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Das Buch

»Die Arktis ist die Zone der Welt, wo der Himmel die Erde berührt. Nicht jeder erträgt das große Licht, nicht jeder die Finsternis, nicht jeder die große Einsamkeit. Ich hatte die große Gnade, gleich am Anfang meines Abenteuers, und dies alleine, mitten hineingeschleudert zu werden in die Unerbittlichkeit der wilden Natur und erhielt meine Feuertaufe.«

Die Autorin

Christiane Ritter wurde 1898 in Böhmen geboren. Mit 36 Jahren folgte sie ihrem Ehemann Hermann Ritter, einem Abenteurer und Kapitän, nach Spitzbergen, um dort zu überwintern. Christiane Ritter lebte später in Wien und starb 2000 im Alter von 103 Jahren.

Christiane Ritter

Eine Frau erlebt
die Polarnacht

Mit acht Aquarellen und
25 Federzeichnungen der
Verfasserin und einer Karte

Mit einem Nachwort
von Christiane Ritter

Ullstein

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Mein Dank gilt meinem Mann, der mit seiner Geduld und Erfahrung der denkbar beste Kamerad in der Polarwelt war. Er vereinigte beides in sich, den Instinkt des arktischen Naturmenschen und die geistige und seelische, auch künstlerische Durchbildung eines Europäers.

Christiane Ritter

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch

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E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

Inhalt

Die lockende Arktis

Ausreise, und die Welt wird heller und kahler

Die ersten Tage in der Wildnis oder: ein typischer Männerhaushalt

Mikkl

Bootsreise ins Landinnere

Die Erde sinkt in den Schatten

Allein in der Hütte beim ersten Schneesturm

Ruhe nach dem Sturm

Es wird Nacht

Fortryllende Polarnacht

Nicht enden wollende Finsternis

Das Packeis kommt und der erste Bär

Totes Land

Ein Jäger bringt Post

Ausflug aufs Rensdyrland

Kampf um Vitamine

Frühling im Eis

Für Europa verpatzt

Nachwort

Bildteil

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Die lockende Arktis

In einer Hütte in der Arktis zu leben, war von jeher meines Mannes Wunschtraum gewesen. Wenn in unserem europäischen Heim irgend etwas nicht stimmte, Kurzschluß, Rohrbruch, oder gar der Mietzins gesteigert wurde, meinte er immer wieder, so was könnte in einer Hütte in der Arktis nicht vorkommen.

Anschließend an eine wissenschaftliche Expedition blieb mein Mann in Spitzbergen, betrieb mit seinem Kutter Eismeerfang und, wenn alles vereist war, im Winter auf dem Festlande Pelztierjagd. Briefe und Telegramme kamen aus dem hohen Norden: „Laß alles liegen und stehen und folge mir in die Arktis.“

Aber wie für alle Mitteleuropäer war damals die Arktis für mich gleichbedeutend mit Frieren und Sicheinsamfühlenmüssen. Ich folgte nicht sogleich.

Doch langsam fingen die im Sommer eintreffenden Tagebücher aus dem hohen Norden an, mich zu faszinieren. Sie erzählten von Reisen zu Wasser und übers Eis, von den Tieren und dem Reiz der Wildnis, von den seltsamen Beleuchtungen der Landschaft, von der seltsamen Beleuchtung des eigenen Ich in der Weltferne der Polarnacht. Fast niemals war in den Aufzeichnungen von Kälte und Finsternis, Sturm und Strapazen die Rede.

Ich sah die kleine Winterhütte in immer freundlicherem Licht. Man mußte ja als Hausfrau die gefährlichen Touren im Winter nicht mitmachen. Man konnte ja unterdessen beim warmen Ofen in der Hütte bleiben, Strümpfe stricken, vom Fenster aus malen, in weltferner Ruhe dicke Bücher lesen und nicht zuletzt nach Herzenslust ausschlafen.

Mein Entschluß reifte, einmal eine Überwinterung zu wagen. Ich traf umfassende Vorbereitungen, denn ich wollte wohlverpackt die Arktis betreten, wie von einem geheizten Kinoplatz aus alle Ereignisse und die unbekannte Schönheit der Polarnacht an mir vorüberrollen lassen. Mütter, Großmütter und Tanten strickten an warmen Hüllen, Väter, Onkel und Brüder spendeten die neuesten Wärmeapparate. Freilich mußte ich immer wieder hören, daß es ein hirnverbrannter Blödsinn sei, als Frau in die Arktis zu gehen.

