Amour-Hatscher
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© 2016 by Amalthea Signum Verlag, Wien
Lektorat: Martin Bruny
Buchgestaltung, Herstellung und Satz: Peter Duniecki
Printed in the EU
ISBN 978-3-99050-047-7
eISBN 978-3-903083-30-1
Polly Adler
Best of chaos DE LUXE
AMALTHEA
Du kennst Polly? Persönlich? Erzähl mir von ihr. Muss ein tolles Weib sein. Ist sie so … oder eher ein bisschen … Nein, ist sie nicht. Woher kenne ich sie überhaupt? Wir hatten keinen Anfang. Sie lacht wie ein Orkan, davon haben die Leute geredet. Keine Ahnung, wann der Orkan das erste Mal über mich kam. Mit Sicherheit mochte ich das Lachen sofort. Wer das nicht mag, hat ein Problem. Mit sich.
Zurückgeblättert, so weit ich kann; das allererste Polly-Bild ist ganz still. Sie hatte den Führerschein gemacht. Vor dem Café Korb in der Abschleppzone stand ein winziges Auto. Zum ersten Mal wollte sie weiter als um den Häuserblock fahren. Angie, dieses Auto ist nicht so robust wie du. Ruf an, wenn du angekommen bist, Angelika. Bis dahin alterte ich sorgenvoll vor mich hin. Duhu, es ist alles gut gegangen. Nur ein kleiner Blechschaden.
Sie hat damals noch bei der Firma Schinderhannes gearbeitet, praktisch Tag und Nacht, mit einer kleinen Bettstatt neben dem Schreibtisch. Immer fünf Geschichten zugleich im Rohr und niemals eine fertig. Stell dein Cockpit auf Autopilot und komm auf eine Erfrischung in den Engländer, sagte ich oft.
Weil es geht mir so gut. Oder so schlecht. Beides ist immer leichter zu packen mit ihr. Da wehte sie dann herein, mitten durch die Frischgeföhnten mit den ekelhaft schönen Schals und Taschen, bei denen noch der Dümmste merken musste, worauf sie hinauswollten. Süße, solche wie wir werden nie eine große Yacht entern, klirrte sie durchs Lokal, und dafür empfanden wir dem Schicksal gegenüber große Dankbarkeit, und dazu tranken wir mehrere Erfrischungen.
Als Stella noch mit den Mücken flog, wie man so sagt, sagte Angelika immer: Einem Kind mein Chaos antun, das geht doch nicht. Stella ließ diesen Unsinn nicht durchgehen. Dieses Kind hat einfach begriffen, wie kostbar dieses Chaos ist. Mit zärtlicher Strenge schaut Stella in Angies Leben nach dem Rechten. Die ganze Mutter ist wie eine Lehrwerkstatt. Zerlegbar. Ein Baukasten der Liebe. Auch wenn manchmal ein Klötzchen verlegt wird.
Wie die Dummheit den Leuten aus allen Poren spritzt, wenn sie so nachsichtig über Pollys Chaos in der Handtasche, auf den Autositzen oder in ihrem Kopf reden. Jeden Tag den ganzen Irrsinn frisch sortieren, was für ein Kunststück! Nie vermodern die Gedanken. Nie werden sie alt und kalt. Da muss man schon sehr aufgeräumt sein im Schädel, um dieses Chaos flakonweise in Kolumnen abzufüllen. Und dann noch diese Milde mit dreifachem Boden: Ich kenne Tussen, die schneiden aus, was Polly über Tussen schreibt.
Wie ich einmal Angelika und dann wieder Polly schreibe: Ich weiß selber nicht, wie ich das sortieren soll. Weil sie meint das mit dem Namen ja nicht so wie manche Männer, die sich beim Schreiben Pseudonyme wie Cowboy-Stiefel anziehen. Es ist eher so eine Ordnungs-Frage. Ein aufgeräumter Kopf, eine Zweitwohnung für die Gedanken. Das ist chaos DE LUXE. Andere Leute müssen den Verstand verlieren, um das zu können.
Und dann dieses Herz. Luft anhalten. Es wird rührselig. Polly hat kein Zweitherz. Wenn ihr einer wehtut, dann kommt echtes Blut. Kann aber über Nacht abheilen. Und dann, am Morgen danach, kann es sein, dass sie Sachen erzählt, von denen man gelernt hat, dass man davon eigentlich rot werden müsste. Dann wieder dieses infernalische Gelächter. Da verzieht sich jede falsche Scham. Schweigen ist nicht ihr Ding. Aber sind die Leute nicht selber schuld, wenn sie ihr alles erzählen? Tratschen ist Pollys natürliche Mülltrennung. Sie müsste ja sonst ersticken an dem ganzen Abfall. Wenn ich aber ein echtes Geheimnis hätte, eine Bank überfallen, mit Johnny Hallyday das Durchbrennen plante, dann würde diese Frau halten. Alibi inklusive.
Alle lieben Polly; jetzt. Ich kann sagen, ich habe sie schon gekannt, als sie noch sagte: Mausilein, meinst du nicht, man müsste diesen ganzen Wahnsinn aufschreiben, damit man ihn packt. Das hat sie dann Gott sei Dank getan, und seit es Polly gibt, packen wir alle den Wahnsinn ein bisschen besser. Und weil man diese zierlichen Flakons mit den Polly-Kolumnen so leicht verlegt und dann wieder im größten Schmerz-Chaos oder bei euphorischer Verwirrung der Gefühle nicht findet, ist es gut, dass dieses Buch endlich Ordnung schafft. Es gehört ins Notfallpaket wie Riechsalz und solche Sachen.
