Cover

Das Buch

Ene, mene, muh – nie wird Atlee Pine den Abzählreim vergessen, mit dem der nächtliche Eindringling zwischen ihr und ihrer Zwillingsschwester Mercy auswählte. Mercy nahm er mit. Atlee durfte bleiben. Und sah ihre Zwillingsschwester nie wieder.

Knapp dreißig Jahre später sitzt sie als FBI-Ermittlerin in Shattered Rock, Arizona, der tiefsten Provinz. Auch ihr neuer Fall klingt zunächst extrem provinziell: Sie soll herausfinden, wer das Maultier am Grund des Grand Canyon aufgeschlitzt hat. Doch dann entpuppt sich die Angelegenheit schnell als brisant. Der Reiter des Maultiers ist spurlos verschwunden – aber er war offensichtlich auch kein normaler Tourist, sondern verfolgte eine eigene Agenda. Plötzlich soll Atlee Pine vom Fall abgezogen werden, Befehl von oben. Das stachelt ihren Ehrgeiz erst recht an. Noch ahnt sie nicht, wie groß und weitreichend die Verschwörung ist, die hinter allem steckt. Wird sie Amerika aus größter Gefahr retten können – und zugleich dem Entführer ihrer Schwester näher kommen?

Der Autor

David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Mit über 130 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den weltweit beliebtesten Autoren. »Ausgezählt« ist der erste Roman in seiner neuen Bestsellerserie um die Ermittlerin Atlee Pine.

DAVID BALDACCI

AUSGEZÄHLT

THRILLER

Aus dem Amerikanischen
von Norbert Jakober

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Long Road To Mercy
bei Grand Central Publishing / Hachette Book Group Inc., New York

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Copyright © 2018 by Columbus Rose, Ltd.

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design,
unter Verwendung von Trevillion Images (Stephen Mulcahey) und
Shutterstock (S. Borisov, Chantal de Bruijne, Doug Lemke)

Redaktion: Wolfgang Neuhaus

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-24488-0
V002

www.heyne-verlag.de

Für Kristen White,

eine großartige Kollegin und Freundin.

Du bist unser rechter Arm, unser linkes Bein und noch viel mehr!

Ich weiß nicht, was wir ohne dich anfangen würden.

Hoffentlich müssen wir es nie herausfinden.

1

Ene, mene, muh.

FBI Special Agent Atlee Pine betrachtete die strenge, düstere Fassade des Gefängniskomplexes, in dem einige der gefährlichsten Exemplare der Gattung Mensch verwahrt wurden.

Mit dem schlimmsten von ihnen wollte Pine heute Abend sprechen.

Das ADX Florence, ungefähr hundert Meilen südlich von Denver, war das einzige Hochsicherheitsgefängnis im US-Bundesstrafvollzug, das den »Supermax«-Standard erfüllte, die maximale Sicherheitsstufe, die man durch Haftbedingungen erreichte, die einer Isolationshaft nahekamen. Insgesamt saßen mehr als neunhundert Sträflinge auf diesem abgelegenen Flecken Erde hinter Gittern.

Nachts, wenn alle Lichter brannten, funkelten die Gebäude des Gefängniskomplexes, vom Himmel aus betrachtet, wie Diamanten auf schwarzem Samt – so kalt und hart wie die Männer in diesen Mauern, ob Wärter oder Häftling. Es war kein Ort für Leute mit schwachen Nerven. Es war ein Ort, an dem Bestien in Menschengestalt untergebracht waren, Psychopathen übelster Sorte.

So beherbergte das Supermax unter anderem den Unabomber, den Attentäter vom Boston-Marathon, die 9/11-Terroristen, mehrere Serienkiller, einen Mittäter des Anschlags von Oklahoma, verschiedene Spione, Anführer der White-Supremacy-Bewegung sowie eine Reihe von Mafia- und Drogenbossen. Die Jüngsten unter ihnen waren Mitte zwanzig, die Ältesten gingen auf die achtzig zu. Die meisten würden in diesen Mauern sterben. Wer zu mehrfach lebenslänglich verurteilt war, konnte sich keine Hoffnungen machen, jemals freizukommen.

Das Hochsicherheitsgefängnis lag fernab der menschlichen Zivilisation in einem kargen Landstrich in Colorado. Noch nie war es einem Häftling gelungen, aus dem ADX Florence auszubrechen. Sollte es wider Erwarten doch jemand schaffen – er hätte keine Chance. Hier gab es kein Versteck, keine Deckung, keinen Schutz in der flachen, offenen Landschaft, in der es nicht die winzigste Erhebung gab, so weit das Auge reichte. Nirgends wuchs ein Grashalm, geschweige denn ein Baum oder Strauch. Der Gefängniskomplex wurde von vier Meter hohen, von Stacheldraht gekrönten Mauern umschlossen. Auf dem Gelände patrouillierten rund um die Uhr bewaffnete Wärter mit Kampfhunden. Falls doch einmal ein Häftling bis zur Mauer durchkam, würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Kugel oder scharfen Hundezähnen getötet. Und niemand würde ihm auch nur eine Träne nachweinen.

Durch die schmalen, einen Meter hohen Fenster der Zellen sah man nur den Himmel oder das Dach des Gefängnisbaus. ADX Florence war so angelegt, dass die Insassen zu keinem Zeitpunkt wussten, in welchem Teil der Anlage sie sich befanden. Die Zellen waren dreieinhalb mal zwei Meter groß, und praktisch alles im Innern, außer dem Häftling, war aus Stahlbeton. Die Duschen schalteten sich nach kurzer Zeit von selbst ab, und die Wände waren schallisoliert, sodass kein Häftling mit einem anderen Kontakt aufnehmen konnte. Die massiven Stahltüren wurden hydraulisch betätigt, und die Essensausgabe erfolgte durch einen schmalen Schlitz in der Zellentür. Außerhalb der Zellen war jede Kommunikation untersagt; die einzige Ausnahme bildete der Besucherraum. Für aufmüpfige Häftlinge und Notfälle gab es die Z-Einheit, »Schwarzes Loch« genannt – ein Bereich, in dem die Zellen völlig dunkel blieben und die Betonbetten mit Riemen versehen waren.