Da traf der neueste Frühjahrsbrief meines Mannes ein:

„Ich hoffe, Du hältst Dein Versprechen und kommst dieses Jahr herauf. Ich habe für den kommenden Winter eine kleine Hütte an der Nordküste Spitzbergens übernommen. Sie soll gut und fest gebaut sein. Gar zu einsam wird es ja für Dich nicht werden, da an der Nordwestecke der Küste, ungefähr 90 Kilometer von hier, noch ein Jäger, ein alter Schwede, haust. Den können wir im Frühjahr, wenn das Licht zurückkommt und das Meer und die Fjorde zugefroren sind, einmal besuchen.

Außer Deinen Skistiefeln brauchst Du nichts mit heraufzubringen. Ski und Ausrüstung sind noch vorhanden von einem früheren Begleiter. Proviant und alles, was man für eine Überwinterung braucht, besorge ich.

Bringe ja nicht mehr mit, als Du selbst in einem Rucksack bequem tragen kannst. Es bietet sich uns eine sehr günstige Reisegelegenheit. Wir rudern mit Jäger Nois von der Adventbai aus quer über den Eisfjord. Er will uns dann mit seinen Hundeschlitten noch über die Gletscher bringen, und dann gehen wir allein weiter, durch den Wijdefjord, immer geradeaus. Allerdings sind ein paar Gletscherflüsse zu durchqueren. In ungefähr 14 Tagen können wir an unserem Wohnplatz an der Nordküste sein.

Telegrafiere sofort, mit was für einem Schiff Du heraufkommst. Ich radiotelegrafiere Dir dann später an Bord Deines Schiffes alle Weisungen wegen Deiner Ausbootung.

P. S. Wenn Du noch Platz in Deinem Rucksack hast, dann bringe, bitte, Zahnpasta für 2 Mann für 1 Jahr mit und Nähnadeln.“

Einige Stunden nach Eintreffen dieses Briefes hatte ich mir eine Schiffskarte bestellt und meinem Mann Name und Abfahrt meines Schiffes telegrafiert. Dann erst gab ich mich dem Entsetzen hin, daß ich kein Gepäck mitnehmen sollte. Was hatte ich nicht alles bereitgelegt. Außer der Ausrüstung, einem Federbett und Wärmflaschen noch Bücher und Hefte, Malkasten und Filme, Backpulver und alle Gewürze, Wolle und Stopfgarne. Was würde man nicht alles brauchen ein ganzes Jahr in der arktischen Wildnis bei einem, weiß Gott wie, in den letzten Jahren verwilderten Mann …

Und warum mußte mein Mann gerade die Nordküste als Überwinterungsplatz wählen? Ausgerechnet die Küste, die, soviel ich wußte, fast das ganze Jahr von Treibeis belagert war, für Schiffe schwer zugänglich, an die 250 Kilometer entfernt von der letzten menschlichen Ansiedlung, jenseits der Gletscher und Fjorde?

Schweren Herzens packte ich in einen Rucksack das Lebensallernotwendigste. Den Riesenhaufen, der übrigblieb, packte ich in alte Koffer und Seesäcke und … nahm ihn auch mit. Mochte das Gepäck nach der Ausbootung an irgendeiner einsamen Küste Spitzbergens stehen bleiben, wenn nicht doch noch ein glücklicher Zufall meine Habseligkeiten an ihren Bestimmungsort brachte.

Es war an einem glühheißen Julitag, als ich, angetan mit Skikostüm und Nagelschuhen, auf dem Rücken einen turmhohen Rucksack, an unserer kleinen Haltestelle stand, umringt von den abschiednehmenden Eltern und Geschwistern, Köchin, Gärtner und Waschfrau. Alle schüttelten immer noch die Köpfe über das Unternehmen, steckten mir aber doch noch kleine Liebespakete in die Taschen, verschiedene unentbehrliche Kleinigkeiten für die Arktis, wie sie sagten, Sachen, die ich unbedingt mitnehmen müsse und die ich erst auf dem Schiff anschauen dürfe.

