Loretta Napoleoni
Der Flächenbrand der Empörung
Wie die Finanzkrise unsere Demokratie revolutioniert
Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl
Loretta Napoleoni
Der Flächenbrand der Empörung
Wie die Finanzkrise unsere Demokratie revolutioniert
Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl
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Die italienische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
»Il Contagio. Perché la crisi economica rivoluzionerà le nostre democrazie«
bei Rizzoli, Mailand.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe
© 2012 der deutschsprachigen Ausgabe
Riemann Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
© 2011 Loretta Napoleoni
Umschlaggestaltung: www.buero-jorge-schmidt.de
Umschlagabbildungen: © Angelos Tzortzinis/AFP/Getty Images
Lektorat: Ralf Lay
Satz: Barbara Rabus
ISBN 978-3-641-08933-7
V002
www.riemann-verlag.de
Für Martina,
die ich aufwachsen gesehen habe, die nicht auf mich gehört hat und aus Sydney zurückgekehrt ist, die der Prototyp aller »prekär« Beschäftigten an den Universitäten ist, die uns mit ihrem unglaublichen Mut eine wunderbare Familie geschenkt hat, bei der das P nicht für »Prekariat« steht, sondern für »per sempre« – »auf ewig«.
Inhalt
Vorwort
1 Der Flächenbrand der Demokratisierung
2 Die Revolte gegen die Demokratie
Wie das Geld der Italiener verschleudert wird
Und wie man das Geld der EU durchbringt
3 Die neuen Bewegungen
Gotham kontra Disneyland
Die Jugend klettert über den Stacheldrahtzaun
4 Al Nahda
Revolution ohne Osama
5 Die Pest des Schuldenmachens
Griechenland am Ende
6 Kreative Buchführung
Wenn Staaten sich finanziell zu weit aus dem Fenster lehnen
7 Die bittere Pille – die nicht wirkt
Die Lektion von Abu Dhabi
Island – ein Glücksfall ohne den Euro
8 Das Meer der Ausgeschlossenen
Vetternwirtschaft
Am Mittelmeer sind alle Brüder
Die Schwäche des mediterranen Staats
9 Die (Weniger-als-)tausend-Euro-Generation
Generation P
10 Soziale Medien – die neue Waffe
Der große Schwindel
11 Es reicht!
Die Wirtschaft ist schuld
In trauter Profitgier vereint
Die Abhängigkeit von Nordeuropa
12 Der Internationale Armutsfonds
Was uns die Asienkrise (nicht) gelehrt hat
Schlechte Gesellschaft – schlechte Gewohnheiten
13 Die Scheinheiligkeit des Westens
Israel – der politische Aspekt
Arbeitsemigration – der soziale Aspekt
Erdöl: der wirtschaftliche Aspekt
14 Die Rückkehr des verlorenen Sohnes
Menschenhandel in Europa
15 Generalprobe für die Revolution: von Argentinien bis Tunis
Schlechte Regierungsführung international
16 Die Defizitländer – neue Zukunftswerkstätten?
Der Kater, der Fuchs und der arglose Pinocchio
Was wir daraus lernen können
Dank
Quellen
Vorwort
Der Versuch, der Geschichte hinterherzulaufen, ist unweigerlich zum Scheitern verurteilt, gerade in einem Jahr wie 2011, das ständig neue Überraschungen für uns bereithielt. Ich bemühte mich seit Monaten, mit der Lawine von Ereignissen Schritt zu halten, die die Wirtschaftskrise losgetreten hat. Ein Augenblick mangelnder Aufmerksamkeit genügt, um den roten Faden zu verlieren, der sich durch die sich überschlagenden Ereignisse zieht – absurd, unbegreiflich, bedrohlich. Und doch ist es gerade in diesem Chaos wichtig, die Zusammenhänge zu erkennen, um nicht in Panik zu verfallen.
