Unser Gesundheitswesen entwickelt sich mehr und mehr zu einer Gesundheitsindustrie, bei der die Erwirtschaftung von Erlösen der zentrale Antrieb ist. Die Krankenversorgung erfolgt nach dem Vorbild industrieller Produktion und verliert dabei zunehmend den kranken Menschen aus dem Blick. Patienten werden wie eine Nummer schnell durchgeschleust, man hält sich an das Formalistische, aber eine wirklich patientengerechte Versorgung wird immer häufiger erschwert, im stationären wie im ambulanten Bereich. Das ökonomische Denken ist so vorherrschend, dass sich dadurch auch die inneren Einstellungen der Heilberufe sukzessive verändern. Wie konnte es dazu kommen, und was steckt dahinter?
Giovanni Maio ist Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und zugleich Direktor eines eigenen Institutes. Als ausgebildeter Philosoph und Arzt mit langjähriger klinischer Erfahrung ist er ein gefragtes Mitglied zahlreicher Ethikkommissionen, in denen er sowohl die Bundesregierung als auch die Bundesärztekammer und die Deutsche Bischofskonferenz beraten hat und weiterhin berät.
Geschäftsmodell Gesundheit
Wie der Markt die Heilkunst abschafft
Suhrkamp
medizinHuman
Herausgegeben von Dr. Bernd Hontschik
Band 15
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4514.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74363-8