„Wenn vielleicht der Ofen schlecht ist in der kleinen Jägerhütte, dann komme ja mit dem letzten Schiff im Herbst wieder zurück“, rief mir meine besorgte Mama zu, als sich schon der Zug in Bewegung setzte.

Ausreise, und die Welt wird heller und kahler

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Etwas blasiert sah ich dem Getriebe zu, als sich unser Schiff im Hamburger Hafen in Bewegung setzte. Vor meinem inneren Auge wuchs schon die weite Stille des hohen Nordens. Aber um mich herum winkte und schneuzte es tausendfältig zu dem sentimentalen Abschiedslied der Bordkapelle. Bordstühle wurden in rasendem Tempo gekauft, Kaffeesäle und Wechselschalter gestürmt – Großstadtmenschen im Großstadttempo beim Beginn der vierwöchigen Polarferienreise.

Ich flüchtete in meine Kabine, packte die Liebesgaben von zu Hause aus und war gerührt: die Bibel auf Dünndruck von Papa, Kamelhaarwäsche von Mama, ein unzerbrechlicher Spiegel von den Geschwistern, getrocknete Petersilie vom Gärtner, Kochlöffel und Quirl von der Köchin und von der Waschfrau ein mittelalterlicher Tobiassegen gegen alle bösen Geister!

Die eintretenden Mitreisenden meiner Kabine sahen mit Entsetzen auf mein verdächtiges Gepäck. Da ich aber von meiner bevorstehenden Überwinterung auf dem Schiff nichts verlauten lassen wollte, um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, konnte ich ihnen das Rätsel nicht lösen.

Am nächsten Tag hatte sich der Sturm auf dem Schiff gelegt. Die eintausendvierhundert unruhigen Passagiere lagen mit entspannten Ferienmienen schlafend auf ihren eintausendvierhundert Bordstühlen, und ich ging, um mich zu vergewissern, daß gestern bei der Ausreise meine Gepäckmassen mit an Bord gekommen waren.

In dem großen, leeren, nur schwach erleuchteten Gepäckraum erhebt sich aus einer Ecke eine etwas schwerfällige Gestalt:

„Hoho, Fräuleinchen, sind Sie die Dame, die nach Spitzbergen will?“ ruft es in drohendem Baß.

„Woher wissen Sie denn das?“

„Na, das steht doch auf Ihrem Gepäck. Sagen Sie mal, was wollen Sie auf dieser gottverlassenen Insel?“ Mitleidig schaut mich der dicke alte Gepäckmeister über die Brille an, während er mir einen Frachtzettel ausfertigt.

„Nichts … Polarlichter anschauen.“

„Für die Universität?“

„Nein, für mich alleine.“

„So. Na, das schlagen Sie sich mal aus’m Kopp. Da frieren Sie ja tot auf der Insel. Da passen Sie nich hin, Sie kleene Puppe. Und Skorbut könn’ Sie da auch kriegen. Wer zweimal nacheinander gut schläft, dem ist der Skorbut nicht mehr fern, heißt es. Ich kann Ihn’ was erzählen. Ich war früher bei der Sanität.“

„Nein, danke, erzählen Sie mir lieber nichts. Aber nicht wahr, Sie sind so gut und schaffen mir mein Gepäck an Land?“

„Wo wollen Sie denn überhaupt an Land in Spitzbergen?“

„Ja, wenn ich das selber wüßte, ich habe wirklich noch keine Ahnung.“

„Na, denn fahr’n Se man wieder hübsch mit uns nach Hause. Unser Kapitän läßt Sie ja gar nicht vom Schiff runter. Nö, da kenn’ Se den schlecht. Der läßt so was gar nicht zu.“

Nun bekomme ich aber doch einen leichten Schrecken. „Wo ist denn der Kapitän zu sprechen?“ frage ich den Gepäckmeister.

„Oben“, sagt er und zeigt mit dem Zeigefinger senkrecht durch die Decke, wie in den Himmel. „Oben, auf der Kommandobrücke.“

Kurz entschlossen steige ich hinauf, unendlich viele Treppen, vorbei an den eintausend vierhundert von Sonne und Wind umsäuselten, schlafenden Passagieren, über die Kommandobrücke mit dem breiten, langen Fenster, mit dem Blick über einen unendlich weiten Horizont.