*Dieses Vorwort schenkte mir die Journalistin, Kolumnistin und Autorin Marga Swoboda für das erste Polly-Adler-Buch »Chaos de Luxe« (2001). Sie war für mich eine große Lehrmeisterin, als wir uns noch nicht kannten. Ich riss ihre Texte aus den Magazinen, als ich meine ersten Schreibversuche unternahm – in der Hoffnung, ihre unangestrengte Genialität und zärtlich scharfe Beobachtungsgabe würde auch ein wenig auf mich abfärben. Später wurden wir Freundinnen. Auf unsere Art. Danke, Marga!
Bei der Arbeit an diesem Buch watete ich über Wochen knietief durch mein Leben, vulgo durch mehr als 1000 Kolumnen, die ich im »Freizeit«-Magazin des »Kurier« absondern durfte. Danke an Michael Horowitz, den Gründer dieses Magazins, der mir diese geldscheingroße Spielwiese im Frühsommer 1996 erstmals zur Verfügung gestellt und nie auch nur irgendeine Verbotstafel an deren Rändern errichtet hatte.
Warum ich mir damals ein zweites Ich gebastelt habe? Nun, zuallererst, ja, der Horo hat es wie so oft gnadenlos richtig erfasst: »Hagerin, so hast du die Chance, einmal richtig gut auszusehen.«
Warum ich mir damals ein zweites Ich gebastelt habe? Nun, zuallererst, ja, der Horo hat es wie so oft gnadenlos richtig erfasst: »Hagerin, so hast du die Chance, einmal richtig gut auszusehen.«
Für eine Pointe haben wir zwei schon immer alle nahen und oft besser entfernten Verwandten verkauft. Das musste nicht belabert werden, das war einfach so. Ein Motiv für die Gründung dieser Ich-Filiale war natürlich auch, dass ich mich nicht selbst auf den Wühltisch legen wollte und mithilfe dieser schwarz bebrillten Stuntfrau mich ungestraft schlecht benehmen konnte.
Dem Archiv entnehme ich, dass der Horowitz seine neue Kolumnistin im »Intro« am 18. Mai 1996 mit folgenden Worten angedonnert hatte: »Weiters neu in Ihrem Heft: ›Im Namen der Liebe‹ – satirische Anmerkungen über das oft komplizierte Zusammenleben von Mann und Frau. Jahrelang beobachtet und jetzt beschrieben von Polly Adler. Der renommierte Maler Peter Sengl wird die Abenteuer aus dem weiten Land der Seele illustrieren.« Manchmal sogar leider selbst erlebt, lieber Horo!
Der erste Text mit dem Titel »Ein Mann zum Beben«, bei dem es um den Pendelstress zwischen einem Fixgatten und einer Affäre ging, endete mit dem Satz: »Auf alle Fälle ist es wunderschön, dass jemand da ist, wenn man nicht nach Hause kommt.«
Zwei Männer, die man unter einen Hut zu bringen hatte! O tempora, o amore – das waren damals tatsächlich noch goldene Zeiten. Im Zuge des Reifungsprozesses wurden sie dann doch deutlich härter. Derartigen Luxus konnte man sich später mit Jolly-Stiften an die Wand pinseln.
Und natürlich gab es auch einen dritten Beweggrund für die Errichtung der Polly-Klinik: Die Protagonistin führt ein viel glamouröseres, actionreicheres und deswegen auch unterhaltsameres Dasein, als es mir selbst vergönnt war. Obwohl, ich darf mich nicht beschweren: Mein journalistisches Leben bei »Basta« in meinen Anfängen und nun schon seit über 20 Jahren bei »profil« hat mir Begegnungen verschafft, von denen Fräulein Polly durchaus profitiert hat: Von Hansi Hinterseer (»Ich blondiere seit 1975«) bis Jack Nicholson (»Es ist völlig egal, ob man die Frauen betrügt oder nicht – sie verdächtigen einen sowieso«), von Falco (»Mei Oide sagt, ich bin ein Ganztagsjob«) bis Hildegard Knef (»Ich hatte den schönsten Körper Europas«), von Niki Lauda (»Die Frauen sind vor mir niedergekniet …«) bis Norman Mailer (»Ja, ich habe meine Frau niedergestochen«) – unter dem Schutzbefehl dieser Magazine konnte man Vollbäder in Biografien nehmen, zu denen man sonst nie auch nur den Zutritt bekommen hätte. Ich danke meinem »profil«-Herausgeber Christian Rainer auch dafür.
Warum eigentlich Polly Adler, haben mich viele gefragt. Na ja, der Name klingt ja auch schon viel frivoler, verruchter und frecher als mein eigener.
Polly Adler war übrigens im richtigen Leben eine legendäre Bordellbesitzerin im New York der 1920er-Jahre gewesen; ihre Memoiren »A House Is Not a Home« geben Aufschluss darüber. Ich hatte sie aber vor allem deswegen ins Herz geschlossen, weil sie meiner vergötterten Dorothy Parker, der Königin der Schnellschuss-Pointe, und deren ebenso scharfzüngiger Buben-Gang in den harten Zeiten der Prohibition im Hinterzimmer ihres Puffs starke Getränke in dickwandigen Kaffeetassen gereicht hatte. Atmosphärisch erstehen diese wilden Zeiten, durch die auch das Parfüm der Verzweiflung wehte, in dem Krimi »Mordfall für Dorothy Parker« von George Baxt wieder auf. Ihr Liebesleben bilanzierte Mrs. Parker im hohen Alter übrigens mit dem schlichten Satz: »I loved them, until they loved me.« Und natürlich galt auch der exakte Umkehrschluss – darin sind sich die in ihrem gnadenlosen Witz unerreichbare Dotty und ihre so hingebungsvolle Schülerin Polly schmerzhaft ähnlich. Literarisch und beziehungstechnisch gehören beide der Species der Sprinterinnen an. »Das Leben ist einfach zu kurz, um einen Roman zu schreiben«, seufzte die wunderbare Mrs. Parker gegen Ende ihres Daseins. Zwei Mal habe ich dieses Gebot, mit »Venus im Koma« und »Wer jung bleiben will …«, dennoch gebrochen.