Nach den außerordentlichen Ereignissen im Herbst 2011 war es erforderlich, das Vorwort und die Schlussfolgerungen in der Originalausgabe dieses Buchs zu aktualisieren. In der kurzen Zeit zwischen Ende August 2011, als die erste Auflage in Druck ging, und Ende November 2011, dem Erscheinungstermin der vierten, ist so einiges geschehen: Am 20. Oktober 2011 ereilte Gaddafi dasselbe Schicksal wie Mussolini, er wurde von den eigenen Leuten getötet. Am 16. November trat Silvio Berlusconi als Ministerpräsident zurück, ein historisches Ereignis, das in Italien auf Straßen und Plätzen im ganzen Land gefeiert wurde. Der Flächenbrand der Revolution ist auf Europa übergesprungen, hat den Atlantik überquert und die ganze Welt erfasst. Dies wurde am 15. Oktober 2011 offensichtlich, als beim ersten weltweiten Protesttag Bürger in den verschiedensten, teils weit voneinander entfernten Ländern gemeinsam auf die Straße gingen und riefen: »Wir wollen die Demokratie zurück!«
Wer hätte sich zu Beginn des Sommers vorstellen können, dass das Zentrum des globalen Finanzkapitalismus, die Wall Street, von Aktivisten der Occupy-Bewegung besetzt werden würde? Doch wenn man Zahlen wie die folgenden kennt, sind diese Ereignisse gar nicht mehr so verwunderlich: In den ersten neun Monaten des Jahres 2010 – für die Mehrzahl der Menschen ein schwieriges Jahr – bildeten die acht größten amerikanischen Banken Rückstellungen in Höhe von 130 Milliarden Dollar für Bonuszahlungen – das macht 121.000 Dollar pro Angestellten. Vier Jahre zuvor, als die Wirtschaft boomte, waren es noch 113 Milliarden Dollar. Ein geringerer Betrag also, genauer gesagt 114.000 Dollar pro Angestellten. Offensichtlich bekommen die Rezession nur jene zu spüren, die nicht zum Geldadel gehören, also 99 Prozent der Wähler.
Die Demonstranten, die im Zuccotti-Park ihr Hauptquartier aufschlugen, eine kleine Grünfläche zwischen Ground Zero und der New Yorker Börse, unterscheiden sich nicht allzu sehr von ihren »Kollegen« in den arabischen und europäischen Ländern oder in Israel: Sie sind arbeitslos oder unterbeschäftigt und fühlen sich von der Politik nicht ernst genommen. In den folgenden Tagen schossen die Zeltlager weltweit wie Pilze aus dem Boden: in den Vereinigten Staaten, Australien, Asien und im Rest der Welt. Der Funkenflug wurde begünstigt durch ein Klima allgemeiner Unzufriedenheit, die ihre Wurzeln in den enormen gesellschaftlichen Verwerfungen hat, die sich im Gefolge der Globalisierung in den USA gebildet und dann über den ganzen Planeten ausgebreitet hatten. Aus einer Umfrage des Informationsdienstleisters Bloomberg ging hervor, dass ein Erdöltrader an der Rohstoffbörse mit zehn Jahren Berufserfahrung im Jahr etwa eine Million Dollar verdient. Ein Neurochirurg mit derselben Berufserfahrung bringt es nur auf 600.000 Dollar. Banker, die sich auf den lohnenden Bereich »Mergers & Acquisitions« spezialisiert haben, also Firmenfusionen bzw. -aufkäufe, haben ein durchschnittliches Jahreseinkommen von zwei Millionen Dollar, etwa zehnmal so viel wie ein Forscher, der ein Mittel gegen den Krebs sucht. Das ist nicht die Gesellschaft, in der wir leben wollen.
Doch das Epizentrum des Flächenbrandes ist zweifellos der Mittelmeerraum, der sich im Jahr 2011 vollkommen verändert hat. In Europa sind zwei Regierungen gestürzt: die griechische und die italienische. Schuld daran ist der Druck – der Straße und der Wirtschaft gleichermaßen. Am 21. November 2011 ging Spanien zur Wahl und brachte von Neuem die Konservativen des Partido Popular an die Macht. Auch in Tunesien wurde gewählt, während in Ägypten einmal mehr die Menschen auf die Straße gingen und bei den Protestmärschen Gefahr für Leib und Leben riskierten, nur um die alten Machthaber daran zu hindern, die ersten freien Wahlen für ein neues Parlament und eine neue Verfassung zu manipulieren. Dieses Mal wurde die grundsätzlich gewaltfreie Haltung der ägyptischen Protestbewegung von Polizei und Heer auf eine harte Probe gestellt. Im Juni 2012 protestierten viele Ägypter erneut, weil die Urteile bzw. Freisprüche im Prozess gegen Mubarak und weitere ehemalige Protagonisten des Unterdrückungsapparats als viel zu milde empfunden wurden. Auch in Syrien und im Jemen gab es heftige Proteste gegen das herrschende Regime. Beide Länder sind Zeitbomben, die früher oder später hochgehen werden.