„Herr Kapitän, ich wollte Sie nur fragen, ob Sie mich in Spitzbergen irgendwo, irgendwann, irgendwie an Land setzen können.“

Der Kapitän schüttelt ernst den Kopf, das könne er ganz und gar nicht. Es sei im Gegenteil sein bestes Bestreben, alle Passagiere wieder heil nach Hause zu bringen. Außerdem müsse man die Erlaubnis der norwegischen Regierung haben, wolle man überwintern.

„Aber mein Mann erwartet mich oben.“

Im Laufe des Gespräches stellt es sich heraus, daß der Kapitän meinen Mann kennt, ihn selbst vor drei Jahren in der Kingsbai abgesetzt hatte.

„Wir legen natürlich Ihrer Ausbootung nichts in den Weg“, sagt er, „geben Sie uns Nachricht, wenn Sie das Telegramm wegen Ihrer Ausbootung erhalten haben.“

Erleichterten Herzens verlasse ich die Kommandobrücke, kaufe mir einen Bordstuhl und genieße die weitere Reise ebenso sorglos wie die Passagiere.

Es kommen die Fjorde, die typischen Nordlandfjorde, gletschergrünes Wasser, daraus herauswachsende steile dunkle Felsen, Wasserfälle, die von den Bergen wehen wie weiße Fahnen. Jeden Morgen, o welche Lust, stehen Bett und Zahnbürste in einem anderen Fjord. Die Passagiere werden ausgebootet, im Auto gefahren, in den romantischsten Winkeln abgesetzt, dürfen in Gletscherbächen von einem Stein zum andern springen, dürfen die wilden Bergziegen necken, haben Freßpakete, knipsen, schreiben und kaufen Reiseandenken.

Am Abend kommen wir zurück auf den von Maschinen, Küchenbetrieb und Komfort zitternden Schiffskoloß, werden gefüttert, gebettet und weitergeschifft. Man tanzt, flirtet, ißt und trinkt sich an berühmt-schönen Küsten entlang, bis man eines Tages deutlich merkt, wie die Welt nach Norden zu immer heller und heller und kahler und einsamer wird.

Abendhell bleibt die Nacht. Klippen und kahle Bergköpfe ragen aus dem fahlen Licht des Wassers. Ein fremder, kühler Hauch weht mich an aus dieser Urweltlandschaft. Wie die Erde im vorletzten Stadium der Sintflut sieht die Gegend hier aus.

Hinter den Glastüren des Promenadendecks, in den erleuchteten Kaffeesalons sitzen die Menschen. Sie rauchen, trinken und tanzen, sie denken und sprechen genau so, wie sie es am Abend in ihren Großstadtlokalen tun. Sie merken wohl nicht viel von der fremd werdenden Welt, aus der sie in wenigen Wochen rundgegessen und ausgeschlafen zurückkommen werden.

Wir sind in Tromsö. Fischdampfer und Eismeerschiffe liegen im Hafen, still und bescheiden. Sie riechen nach Teer und Tran, und eine Atmosphäre von Abenteuer, Eis, Sturm und Weite liegt auch um sie.

Heute gilt die Aufmerksamkeit der Tromsöer ausschließlich dem deutschen Ozeanriesen, sie gehen in den Straßen und am Hafen, alle Läden sind offen, es herrscht vollster Betrieb, obwohl es schon zehn Uhr abends ist.

Mit einer Adresse in der Hand frage ich mich durch nach einer Tromsöer Familie, an die ich empfohlen bin. Der Weg geht durchs Grüne, Birkenbäume, Gras und Unkraut. Alles ist hier gigantisch und schön. Der Schierling, fast drei Meter hoch, hat prächtige Blütendolden und Blätter von tropischer Üppigkeit. Das doppelte Licht des Sommers gibt doppeltes Wachstum. Ich komme zu einer weiß lackierten Holzvilla in einem Stück abgegrenzter Natur. Gärten und Parks scheint es hier nicht zu geben. Die üppige Natur ist Park genug.

Die Familie empfängt mich mit offenen Armen. Es sind die ersten Menschen auf der Reise, die von dem Ziel meiner Fahrt wissen. Weil ich kein Wort Norwegisch kann, ist eine Schwiegertochter Dolmetsch.