www.suhrkamp.de
Vorbemerkung des Herausgebers
I. Einleitung
II. Die Medizin auf dem Weg zu Fallpauschalen und Budgetierung. Eine Hinführung
1. Zur Notwendigkeit ökonomischen Denkens in der Medizin
2. Von der dienenden zur bestimmenden Ökonomie
III. Praktische Auswirkungen einer ökonomisierten Medizin
1. Aufnahme: Kategorisierung der Patienten nach ökonomischen Kriterien
2. Diagnostik: Parallelität von Über- und Unterdiagnostik
3. Therapie: Fragmentierung und Ziffer im Kopf
4. Entlassung: Kein sanftes Hinausbegleiten
5. Patientenkontakt: Handwerklich-technische Qualität vor Beziehungsqualität
6. Strategie der Simplifizierung
7. Wettbewerbsfähigkeit als neues Qualitätskriterium
8. Entsolidarisierung von den Schwächsten
9. Subtile Disziplinierung der Ärzte durch die Kostenträger
10. Innere Umprogrammierung der Ärzte
11. Sinnentleerung ärztlicher Tätigkeit
IV. Theoretische Implikationen einer ökonomisierten Medizin
1. Abschaffung der Geduld und Abwertung der Sorgfalt
2. Verlust der Rücksicht
3. Vernachlässigung der Ausbildung
4. Abschaffung des ärztlichen Ermessensspielraumes
5. Einfassen des Patienten in standardisierte Module
6. Austauschbarkeit des Arztes
7. Vorstellung herstellbarer Beziehungen
8. Abschaffung der Kreativität
9. Legitimierung der Gleichgültigkeit
10. Entlegitimierung des Nichtmessbaren
11. Machen statt Versehen
12. Verlust der Ganzheitlichkeit
13. Abwertung der ärztlichen Qualität
14. Etablierung einer Misstrauenskultur
15. Moralische Dissonanz und Verlust der Freude
16. Individualisierung struktureller Defizite
17. Kalküle des Eigennutzes statt Dasein für andere
18. Verlust des Vertrauens in die Medizin
V. Vom Patienten zum Kunden
1. Unzulänglichkeit des Kundenbegriffs für die Medizin
2. Ignorierung der Angewiesenheit des kranken Menschen
3. Von der Leidenslinderung zur Weckung neuer Bedürfnisse
4. Werbung für ärztliche Hilfe?
5. »Nichts ist unmöglich«– Kultivierung der Machbarkeit
VI. Vom Vertrauensverhältnis zum Vertragsverhältnis
1. Der Vertrag als das Vorgefertigte
2. Unpersönlichkeit des Vertrages
3. Egologik des Vertrages
4. Verlust des sozialen Bandes durch den Vertrag
5. Zur Notwendigkeit eines sozialen Bandes zwischen Arzt und Patient
6. Das Arzt-Patient-Verhältnis geht nicht im Rechtsverhältnis auf
VII. Problemfeld Bonuszahlungen: Belohnung für das Falsche
1. Bonusverträge als Entwertung ärztlicher Hilfe
2. Einkalkulierte Korrumpierbarkeit der Ärzte
3. Profanierung des Arztberufs
4. Die medizinische Indikation als Kernstück ärztlicher Ethik
5. Helfen aus innerer Motivation und nicht aufgrund äußerer Gratifikation
6. Monetäre Unbeeinflussbarkeit als zentraler Wert
VIII. »Lohnt es sich zu helfen?« – Der Irrweg in die Priorisierung
1. Notwendigkeit setzt eine Festlegung des Behandlungsziels voraus
2. Notwendigkeit setzt Zweckmäßigkeit voraus
3. Helfen unter Vorbehalt
4. Unersetzbarkeit ärztlicher Beurteilungserfahrung
5. Kosten-Nutzen-Analysen benachteiligen die Schwächsten
6. Verschwendung durch eine sprachlose naturwissenschaftliche Medizin
IX. Gesundheit als Pflicht? Krankheit als Schuld?
1. Der moderne Patient als »Nutzer«
2. Der Mensch als Gesundheitsmanager seiner selbst?
3. Eigenverantwortung erfordert strukturelle Voraussetzungen
4. Individualisierung der Gesundheitsrisiken
5. Kranke und alte Menschen als Verlierer
6. Eigenverantwortung braucht gemeinsame Verantwortung
7. Eigenverantwortung braucht Vertrauen in das soziale Band
8. Der kranke Mensch oder: Das Recht, schwach zu sein
9. Gesundheitskompetenz ist mehr Haltung als Wissen
10. Nicht Eigenverantwortung statt Sorge, sondern Eigenverantwortung durch Sorge
X. Für eine Aufwertung der Beziehungsmedizin
1. Notwendige moralische Anreize für eine Beziehungsmedizin
2. Ärzten muss ermöglicht werden, medizinisch zu entscheiden und nicht ökonomisch
3. Medizin braucht Anreize für eine ganzheitliche Betreuung
4. Krankenkassen: Sprechender Dialog mit den Ärzten statt formalisierter Kontrolle
5. Dialog zwischen Medizin und Ökonomie
6. Ermöglichung von Zeit, Aufmerksamkeit, Gespräch und Wertschätzung
Literatur
Gelegentlich schleichen sich neue Worte in die gesellschaftlichen Diskurse, deren Sinn man erst erfasst, wenn es bereits zu spät ist. Es geschieht gleichzeitig vor unseren Augen und hinter unserem Rücken. Eines dieser neuen Worte heißt: »Gesundheitswirtschaft«. Sprach man vor noch gar nicht allzu langer Zeit von dem »Gesundheitswesen«, ist nun von der »Gesundheitsindustrie« die Rede. Doch was ist das eigentlich? Was wird in dieser Wirtschaft hergestellt? Und wie heißen die Hersteller, was sind die Waren, wer sind die Käufer?
Neue Worte stehen für neue Konzepte: Ein Gesundheitswesen ist Teil des Sozialsystems unserer Gesellschaft. Ein Teil unseres Reichtums wird in das Gesundheitswesen investiert, zum Wohle aller. Eine Gesundheitsindustrie hingegen ist Teil des Wirtschaftssystems. Kapitaleigner investieren in diese Gesundheitsindustrie, und sie erwarten Rendite, zum Wohle weniger. Beides gleichzeitig kann man nicht haben, denn die Ziele dieser beiden Systeme widersprechen sich fundamental.