Die Bereitschaft zur Revolution lässt die Märkte nicht gerade ruhiger werden. Der Flächenbrand der Auflehnung versetzt Menschen wie Börsen gleichermaßen in Unruhe, ein Zeichen, dass die Krise nicht nur ein ökonomisches oder politisches Problem ist, sondern vielmehr ein systemimmanentes. Daher gelingt es den Regierungen in aller Welt auch nicht, ihn einzudämmen. Im November räumte die Polizei das Zeltlager im Zuccotti-Park. Präsident Obama lobte die Entscheidung der Italiener, ihr Vertrauen nicht weiter in die Regierung Berlusconi zu setzen, sondern in die Fähigkeiten eines Teams aus katholischen Technokraten der politischen Mitte. Die europäischen Regierungschefs taten es ihm gleich und lobten die Griechen dafür, dass Lucas Papademos, einstiger Funktionär der Europäischen Zentralbank, endlich George Papandreou abgelöst hatte. Er blieb bis zum 16. Mai 2012 Premierminister und Chef der griechischen Übergangsregierung. Irgendwie hoffte man wohl, den Ausnahmezustand ausrufen zu können. Man hoffte, es möge genügen, das Lager der Demonstranten zu räumen, um die Ausbreitung des Protestfunkens einzudämmen. Hoffte, dass ein Regimewechsel ausreicht, um einem Land neue Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Dass es Mario Monti, der maßgeblich am Euro-Stabilitätspakt mitgewirkt hat und früher Berater der Investmentfirma Goldman Sachs war, wie durch Zauberhand gelingen möge, den Märkten das grassierende Misstrauen auszutreiben, das die hohen Staatsschulden in manchen Ländern der Euro-Zone ausgelöst haben. Aber Schlagstöcke und ein paar technokratische Betonschädel genügen wohl doch nicht, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen und den Zinssatz zu senken, den die verschuldeten Staaten ihren Gläubigern bieten müssen, damit der Geldhahn weiter tröpfelt.
Doch nicht nur ungeeignetes Personal macht die Eindämmung unmöglich, auch die diesseits und jenseits des Atlantiks angewandten Strategien dazu sind widersinnig. Die Amerikaner bekämpfen die Rezession mit einer ordentlichen Portion quantitative easing, das heißt: Sie drucken Geld. Eine Politik, die die Deutschen in den dreißiger Jahren angewandt haben, um die astronomischen Reparationszahlungen aus dem Ersten Weltkrieg leisten zu können. Jeder weiß, wie die Geschichte seinerzeit ausging: Hyperinflation, Aufstieg der Nazis und Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Die EU hingegen verteidigt den Wert des Euro mit gezücktem Säbel und vergisst dabei, dass diese Politik die Länder am Mittelmeer nur noch ärmer macht und sie in einen unkontrollierbaren Bankrott treibt. Vor weniger als einem Jahrhundert legten die Amerikaner dieselbe Verbohrtheit an den Tag, als sie nach dem Schock von 1929 an der Goldparität des Dollars festhielten und dadurch Millionen Amerikaner in die Armut stürzten. Auch das Ende dieser Geschichte ist bekannt: Zusammenbruch der Banken, massiv ansteigende Arbeitslosigkeit und die Weltwirtschaftskrise.
Wenn man sieht, wie auf beiden Seiten des Atlantiks die politischen Führer nach einem Drehbuch agieren, das eine Neuauflage wohlbekannter historischer Szenarien scheint, fragt man sich unwillkürlich, ob wir aus der Geschichte nichts gelernt haben. Denn augenscheinlich hat man aus den Lehren der Vergangenheit die falschen Schlüsse gezogen. Beide Tragödien sind in unserem Unbewussten offensichtlich tief eingraviert, so tief, dass dies rationalen Entscheidungen im Weg steht. Um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, begehen die Amerikaner die Fehler der Deutschen und die Europäer die der Amerikaner.
Deutschland kämpft immer noch mit dem Gespenst der Weimarer Republik. Aus diesem Grund verhindert es, dass die Europäische Zentralbank mehr Geld ausgibt und als Gläubiger letzter Instanz auftritt. Das ist, als würde man einen Sprinter auf einen Hundertmeterlauf schicken und ihm vorher ins Bein schießen. Dass Europa nur eine gemeinsame Währung braucht, um seine jahrhundertelang mit Blut und Kanonen geschriebene Geschichte zu überwinden, ist eine Illusion, der heute noch viele Europäer unterliegen. Es ist wohl kein Zufall, dass im Mittelpunkt der Krise ausgerechnet jene Länder stehen, in denen die Erinnerung an die Diktaturen der Vergangenheit noch lebendig ist: Spanien, Italien, Griechenland, Portugal und auch Deutschland. Das geradezu irrationale Festhalten am Euro ist Frucht der Idee, dass allein eine gemeinsame Währung die europäischen Demokratien vor den Gefahren des Nationalismus und Faschismus bewahren kann. Mehr als der gemeinsame Markt, als das Europaparlament und alle geschlossenen Verträge garantiert die gemeinsame Währung in den Augen der Europäer den Frieden.