„Papa meint, er würde an Ihrer Stelle nicht in die Eiswüsten Spitzbergens gehen!“

„Ich fürchte mich nicht“, entgegnete ich, „mein Mann meint, es sei da oben nicht viel anders als in Mitteleuropa, wenn man entsprechend wärmer angezogen ist.“

„Ihr Mann ist ein routinierter Überwinterer“, sagt ein Sohn des Hauses und wiegt den Kopf.

Ob man mir in irgend etwas behilflich sein könnte, werde ich gefragt.

„Helmer Hansen weiß, was ich noch an Ausrüstung brauche, das soll ich dann heute noch einkaufen. Mein Mann hat ihm alles geschrieben.“

Helmer Hansen wird geholt. Ich stelle mir unter Helmer Hansen einen Hünen vor. Er war Amundsens Begleiter bei der Entdeckung des Südpols, er war Amundsens Begleiter auf der Nordwestpassage mit der „Gjöa“ und auf der Nordostpassage mit der „Maud“.

Helmer Hansen ist ein auffallend feingliedriger, stiller Mann, mit großen blauen herzensguten Augen. Er schüttelt mir immer wieder die Hände und sagt: „Kaptein Ritter wird sich freuen, daß ,fruen sin‛ kommt.“ Dann wird er sachlich: „Fruen soll sich Komaga kaufen. Wasserstiefel sind nicht notwendig, aber Filzsocken.“

Das Gewünschte wird mir aus der Stadt geholt in allen Größen zur Auswahl.

Komaga sind Lappenschuhe, breit wie Kähne und handgearbeitet aus weichstem Leder. Die Schuhspitzen stehen vorn in die Höhe. Sie haben Stulpen bis an die halbe Wade. Ich probiere das kleinste Paar, es ist mir viel zu groß.

„Zu klein!“ sagt Helmer Hansen energisch. Er rät mir zu dem allergrößten Paar. Es käme viel Gras in die Schuhe. Je größer die Schuhe, desto besser.

Um zwölf Uhr nachts werde ich wieder an den Kai gebracht. Der weiße Ozeanriese liegt draußen auf dem Meere wie in flüssigem Abendrot. Alle Decklampen brennen. Es ist ein imposanter Anblick. Die Passagiere schwirren an Deck hin und her, wie Falter im Lampenlicht. Sie scheinen alle etwas berauscht vom Zwielicht, vom Grellrot des Himmels und des Wassers, von dem zeitlosen grellen Abendrot, das bald nach Mitternacht übergeht in ein noch leuchtenderes Morgenrot. Keiner denkt an Schlafen heute. Erst als das Schiff wieder fährt und es kühl wird auf dem Meer. Die Luft bekommt nach und nach etwas Hartes, Kaltes.

Den nächsten Tag ist kein Land zu sehen. Das Fähnchen auf der Tourenkarte steigt nordwärts auf dem Meere zwischen Norwegen und der Bäreninsel. Die Bordkapelle spielt zum erstenmal übertags, und zwar gleich bei allen Mahlzeiten im Speisesaal, vielleicht um die Menschen aufzumuntern, damit kein Grausen aufkommt vor der großen, einsamen Insel im nördlichen Eismeer.

Ich bin etwas in Unruhe, da ich von meinem Mann wegen meiner Ausbootung noch keinerlei Nachricht bekommen habe.

Den nächsten Morgen haben wir das Südkap Spitzbergens passiert. Am östlichen Horizont, zwischen dem grauschillernden Meer und einem tief herabhängenden Nebelvorhang, leuchtet ein Streifen merkwürdiges Land, ein Streifen blauer Berge, dazwischen sonnengleißende weiße Gletscherströme: die Küste Spitzbergens.

„Dort drüben liegt Longyearbyen, der letzte Vorposten der Zivilisation, eine norwegische Kohlenmine“, erklärt einer an Deck.

Dann kommt menschenleeres Land. Einen ganzen Tag lang Berge, Gletscher, blaue Felsen, weißes Eis … In der Nacht hüllt sich das Land in Nebel, von der Nordküste kriegen wir nichts zu sehen, wie ich gehofft hatte. Morgen früh soll das Schiff an der Packeisgrenze sein.

Viele tanzen die Nacht durch. Alle anderen Passagiere werden früh um vier Uhr geweckt von einem anderen Trompetenlied als sonst. Das heute ist außergewöhnlich frisch, direkt spritzig, und bringt alle Schläfer auf die Beine. Alles stürmt aufs Promenadendeck.