Das Wort »Gesundheitsindustrie« ist also ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Es gibt das Gesundheitswesen, und es gibt Industrien, die die dafür notwendigen Waren zur Verfügung stellen. Wenn das industrielle Produktionskonzept aber Besitz ergreift von der eigentlichen medizinischen Tätigkeit, wenn der Erfolg ärztlicher und pflegerischer Tätigkeit am Bilanzgewinn gemessen wird, dann hat die Gesundheitsindustrie gewonnen, das Gesundheitswesen tritt ab. Das Gesundheitswesen entwickelt sich zur Gesundheitswirtschaft, und in keinem Wirtschaftszweig sind derzeit höhere Renditen zu erwarten. Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte werden zu Leistungsanbietern, Krankenhäuser treten in Konkurrenz zueinander, Patientinnen und Patienten werden zu Kundinnen und Kunden, und Dienstleistungen werden – wie Waren – nur noch da angeboten, wo sie Gewinn versprechen, aber nicht für die Ärztinnen, die Ärzte, die Pflegekräfte oder die Patientinnen und Patienten, sondern für die Investoren. Wenn es darauf ankommt, wird eine Industrie immer die Priorität der Rendite durchsetzen, während ein Sozialsystem nur die Priorität der Bedürfnisse der ihm anvertrauten Menschen kennt. Dieses Buch handelt von der gegenwärtigen Humanmedizin in unserem Land, die sich zwischen diesen beiden Polen zu behaupten sucht.
Es geht hier nicht darum, wie dieser Destruktionsprozess, dieser Diebstahl am Gemeineigentum aufgehalten werden kann. Aber wer es gelesen hat, wird keinen Zweifel mehr daran haben, dass er aufgehalten werden muss – ein Ziel, das dieses Buch mit allen bisherigen 14 Bänden der Reihe medizinHuman gemeinsam hat.
Frankfurt am Main, im Dezember 2013
Bernd Hontschik
»In dem Augenblick, in dem Fürsorge dem Profit dient,
hat sie die wahre Fürsorge verloren.«
Bernard Lown
Vor kurzem bin ich zufällig auf folgende Stellenanzeige gestoßen: »Möchten Sie Ihre Kompetenzen einbringen, um das Wachstum eines innovativen Unternehmens auszubauen? Zur Fortsetzung der erfolgreichen Wachstumsstrategien suchen wir Sie als engagierten Teamplayer mit Führungsqualitäten.« Bei dieser Anzeige, so sollte sich herausstellen, handelte es sich um die Annoncierung einer Chefarztstelle. Der gleiche Text hätte auch für einen Betriebswirt, also für einen Geschäftsmann, verwendet werden können. Kein Wort über den Patienten war dort zu lesen, kein Wort davon, dass es in der Medizin um Hilfe geht und nicht um Expansion. Diese Annonce ist symptomatisch für unsere Zeit und für die gegenwärtigen Veränderungen der modernen Medizin. So wird heute innerhalb der Medizin immer weniger vom Helfenwollen, vom Dienst am Menschen gesprochen als vielmehr von Dienstleistungen, von Kunden, von Benchmarking, Wettbewerbsfähigkeit, ja, auch von Marketing. Die Begriffe ändern sich, und mit ihnen verändert sich auch die Identität der Medizin: von einem sozial-karitativen zu einem ökonomisch-kalkulierenden Selbstverständnis, von der Zuwendung zur Dienstleistung, vom Mitfühlen zur Kundenfreundlichkeit.
In den gegenwärtigen Debatten richtet sich der Argwohn der Öffentlichkeit gegen Oberflächenphänomene wie die Boni der Chefärzte, aber mit der Fokussierung auf möglicherweise rein ökonomisch motivierte Operationen wird häufig ausgeblendet, dass sich die gesamte Medizin in einem Transformationsprozess befindet. Es ist nicht der Bonus allein, der als Sinnbild des Überschwappens einer ökonomischen Rationalität auf die Medizin eine problematische Ausformung haben kann, sondern es ist das Denken, das den Bonus überhaupt erst als Selbstverständlichkeit aufkommen lässt, das Denken, das auch andere Formen ökonomischer Logiken immer weiter salonfähig macht.