Der Löwenanteil der Polly-Kolumnen wurde dem Tretminenfeld Liebe, Beziehung und Zweisamkeit gewidmet. »Sie dämliche Möchtegernemanze, bei Ihnen ist alles so negativ«, kritisierte eine Leserin per Elektropost einmal. Gnädigste, Glück zu beschreiben, ist doch auf die Dauer so langweilig. Denken wir nur an Madame Bovary, die Kameliendame, die Bergman in »Casablanca«, Anna Karenina oder Marge Simpson. »Vielleicht ist ja nur das die Wahrheit zwischen Männern und Frauen«, flüsterte Marilyn Monroe einmal ihrem Psychiater zu, »dass es zwischen den beiden einfach nur eine Reihe von Anschlussfehlern gibt.«
Natürlich musste auch meine arme Polly durch jede Menge Tragödien gehetzt werden und lag dann schnappatmend in den Trümmerfeldern diverser Beziehungen. Doch im Notfallpaket hatte sie immer die Charlie-Chaplin-Formel eingepackt: Tragödie + Zeit = Komödie.
Was für ein Luxus, was für ein Geschenk, die armen, unschuldigen Leser über eine so lange Zeit allwöchentlich in einer Länge von 1878 Zeichen mit seinen Befindlichkeiten torpedieren zu dürfen. Heuer wird die Tante mit der schwarzen Brille schon 20 Jahre alt. Und sieht auch keinen Tag jünger aus.
Wir haben viele Kilometer auf dem Lebens- und Liebenstacho absolviert, wir zwei kleinen Luder. Sogar zu einem Film (»Eine Frau sieht rosa«) und einer TV-Serie haben wir es im Doppelpack geschafft. Die wunderbare Burgschauspielerin Petra von Morzé lieh Polly Adler ihr Gesicht, und ich bin ihr noch heute dankbar, mit welcher Grazie sie auf dem haarschmalen Grat zwischen Tragödie und Komödie dabei gestöckelt ist. Und weinen konnte die Petra – besser als alle anderen in echt. Es sollte uns dennoch nur ein kurzes TV-Intermezzo vergönnt werden. Die Quoten waren dann doch nicht so berauschend, wie wir uns alle erhofft hatten. Aber auch an dieser Niederlage sind wir nicht gewachsen. Danke an Kathrin Zechner, die mit mir damals dieses Abenteuer entwickelte und viele Gefechte schlug.
Auf alle Fälle möchte ich hier eine Fünfstern-Entschuldigung deponieren an die, deren persönliche Tragödien im »chaos DE LUXE« (ab 21. März 1998 war das die Titelflagge der Kolumne – bedauerlicherweise aus Platzgründen nicht mehr mit dem grandiosen Sengl) fürs Komödienfach recycelt wurden.
Es war einfach stärker als ich. Erstaunlicherweise habe ich noch immer ein paar Freunde: Und die paar, die mir geblieben sind, werden immer wichtiger.
Der Journalist Dieter Chmelar, bei dem ich in meinen Zwanzigern während meiner Zeit beim Monatsmagazin »Basta« eine Art Nahkampf-Kindergarten des Schmähs besuchte und das Pointenschleudern erlernen durfte, schrieb im Vorwort zum vergriffenen Band »Auch Luder brauchen Liebe«: »Was für eine fintenreiche Ladendiebin des Schicksals! Gern taxiert sie ihre engsten Vertrauten wie eine Unfallärztin frisch eingelieferte Organspender.«
Er lag mit dieser These nicht daneben.
Und ein Danke, hoch wie der Steffl, an Anni Josef, die Gralshüterin der Deadline in der »Freizeit«, die immer wieder so getan hat, als ob sie all meine geschmacklosen Ausreden auch wirklich glauben würde. Und ja, Anni, ich fürchte, es wird wieder vorkommen.
Das Wühlen in den Kolumnenbergen und damit in der eigenen Vergangenheit wurde natürlich auch zu einer Via dolorosa. Man wurde wieder zum Zaungast von Liebesgeschichten, deren Treibstoff die Aussichtslosigkeit war. Man wusste es wahrscheinlich von Anfang an, hat jedoch einem Lemming gleich trotzdem weitergemacht. Aber wie zum Scheitern verurteilt manche dieser Amouren waren, konnte stellenweise Triple-A-bezaubernd sein. Ich tauchte tief in das analoge Zeitalter, als man sich schon wie ein hochgestellter NASA-Mitarbeiter vorkam, wenn man seine Manuskripte per Elektropost verschickte. Wenn ein in Aussicht gestellter Anruf von jenem Mann, in den man gerade »verpischt« (© Wien) bis zur Würdelosigkeit war, nicht eintraf, konnte sich damals nur das Festnetztelefon wie Clint Eastwood benehmen: so schweigsam wie gnadenlos. Dank des technischen Fortschritts kann man ja heute auf so vielen Kommunikationskanälen ignoriert werden: Facebook, Tinder, WhatsApp etc.