Hm, das ist also das Packeis! Ein paar schüchterne, schmutziggelbe Schollen liegen träge zwischen Nebel und Wasser. Alles friert. Nur die Damen in eleganten Pelzmänteln fühlen sich beachtet und sind in gehobener Stimmung. Enttäuscht kriecht alles in die Betten zurück.

Den nächsten Morgen allgemeines Verschlafen. Die Welt ist in dicken Nebel gehüllt. Unablässig tutet das Nebelhorn. Das Schiff befindet sich wieder auf der Reise südwärts.

Ich habe beschlossen, falls alle Nachricht von meinem Mann ausbleiben sollte, auf alle Fälle im Eisfjord an Land zu gehen. Irgendeiner an der Kohlenmine wird schon Rat wissen, wie, wo und wann ich meinen Mann finden kann.

Jedoch am Vormittag kommt das Radiogramm: „Erwarte dich Kingsbai!“ Das Telegramm bringt Erlösung und Sorge zugleich. Wird das Schiff die Kingsbai anlaufen bei dem Nebel? Das Getute ist fürchterlich. Vom Bug ist das Heck des Schiffes nicht zu sehen.

„Zahlmeister, wird das Schiff die Kingsbai anlaufen?“ Der zuckt die Achsel.

„Gepäckmeister, wird das Schiff die Kingsbai anlaufen?“

„Fahr’n Se man wieder hübsch mit uns nach Hause!“ sagt der.

Ich mache mich jedenfalls bereit und erledige die letzten Formalitäten auf dem Schiff. Die Passagiere gehen gelangweilt im Nebel spazieren, manche denken ans Essen, die meisten von ihnen sitzen im Geist schon wieder in ihren heimatlichen Büros. Ich bin mindestens ebenso nervös wie die ganze Schiffsmannschaft in der grauen Undurchdringlichkeit des Nebels. Da stoppt das Schiff, die Kingsbai ist erreicht. Ich springe ins erste Boot, das an Land geht.

Eine Holzbrücke taucht aus dem Nebel. Ein Häufchen Menschen steht darauf. Ich erkenne meinen Mann. Er überragt alle an Größe und Hagerkeit.

„Da bist du ja“, sagt er und lacht ruhig. Er ist dunkelbraungebrannt, trägt grobgeflicktes, weißgeblichenes Windzeug und vom Meerwasser ausgelaugte Stiefel.

Er erzählt, daß wir großes Glück haben. Ein kleiner norwegischer Passagierdampfer macht seine erste Reise, läuft in die Woodbai und wird uns an unserem Überwinterungsplatz ausbooten. Da sparen wir die beschwerliche Fußtour durchs Landinnere.

Der gemütliche alte Gepäckmeister steuert mein Gepäck selbst mit großem Schwung an Land. Es ist eine ganze Bootsladung voll. Mein Mann lacht. In Europa konnte er böse sein, wenn ich zuviel Gepäck mit auf die Reise nahm. Er hat sich verändert in der Arktis. Er wirkt geradezu fremdartig in seinem strahlenden Gleichmut. Er ist jedenfalls ganz anders als ich und alle Passagiere.

Er zeigt mir die Kingsbai. Mit einer gewissen liebevollen Feierlichkeit erklärt er mir alles, was ich beim besten Willen weder schön noch fesselnd finden kann. Die Küste ist trostlos, kahl und steinig.

„Hier ist eine frühere, jetzt verlassene Kohlenmine“, zeigt mein Mann, „dort der Luftschiffhangar der ehemaligen Nobile-Expedition, und dort noch weiter hinten im Nebel die kleine Hütte, in der ich vor drei Jahren das erstemal überwinterte.“

Es regnet und ist empfindlich kühl. Die ausgebooteten Passagiere fluten zurück zum Schiff, dessen geheizte und erleuchtete Salons freundlich herüberwinken.

Mein Mann führt mich in eines der Holzhäuser, in dem ein Spitzbergener Jäger, der im Winter das Amt eines Wächters versieht, wohnt. Der empfängt uns freudigst, gießt die Wassergläser voll Kognak, um auf das Wohl von „Fruen“ zu trinken, die ein Jahr auf der Insel bleiben wird. Leider verstehe ich kein Wort von seiner norwegischen Empfangsrede.