Absicht dieses Buches ist, einen Überblick über die Auswirkungen dieser ökonomischen Rationalität mit besonderem Bezug auf die inneren Veränderungen der modernen Medizin zu gewinnen. Hierbei sei gleich Folgendes vorweggenommen: Ein Zurück-in-die-Vergangenheit kann nicht die Lösung für heutige Probleme sein. Aber eine Grundreflexion auf das Eigentliche kann sehr heilsam sein und am Ende vielleicht die Medizin und das gesamte Gesundheitssystem selbst dazu anhalten, nach neuen Wegen zu suchen, um die ökonomische Überformung zu durchbrechen und der Medizin das zurückzugeben, was von Seiten des Patienten von ihr erwartet wird: nämlich vor allen Dingen die Ermöglichung der Sorge um den kranken, hilfsbedürftigen Menschen, für die der vielerorts praktizierte »Kundendienst« ein schlechter Ersatz ist.
Ich möchte in diesem Buch die Auswirkungen einer Bemächtigung der Medizin durch die Ökonomie näher beleuchten, Schritt für Schritt, um aufzuzeigen, wie sehr sich die Identität der Medizin dabei von innen her verändert. Dabei wird sich erweisen, dass diese inneren Veränderungen so subtil sind und sich so allmählich einschleichen, dass man es kaum merkt. Im ersten Teil dieses Buches werde ich zunächst die Unzulänglichkeiten der unreflektierten Übertragung ökonomischen Denkens auf die Medizin darlegen, angefangen mit einer Schilderung der Veränderungen der stationären Medizin, wie sie sich durch die Einführung der DRGs, der Fallpauschalen, eingestellt haben, um dann unter der Berücksichtigung der ambulanten Medizin den Blick etwas zu weiten und sichtbar zu machen, wie sich mit den Veränderungen im Alltagsablauf vor allem die Wahrnehmungen und Grundeinstellungen der Heilberufe gewandelt haben. Zweck dieses Buches ist nicht die Aufzählung pragmatischer Handlungsvorschläge, auch wenn sich aus meinen Überlegungen einige ableiten lassen. Es verschreibt sich vielmehr der grundlegenden Reflexion und mündet in eine Erarbeitung der ethischen Grundlagen ärztlichen Handelns und in die Formulierung von Kernmaximen für eine Medizin der Zukunft.
Die noch genauer zu beschreibenden Veränderungen in der modernen Medizin sind Resultat einer seit den neunziger Jahren sich vollziehenden und politisch gesteuerten Umstrukturierung des Gesundheitswesens, angefangen mit dem Gesundheitsstrukturgesetz vom 1. 1. 1993. Zentraler Inhalt dieses Gesetzes war die Deckelung der Steigerungsraten der Krankenhausbudgets, das heißt, man wollte im Hinblick auf Defizite bei den gesetzlichen Krankenkassen politisch eine Begrenzung der Ausgaben erreichen, indem verordnet wurde, dass die Krankenhausbudgets nur in sehr begrenztem Maße steigen durften; statt der Steigerung von bislang 9,8 % sollte für 1993 eine Steigerung um nur 3 % zulässig sein; in den Folgejahren wurde diese zulässige Steigerungsrate weiter gesenkt.