So gesehen hat dieses Buch auch eine Art Zeitreisencharakter. Unlängst saß ich in einem Café, in dem eine Tafel mit der Aufschrift stand: »Stellt euch vor, es ist 1992. Unterhaltet euch einfach miteinander, so als ob WLAN noch nicht erfunden wäre. Man nennt das Gespräch.«
Dass das Fortpflänzchen so auf Schiene ist, ein bisschen sehr frech, aber auch empathisch in die Welt schaut, sollte bei dieser Mutter sowieso auf den katholischen Wunderindex.
Danke, Stellusch, dass du für mich eine gewisse Nachsichtigkeit (oder war es doch resignative Müdigkeit?) entwickelt hast. Ich habe als Mutter manchmal richtig gut versagt, und du hast es mir verziehen.
Unlängst wollte ich das Kind wieder einmal an die Wand fahren: Eine meiner vielen großzügigen Freundinnen schenkte mir ein sehr heißes, nicht ganz altersadäquates Paillettenteil. Das Kind hob das »petit rien« spitzfingrig hoch und sagte: »Na ja, wenigstens gibt es noch einen Menschen, der an dich glaubt.« Und dann musste ich lachen wie ein Hutschpferd auf Prozac. Und dachte mir: »Danke, du deppertes Leben! Viel falsch gemacht – geschenkt! –, aber es fühlte sich oft richtig gut an.«
»Die Sehnsucht, oh die Sehnsucht! Warum haben wir die eigentlich? Wer hat uns die heimlich in die Westentasche gesteckt? Vielleicht ein Engel oder sonst eine trübe Null?«
Robert Walser
Wien ist reich an Menschen, die »Schmäh führen« können, denen Pointen und Wortwitz im Café, beim Heurigen, auf der Straße nur so rausrutschen. Zu diesen Personen gehört die Hager / Adlerin.
Aber sie gehört eben auch zu den ganz wenigen, deren Schmäh den Transport ins Manuskript überlebt.
Ohne Produktionsverkrampfung. Ohne Reibungsverlust.
Was Männer betrifft, fühle ich mich befugt, einen Rat zu geben: Freunde, haltet euch von Polly Adler fern!
Es ist imagemäßig existenzgefährdend, ihr zu nahe zu kommen. Ich empfehle nur, sie zu lesen. Da kann einem nichts passieren. Außer, dass man lachen muss. Oft und sehr.
Werner Schneyder
Autor und Kabarettist
»Zu einem Unfall gehören immer zwei.«
F. Scott Fitzgerald, Der große Gatsby
Ich saß solo bei einem Chinesen in den Außenbezirken. Rund um mich drei abendfein aufgebrezelte Pärchen, sonst gähnende Leere. An einen Tisch servierte ein Kellner jetzt – mit verheißungsvoller Miene – ein Tellerchen mit den sattsam bekannten Glückskeksen.
Er: »Oh, wie nett! Die haben wir ja gar nicht bestellt.«
Der Kellner deutet der Dame (Hairstyling frühe Farah Fawcett, ledriger Teint) mit strenger Miene, eines der Glückskekse zu nehmen. Als sie auf das offensichtlich falsche greifen will, zeigt er nahezu herrisch auf ein in rotes Seidenpapier gewickeltes Fortune-Cookie. Erwartungsvoll bricht sie es auf.
»Nein«, quiekt sie jetzt ehrlich überrascht, »ein so schöner Ring! Gertschi, ein Traum, ein Märchen! Dass ich von dir noch einmal einen Antrag erleb … Schluchz!« Sie springt auf und jagt dem sichtlich verdutzten Gertschi ihre Zunge gleich einer frisch gefangenen Forelle in den Rachen.
Jetzt wird auf Tisch 2 eine gewisse Unruhe bemerkbar. Der dortige Herr scheint nervös. Er springt auf, geht zu Gertschi und Farah: »Verzeihung, haben Sie auch einen Zweikaräter in einem Keks bestellt? Weil, wenn nämlich net, dann ist das original meiner …«
»Danke, supa«, sagt Gertschi jetzt. »Vollsupa nämlich! Wie soll ich jetzt je wieder aus der Nummer auße kommen, ha?«
Der Kellner wirft sich in den Staub, er checkt, dass er mit seiner Zustellungs-Verwechslung ein Desaster ausgelöst hat.
Farah, jetzt voll in der Krise, gellend: »Der war gar nicht für mich! Gertschi, wie kannst du mich nur hier vor allen Leuten so demütigen!« Sie verlässt schluchzend das Lokal.
Der Ringkavalier wird jetzt von seiner vielleicht doch nicht Zukünftigen angeschnauzt: »Helmut! Wie blöd muss man eigentlich sein, um selbst so was Simples wie einen depperten Heiratsantrag zu verhauen …«
So kann’s gehen, wenn man Kontemplation an Glutamat in den Außenbezirken sucht. Dieser »Ring« hatte in jedem Fall mehr Pepp als der von Richard Wagner.
F braucht dringend unseren Beistand. Denn der Augenblick, auf den niemand von uns mehr zu hoffen gewagt hat, ist eingetreten: Kurt hat seine Frau verlassen. Ja, Sie haben richtig gehört. Gestern ist er spätnachts ins ansonsten so lauschige Liebesnest eingefallen. Das Rollen seines kleinen Stewardessenkoffers scheuchte die Anrainer nachhaltig auf. Da stand er an der Tür, unter dem Arm trug er ein Glas, in dem »Rambo«, sein geliebter japanischer Zierfisch, noch munter tollte. Seine zukünftige Ex hatte ihm das scheußlich-schillernde Tier zu seinem vorigen Namenstag geschenkt. Damit Kurt endlich einmal lernte, Verantwortung zu übernehmen. Die Frau besitzt definitiv lobenswerten Humor.