Doch leider steht hinter der gemeinsamen Währung keine echte Integration. In mehr als zehn Jahren ist es Brüssel nicht gelungen, die europäische Finanzlandschaft zu vereinheitlichen, ein europäisches »Schatzamt« zu schaffen oder gar die berühmten »Eurobonds«. Der Grund? Die Deutschen wollen nicht für die Schulden der Griechen geradestehen, und die Griechen wollen ihre Steuergelder nicht nach Brüssel abführen.
In der Zwischenzeit verrennt Europa sich in die Illusion, der Euro sei der Schutzschild des Kontinents, ohne den wir alle verloren wären, und läuft Gefahr, dass die Wirtschaft des Kontinents auseinanderbricht und die Welt in eine neue Weltwirtschaftskrise abgleitet. Die eigentliche Lektion aber, die wir aus der Geschichte lernen sollten, ist, dass die Gegenwart nie mit der Vergangenheit gleichzusetzen ist und dass es gilt, ihre Besonderheiten zu respektieren. Weder das Anwerfen der Gelddruckmaschinen noch die sture Verteidigung des Euro werden uns aus der aktuellen Situation heraushelfen. Was wir brauchen, ist eine gegenwartsbezogene Politik, die verschiedenen Entwicklungen wie dem Auseinanderdriften der Einkommen oder dem geplanten Bankrott von Ländern wie Griechenland und Italien einen Riegel vorschiebt. Wenn es dazu nötig sein sollte, dass manche Länder aus der Euro-Zone ausscheren, dann sollte dies möglich sein, bevor die Märkte es erzwingen und bevor es zu spät ist, um zu retten, was noch zu retten ist.
1 Der Flächenbrand der Demokratisierung
Ein gefährlicher Flächenbrand hat den Mittelmeerraum erfasst. Er zieht von Nordafrika nach Europa, scheinbar unaufhaltsam. Er erfasst hauptsächlich die jüngeren Mitglieder der Zivilgesellschaft, aber auch ältere sind dagegen nicht gefeit. Demokratische Gedanken verbreiten sich wie Feuer.
Die Flammen der Auflehnung sind nun sogar in Amerika angekommen, dem Herzen des Imperiums westlicher Globalisierung. Ein Schreckgespenst geht um, das weltweit allen Politikern zusetzt: der Funke. Denn gegen diesen Funken helfen weder Wasser noch Sand. Das Feuer nimmt einen atypischen Verlauf, weil ihm zwei Brände vorausgingen, die sozusagen das Feld bereitet haben: die Schuldenkrise und die Krise der politischen Institutionen, die sich zu überholten und untauglichen Instrumenten entwickelt haben. Erstere hat den allgemeinen Wohlstand verringert und somit die Widerstandskraft der betroffenen Länder herabgesetzt. Letztere stellt die Regierungsorgane in Frage. Wenn dem Flächenbrand nicht Einhalt geboten wird, könnte er die kränkelnden Demokratien Europas mit derselben Geschwindigkeit hinwegfegen, mit der im Süden die arabischen Diktaturen fallen.
Die Frage ist nun: Wäre das wirklich so schlecht?
Ein erstes Aufflackern des Feuers gab es bereits vor gut zehn Jahren. Tatsächlich beginnt alles mit dem Bankrott Argentiniens im Jahr 2001. Die politischen Folgen des Zusammenbruchs reißen bald ganz Lateinamerika mit sich. Überall entstehen neue Regierungen, die auf Konfrontationskurs zu den Eliten des westlichen Imperiums gehen, da man diese für die katastrophale wirtschaftliche Lage in mehr als einem Land verantwortlich macht. Eine politische Bewegung entsteht, die für die Rechte des Volkes eintritt und sie gegen die lokale wie internationale Oligarchie des Geldes verteidigt. Ihre Köpfe sind Menschen wie der brasilianische Regierungschef Lula oder der bolivianische Präsident Evo Morales.
Während im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends die Wirtschaft immer mehr in die Fänge des Finanzkapitalismus gerät, schafft der Funke den Sprung über den Atlantik. Periodisch wiederkehrende Krisen lassen das Feuer immer wieder aufflackern. Da ist zum Beispiel der immense Anstieg der Lebensmittelpreise seit 2007. Oder die von der Politik offen betriebene Diskriminierung und Kriminalisierung der Einwanderung. Gegen Ende 2010 wälzt das Feuer sich auf das Mittelmeergebiet zu und setzt alle Anrainerstaaten in Brand.