Die zweite große Säule des Gesundheitsstrukturgesetzes war die Umstellung des Entgeltsystems. Hatte bis dahin jedes Krankenhaus eigene Pflegesätze, die sich aus den tatsächlichen Selbstkosten errechnen ließen, sollten nunmehr für alle Krankenhäuser einheitliche Pflegekosten festgelegt werden; dies war ein erster Schritt auf dem Weg zu einem Fallpauschalensystem. Durch diese politische Weichenstellung sind die faktischen Kosten des Krankenhauses von den Entgelten abgekoppelt worden, so dass fortan die Krankenhäuser sowohl Überschüsse als auch Verluste »erwirtschaften« können. Fortsetzung dieser Politik und ein Paradigmenwechsel war 2003 die endgültige Einführung der sogenannten DRGs, der Fallpauschalen für die gesamte Medizin, mit nur vorläufiger Ausnahme der Psychiatrie. Die Finanzierung der Krankenhäuser erfolgt seitdem nicht mehr wie früher durch eine retrospektive Finanzierung, also dadurch, dass erst nach der Behandlung die Kosten festgestellt und ersetzt werden, sondern stattdessen nunmehr durch eine prospektive Finanzierung, also schon bevor die Behandlung des Patienten begonnen hat. Mit der Fallpauschale ist im Vorhinein klar, wie viel das Krankenhaus für den Patienten erhält, und es obliegt dem Krankenhaus, die Behandlung so zu gestalten, dass es mit dem Geld auskommt. Auf diese Weise sind die Krankenhäuser einer betriebswirtschaftlichen Effizienz- und Wettbewerbslogik unterworfen.
Diese Umstellung auf ein prospektives Finanzierungssystem war sicher die bislang weitestreichende und einschneidendste Umstrukturierung des Gesundheitswesens nach 1945. Wenn es nun vom Krankenhaus selbst abhängt, ob es am Ende Überschüsse oder Verluste macht, so ist es eine logische Konsequenz, dass seitdem alle Häuser ihre Abläufe rationalisieren und ihre Entscheidungen nicht mehr allein nach dem medizinischen Bedarf ausrichten, sondern ebenso nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dies umso mehr, als die Weiterexistenz des eigenen Hauses letzten Endes davon abhängen wird. Wenn man entsprechenden betriebswirtschaftlichen Analysen glauben möchte, so führt die Einführung der DRG-Vergütung mittelfristig dazu, dass mindestens zehn Prozent der Krankenhäuser geschlossen werden müssen. Schon im Zeitraum zwischen 1991 und 2005 ist die Anzahl der Krankenhäuser von 2411 auf 2139 zurückgegangen (Manzeschke 2007, S. 70).
Die Abkehr vom retrospektiven Kostenerstattungsprinzip auf die prospektive Fallpauschalenvergütung führte zu einer allgemeinen Verunsicherung aller Beschäftigten und – angesichts der Bedrohung des eigenen Arbeitsplatzes – sukzessive zur Verinnerlichung einer rein ökonomischen Denkweise. Mit dieser Umstellung hat sich etwas Grundlegendes vollzogen: Trugen bislang die Krankenkasse, die Politik, die öffentliche Hand das Finanzierungsrisiko eines Hauses, so ist dieses Risiko nunmehr ganz auf das Krankenhaus abgewälzt worden, und dessen jeweilige Leitung gibt die Verantwortung an die Heilberufe weiter. De facto werden die Krankenhäuser mehr oder weniger ihrem ökonomischen Schicksal überlassen, und sie alle müssen um ihre Zukunft bangen, wenn sie keine schwarzen Zahlen schreiben. Da ihre ganze Existenz allein von ihrer Wirtschaftlichkeit abhängt, wird das Diktat der Einsparung, der schnellen Durchschleusung von Patienten, das Diktat der Beschränkung auf das Formale immer mehr zum leitenden Paradigma.
Bevor wir auf diese Veränderungen näher zu sprechen kommen, zunächst ein paar Zahlen, die verdeutlichen, in welche Richtung die Entwicklung geht: Zwischen 1991 und 2005 hat sich die durchschnittliche Verweildauer stationär behandelter Patienten von 14,1 auf 8,6 Tage reduziert (Manzeschke 2007, S. 70); gleichzeitig ist die Anzahl der Krankenhausbehandlungen gestiegen. Bezeichnenderweise haben diese Veränderungen (mehr Patienten – frühere Entlassungen) nicht zu einem Rückgang der Kosten geführt; so sind die Ausgaben für die Krankenhäuser im Zeitraum von 1990 bis 2000 noch weiter gestiegen, von 46,5 Mrd. € auf 61,1 Mrd. € (Büssing u. Glaser 2003, S. 17). Strukturell kann man eine Abnahme des Anteils öffentlicher Krankenhäuser konstatieren; zwischen 1996 und 2008 ist dieser von 40,7 % auf 31,9 % aller Krankenhäuser geschrumpft. Im selben Zeitraum stieg der Anteil privater Krankenhäuser von 18,3 % auf 30,6 % (Bär 2011, S. 111). Durch die neuen Rahmenbedingungen werden viele öffentliche Häuser von privaten Trägern übernommen und auf diese Weise privatisiert.