Wir gehen auf den norwegischen Dampfer, der gleichzeitig mit unserem Schiff den Hafen angelaufen hat und mit dem wir unsere Reise fortsetzen werden. Die ganze Mannschaft steht an Deck. Alle, vom Kapitän angefangen bis zum Schiffsjungen, schütteln mir die Hand in einer wunderbar freimütigen Art von Kameradschaftlichkeit. Ich komme mir auf einmal vor wie in einer großen Familie, wie aufgenommen unter die Seeleute und Überwinterer.

Die Fahrt geht einen Tag und eine Nacht durch Nebel. Zwischendurch erscheinen wieder die faden Eisschollen auf dem Wasser, dann soll’s zur Grohuker1 Küste gehen, wo unsere Hütte liegt. Ich habe keine Ahnung, in welcher Richtung wir fahren und wo wir sind.

Mein Mann eröffnet mir, daß er für diesen Winter noch einen Mann mitgenommen hat. „Ich weiß ja nicht, wie dir die Arktis bekommt. Jedenfalls will ich dich nicht allzulange in der Hütte allein lassen, und mein heuriges Jagdterrain ist sehr groß. Ich kenne Karl, der mit uns kommt, schon lange. Er war vergangenes Jahr für mich auf Bangenhuk stationiert. Er ist ein braver, ordentlicher Kerl. Er stammt aus Tromsö und ist eigentlich Eismeerschiffer, Harpunier von Beruf. Er war diesen Sommer schon auf der Heimreise begriffen, als ich ihn fragte, ob er noch ein Jahr , oben‘ bleiben wolle. Er hat es sich keine Sekunde überlegt und hat ja gesagt. Karl ist ein Spitzbergennarr.“

„Hallo, Karl!“ ruft mein Mann über das Schiff. Karl erscheint. Ein sauberer blonder Bursche, mit lustigen blauen Augen, meiner Schätzung nach zwanzig Jahre alt. Wir schütteln uns die Hand und lachen uns an. Mehr können wir nicht sagen, weil Karl nicht Deutsch und ich nicht Norwegisch kann. Wir sind alle drei voll der heitersten Stimmung. Jeder allerdings aus einem anderen Grund. Mein Mann freut sich auf einen geregelten Haushalt, ich auf den vielgepriesenen Reiz der Wildnis, und Karl (was er mir erst viel später gestand) freut sich auf eine ganz besondere Sensation. Er glaubt bestimmt, daß die „Dame aus Zentraleuropa“ in den Stürmen und der Einsamkeit der langen Nacht überschnappen wird.

Wir fahren wieder in dichtem Nebel. Gefleckte graue Möwen fliegen ganz niedrig mit dem Schiff. Es sind ganz andere Möwen als die, die ich bis jetzt gesehen habe. Sie fliegen mit knappen, derben Flügelschlägen. Ihre stumpfen, verbissenen Gesichter sehen nach Kampf und Zähigkeit aus. In ihrem Anblick ahne ich zum erstenmal die unerbittliche Natur der Arktis.

Die wenigen Passagiere des kleinen Schiffes sind bunt gewürfelter Nationalität, alle aber bei näherer Bekanntschaft durchweg Spitzbergenenthusiasten. Da ist ein englischer Millionär mittleren Alters, braungebrannt und tief dekolletiert. Seine nackten Beine stecken in Sandalen, über den Shorts trägt er ein dünnes Regenmäntelchen, das noch shorter ist als die Shorts. Er hat sich für Spitzbergen abgehärtet, denn er liebt Spitzbergen. Er ist schon soundso oft im Sommer oben gewesen, fährt mit den Fängern auf kleinen Kuttern und studiert Land und Leute. Er wird noch viele Male heraufkommen.

Mein Tischnachbar zur Linken, ein Engländer, erzählt begeistert von seiner Durchquerung im Frühjahr, die damit endete, daß er und seine Kameraden ihre ganze Expeditionshabe an einem reißenden Gletscherbach in der Wijdebai verloren. Er wird aber nächstes Jahr wieder herkommen und auf dem Nordostland überwintern.