F konnte ihr plötzliches Glück gar nicht fassen. Während Kurt auf der Couch kauerte und Sätze wie »Ich kann nicht mehr mit der Lüge leben« oder noch poetischer »Das Doppelleben hat mir die Seele aufgefressen« von sich schoss, verkroch sich F in einem Eimer Hochprozentigem. Mit glasigen Augen sah sie zu, wie Kurt ihre Dessous aus dem Schrank fegte, um Platz zu schaffen. »Am Wochenende, mein Liebeling«, sagte er mit einem drallen Lächeln im Gesicht, »werden wir hier alles ein bisschen umstrukturieren und uns ein richtig schönes Heim machen.« Dann nahm er sie in die Arme und flüsterte: »Wir beide müssen jetzt ganz stark sein.« Schon am Sonntag sollte sie seine Mutter bei einem ungezwungenen Stefaniebraten kennenlernen.
Als Kurt, erschöpft von seiner radikalen Lebenswende, entschlummert war, rief sie mich an. »So war das alles nicht ausgemacht«, gellte sie in den Hörer. »Ich hasse Alltag. Ich brauche den Touch des Verbotenen, die Lüge, all das Heimlichgetue …« Dann explodierte sie in kleine, trockene Schluchzeinheiten: »Unsere Beziehung funktionierte nur deswegen so prinzenmäßig, weil seine Frau nichts davon wusste. Sie eine Art Schattengewächs war. Jetzt ist alles im Eimer.«
Fürwahr: Wie konnte Kurts Gattin F das nur alles antun. Ich hatte nichts anderes im Talon als eine Weisheit meines Chefs, der gerne zu sagen pflegt: »Tja, das Glück kennt eben keinen Rabatt.«
Ich finde, dass ich die Disziplin Männerfreundschaften lange sträflich vernachlässigt habe und versuche das jetzt wettzumachen. Und zwar nicht nur wegen der zwischenmenschlichen Wärme, sondern auch aus hinterhältigen Forschungszwecken. Denn rund um mich nichts als zerrüttete Damen, denen die Psyche des Mannes zunehmend zur Rätselrallye verkommt.
Nach mehreren Abendessen verdichten sich folgende Verdachtsmomente zur betonharten Gewissheit. Männer hassen Romantikterror. Sie wollen nicht rund um brennende Duftkerzen, die in Herzform arrangiert sind, sinnlos verträumt schauen und dann zu Paolo-Conte-Brunftgesängen, vielleicht noch auf viereckigen Designertellern, winzige Fischfilets auf Chili-Schokofond mümmeln müssen. Das finden sie »totally nono«, wie der Fortpflanz zurzeit radikale Verneinung verbalisiert.
Apropos: Sie können es auch nur schwer verkraften, ständig die Ohren vollgesudert zu kriegen, wie stilgebildet und verständnistriefend die schwulen besten Freunde ihrer Frauen denn nicht sind.
»Ich habe nun einmal eine Zierkissen-Allergie«, verriet mir einer, »und muss schreien, wenn ich lachsfarbene Wände sehe. Ist denn das wirklich so primitiv?«
Sie finden auch diese ständigen Jubiläums-Beharrlichkeiten (Tag des ersten Parkbank-Gezüngels, des ersten gemeinsamen Ikea-Besuchs etc.), an denen Frauen so äffisch hängen, echt enervierend. Sie wollen nicht jede Bewegung melden (»Geh jetzt grad für kleine Königstiger, Mausi, und danach ins Schraubenparadies«) und sieben Mal am Tag per SMS den Zuwendungsnachweis erbringen müssen (»Hab dich lieb, bis zur Sonne und zurück!«). Sie wollen auch morgens nach dem ersten Augenaufschlag nicht mit Fragen à la »Woran denkst du gerade? Und warum nicht mich?« oder »Schon einmal über Paartherapie nachgedacht?« oder »Wann verlässt du endlich deine Frau?« nervlich aufgerieben werden. Aus Platzgründen müssen die folgenden 47 Punkte auf andere Gelegenheiten vertagt werden. Wir bedauern …
»Ha«, johlte das Nougatauge (jener Mann, der mir sehr lange sehr nicht wurscht werden sollte – was nicht nur an seinen wunderschönen Augen lag) bei seiner ersten Begehung meiner Wohnung, als wir im Badezimmer angekommen waren: »Was kann denn dieses Ding?« Er fischte sich das Ding vom unvorsichtigerweise nicht abgeräumten Wäscheständer. Das Ding war ein in munterem Leopardenmuster gehaltener G-String, dessen Vorderseite von dem Konterfei eines grimmig blickenden Raubtiers inklusive des Imperativs »CATCH ME, IF YOU CAN!« gekrönt war. Idiotischerweise wurde ich jetzt scharlachrot und piepste: »Der gehört mir nicht, ehrlich nicht!«
»Ja, ja, sicher«, sagte er, »wahrscheinlich hat ihn dein transsexueller Installateur bei seinen letzten Wartungsarbeiten einfach so vergessen. Wenn du nicht ganz honigkuchenlieb bist, verrat ich’s jetzt denen da draußen, und zwar flächendeckend.« Er begann am Fenstergriff zu nesteln. »Du bist soho gemein. Der gehört unserem Au-pair- Mädchen. Ich trage schwarzen Satin.«
»Schon Karl Kraus«, warf sich der personifizierte Sargnagel jetzt in Pose, »sagte, man solle Frau nicht nur nach ihrem Äußeren beurteilen, sondern auch nach ihren Dessous.«
»Gilt das auch für Männer und ihre Socken?«, fragte ich und deutete auf sein mit einem grinsenden Hummer besticktes Beinkleid.
