Spukburg mich zu weich für einen Tag im Sattel gemacht hatte, war es besser, auf den Luxus des Palastes zu verzichten. Lieber die Berge als die Ebenen, lieber das Heulen des Windes über schneebedeckten Gipfeln als die faulige Luft, die von der Stillen See kam, mit dem Gestank der Versunkenen Inseln. Außerdem, in Ankrath und Renar war das Blut meiner Familie besonders dick. Ich sehnte mich nicht unbedingt nach familiärer Wärme, aber in schweren Zeiten umgibt man sich besser mit Untertanen, die einem aus reiner Angewohnheit folgen und nicht aus neu entstandener Furcht.
Leichter Regen fiel, als das Licht des Tages schwand. Ich zog mir den Mantel enger um die Schultern und trat zu einem der Lagerfeuer.
»Ein Zelt für den König!«, rief Sir Riccard und ergriff den Arm eines vorbeikommenden Gardisten.
»Ein bisschen Nässe schadet mir nicht«, sagte ich. Ein guter Schwertkämpfer, Riccard, und tapfer, aber ein bisschen zu sehr von seinem Rang angetan. Und zu laut.
Zeit am Feuer zu verbringen, umgeben von Kriegern, gefiel mir besser, als auf Zeltwände zu starren und mich zu fragen, was sich hinter ihnen befand. Ich beobachtete, wie die Gardisten das Lager organisierten, und ließ meine Nase vom Duft der Kochtöpfe kitzeln.
Bei mehr als dreihundert Männern – eigentlich ein kleines Heer – erforderten alle einfachen Dinge der Straße Disziplin. Latrinengräben mussten ausgehoben, Wachen eingeteilt und eine Verteidigungslinie eingerichtet werden. Pferde brauchten Futter und Wasser. Vorbei war die ruhige Einfachheit der Gruppe aus Brüdern auf den Straßen meiner Kindheit. Größe ändert alles.
Ein Hauptmann brachte mir einen Stuhl, ein einfaches Ding, das sich zu einem flachen Paket zusammenklappen ließ, mit Messing an den Ecken, die ihn vor Stößen während der Reise schützten. Hauptmann Harran fand mich auf ihm sitzend, auf dem Schoß ein Teller mit Wildbret und Kartoffeln, Nahrungsmittel, die zweifellos aus meinen Vorräten in der Spukburg stammten. Die Garde versorgte sich dort, wo sie Halt machte – in gewisser Weise ein von den letzten Echos des Kaiserreiches legalisierter Straßenraub.
»Da ist ein Priester, der Euch sprechen möchte«, sagte Harran. Ich gab ihm mit erwartungsvollem Schweigen Gelegenheit, ein »König Jorg« hinzuzufügen. Die Hauptleute der Goldenen Garde stehen den Hundert mit leiser Verachtung gegenüber. Es heißt, dass die Gardisten in ihren ach so glänzenden Helmen über unsere Titel lachen.
»Ein Priester? Vielleicht der Bischof von Hodd?«, fragte ich. Die Goldene Garde hat auch wenig Respekt vor Roms Kirche, ein jahrhundertealtes Vermächtnis aus heftigen Streitereien zwischen Kaisern und Päpsten. Für die Getreuen des Kaisers ist Vyene die heilige Stadt und Rom unbedeutend.
»Ja, ein Bischof.« Harran nickte.
»Der dumme Hut verrät sie«, sagte ich. »Sir Kent, wenn du bitte so freundlich wärst, Pater Gomst zu unserem kleinen Kreis der Frömmigkeit zu bringen … Ich möchte vermeiden, dass ihm bei der Garde etwas zustößt.«
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und trank aus einem Krug Bier, den man mir gebracht hatte, bitteres Zeug aus den Brauereien des Ostreiches. Rike starrte ins Feuer und nagte an einem Knochen von seiner Mahlzeit. Viele Männer beobachten die Flammen, als suchten sie in dem geheimnisvollen hellen Tanz nach Antworten. Rike starrte nur. Gorgoth kam und verschaffte sich mit den Ellenbogen einen Platz nahe am Feuer. Wie ich blickte er mit einem gewissen Verstehen in die Flammen. Die Magie, die ich mir von Gog geliehen hatte, verbrannte an jenem Tag, als wir Pfeils Soldaten von der Spukburg vertrieben – sie war nie wirklich mein gewesen. Ich glaube aber, dass Gorgoth feuchte Hände von dem hatte, in dem Gog schwamm. Er war nicht flammenverflucht wie Gog, aber zumindest ein kleines Feuer loderte in ihm.
Grumlow wies uns auf Bischof Gomsts Ankunft hin, indem er auf die Mitra zeigte, die über den Köpfen der vor dem Speisezelt stehenden Männer schwankte. Wir beobachteten, wie er sich näherte, in voller Montur, auf seine Krücke gestützt und mit einem Schlurfen in den Füßen, obwohl er nicht älter war als Keppen, der vor dem Mittagessen einen Berg hinauflaufen konnte, wenn es sein musste.
»Pater Gomst«, sagte ich. So hatte ich ihn immer genannt, von Anfang an, und ich sah keinen Grund, das zu ändern, nur weil er jetzt einen anderen Hut trug.
»König Jorg.« Er neigte den Kopf. Der Regen wurde stärker.
»Und warum ist der Bischof von Hodd an einem nassen Abend wie diesem unterwegs, obwohl er sich vor den Votivkerzen in seiner Kathedrale wärmen könnte?« Ein wunder Punkt, denn die Kathedrale war nur halb fertiggestellt. Ich stichelte den alten Gomsty noch immer so wie damals, als wir ihn in einem Käfig an der Totenstraße fanden. Mein Onkel hatte sich übernommen, als er den Bau der Kathedrale in Auftrag gab: ein wenig bedachtes Projekt, das in dem Jahr begann, als mich meine Mutter auf die Welt presste. Vielleicht eine weitere schlechte Entscheidung. Jedenfalls, das Geld war ausgegangen. Kathedralen sind nicht billig, nicht einmal in Hodd.
»Ich musste mit dir reden, mein König. Besser hier als in der Stadt.« Gomst stand im Regen, der von seiner Krücke tropfte; sein Prachtgewand war durchnässt.
»Holt dem Mann einen Stuhl!«, rief ich. »Einen Mann Gottes lässt man nicht im Schlamm stehen.« Leiser fügte ich hinzu: »Heraus mit der Sprache, Pater Gomst.«
Gomst ließ sich Zeit, als er Platz nahm, und rückte sein Gewand zurecht, an dessen Saum sich eine Kruste aus Dreck gebildet hatte. Ich hatte erwartet, dass er mit dem einen oder anderen Priester kam, vielleicht in Begleitung eines Kirchenjungen, der seine Sachen trug. Aber stattdessen saß mein Bischof allein da, vom Regen nass, und sah älter aus, als es seine Jahre zulassen sollten.
»Es gab eine Zeit, in der sich das Meer erhob, König Jorg.« Er hatte die eine Hand so fest um die Krücke geschlossen, dass seine Knöchel weiß hervortraten, und starrte auf die andere Hand in seinem Schoß. Gomst erzählte nie Geschichten. Er schimpfte oder schmeichelte, je nach Art seines Publikums.
»Das Meer erhebt sich jeden Tag, Pater Gomst«, sagte ich. »Der Mond ergreift das tiefe Wasser, wie er auch Frauenblut ergreift.« Ich wusste, dass er von der Flut sprach, aber es fiel mir zu leicht, ihn ein wenig auf den Arm zu nehmen.