Einzelhaft war in dieser Anstalt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das Supermax war nicht dafür gedacht, den Insassen in seinen Mauern Freude und Zerstreuung zu bieten.

Atlee Pines Wagen war sorgfältig durchsucht, ihr Name und Ausweis anhand der Besucherliste gecheckt worden. Erst danach hatte man sie zum Haupteingang geführt, wo sie den Sicherheitsmännern ihre Papiere zeigte, die sie als FBI Special Agent auswiesen.

Pine war fünfunddreißig und trug seit zwölf Jahren die FBI-Dienstmarke am Gürtel. Auf der golden schimmernden Plakette prangte ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen; darunter war Justitia mit Waage und Schwert zu sehen. Pine fand es irgendwie passend, dass eine weibliche Figur das Abzeichen der weltweit bekanntesten Polizeibehörde zierte.

Nachdem sie den Sicherheitsleuten ihre Glock 23 ausgehändigt hatte, war Pine unbewaffnet, denn die Beretta Nano, die sie normalerweise in einem Fußholster trug, war im Auto geblieben. Vermutlich war es das erste Mal, dass Pine freiwillig ihre Waffe herausgab. Beim FBI gab man seine Pistole nur ab, wenn man tot war. Doch Amerikas einziges Supermax-Gefängnis hatte seine eigenen Regeln, an die auch Pine sich halten musste, wenn sie hineinwollte – und das wollte sie.

Um jeden Preis.

Atlee Pine war groß, eins einundachtzig ohne Schuhe, und athletisch. Die Größe hatte sie von ihrer Mutter geerbt, den durchtrainierten Körper verdankte sie jahrelangem Krafttraining. Die Muskulatur an Oberschenkeln und Waden, Schultern und Oberarmen war ausgeprägt und gut definiert. Neben Gewichtheben hatte Pine Mixed Martial Arts und Kickboxen betrieben und sich dabei so ziemlich alle Tricks und Kniffe angeeignet, um sich gegen einen größeren, schwereren Gegner zu behaupten.

All diese körperlichen Vorzüge und Fertigkeiten hatte Pine mit einem ganz bestimmten Ziel vor Augen erworben: in einer männlich dominierten Welt zu überleben. Ihre physische Kraft, ihre Ausdauer und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten waren dabei extrem hilfreich. Pines Gesicht war kantig, doch auf seine eigene Weise attraktiv. Ihr Haar war dunkel und schulterlang, und das verwaschene Blau ihrer Augen strahlte etwas Unergründliches aus.

Pine hatte das ADX Florence noch nie besucht. Während zwei stämmige Wärter, die bislang kein Wort gesprochen hatten, sie durch die Gänge führten, fiel ihr als Erstes auf, wie still es hier war. Als FBI-Agentin hatte sie schon mehr als einen Knast von innen gesehen. Normalerweise herrschte eine lebhafte Geräuschkulisse: Schreie, Flüche, wüste Drohungen, vermischt mit banalem, meist lautstarkem Gequatsche; man sah Finger, die Gitterstäbe umklammerten, und drohende Blicke aus den schummrigen Tiefen der Zellen. Wer noch nicht völlig verroht war, würde es spätestens bei seiner Entlassung sein. Falls er bis zur Entlassung überlebte. In Florence lag die Todesrate extrem hoch.

Es war wie in Herr der Fliegen.

Mit dem Unterschied, dass es hier Stahltüren und Toiletten gab.

Doch anders als in anderen Gefängnissen war es hier so still wie in einer Kirche. Pine war beeindruckt. Es war bemerkenswert, wenn man bedachte, dass hier Männer einsaßen, die zusammengenommen Tausende Mitmenschen abgeschlachtet hatten – mit Bomben, Schusswaffen, Messern, Gift oder bloßen Fäusten. Oder, im Fall der Spione, mit Heimtücke und Verrat.

Ene, mene, muh,

und raus bist du.

Pine war von St. George, Utah, herübergefahren, wo sie einige Jahre zuvor gewohnt und gearbeitet hatte. Es war eine lange Strecke; sie hatte den gesamten Bundesstaat Utah und die Hälfte von Colorado durchquert. Ihrem Navi zufolge hätte sie für die 650 Meilen etwas mehr als elf Stunden benötigen müssen; sie hatte die Strecke in knapp zehn Stunden bewältigt, dank des bärenstarken Motors ihres SUV und des elektronischen Warngeräts, das sie durch die allgegenwärtigen Radarfallen gelotst hatte.

Einmal hatte sie haltgemacht, um die Toilette aufzusuchen und sich einen Happen für unterwegs zu besorgen. Den Rest der Zeit hatte sie einfach nur das Gaspedal voll durchgetreten.

Sicher, sie hätte nach Denver fliegen und nur das letzte Stück mit dem Auto fahren können, doch sie hatte Urlaub und brauchte ohnehin ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken, wie sie vorgehen würde, sobald sie ihr Reiseziel erreicht hatte. Eine lange Fahrt durch weite, menschenleere Landschaften bot dafür ideale Voraussetzungen.

Pine war im Osten aufgewachsen, hatte aber den Großteil ihres Berufslebens in den schier endlosen Ebenen des amerikanischen Südwestens verbracht. Und sie hatte nicht die Absicht, von hier wegzugehen. Sie liebte die Weite und die wilde Schönheit der Natur.