»Ein Geschenk von meiner Nichte aus Boston«, motzte er zurück. »Man kann sich seine Verwandten nicht immer aussuchen, und außerdem ist meine Waschmaschine zurzeit indisponiert. Es war das letzte Paar im Schrank.« Dann betrachtete er das Bücherregal in meinem Schlafzimmer, auf dem das Elefantenpaar Celeste und Barbar, der Bär Paddington und das Häschen Peter Rabbit, alles in Plüsch gehalten, thronten. »Aha«, flötete er, »so sieht also das Boudoir einer der angeblich größten Zynikerinnen dieser Stadt aus.«
»Ich musste sie retten«, schluckte ich. »Meine Tochter wollte sie schon ins Integrationshaus schleppen. Ich bin eben noch nicht bereit, ihrer Kindheit adieu zu sagen.« Und dann heulte ich los. Einfach so. Und musste an Konstantin Wecker denken, der mir in einer rotweinschweren Interviewnacht den Satz geschenkt hat: »Am Ende des Tages ist man nicht annähernd so besonders, wie man immer geglaubt hat.«
»Genug trinki-trinki g’macht, ich muss jetzt heidi gehen«, gähnte B.
Ich sah sie an wie etwas, was die Katze von sehr weit draußen reingebracht hat: »Brauchst du Hilfe, professionelle Hilfe?«
»So redet der Mann mit mir seit Neuestem, und zwar auch schon in bebautem Gebiet. Die ganze Zeit dieser Babytalk … grauenhaft!«
Der Mann war der »Kümmerer«, wie wir ihn nannten, und Neuland in B’s Beziehungsbiografie. Anfangs, wie so oft, hatte sich die Sache prächtig angelassen. Endlich einer, der einem morgens einen brasilianischen Fairtrade-Kaffee mit Schaumhäubchen ans Lager brachte. Oder einem flugs ein Kaschmirplaid über die Schulter warf, wenn man ein bisschen fröstelte. Der selbst an den Herd schritt, um eine Wok-Raffinesse »fürs Mädeli« zu zaubern, und vorher eingehende Erkundigungen bezüglich etwaiger Lactose- und Fructose-Intoleranzen eingezogen hatte. Wir an zwischengeschlechtliche Kargheit gewöhnten Daheimgebliebenen waren da fast ein bisschen neidisch geworden.
Und jetzt? Schon wieder ein Happy End weniger. Denn B hatte beschlossen, dass ein Mann, der sich morgens mit den Worten »Muss schnell ein Luli machen, Häselchen« aus dem Bett stahl und bei Spaziergängen immer »Fredi«-Kekse dabeihatte, die er ihr in den Mund stopfen wollte, in die grausame Rubrik »Unfuckable material« rutschte. Das musste auch angesichts einer mehr als tristen Marktlage drinnen sein.
»Was ist das für eine Welt«, seufzte B und machte dann doch noch ein großes Trinki-Trinki. »Man wird von einem Typen wie ein zurückgebliebenes Kind behandelt, von seinem Chef wie eine lästige Laune der Natur und vom eigenen Sohn wie eine menopausale Stalkerin! Irgendwas läuft hier böse, böse!«
»Das Leben imitiert nicht die Kunst, sondern schlechtes Fernsehen«, antwortete ich. »Ist leider nicht von mir, sondern von Woodily Allen, dem Schlaubärli.«
Ich habe mir ein Strafausmaß von zwei Wochen Facebook-Verbot und Erstellung eines Petit-Point-Zierkissens bei trübem Licht zugedacht, sollte ich sie noch einmal einem Mann stellen, diese Frage. Die da lautet: »Hast du mich noch lieb?«
Erstens klingt das Wort Liebhaben nach etwas, was man für Haustiere und Landstriche anwendet – aber Alternativen drängen sich nicht gerade auf. »Liebst du mich noch?« hat so einen melodramatischen RTL-Passion-Touch. »Verspürst du noch ausreichend Zuneigung für mich?« bringt’s mit seiner Hausbackenheit schon gar nicht.
Und zweitens, jetzt einmal abgesehen von Formalismen: Die Frage, die der Überprüfung der emotionalen Zugewandtheit eines Lebensabschnittspartners dient, kommt in jedem Fall der Eröffnung einer Schlacht gleich, die nicht zu gewinnen ist. Für uns Damen nämlich.
Denn in der Regel lieben wir bedingungs- und hemmungsloser, als Männer es imstande sind. Und wollen damit verbal auch überhaupt nicht hinterm Berg halten. Der Mann an sich findet, dass seine Anwesenheit ohnehin schon Liebesbeweis genug ist. Was muss da noch groß die Farbkarte der Zuneigung bebrabbelt werden? Man isst, schläft und streitet sich gemeinsam um die Fernbedienung. Eine Frau, die einen dabei mit Fragen wie »Schmeckt’s dir auch?«, »Hättest du mich auf der Titanic in die ersten Rettungsboote geschubst?« oder eben »Hast du mich noch lieb?« enerviert, kann da nur stimmungstötend wirken.
Dabei wären wir selbst durch mittelklassige Gefühlsbekenntnisse wie zum Beispiel ein schlichtes »Schön, dass es dich gibt« schon so was von korrumpierbar und streichfähig. Es muss ja nicht immer gleich den Tatsachen entsprechen.