Dass der Unmut der Jugend einen Höhepunkt erreicht hat, merkten wir erst, als im Frühjahr 2011 immer mehr junge Leute auf die Straße gingen, zuerst in den Städten Nordafrikas, dann auch in den Zentren Europas. Doch die jungen Leute, die sich gegen Arbeitslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven auflehnen, sind sozusagen nur der Resonanzkörper einer Zivilgesellschaft, die allmählich verarmt, die von betrügerischen und heuchlerischen Politikern gedemütigt wird, die aus den Zirkeln der Entscheidungsträger ausgeschlossen ist. Dieser Befund trifft auf alle Gesellschaften rund um das Mittelmeer zu, ob sie nun an seiner Süd- oder seiner Nordküste liegen. Und so gehen in Griechenland, Portugal, Spanien, Frankreich und Italien nicht nur die Söhne und Töchter auf die Straße. Mit ihnen gehen ihre Eltern und Großeltern. Das Volk.
»Wir wollen unsere Würde zurück«, skandiert man in den Straßen der arabischen Welt. »Empört euch!«, ruft man in Europa. »Soziale Gerechtigkeit für alle!«, fordert man in Israel. Überall sind Arbeitslosigkeit und hohe Lebenshaltungskosten nur die Spitze des Eisbergs. Sogar die Euro-Krise, so bedeutsam sie auch sein mag, liefert dem Protest nur den Rahmen. Denn was die Wirtschaft eigentlich in die Knie zwingt, ist die Misswirtschaft auf politischer Ebene. Mittlerweile zeigt sich deutlich, dass die Demokratie in vielen Staaten nur eine Farce ist, dass einige europäische Demokratien sämtliche Symptome eines untergehenden Kaiserreichs zeigen, in dem Finanzbarone und Politiker um ihre Privilegien kämpfen wie mittelalterliche Feudalherren.
Schlechte Regierungsführung und Misswirtschaft, die im gesamten Mittelmeerraum an der Tagesordnung sind, haben die Anrainerstaaten zum Überträger gemacht – und das Mittelmeer selbst zur Grabstätte für all jene Unglücklichen, die Nordafrika verlassen, um ihr Heil in Europa zu suchen. Nun, da sich in Ägypten, Libyen, Syrien, Tunesien, Jemen und Bahrain die Menge gegen die Diktatoren erhebt, die einst als »Freunde des Westens« gehandelt wurden, protestieren die Menschen in Europa gegen Demokratien, die von einigen wenigen Interessengruppen gesteuert werden. Und sie tun dies auf ganz unterschiedliche Art und Weise: In Italien werden die Kommunalwahlen im Mai 2011 und die Volksabstimmung vom Juni desselben Jahres zum Plebiszit gegen Silvio Berlusconi, seine irrwitzige Regierungsführung und die herrschende Klasse, die ihm dabei sekundiert. In Spanien streichen die Indignados den Begriff »politisch« wegen seiner mittlerweile negativen Bedeutung aus dem Vokabular und weigern sich, zur Wahl zu gehen. Auch auf den Straßen wehren sich die Menschen: In Griechenland protestieren sie gegen das Parlament, das dem Land einen harten Sparkurs verordnet und dann die Polizei gegen die Demonstranten schickt. In Portugal schreit man der herrschenden Klasse ihre Verantwortung für den wirtschaftlichen Ruin des Landes entgegen. In Paris, auf der Place de la Bastille, protestiert man gegen das »Sarkozy-Regime«, dessen Tage im Mai 2012 gezählt sind. Ende Juli 2011 schließlich marschieren die Empörten Europas nach Brüssel. Im August kommt es in England zu Plünderungen. Entsetzt sieht die Welt zu, wie es in den Straßen jener Stadt, die in weniger als einem Jahr die Olympischen Spiele beherbergen soll, zu Ausschreitungen kommt. Die globale Zivilgesellschaft probt den Aufstand, weil sie sich allmählich der politischen Realität bewusst wird. Und weil sie sich, koste es, was es wolle, den Staat zurückerobern will.