Nach ein paar Jahren beim FBI war Pine in der glücklichen Lage gewesen, sich ihre Dienststelle aussuchen zu können, denn sie war bereit gewesen, in die Provinz zu gehen, wohin sonst niemand wollte. Die meisten Agenten zog es an eines der sechsundfünfzig FBI Field Offices. Manche mochten es heiß und bevorzugten Miami, Houston oder Phoenix. Andere hofften auf eine steile Karriere und bemühten sich um einen Posten in New York oder Washington, D.C. Auch Los Angeles und Boston waren aus verschiedenen Gründen äußerst beliebt. Doch Pine hatte nie Interesse gehabt, in einer dieser Städte zu landen. Sie bevorzugte die Abgeschiedenheit einer Resident Agency, kurz RA, einer kleinen FBI-Niederlassung mitten im Nirgendwo. Und solange sie ihre Arbeit tat und Ergebnisse lieferte, ließ man sie in Ruhe.

In den einsamen Landstrichen des Südwestens war Pine oft die einzige Vertreterin der Bundespolizei in vielen Hundert Meilen Umkreis. Aber das störte sie keineswegs. Manche mochten sie für einzelgängerisch und ungesellig halten, vielleicht sogar für einen Kontrollfreak, aber damit tat man ihr unrecht. Sie kam mit den Leuten in ihrer Umgebung gut aus. Es war unmöglich, die Rolle einer FBI-Agentin effizient auszufüllen, wenn man nicht mit Menschen umgehen konnte.

Doch Pine legte großen Wert auf Privatsphäre. Aus diesem Grund hatte sie sich in die kleine, mit nur zwei Agenten besetzte Resident Agency in St. George, Utah, versetzen lassen. Nach zwei Jahren hatte sich dann die Gelegenheit geboten, in die noch kleinere Ein-Agenten-Zweigstelle im Städtchen Shattered Rock zu wechseln. Dieses erst kürzlich eingerichtete Büro westlich von Tuba City befand sich unweit des Grand-Canyon-Nationalparks. Dort wurde Pine von ihrer Sekretärin Carol Blum unterstützt. Die knapp sechzigjährige Frau war seit Jahrzehnten beim Bureau beschäftigt. Blums erklärter Held war der ehemalige FBI-Direktor J. Edgar Hoover, der lange vor ihrer Zeit beim FBI gestorben war.

Pine war sich nicht sicher, ob Blum es mit ihrer Bewunderung für Hoover ernst meinte oder es nur eine Marotte war.

Sie warf einen Blick auf die Uhr.

Punkt Mitternacht.

Die Besuchszeit im ADX Florence war längst vorbei, doch für Pine hatte die Gefängnisaufsichtsbehörde eine Ausnahme gemacht.

Geisterstunde, ging es Pine durch den Kopf. Die dunkle Stunde, in der die Monster aus ihren Verstecken hervorkriechen. Die passende Zeit für das, was ich vorhabe.

Pine wurde in den Besucherraum geführt und setzte sich auf einen Metallhocker vor eine dicke Trennscheibe aus Sicherheitsglas. Ein Telefon gab es hier nicht; stattdessen war eine runde Sprechöffnung in das Glas eingelassen und bot die einzige Kommunikationsmöglichkeit. Bei einem Besuchstermin nahm der Häftling auf der anderen Seite der Scheibe auf einem ähnlichen Hocker Platz, der am Boden festgeschraubt war. Der Sitz war unbequem, was durchaus beabsichtigt war.

Pine saß da und wartete auf ihren Gesprächspartner, die ineinandergefalteten Hände auf dem laminierten Tisch vor ihr. Sie hatte sich die FBI-Dienstmarke ans Revers geheftet, weil sie wollte, dass der Mann sie sah. Ihr Blick ruhte auf der Tür, durch die die Wärter ihn gleich hereinführen würden. Er wusste, dass Pine mit ihm sprechen wollte. Er hatte sich mit ihrem Besuch einverstanden erklärt – eines der wenigen Rechte, die er hier im ADX Florence genoss.

Pine spannte sich innerlich an, als sie Schritte hörte, die langsam näher kamen.

Ene, mene, meck.

Die Tür öffnete sich mit einem Summen, und ein massiger Wärter mit der Figur eines Schwergewichtsboxers trat ein. Ihm folgte ein zweiter Wärter, dann ein dritter – beide genauso gebaut wie der erste. Offenbar musste man als Wärter in Florence bestimmte körperliche Voraussetzungen mitbringen, von psychischer Robustheit ganz zu schweigen.

Das ist auch anzuraten. Genau wie eine Tetanusimpfung und eine gute Lebensversicherung, ging es Pine durch den Kopf.

Sie schob diese Gedanken beiseite, als nach den drei Wärtern ein mit Fußketten gefesselter Hüne hereinkam. Daniel James Tor. Der Mann, den sie sprechen wollte. Mit über eins neunzig und muskelbepackt eine furchteinflößende Erscheinung.

Dem Häftling folgten drei weitere Wärter. Wie Pine erfahren hatte, galt hier die Regel, dass die Gefangenen bei jedem Schritt außerhalb ihrer Zelle von mindestens drei Wärtern bewacht werden mussten.

Bei Daniel James Tor hielt man anscheinend die doppelte Anzahl für angemessen. Pine konnte es nur zu gut nachvollziehen.

Tor hatte kein einziges Haar auf dem Kopf. Seine Augen starrten leer vor sich hin, als die Wärter ihn zum Hocker führten und seine Ketten an einem Stahlring im Fußboden befestigten. Eine eher untypische Vorsichtsmaßnahme bei Besuchen, wie Pine wusste. Aber auch das schien angemessen für den siebenundfünfzigjährigen Tor.