Wie verriet mir einmal Maximilian Schell, ein erwiesener Kenner des weiblichen Gemüts, im Zuge eines Interviews: »Im Leben eines jeden Mannes kommt der Moment der Wahrheit, und dann heißt es: Lügen, lügen, lügen.«
Und alle Beteiligten hätten was davon.
Marcel Proust hätte mich in meinem jetzigen Zustand so beschrieben: »Sie sah aus wie eine Geranie von gestern.« Bestenfalls. Ich schwächelte grippal. In Umarmung mit einem Topf Hühnersuppe sah ich fern, bis mir schlecht wurde. Unter dem Vorwand, den volksbildnerischen Crashkurs »Rätsel Mann – so nah und doch so fern« zu absolvieren, pfiff ich mir alle Folgen »Monaco Franze« rein.
»Haben Sie sich meiner Frau aus purem Leichtsinn genähert«, fragt den Monaco da ein entnervter Ehemann, dessen Gattin fünf Jahre nach ein paar schönen Sekunden in den Armen des Stenz noch immer an einer Franze-Besessenheit litt.
»Leichtsinn?«, antwortet der, »Na wirklich net! Es war der pure Trieb, Sie, da brauchen Sie überhaupt nicht eifersüchtig sein.«
Ich Vollidiotin! Ich hatte all die Jahre so viele Dinge persönlich genommen, die überhaupt nichts mit mir zu tun hatten. Der Mann an sich sah die Sache mit den Frauen nämlich vorrangig unter einem sportlichen Aspekt. Nicht der Besitz war das Ziel, sondern der Weg dorthin. Die Eroberung war ihm von ungleich aphrodisierenderer Wirkung, als der Einmarsch in das frisch besetzte Gebiet selbst.
Ich erinnerte mich an ein Interview, das ich mit einer amerikanischen Emotionsforscherin gemacht hatte. »Es geht vor allem um den Tanz und nicht um den Tänzer«, hatte Helen Fisher ihre Erläuterungen über die Erkenntnis geschlossen, dass die romantische Liebe ein Trieb, ident konzipiert wie Hunger, Durst oder Sex sei. Und Triebe gehören eben von Zeit zu Zeit befriedigt. Ziemlich ernüchternd, denn gemäß dieser Theorie kann quasi ein jeder kommen, falls die innere Bereitschaft vorhanden ist. Das wollte ich dem Sargnagel nicht vorenthalten. »Nougatino mio«, zwitscherte ich, »die wirklich gute Nachricht zum heutigen Tag: Wir sind nicht füreinander bestimmt. Es ist alles nur Triebbefriedigung, du musst es überhaupt nicht persönlich nehmen, denn es könnte quasi ein jeder kommen.«
Er schoss in der Sekunde mit einem »Faust«-Zitat zurück: »Mich deucht, die Alte spricht im Fieber.«
Und flugs war mir der ganze Wissenschaftsunsinn wieder so herrlich und einzigartig egal.
»Ich muss los, zu meiner Oma! Sie will mir ihr neues Glück vorführen!«, vermeldete C.
»Was für neues Glück? Einen Kanarienvogel mit Turboantrieb, oder hat die Azalee antizyklisch geblüht?«
»Anschnallen, Schatzi! Alter ist nämlich die neue Jugend. Die Oma hat sich von den Antillen einen Milchkaffee mitgebracht.«
»Bitte wie?«
»Ein quirliges Kerlchen, keine 45, der wohnt jetzt einmal bei ihr.«
»Mit welcher Job-Description?«
»Gute-Laune-Verströmer. Sie trommeln gemeinsam, und er kocht bananenlastige Gerichte. Was sonst noch abgeht? Glaube mir, ich möchte es nicht wissen.«
Ich musste mich setzen. C’s Oma würde man zwar keine 67 geben (sie war jedoch de facto schon 72), aber sie befand sich, was den erotischen Verkehrswert betraf, doch schon länger jenseits des Flusses. »Nimm mich mit«, winselte ich, »ich werde mich auch ausnahmsweise benehmen.«
So kam es, dass wir eine Stunde später auf dem Boden von Omas Couchtisch hockten, fetten Bananenkuchen in weißen Rum tränkten und C’s Oma beim Bäckchenglühen beobachteten, während der reizende Herr Gilles uns auf der Maultrommel eine Erntedank-Ballade aus seiner Heimat zum Vortrag brachte. Später nannte er sie »Sugarbird« und sie ihn »Bacalaoino«, was so viel wie Trockenfischchen bedeutete.
»Er ist so wahnsinnig authentisch und unneurotisch«, schwärmte die Antillen-Omi, als wir das Koch-Chaos in der Küche in den Griff zu kriegen versuchten. »Nach all diesen grantigen Kreuzworträtsellösern und untoten Wirbelsäulengymnastikern – mein Herr Gilles ist Botox, allerbestes Botox für die Seele!« Dann lachte sie nicht unschmutzig.
Und ich dachte mir, dass ich eine Menge Leute meines Alters kannte, die wesentlich älter waren als C’s Oma.
»Wissen Sie, Fräulein Polly«, sagte sie jetzt, »diese Lebensphase hat auch ihren Vorteil: Man muss sich mit der Zukunft nicht mehr so wahnsinnig beschäftigen. Aber deswegen kann man sich volles Kanonenprogramm auf die Gegenwart stürzen.«
Bingo!
»Man hätte die Zeichen schon viel früher deuten können, sollen, müssen.« – Die Dramatik des Satzes unterstrich mein gleichgeschlechtlich orientierter Freund, indem er sich die Mähne nach Art der Jahrhundertwende-Dirigenten raufte.