Diese Zahlen zeigen, welches Ausmaß der gegenwärtige Trend zur Verbetriebswirtschaftlichung der Medizin angenommen hat. Diese Entwicklung birgt große Gefahren, weil durch eine zu starke Gewichtung ökonomischen Denkens die Medizin selbst als soziale Praxis sukzessive ausgehöhlt wird und am Ende gar nicht mehr als soziale Einheit erkennbar sein könnte. Der Verlust des Sozialen als Resultat einer ökonomischen Überformung der Medizin ist also die Grundthematik dieses Buches. Zuvor jedoch ist es notwendig, eine Differenzierung des Begriffs der Ökonomisierung vorzunehmen, denn hier soll nicht behauptet werden, dass die Medizin kein betriebswirtschaftliches Denken bräuchte. Im Gegenteil: Eine gute Medizin ist vielmehr grundlegend auf ökonomisches Denken angewiesen, weil sie die Verpflichtung hat, ihre Gelder, die sie aus Steuerabgaben bezieht, in vernünftiger Weise auszugeben und nicht zu verschwenden.
Auf einen sorgsamen Einsatz dieser Gelder hat jeder Arbeitnehmer und Arbeitgeber einen Anspruch. Wenn wir über die Grenzen der Ökonomisierung sprechen, so darf dies nicht als Verweigerung verstanden werden, Realitäten und Notwendigkeiten anzuerkennen. Schließlich sind Menschlichkeit und Effizienz keineswegs Gegensätze, denn um Menschlichkeit zu realisieren, ist man auf wirksame wirtschaftliche Strukturen angewiesen. Humanität oder Ökonomie – das wäre ein unzutreffender Antagonismus, weil Ökonomie und Medizin nicht per se Antipoden sind. Es sind vielmehr zwei verschiedene Logiken, die jede für sich ihre Berechtigung haben. Die Ökonomie schafft die Ermöglichungsbedingungen und damit die Voraussetzungen für eine effektive Medizin. Sie ermöglicht die Strukturen, durch die überhaupt erst ärztliche Hilfe realisiert werden kann. Die Medizin kann sich kein Missmanagement leisten und erst recht keine Verschwendung.
Aus diesem Grund ist das Ziel der Leitungsstrukturen, den Fortbestand eines Krankenhauses durch gutes Wirtschaften zu sichern, in hohem Maße anerkennenswert. Viele Krankenhäuser, die zunächst bangen mussten, gegebenenfalls verkauft oder gar aufgelöst zu werden, sind den neuen Geschäftsleitungen überaus dankbar, wenn diese das Haus aus den roten Zahlen führen. Der Sachverstand von deren Geschäftsführern ist für viele Häuser die letzte Rettung, und ohne diesen kann Medizin nicht realisiert werden.
Aber: Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Ökonomie einer ihr eigenen Logik folgt und dass diese mit der Logik der Medizin in Konflikt geraten kann. Gerade am Krankenbett erweist sich die Logik der Ökonomie als eine der Medizin fremde Logik, weil die Medizin eben keine Dienstleistung ist, sondern eine soziale Praxis, und weil die Medizin es in ihrem Kern nicht mit Kunden zu tun hat, sondern mit hilfsbedürftigen Menschen, die nichts kaufen wollen und die nicht unverbindliche Angebote einholen wollen, sondern die meist in einer Situation der Bedürftigkeit und Abhängigkeit nach einem Menschen suchen, der sie aus ihrer krankheitsbedingten Krise herausführt.