Er trug einen weißen Overall mit schwarzen, gummibesohlten Schuhen ohne Schnürsenkel. Seine schwarz gerahmte Brille bestand gänzlich aus weichem Gummi, ohne Metallscharniere oder Schrauben. Die Gläser waren aus dünnem Kunststoff. Es war so gut wie unmöglich, diese Brille als Waffe zu benutzen.

In einem Gefängnis musste jedes noch so kleine Detail beachtet werden. Schließlich hatten die Häftlinge alle Zeit der Welt, über Mittel und Wege nachzudenken, sich selbst oder andere zu verletzen.

Pine wusste, dass Tors Körper unter dem Overall von oben bis unten mit eigenhändig gestochenen Tätowierungen bedeckt war. Einige wenige hatte er sich von seinen Opfern machen lassen, die sich als Tätowierungskünstler betätigen mussten, bevor Tor sie ins Jenseits befördert hatte. Angeblich erzählte jedes einzelne Tattoo eine Geschichte über eines seiner Opfer.

Tor war fast hundertdreißig Kilo schwer, wovon nach Pines Schätzung höchstens zehn Prozent Fett waren. An seinen Unterarmen und am Hals traten die Adern dick hervor. Im Gefängnis gab es wenig anderes zu tun, als zu trainieren, zu essen und zu schlafen. Tor war schon während der Highschool-Zeit ein hervorragender Athlet gewesen. Zu bedauerlich, dass sein Modellkörper mit einem kranken, wenn auch brillanten Gehirn gekoppelt war.

Nachdem die Wärter sich noch einmal vergewissert hatten, dass Tor sicher angekettet war, verließen sie den Besucherraum. Pine hörte, wie sie draußen vor der Tür in Position gingen. Bestimmt war das auch Tor bewusst.

Pine stellte sich vor, was geschehen würde, wenn es Tor irgendwie gelang, die Glasbarriere zwischen ihnen beiden zu durchbrechen. Würde sie sich gegen ihn behaupten können?

Interessante Frage, ging es ihr durch den Kopf. Sie wünschte sich beinahe, Tor würde es versuchen.

In diesem Moment fiel sein Blick auf sie und ließ sie nicht mehr los.

Pine hatte durch Sicherheitsscheiben wie diese schon viele Monster gesehen, von denen sie einige selbst zur Strecke gebracht hatte. Daniel James Tor aber spielte in seiner eigenen Liga. Er war der vielleicht grausamste Serienmörder, der dieses Land je heimgesucht hatte.

Tor legte seine gefesselten Hände auf den laminierten Tisch und neigte den Kopf zur Seite, bis die Halswirbel knackten. Dann musterte er Pine erneut, bevor sein Blick für einen Moment zu ihrer Dienstmarke huschte. Seine Lippen kräuselten sich, als er das Symbol für Recht und Ordnung sah.

»Sie wollten mit mir sprechen«, sagte er mit tiefer, monotoner Stimme. »Und?«

Nun war der Augenblick gekommen, auf den Atlee Pine so lange gewartet und den sie doch so lange hinausgezögert hatte.

Sie beugte sich vor, bis ihre Lippen nur einen Fingerbreit von der dicken Glasscheibe entfernt waren.

»Wo ist meine Schwester?«

Ene, mene, meck,

und du bist weg.

2

In Tors toten, leeren Augen regte sich nichts, als er Pines Frage hörte. Von der anderen Seite der Tür, wo die Wärter bereitstanden, hörte Pine gedämpfte Stimmen, das Knarren von Schuhsohlen und hin und wieder ein klatschendes Geräusch wie von einem Schlagstock, der auf eine Handfläche trifft. Offenbar wappneten die Männer sich für den Fall, dass die Situation eskalierte und es geboten war, dem Häftling die Waffe über den Schädel zu ziehen.

Pine erkannte an Tors Gesichtsausdruck, dass er die Geräusche ebenfalls hörte. Wahrscheinlich entging ihm nicht die kleinste Kleinigkeit, obwohl er seine Haftstrafe letztlich der Tatsache verdankte, doch etwas übersehen zu haben.

Pine lehnte sich ein wenig auf dem Hocker zurück, verschränkte die Arme und wartete auf Tors Antwort. Sie hatte Zeit. Tor konnte nicht aufstehen und davongehen, und sie hatte nicht die Absicht, diesen Raum ohne Antwort zu verlassen.

Tor musterte sie von oben bis unten – so, wie er möglicherweise seine Opfer taxiert hatte. Vierunddreißig Morde hatte man ihm nachweisen können, aber das waren mit Sicherheit nicht alle. Die tatsächliche Anzahl lag bis zu dreimal so hoch, denn es gab eine ganze Reihe ungelöster Fälle.

Deshalb war Pine hergekommen. Wegen einer Tat, mit der man dieses Monster noch nicht einmal in Verbindung gebracht hatte.

Tor war der Todesstrafe nur deshalb entronnen, weil er mit den Behörden kooperiert und ihnen die Orte verraten hatte, an denen die Leichen von drei seiner Opfer lagen. Auf diese Weise hatten drei Familien wenigstens ein bisschen Frieden gefunden, und Tor war mit dem Leben davongekommen, auch wenn er es bis zum Ende in einem Betonkäfig zubringen musste.

Pine musterte das Ungeheuer. Er hat bestimmt keine Sekunde gezögert, sich auf diesen Deal einzulassen, dachte sie. Seine Opfer waren tot, und er lebte. Dass andere starben, war das Einzige, wofür dieser Mann existierte.