Hatten wir es bis vor kurzem noch mit einer postindustriellen Gesellschaft zu tun, stehen wir nun am Anbeginn der postimperialen Gesellschaft. Und es sind vor allem die Mittelmeerländer, die die Tore in diese Ära weit aufstoßen. Doch während man in Nordafrika darum kämpfte, die Diktatoren, die mit westlicher Billigung ihr Volk unterdrückten, zu stürzen und Demokratien zu bilden, geht es in Europa um die Erneuerung der demokratischen Institutionen, die zu Machtinstrumenten in den Händen einer neuen Oligarchie verkommen sind.
Unterschiedliche Ziele also, aber gleiche Beweggründe. Was sich im Mittelmeerraum abspielt, ist nicht neu, denn es ähnelt der Geschichte Argentiniens, wo vor über zehn Jahren ein ganzes Volk bankrottging, was als Konsequenz einen politischen Umschwung in Lateinamerika bewirkte: Hier rebellieren die Ausgeschlossenen, die modernen Sklaven, die Leibeigenen der Globalisierung. Doch der Protest in Europa kann sehr viel gefährlicher werden als die Revolte in Tunesien und Ägypten, gefährlicher sogar als der Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen bzw. der mögliche Sturz von Assad in Syrien. Viel gefährlicher als der Bankrott Argentiniens. Denn das, wogegen man auf den Straßen Europas protestiert, ist keine brutale Diktatur, sondern vielmehr unsere vielgeliebte Demokratie, die – wenn man genauer hinschaut – nur noch eine Maske ist, die in Fetzen hängt. Aus diesem Grund wird man alles tun, um die Epidemie einzudämmen.
Im Augenblick stehen wir noch ganz am Anfang. Die Mobilisierung der Massen zielt nicht darauf ab, ein Regierungssystem zu beseitigen, das – um mit Churchill zu sprechen – immer noch »die schlechteste aller Regierungsformen ist, von allen anderen mal abgesehen«. Der Protest wendet sich gegen jene, die dieses System bislang gelenkt haben. Und es ist kein Zufall, wenn die neuen Formen des Protests Rückgriff nehmen auf die Urform der Kommunikation des Bürgers mit seinen Mitbürgern. Die Studenten, die in Rom den Piazzale Aldo Moro besetzt hatten, verweisen auf die agorá, den Marktplatz in der altgriechischen Stadt, wo die Demokratie ihren Anfang nahm. Auf der Plaça de Catalunya im Herzen Barcelonas versammeln sich die Demonstranten zu einem öffentlichen Bürgerforum, um »Staat zu machen«, weil der existierende Staat nicht mehr funktioniert.
Eines ist klar: Unser Vorbild kann nicht die klassische partizipatorische Demokratie sein. Dazu sind wir einfach zu viele. Doch im Augenblick ist dies das einzige Instrument, das uns zur Verfügung steht, um das Hemmnis »politische Klasse« zu überwinden, ohne zum Gewehr zu greifen. Das einzige, mit dessen Hilfe wir die Welt daran erinnern können, dass Volk und Staat nicht zwei getrennte Elemente sind. In Israel hat die Regierung zu einem neuen Mittel gegriffen: Sie hat den Dialog mit den empörten Bürgern eröffnet, indem sie eine Kommission einrichtete, in der neben Vertretern aller Parteien und Staatsorgane auch Vertreter der Demonstranten zu Wort kommen.
In den letzten zwanzig Jahren hat die Globalisierungselite, fast ohne dass wir es bemerkt hätten, die Demokratie als Geisel genommen, sodass diese Regierungsform heute sie repräsentiert und nicht uns. Nun ist die Zeit gekommen, dass wir uns das zurückholen, was uns gehört. Zumindest ertönt der Ruf danach auf den Straßen und Plätzen Europas. In allen Ländern ähneln sich die Forderungen: Abschaffung der Privilegien der politischen Klasse, Rechenschaftspflicht, Transparenz. Anders gesagt: Wer unterschlägt und Schmiergeld zahlt, wird angeklagt. Und wer rechtskräftig verurteilt wurde, kann kein öffentliches Amt mehr übernehmen. Vor allem aber: die Aufgabe des neoliberalistischen Entwicklungsmodells, das den Staatsstreich der politischen Klasse erst möglich machte, und Rückkehr der Ausgeschlossenen in die Politik. All diese Forderungen wurden stets gewaltfrei vorgetragen. Utopisch? Nun, wenn jemand uns im Herbst 2010 gefragt hätte, ob wir glauben, dass in den Städten der arabischen Welt das Volk gegen seine Herrscher aufsteht und eine friedliche Revolution anzettelt, was hätten wir damals geantwortet?