Das heißt, dass die Logik der Ökonomie vor allem hinsichtlich der Optimierung der Prozesse und beim Aufbau einer strukturellen Grundlage wichtig ist, durch die eine Arzt-Patient-Beziehung überhaupt erst ermöglicht werden kann. Je patientennäher aber der Bereich ist, auf den die Ökonomie Einfluss nimmt, desto eher könnte es zu einer Kollision zweier verschiedener Logiken kommen, zu einem Wettstreit zwischen beiden und in deren Folge zu Dilemmasituationen und Gewissensproblemen. Wenn am Ende gar das ökonomische Kalkül die Oberhand gewinnt und der Arzt von seinem medizinischen Fachwissen her das nicht in Anschlag bringen kann, was er als eine gute Krankenversorgung definieren würde, dann entstehen Schuldgefühle und tiefe Verunsicherung bei den Ärzten. Sebastian Klinke hat den Hintergrund dieser Schuldgefühle und dieses psychischen Unbehagens der Ärzte wie folgt auf den Punkt gebracht: »Ein großer Teil der Krankenhausärzte arbeiten subjektiv in einer Realität, in der das, was sie moralisch für richtig erachten, nicht ihre Praxis ist.« (Klinke 2008, S. 18)
Je mehr sich also das ökonomische Denken auch dort breitmacht, wo naturgemäß ein anderes Denken gelten müsste, desto mehr entfremdet sich die Medizin von ihrem eigentlichen Ziel. Daher kann auch nicht von einer Gleichrangigkeit ökonomischer und medizinischer Logik gesprochen werden, da ja Ärzte nicht nur in bestimmten Situationen die gute Versorgung ihrer Patienten an oberste Stelle setzen sollten. Der Arzt hat dem Patienten gegenüber eine Loyalitätspflicht, die er nicht einfach aufgeben kann. Einen Ausgleich, ein Ausbalancieren von ökonomischem Vorteil und dem Wohl des Patienten, kann es schlicht nicht geben, weil Letzteres nicht verhandelbar ist. Die Ökonomie wird folglich dann zum Problem, wenn sie ihre Logik nicht nur auf die Ermöglichungsbedingungen von Medizin anwendet, sondern auf den Inhalt der Medizin selbst. Die Frage ist daher: Wie weit ermöglicht die Ökonomie ärztliches Handeln, und ab wann bestimmt die Ökonomie ärztliches Handeln?
Die Frage ist somit nicht, ob ökonomisches Denken in der Medizin einen Platz hat oder nicht, sondern welches Ausmaß dieses Denken hat und welcher Stellenwert ihm zukommt. Zu ihrer Beantwortung wäre eine differenzierte Strukturierung unterschiedlicher Ökonomisierungsgrade sinnvoll. Uwe Schimank und Ute Volkmann haben in überzeugender Weise fünf Grade der Ökonomisierung beschrieben (siehe Tab. 1).