Er war Mitte der Neunzigerjahre festgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt worden. 1998 hatte er in einem anderen Gefängnis zwei Wärter und einen Mithäftling umgebracht – in einem Bundesstaat, in dem es keine Todesstrafe gab, sonst hätte Tor jetzt in der Todeszelle gesessen oder wäre bereits hingerichtet worden. Nach diesem Vorfall war er hierher nach Florence verlegt worden, wo er seine zigmal lebenslängliche Haftstrafe absaß. Sofern er nicht das Alter eines Methusalem erreichte, würde er im Gefängnis sterben.

Das alles schien ihn völlig kaltzulassen.

»Name?«, fragte er wie ein Angestellter, der eine Bestellung bearbeitete.

»Mercy Pine.«

»Zeit? Ort?«

Er spielte mit ihr, das spürte sie. Doch wenn sie etwas aus ihm herausbekommen wollte, musste sie sich darauf einlassen.

»Andersonville, Georgia. Siebter Juni 1989.«

Tor dehnte den Hals, wie um eine Verspannung zu lösen, streckte seine langen Finger und ließ die Gelenke knacken. Alles an dem hünenhaften Mann schien auf seltsame Weise angespannt zu sein wie Stahlseile kurz vor dem Zerreißen.

»Andersonville, Georgia«, sagte er nachdenklich. »Da haben viele ins Gras gebissen. Im Bürgerkrieg hatten die Konföderierten dort ein Kriegsgefangenenlager. Henry Wirz, der Kommandant, wurde wegen Kriegsverbrechen hingerichtet. Haben Sie das gewusst? Die haben ihn exekutiert, weil er seinen Job getan hat.« Er lächelte. »Der Kerl war Schweizer. Völlig neutral. Trotzdem haben sie ihn gehängt. Verstehe einer die Justiz.«

Sein Lächeln erlosch wie eine aufflackernde Streichholzflamme.

»Mercy Pine«, wiederholte Atlee. »Sechs Jahre alt. Verschwunden am siebten Juni 1989 in Andersonville, Macon County, Georgia. Soll ich Ihnen das Haus beschreiben? Man sagte mir, Sie hätten ein fotografisches Gedächtnis, wenn es um Ihre Opfer geht. Aber vielleicht muss ich Ihnen ein bisschen auf die Sprünge helfen. Ist schließlich ein Weilchen her.«

»Welche Haarfarbe?«, fragte Tor und entblößte breite, gerade Zähne.

Pine deutete auf ihre Haare. »Wie ich. Wir sind Zwillinge.«

In Tors Augen flammte plötzliches Interesse auf. Pine hatte mit nichts anderem gerechnet. Sie wusste alles über diesen Mann.

Bis auf eins. Das alles Entscheidende.

Deshalb war sie heute hier.

Tor beugte sich vor, und das leise Klirren seiner Ketten verriet seine Anspannung.

Erneut warf er einen Blick auf Pines Dienstmarke.

»Zwillinge«, sagte er. »FBI. Jetzt wird mir einiges klar. Reden Sie weiter.«

»Sie waren damals in der Gegend unterwegs. Atlanta, Columbus, Albany, Macon.« Pine zog einen blutroten Lippenstift aus der Tasche und malte für jede dieser Städte einen Punkt auf die Trennscheibe. Dann verband sie die Punkte zu einem Viereck.

»Sie waren ein Mathegenie, obwohl Sie das College nicht lang besucht haben. Sie haben ein Faible für geometrische Figuren.« Pine deutete auf ihre Zeichnung. »Ein Viereck in der Form eines Diamanten. Dadurch kam man Ihnen auf die Spur.«

Genau das hatte Tor übersehen. Die Ermittler hatten das Muster erkannt, an das er sich bei seinen damaligen Verbrechen hielt.

Pine sah, wie Tor die Lippen aufeinanderpresste. Sie wusste, kein Serienmörder würde zugeben, dass jemand schlauer gewesen war als er. Daniel James Tor war nicht nur ein irrer Soziopath, er war auch ein ausgemachter Narzisst. Im Allgemeinen galt Narzissmus als eine relativ harmlose Eigenschaft; man verband damit die Klischeevorstellung eines eitlen, in sich selbst verliebten Menschen, der nichts lieber tat, als sehnsuchtsvoll sein eigenes Spiegelbild zu betrachten.

Doch Pine wusste, dass Narzissmus einer der gefährlichsten Charakterzüge überhaupt war, und dies aus einem einfachen Grund: Narzissten waren in den allermeisten Fällen nicht fähig, sich in andere hineinzuversetzen oder Verständnis für sie aufzubringen. Deshalb hatte das Leben eines Mitmenschen keinen wirklichen Wert für sie. Im schlimmsten Fall war es für einen Narzissten wie ein Fentanyl-Kick, jemanden umzubringen: Es verschaffte ihm ein Hochgefühl, andere zu beherrschen und dabei von dem rauschhaften Wissen erfüllt zu sein, Macht über Leben und Tod zu haben.

Kein Wunder, dass fast alle Serienmörder ausgemachte Narzissten waren.

Pine blickte zu ihm auf. »Andersonville passt eigentlich gar nicht in dieses Muster. War meine Schwester ein Einzelfall, ein Ausreißer? Haben Sie das nebenher gemacht, im Vorbeigehen, weil es sich zufällig ergeben hat? Warum sind Sie zu unserem Haus gekommen?«

»Es war ein Rhombus, kein Diamant«, stellte Tor klar.

Pine ging nicht auf die Bemerkung ein.

Er begann zu dozieren wie ein Universitätsprofessor. »Mein Muster war ein Rhombus, eine Raute, ein Viereck mit gleich langen Seiten, aber verschieden langen Diagonalen. Ein Drachen, den Kinder steigen lassen, ist nur dann ein Parallelogramm, wenn er eine Raute ist.« Er warf einen verächtlichen Blick auf die geometrische Figur, die Pine mit dem Lippenstift aufs Glas gemalt hatte. »Ein Diamant – das ist kein präziser mathematischer Begriff. Merken Sie sich das. Solche Fehler sind peinlich und unprofessionell. Wenn Sie schon mit mir sprechen wollen, hätten Sie sich wenigstens vorbereiten können.« Mit einer wegwerfenden Geste seiner gefesselten Hände blickte er noch einmal auf das Viereck, als hätte Pine etwas Widerwärtiges, Obszönes gezeichnet.