Denn noch etwas macht diese Revolution zu einer Besonderheit: die Tatsache, dass sie gewaltfrei verläuft. Wie wir noch sehen werden, bildet England die einzige Ausnahme. Dort hat die Sparpolitik von Premierminister David Cameron die Spannungen zwischen den Rassen verstärkt, die – zusammen mit den enormen sozialen Unterschieden – seit gut zwanzig Jahren das Land prägen. Doch sogar dort haben die Bilder von der Zerstörung die Menschen mobilisiert, die mit Besen und Kehrschaufel auszogen, um ihr Viertel wieder in Ordnung zu bringen. Die Botschaft ist dieselbe: Erobern wir uns den gesellschaftlichen Raum zurück.
Bestürzt sahen wir die Bilder von den Plünderungen in den englischen Städten, von den Polizeieinsätzen, dem Eingreifen der Anti-Terror-Kräfte oder privater arabischer Milizen, die sich auf Menschen stürzten, welche den Dialog mit ihnen suchten. Doch wir schreiben nicht mehr 1956, und wir sind nicht in Ungarn. Wir sind nicht 1968 in Prag oder 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Dort und damals glaubten die Verantwortlichen, das Erinnerungsvermögen der Menschen einfach auslöschen zu können wie Kreideschrift auf einer Tafel. Wir leben längst im globalen Dorf, in dem die Technik dafür sorgt, dass jeder alles von jedem weiß. Die sozialen Medien sorgen dafür, dass wir die Demonstrationen in Syrien in Echtzeit miterleben. Dass wir dabei sind, wenn die libyschen Rebellen auf Tripolis vorrücken, das in der Nacht vom 21. August 2011 eingenommen wird, und die Occupy-Wall-Street-Bewegung auf der Brooklyn Bridge demonstriert.
Die Revolution reist via Internet, vor allem unter Nutzung sozialer Netzwerke. In wenigen Monaten sind Tausende von Blogs entstanden, auf denen wir die Protestierenden begleiten können, wenn sie auf Straßen und Plätzen ihre Stimme erheben. Auf Twitter, einer überaus mächtigen »Buschtrommel«, verbreiten sich Nachrichten in Windeseile ums ganze Mittelmeer. Ein Netzwerk aus Telekommunikationsmitteln verbindet Griechen mit Syrern, Ägypter mit Portugiesen, Italiener mit Libyern. Im virtuellen Umfeld der sozialen Medien wird der Funke gehegt und gepflegt, die Brandgefahr steigt.
All dies spielt sich ab vor dem Hintergrund des finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs des westlichen Kapitalismus. Die Vereinigten Staaten verlieren das Triple-A-Rating für ihre Staatsanleihen, die Märkte brechen ein, Gold und Schweizer Franken sind heißbegehrte Zuflucht. Italien muss seinen Haushalt korrigieren und die Neuverschuldung in den nächsten Jahren um weitere 47 Milliarden Euro kürzen. Auch Frankreichs Rating ist betroffen. Nun wird der Funke von der Euro-Krise weitergetragen, die zwar keine physische, dafür aber wirtschaftliche und psychologische Gewalt ausübt. Der Zerfall der Währungseinheit schreckt die Europäer, die davon ausgehen, dass dies die Rezession verschärfen würde. Und dass dadurch die Einigung eines Kontinents zumindest gebremst, wenn nicht gar verhindert würde, dessen Bürger im Lauf der Jahrhunderte viel Blut vergossen haben. Besonders ängstlich reagieren diesbezüglich die Mittelmeeranrainerstaaten, war der Euro doch für sie die Eintrittskarte zum Club der hochentwickelten und durchmodernisierten Länder Nordeuropas. Bedauerlicherweise ist die Clubzugehörigkeit ein Mythos, gestrickt von Politikern, die ebendiesen Ländern enorme Opfer abverlangten, damit sie überhaupt Aufnahme in die Währungsunion fanden. Der Euro-Beitritt hat nur die Eliten fett gemacht.
Wenn dieser Mythos heute verblasst, wenn trotzdem keine Gewalt vonnöten ist, dann verdanken wir das dem Internet, das uns Möglichkeiten an die Hand gab, der politischen Propaganda und Repression auszuweichen. Die sozialen Netzwerke strafen jede Propaganda Lügen, und die Clips, die im Internet verbreitet werden, sind eine mächtige Waffe im Krieg der Meinungen. Die Revolution, der wir beiwohnen, ist friedlich, weil sich zum ersten Mal in der Geschichte Bilder als wirksamer denn konventionelle Waffen erweisen. Das wissen auch die Politiker. Nicht umsonst fürchten sie nichts mehr als die Ausbreitung der Flammen.