Das Stufenmodell der Ökonomisierung
Stufe 1 (autonomer Pol) |
Überhaupt kein Kostenbewusstsein bei den Akteuren; Zahlungsfähigkeit ist problemlos gegeben; Akteure können völlig autonom handeln |
Stufe 2 | Verlustvermeidung als »Soll-Erwartung« an die Akteure; ansonsten handeln die Akteure autonom |
Stufe 3 | Verlustvermeidung als »Muss-Erwartung« an die Akteure; Autonomie der Akteure wird in Teilen beschnitten (z. B. in Form von Rationierung) |
Stufe 4 | Verlustvermeidung als »Muss-Erwartung« kombiniert mit Gewinnzielen als »Soll-Erwartung«; Akteure sollen ihr Handeln an die Marktgängigkeit anpassen |
Stufe 5 (weltlicher Pol) |
Gewinnerzielung als einziges Ziel des Teilsystems |
Unter Ökonomisierung verstehen Schimank und Volkmann unter Rekurs auf Pierre Bourdieu das Eindringen einer kapitalistischen Wirtschaftslogik in Teilsysteme, die bis dahin eine eigene Logik hatten. Im System Medizin ist dementsprechend das Wirkmächtigwerden einer Logik gemeint, die aus einem anderen Teilsystem stammt. Am Anfang, also vor dem Eindringen der fremden Logik, sind die Akteure, hier die Ärzte, in ihrem Medizinsystem vollkommen frei; sie können gemäß ihres Systems autonom entscheiden; hier ist das Selbstverständnis des Arztes in seiner medizinischen Logik vorherrschend, so dass von einem »autonomen Pol« gesprochen werden kann. Am anderen Ende der Skala steht der sogenannte »weltliche Pol«, welcher die komplette Durchdringung der Medizin durch die ökonomische Logik anzeigt. Diese Durchdringung lässt der autonomen Entscheidung des Arztes als Vertreter einer medizinischen Logik keinen Raum mehr. »Weltlich« bedeutet hier, dass dem System die ärztliche Logik vollkommen gleichgültig ist und die Frage, ob die Ärzte als Ärzte gut handeln, bei diesem Pol keine Rolle spielt. Der autonome (genuin ärztliche) und der weltliche (genuin ökonomische) Pol stehen in einem ständigen Spannungsverhältnis zueinander, und je nach Stufe überwiegt der eine (ärztliche) oder der andere (ökonomische) Pol. Dass aber diese beiden Pole eine Spannung erzeugen, macht diese Differenzierung deutlich.
Stufe 1 stellt einen Zustand dar, der vernünftigerweise nicht angestrebt werden kann. Wenn gar kein Kostenbewusstsein vorhanden ist, besteht die Gefahr der Verschwendung, was zu Engpässen in anderen Bereichen führt. Erstrebenswert ist vielmehr Stufe 2, auf der die Ärzte ärztlich entscheiden können, die Kosten dabei aber durchaus mit im Blick haben. Wenn der Kostendruck so groß ist, dass man sich ein Minus nicht leisten kann, dann ist Stufe 3 erreicht, die unweigerlich mit einer Beschneidung der rein medizinischen Logik einhergeht. Hier schöpft der Arzt dann in bestimmten Bereichen die Möglichkeiten der Behandlung nicht mehr voll aus.
An diesem Punkt beginnt eine Gratwanderung. Wenn die Art und Weise der Beschneidung transparent ist und nach einsichtigen und zumutbaren Kriterien erfolgt, ist eine solche Rationierung vertretbar, aber die Kriterien müssen demokratisch abgestützt sein, und das ist ein sehr schwieriges Unterfangen (siehe Kapitel VIII). Wenn aber die Rationierungen nur verdeckt und ohne demokratisch abgestützte Kriterien erfolgen, ist dies unter ethischen Gesichtspunkten äußerst problematisch, weil auf diese Weise eine gerechte Zuteilung der Ressourcen nicht gewährleistet ist. Im deutschen Gesundheitssystem haben wir mancherorten schon Stufe 4 erreicht, wonach der Kostendruck so hoch, das Ziel der Verlustvermeidung so beherrschend ist, dass von einer Autonomie der Akteure kaum mehr die Rede sein kann. Hier steht also die Steuerung der Ärzte nach Vorgaben der Unternehmensführung im Vordergrund. Von ihnen wird erwartet, dass sie ihr Handeln an der Marktgängigkeit ausrichten.
Im Folgenden soll an einigen Beispielen gezeigt werden, wie sich gerade der stationäre Sektor durch die beschriebene Umstellung auf das Fallpauschalensystem verändert. In einem zweiten Schritt sollen diese Veränderungen aus übergeordneter Sicht betrachtet werden, und zwar unter dem Aspekt, welche Auswirkungen diese neuen Rahmenbedingungen auf die medizinische Identität selbst und das Selbstverständnis der Ärzte im ambulanten wie stationären Sektor haben.