»Danke für die Nachhilfe«, sagte Pine, obwohl ihr Rauten und Parallelogramme – Mathematik ganz allgemein – herzlich egal waren. »Also, warum dieser Ausreißer? Sie sind sonst nie von Ihrem Muster abgewichen.«

»Sie gehen davon aus, dass ich von meinem Plan abgewichen bin? Dass ich in der Nacht des siebten Juni 1989 in Andersonville war?«

»Ich habe nicht gesagt, dass es in der Nacht war.«

Wieder ließ Tor ein kurzes Lächeln aufflackern. »Der schwarze Mann kommt doch immer nachts, oder?«

Pine dachte flüchtig an ihren Gedanken von vorhin, dass die Ungeheuer stets um Mitternacht aus ihren Löchern hervorkrochen. Wenn man Killer wie Tor erwischen wollte, musste man lernen, sich in sie hineinzuversetzen. Es war ein Aspekt ihres Berufs, mit dem Pine sich bis heute nicht hatte anfreunden können.

Bevor sie antworten konnte, fragte Tor: »Sechs Jahre alt, sagen Sie? Zwillinge? Wo genau ist es passiert?«

»In unserem Schlafzimmer. Sie sind durchs Fenster gekommen, haben uns den Mund zugeklebt, damit wir nicht schreien konnten, und uns mit den Händen festgehalten.«

Sie zog ein Blatt Papier hervor, hielt es an die Glasscheibe und ließ ihn lesen, was darauf geschrieben stand.

Während er die wenigen Zeilen überflog, blieb sein Gesicht völlig ausdruckslos, sodass auch eine erfahrene Agentin wie Pine nichts darin lesen konnte.

»Ein Kinderreim?«, bemerkte er mit einem demonstrativen Gähnen. »Was denn noch? Fangen Sie jetzt an zu singen, oder was?«

»Sie haben Mercy und mich geschlagen, während Sie den Reim aufsagten«, fuhr Pine fort und beugte sich vor. »Auf die Stirn. Abwechselnd. Bei einem Wort auf meine Stirn, beim nächsten auf Mercys. Bei mir haben Sie angefangen, bei meiner Schwester aufgehört. Dann haben Sie sie mitgenommen. Vorher haben Sie mir noch das hier verpasst.«

Sie strich sich die Haare nach hinten und entblößte eine Narbe hinter der linken Schläfe. »Ich weiß nicht, ob Sie mit der bloßen Faust oder irgendeinem Gegenstand zugeschlagen haben, aber Sie haben mir den Schädel gebrochen. Sie waren damals schon ein kräftiger Mann, und ich war ein kleines Kind.« Sie hielt einen Moment inne, ehe sie hinzufügte: »Jetzt bin ich kein Kind mehr.«

»Stimmt. Sie sind groß. Ich schätze mal, eins achtzig.«

»Meine Schwester war schon mit sechs Jahren groß für ihr Alter. Aber sie war dünn. Ein Kerl wie Sie konnte sie spielend tragen. Wohin haben Sie Mercy gebracht?«

»Nichts als Mutmaßungen. Wie Sie selbst gesagt haben, bin ich nie von meinem Muster abgewichen. Wie kommen Sie darauf, dass ich es in diesem Fall getan habe?«

Pine beugte sich noch näher zur Sicherheitsscheibe. »Weil ich mich an Sie erinnern kann.« Sie starrte ihn an. »Jemanden wie Sie vergisst man nicht so leicht.«

In seinen leblosen Augen schien plötzlich ein Feuer zu brennen. »Sie erinnern sich an mich? Und da kommen Sie erst jetzt zu mir? Nach neunundzwanzig Jahren?«

»Ich hatte alle Zeit der Welt. Ich wusste ja, wo ich Sie finde, und dass Sie hier einen längeren Aufenthalt gebucht haben.«

»Ein lahmer Witz, der meine Frage nicht beantwortet.« Wieder warf er einen Blick auf ihre FBI-Dienstmarke. »Welche Dienststelle? Hier in der Gegend, nehme ich an. Lassen Sie mich überlegen …«

»Wohin haben Sie meine Schwester gebracht?« Pine schleuderte ihm die Fragen entgegen, die sie sich auf der langen Fahrt hierher zurechtgelegt hatte. »Wie ist sie gestorben? Wo ist ihre Leiche?«

Tor führte seinen Gedanken fort, als hätte er sie gar nicht gehört. »Sie arbeiten auf jeden Fall nicht in einem der großen FBI-Büros. Sie sind nicht der Typ. Sie tragen legere Klamotten und kommen zu einer ziemlich ungewöhnlichen Tageszeit. Nicht so, wie man es vom FBI gewohnt ist. Außerdem sind Sie allein. Ihre Kollegen kreuzen immer zu zweit auf, wenn sie in offiziellem Auftrag unterwegs sind. Und dann ist da noch die persönliche Komponente.«

»Wovon reden Sie?« Pine hielt seinem Blick stand.