Tot und begraben ist im Übrigen auch das Instrument der Ideologie, zusammen mit dem Kalten Krieg und den Verträgen von Bretton Woods auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Die alten Schemata, die alten Parolen interessieren niemanden mehr. Heute geht es nicht mehr um Polarisierung. Bin Laden oder Busch, Kommunismus oder Kapitalismus – diese Dichotomien gehören der Vergangenheit an, denn die Welt, die sie beschrieben, liegt mittlerweile in Trümmern. Auch der Internationale Währungsfonds musste sich dem anpassen: Zum ersten Mal bot er einem Land – Ägypten – ein Darlehen an, ohne ihm, wie bislang in solchen Fällen üblich, ein anachronistisches Finanzkorsett überzustülpen. Nur dass die Ägypter es ablehnten und meinten, sie würden das auch allein schaffen. Und wenn die Empörten es schaffen, dann werden die Bürger, die Europa vor der Schuldenkrise schützen wollen, auch den IWF loswerden. Im Moment allerdings sieht es noch nicht so aus. Ganz im Gegenteil. Im Juli 2011 beschlossen die europäischen Regierungschefs mit einem der Maßnahmenpakete zur Rettung Griechenlands die Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds, den man früher als European Financial Stability Facility (EFSF) kannte. Ein Notfallgremium für defizitgefährdete Länder, das mit dem üblichen politischen Tamtam zum x-ten Organ der EU aufstieg.
Vergessen wir nicht, dass auf der Anklagebank auch der Markt selbst sitzt, der unzuverlässige, arrogante, unverschämte Markt, der bis vor kurzem bestimmte, wie die Stimmung im Mittelmeerraum ausfiel. Die griechischen Verluste waren nicht leicht zu verkraften, Ende Juli 2011 leckt er sich noch die Wunden. Im August bricht die Panik aus: Ausverkauf von den Staatsanleihen bis zu den Aktien großer Unternehmen. Die nächste Offensive wird im Herbst gestartet. Doch die Zivilgesellschaft sorgt dafür, dass den Kartenhäusern, auf denen die Macht der Oligarchen beruht, ein heftiger Wind entgegenbläst. Und so ist Vorsicht angesagt.
Der Strom von »illegalen« Einwanderern, der sich seit Jahren an die Küsten der europäischen Mittelmeerstaaten ergießt und mittlerweile zum Tsunami wurde, ist kein feindliches Heer, wie unsere Regierenden uns glauben machen wollen. Er ist Teil jener Zivilgesellschaft, zu der auch wir gehören. Wie unsere Familien sind auch die Migranten Opfer eines politischen und wirtschaftlichen Systems, das ebenso ungerecht wie starr ist. Diese Menschen versuchen, brutalen Regimen zu entkommen, darniederliegenden Wirtschaftssystemen, die nicht zuletzt Frucht der Klimakatastrophen sind, die wir durch übermäßigen Ressourcenverbrauch ausgelöst haben. Sie träumen vom Europa der Fernsehschirme, einer Reality-Show, einer Welt, in der angeblich Demokratie herrscht. Keiner denkt, dass ihn, nachdem er endlich unter Lebensgefahr die europäische Festung gestürmt hat, ein Leidensweg ähnlich dem in seiner Heimat erwartet. Und doch ist es so. Die europäischen Demokratien können diese Menschen nicht mehr aufnehmen. Sie verjagen sie oder beuten sie aus. Und der Grund? Nun, sie können ja nicht einmal mehr das Wohlergehen ihrer eigenen Bürger sichern.
brain drain
Durch die Sprache jedenfalls nicht. Sie sprechen alle die Sprache des Web 2.0, der neuen Kommunikationsmittel, die den Politikern so unverständlich ist. Sie teilen denselben sozialen Raum, denn sie sind alle im globalen Dorf der virtuellen Welt groß geworden. Sprache und Territorium, die Elemente des klassischen Nationalismus, der den Kontinent bis vor zehn Jahren mit Blut befleckte, sind heute grenzübergreifend. Aus ebendiesem Grund kommen uns die Lokalbezüge, ohne die die aktuelle Politik nicht auszukommen scheint, so antiquiert vor wie Botschaften in einer toten Sprache. Die jungen Leute, die in Madrid an der Puerta del Sol schlafen, und diejenigen, die in Kairo auf die Straße gingen, gehören einer Nation an. Das gilt auch für jene, die in Damaskus von Kugeln durchbohrt werden, die auf dem Piazzale Aldo Moro campieren oder auf dem Parthenon.