Wir befanden uns am Tag 3 nach seinem Beziehungs-Crash. Ich hätte meine Vinyl-Sammlung verwettet, dass der Mann, den er gegenüber dem Rest der Menschheit so sehr überschätzt hatte (Danke, Herr Shaw, für diese Definition von Verliebtheit), der Typ war, mit dem er einmal mit ohne Zähne in einem schicken Ausgedinge zu sitzen kommen würde. Es hatte alles so perfekt geklungen: gleicher Tattoo-Geschmack, gleiche Herkunft aus gehobenem Mittelstand, beide hatten ihren Zweitwohnsitz in der Muckiburg und dementsprechend Michelangelo-taugliches Körpermaterial. Und, sehr wichtig: Beide hatten bereits einige Tausend Kilometer auf dem Unfug- und Exzess-Tachometer absolviert. Man hätte also eigentlich ganz getrost ohne irgendeine Versäumnispanik in den lauschigen Beziehungshafen eintuckern können. Also: Wo waren diese Zeichen gewesen, die das Here-comes-trouble-Alarmsystem zum Rotieren bringen hätten sollen?
»Sein Lieblingsfilm war ›Die Hard‹«, presste mein Freund hervor, »und er hörte gerne Helene Fischer, wenn es ihm schlecht ging. Bruce Willis und Helene Fischer als Trostspender-Kombi sind ein Worst-Case-Szenario. Ich hätte sofort rennen müssen …«
So gesehen hätte ich mir die Hälfte meiner Liebesbiografie gespart: Ich war in Free-Jazz-Clubs verzweifelt, hatte mich auf Hochständen im Morgengrauen zu Tode gelangweilt, Wagner-Opern überlebt und Männer geliebt, deren dürftige Bibliotheken zu allem Überfluss auch noch äußerst John-Grisham- und Donna-Leon-lastig waren. Mit einem Frühwarnsystem wäre mein Leben aber erholsam erlebnisarm gewesen. Ich sang also: »Atemlos durch die Nacht – spür, was die Liebe mit uns macht!«
»Männer und Frauen passen ohnehin nicht zusammen, also entspann dich«, sagt eine Ehefrau zu ihrem Gespons in dem Doris-Dörrie-Stück »Happy«. »Ja, wir sollten einfach Brunftzeiten ausmachen wie beim Wild«, antwortet der, »es wäre alles so viel einfacher …«
Als ich das las, saß ich frierend auf einem Ansitz, der Regen tropfte mir in den Hals, und rund um mich röhrten Hirsche, als gäbe es irgendeine Art von archaischem Song Contest zu gewinnen. Die Stunden auf diesen Ansitzen vergehen eher schleppend, deswegen sollte man sich ausreichend Lektüre in den Ranzen packen. Zum Fixrepertoire für solche Männer-sind- Jäger-Exkursionen gehört Tolstois »Krieg und Frieden«.
»Zwei Wochen geben die Hirsche jetzt bei den Weibern Gas, und das ist es dann?«, wollte ich vom Mann neben mir wissen.
»Sozusagen«, murmelte er relativ desinteressiert an meinen jagdlich ignoranten Fragen. In den Momenten, in denen die rein hypothetische Möglichkeit bestünde, dass man ein solches Vieh vom Hang donnern könnte, würde auch Nadja Auermann in tizianroten Strapsen bei meinem Akuten das Nachsehen haben. Nachdem Gott guter Laune gewesen war und einer von den brünftigen Brüdern sein Leben ausgehaucht hatte, ließ er sich wieder zur Vernehmungsfähigkeit herab.
»Und was machen diese Hirsche den Rest der Zeit?«, fragte ich ihn. »Rotwein trinken, alles kontrollieren, andere Hirsche treffen und besprechen, was wirklich Sache ist.«
Ein verlockendes Konzept. Denn am Ende des Tages ist es wirklich entwürdigend, wie man sich wegen der hypothetischen Möglichkeit von zwischengeschlechtlicher Beiwohnerei das ganze Jahr über zum Narren macht.
»Wir sollten Brunftzeiten einführen«, flüsterte ich E am Telefon, »dann haben wir nur kurze Zeit dieses ewige Warum-ruft-er-nicht-an-Theater, brauchen weniger Aber-hallo!-Schuhe und können uns den großen Dingen widmen.«
»Die da wären?«
»Salsa tanzen, gute Bücher lesen, die Steuererklärung rechtzeitig abgeben.« »Wenn du wieder bei Trost bist, Polly, mailen wir uns zam, okay?!«
Immer, wenn ich ein bisschen vernünftig sein will, nimmt mich keiner ernst. Story of my life.
»Mein Rehlein kommt. Wie schön!« In den Augen meines Anstaltskollegen P gingen ein Dutzend Sonnen auf. P lebte wie ich den Sommer über in einer bezaubernden Holzhüttensiedlung an der Alten Donau, die alle Bewohner die »Anstalt« nennen. Wie jeden Morgen gegen halb neun tänzelte seine bezaubernde Gattin in unsere eingezäunte WG. Sie schwang ihr Menage-Reindl am Henkel, als wäre es die allerheißeste It-Bag von Balenciaga.
Wie jeden Morgen kam es zu einer Übergabe der Hausfraukost, die das Rehlein schon bei den ersten Sonnenstrahlen gezaubert hatte. Dann wurde geschnäbelt und gezwitschert, als ob P ihr erst am Vorabend einen Antrag gemacht hätte. »Mei, so lieb von dir Schatzi!« – »Aber gerne, mein Bärli.« Kein Mollton trübte je den Dialog. Dabei hatten die zwei Turteltäubchen schon 43 Jahre Ehe auf dem Tachometer.