»Sie haben Ihre Zwillingsschwester verloren und wurden dadurch zur Einzelgängerin. Das ist, als hätte man seine andere Hälfte verloren, nicht wahr? Nachdem die emotionale Verbindung durchtrennt war, konnten Sie niemandem mehr vertrauen. Sie sind nicht verheiratet«, fügte er mit einem kurzen Blick auf ihren Ringfinger hinzu. »Sie haben keinen liebenden Gatten, der die Lücke schließen und das Gefühl des Verlusts lindern könnte, von dem Sie geplagt werden. Sie müssen damit leben, bis Sie eines Tages einsam und allein krepieren.« Er hielt inne, musterte sie mit seltsamer Neugier. »Und doch muss irgendwas passiert sein, das Sie nach fast drei Jahrzehnten hierhergeführt hat. Haben Sie so lange gebraucht, um den Mut aufzubringen, mir gegenüberzutreten? Sie, eine FBI-Agentin?«

»Warum sagen Sie es mir nicht?« Pines Stimme klang beinahe flehentlich. »Auf einen Mord mehr oder weniger kommt es für Sie nicht mehr an. Sie kommen sowieso nicht mehr hier raus.«

Seine Reaktion überraschte sie, obwohl sie vielleicht damit hätte rechnen müssen.

»Sie haben mindestens ein halbes Dutzend Typen wie mich zur Strecke gebracht. Einer von denen hatte gerade mal läppische vier Leute getötet. Der talentierteste hat immerhin zehn geschafft.«

»Talentiert? So würde ich es nicht unbedingt nennen.«

»Oh, da irren Sie sich. Es ist durchaus eine Sache der Begabung und nicht so einfach, wie die meisten Leute es sich vorstellen. Natürlich haben die Nieten, die Sie geschnappt haben, nicht in meiner Liga gespielt, aber jeder fängt mal klein an.« Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. »Wie es scheint, haben Sie sich auf die Elite spezialisiert. Leute wie mich. Schön, wenn man hohe Ziele hat, aber man kann’s auch übertreiben mit dem Ehrgeiz, sonst läuft man Gefahr, sich zu überschätzen. Sie wissen ja – es rächt sich, wenn man der Sonne zu nahe kommt. Der Tod kommt schneller, als Sie denken, Agentin Pine. Manchmal ist es ein göttlicher Anblick, jemanden abkratzen zu sehen, aber bei Ihnen bin ich mir nicht so sicher. Ich würde es trotzdem sehr gern ausprobieren.«

Pine ging nicht auf seine unverhohlene Drohung ein. Wenn er davon fantasierte, sie umzubringen, hieß das immerhin, dass sie seine Aufmerksamkeit geweckt hatte.

»Die Täter, die ich gefasst habe, waren alle hier im Westen aktiv«, sagte sie. »Hier gibt es weites, offenes Land, ohne dass an jeder Straßenecke ein Polizist steht. Hier findet Ihresgleichen, was er braucht: einsame Highways und stille Orte, um eine Leiche zu entsorgen. So etwas zieht … Talente wie Sie an.«

Tor grinste. »Wie schön sich das anhört.«

»Noch schöner wäre es, wenn Sie meine Frage beantworten.«

Er ging nicht darauf ein. »Ich weiß noch etwas über Sie: Sie hätten in Ihrer Collegezeit beinahe den Sprung ins Olympiateam der US-Gewichtheberinnen geschafft. Aber Sie haben es vermasselt, weil Sie ein mickriges Pfund zu wenig gestemmt haben.« Da Pine schwieg, fügte er hinzu: »Google hat auch vor diesem Knast hier nicht haltgemacht, Special Agent Atlee Pine aus Andersonville, Georgia. Ich habe ein paar Hintergrundinformationen über Sie verlangt, als Gegenleistung für dieses Treffen. Sie haben sogar eine eigene Wikipedia-Seite. Ziemlich bescheiden im Vergleich zu meiner, aber Sie sind ja noch jung. Obwohl eine Karriere wie die Ihre natürlich schnell und blutig enden kann.«

»Es war ein Kilo, nicht ein Pfund. Das Reißen hat mich das Olympiaticket gekostet. Im Stoßen war ich besser.«

»Ja, stimmt, ein Kilo. Sie sind schwächer, als ich dachte. Was aber nichts daran ändert, dass Sie versagt haben.«

»Sagen Sie mir, was mit Mercy ist«, drängte Pine. »Sie haben keinen Grund, es zu verschweigen. Absolut keinen.«

»Sie wollen Ihren Frieden finden, was?«, fragte er gelangweilt. »So wie die anderen?«

Pine nickte schweigend, damit ihr nichts Unbedachtes herausrutschte. Tors Vorwurf, sie habe sich nicht auf dieses Treffen vorbereitet, war unbegründet. Nur konnte man sich auf eine Konfrontation mit einem solchen Monster nicht hundertprozentig vorbereiten.

»Wollen Sie wissen, was mir an der ganzen Sache am meisten gefällt?«, setzte Tor nach.

Pine schaute ihn an, ohne auf seine Frage einzugehen.

»Am meisten gefällt mir, dass ich Ihr ganzes armseliges Leben geprägt habe.«

Kaum war das letzte Wort verklungen, schnellte sein Oberkörper vor. Seine breiten Schultern und sein kahler Kopf schienen die gesamte Glasscheibe auszufüllen. Es sah aus, als würde er jeden Augenblick durch ein Schlafzimmerfenster steigen wie ein fleischgewordener Albtraum, um ein kleines Mädchen zu holen, so wie damals in jener Nacht. Einen furchtbaren Augenblick lang war Pine wieder sechs Jahre alt und musste erleben, wie dieser Dämon bei jedem Wort eines Kinderreims brutal auf sie und Mercy einschlug, um das Schicksal entscheiden zu lassen, wer von ihnen beiden sterben musste.

Es hatte Mercy getroffen. Nicht sie.

MERCY.

Nicht sie.

Sie stieß leise den Atem aus und griff nach der Dienstmarke an ihrer Jacke.

Ihr Fixstern. Ihr Bezugspunkt. Ihr Rosenkranz.

Die Geste war Tor nicht entgangen, doch er lächelte nicht. Zeigte keinen Triumph, keine Genugtuung, keinen Zorn. Er wirkte einfach nur enttäuscht. Und im nächsten Moment völlig desinteressiert. Sein Gesicht erschlaffte, und seine Augen wurden so leer wie zu Beginn des Gesprächs. Er sank in sich zusammen, schlaff, kraftlos, als wäre jeglicher innerer Antrieb erloschen.

Du hast es vermasselt.

Pine hatte das Gefühl, mit Eiswasser übergossen zu werden. Sie hatte versagt. Tor hatte sie auf die Probe gestellt, und sie hatte kläglich versagt. Der schwarze Mann, der um Mitternacht kam, um sich kleine Mädchen zu holen, hatte sie für unwürdig befunden.

»Wärter«, blaffte er. »Wir sind hier fertig.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Offenbar genoss er es, die Wärter rufen zu können, sodass sie antanzen und ihn holen mussten. Es war eine Gelegenheit, die sich im normalen Gefängnisalltag niemals bot.

Während die Männer in den Besucherraum kamen, Tors Kette lösten und ihn zur Tür führten, stand Pine auf.

»Warum sagen Sie es mir nicht?«, versuchte sie es ein letztes Mal.

Er antwortete, ohne sich umzudrehen.

»Man sagt, die Sanftmütigen werden die Erde besitzen. Soll ich Ihnen was sagen, Atlee Pine aus Andersonville, Zwillingsschwester von Mercy? Die Sanftmütigen werden einen Scheiß besitzen. Finden Sie sich damit ab. Aber wenn Sie es wieder mal versuchen wollen – Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Jetzt, wo ich Sie kennengelernt habe …« Er drehte sich abrupt zu ihr um, und in seinem Gesicht flammte jähes Verlangen auf – vielleicht das Letzte, was seine Opfer auf dieser Welt zu sehen bekommen hatten. »Jetzt werde ich Sie nie mehr vergessen.«

Die massive Stahltür schloss sich hinter ihm.

Pine lauschte den Schritten, als die Wärter ihren Gefangenen zurück zu seinem zwei mal dreieinhalb Meter großen Betonkäfig führten, und starrte noch einen Augenblick auf die Tür. Dann wischte sie den Lippenstift von der Trennscheibe, was blutrote Flecken auf ihrer Hand hinterließ, drehte sich um und ging.

Nachdem sie ihre Dienstwaffe zurückbekommen hatte, trat sie aus dem Gefängnisgebäude hinaus in die kühle Luft und Stille einer Gegend, die genau eine Meile über dem Meeresspiegel lag.

Sie würde nicht weinen. Das hatte sie noch nie getan, seit Mercy verschwunden war. Sie hätte gern etwas empfunden, doch in ihr war nichts als Leere. Sie fühlte sich schwerelos, wie auf dem Mond. Es war, als hätte der schwarze Mann um Mitternacht ihr die Lebensenergie genommen. Nein, nicht einfach genommen.

Als hätte er sie ausgesaugt.

Aber das war nicht das Schlimmste.

Das Schlimmste war die nagende Ungewissheit, was mit ihrer Schwester geschehen war.

Pine fuhr hundert Meilen westwärts bis Salida und nahm sich ein Zimmer im billigsten Motel, das sie finden konnte, denn sie musste diese Reise aus eigener Tasche bezahlen.

Kurz bevor sie einschlief, dachte sie an eine Frage, die Tor ihr gestellt hatte.

Sie kommen erst jetzt zu mir? Nach neunundzwanzig Jahren?

Es gab einen guten Grund dafür. Vielleicht war es aber auch nur eine Ausrede.

In dieser Nacht träumte Atlee Pine nicht von Tor. Auch nicht von ihrer Schwester, die sie vor fast drei Jahrzehnten verloren hatte. Das Einzige, was aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins aufstieg, war der verblasste Anblick ihrer selbst, wie sie als Sechsjährige zum ersten Mal zur Schule ging, ohne Mercys Hand in der ihren zu halten. Ein traumatisiertes kleines Mädchen mit Zöpfen, das – um Tors Worte zu benutzen – seine andere Hälfte verloren hatte.

Meine bessere Hälfte, fügte Pine in Gedanken hinzu.

Denn nicht Mercy war es gewesen, die öfter für Ärger gesorgt hatte, sondern sie, Atlee, sodass ihre zehn Minuten ältere »große« Schwester ihr immer wieder aus der Patsche helfen musste.

Doch Mercy hatte es gern getan. Mit unerschütterlicher geschwisterlicher Liebe und Verlässlichkeit. So viel Zuwendung war Atlee Pine nie wieder zuteilgeworden.

Vielleicht hatte Tor ihre Zukunft gar nicht so falsch vorhergesagt.

Wer weiß?

Und dann noch der andere Seitenhieb, mit dem er ihr einen schmerzhaften Stich versetzt hatte.

Am meisten gefällt mir, dass ich Ihr ganzes armseliges Leben geprägt habe.

Mit einem Mal zitterten ihre Lippen. Sie stand auf, taumelte ins Bad, steckte den Kopf unter den kalten Wasserstrahl der Dusche und zog ihn erst wieder heraus, als die Kälte so unerträglich wurde, dass sie beinahe laut aufgeschrien hätte. Doch es mischte sich keine einzige Träne des Schmerzes oder der Trauer in das bitterkalte Wasser.

Im Morgengrauen stand sie auf, duschte, zog sich an und checkte aus. Es wurde Zeit für die Heimreise.

Auf ungefähr halber Strecke machte sie halt, um etwas zu essen. Als sie wieder in ihren SUV stieg, ging auf ihrem Handy eine Nachricht ein.

Sie schickte eine Antwort ab, schlug die Autotür zu, ließ den Motor an und gab Gas.