„Vielleicht bleibt er auch gleich da“, neckt ihn mein Mann. Mister Glen war schon auf der Heimreise, da hörte er von der Fahrt der „Lyngen“ und ist wieder umgekehrt. Er kommt nicht mehr los von der Insel.

„Mathilas ist auf Grohuk begraben“, erzählt der Eislotse. „Der berühmte Eismeerschiffer ging mit seinem Schiff noch als Siebzigjähriger nach Spitzbergen.“

„Die schönste Zeit ist das Frühjahr“, sagt ein junger Norweger mit weltfernem Lächeln, „eine unvergeßliche Zeit …“

„Ja, aber ich lasse mich nicht einfangen von der Insel, so wie ihr alle gefangen seid“, sage ich trotzig.

„Oh, Sie werden auch gefangen werden“, sagt der Norweger leise, aber bestimmt. –

So geht die Fahrt weiter im Nebel. Die einzige Abwechslung sind die Mahlzeiten. Ein fürsorglicher Steward schiebt mir die besten Bissen zu, als solle ich das Leben noch einmal genießen, bevor es in die Einöde geht.

Es muß ziemlich am Ende unserer Reise gewesen sein, als der Telegrafendirektor der Adventbai, ein sehr wetterfest aussehender älterer Herr, zu mir in väterlich wohlwollendem Ton sagte: „Madam, wenn Sie gut überwintern wollen, dann merken Sie sich drei Sachen (er spricht in gebrochenem Norwegisch-Deutsch, langsam und mit großer Betonung):

„Jeder Tag ein Spasiertür2, auch in Winternat und Stormen, das ist so wichtig wie Essen und Trinken. – Immer Hümör!

Niemals bedenklich, ich meine: niemals sorgenvoll sein! Dann geht es so schön. Ich kenne Spitzbergen seit fünfundzwanzig Jahren.“

Ich bin dankbar für diesen Rat. Ich weiß, daß ich mir diese Worte gut merken werde. –

Nach vierundzwanzigstündiger Fahrt durch Nebel stoppen plötzlich die Maschinen, das Schiff steht schaukelnd still, mitten im schwarzen, windig bewegten Meer. „Wir sind da“, ruft mir mein Mann zu.

„Sehen Sie dort Ihre Hütte“, sagt der junge Norweger neben mir und deutet auf einen Punkt im Nebel. Wirklich läßt sich da langsam in der Ferne ein öder, grauer, langgezogener Küstenstreifen erkennen und darauf, wie eine winzig kleine, angeschwemmte Kiste, das, was unsere Hütte sein soll. Alle Passagiere kommen an Deck und sehen mit dem gleichen starren Entsetzen auf die Küste. Sie helfen uns, als wollten sie uns noch etwas Liebes erweisen, unsere vielen kleinen und großen Gepäckstücke über die Reling reichen. Keiner redet ein Wort. Nur ein älterer, Deutsch sprechender Herr findet Worte: „Nein, gnädige Frau, da können Sie doch unmöglich den Winter über bleiben. Das wäre ja ein bodenloser Leichtsinn!“

Als ich aber doch bei meinem Entschluß bleibe, den Männern zu folgen, wird er ganz wild: „Jugend von heutzutage … so was sollte verboten sein …! Reich können Sie da doch nicht werden!“ ruft er schließlich ganz verzweifelt aus.

„Nein, reich können wir da nicht werden“, pflichte ich ihm bei.

„Sie werden aber doch reich werden“, sagt der junge Norweger, aber in seinem feinen Lächeln liegt kein Gedanke an irdischen Gewinn.

Der Kapitän verspricht uns, mich in einem Jahr um diese Zeit hier wieder abzuholen. Sie schütteln uns die Hand, der Kapitän und alle Matrosen, in wortloser Kameradschaftlichkeit. Aus allen Augen spricht der Ernst des Augenblicks. „God winter!“ sagen sie, wie aus einem Mund, zum letzten Abschied.

Aber wir drei Überwinterer sind voller Ausgelassenheit. Vielleicht ist es Galgenhumor. Es wäre leichter gewesen, von der Strickleiter ins Wasser zu steigen als in das heftig schaukelnde Boot. Schließlich landen wir aber doch sicher auf den getürmten Kisten und Säcken. Die Matrosen rudern. Langsam und schwankend geht es der Küste zu.

In unserem Boot sitzt Mister Glen, der Durchquerer. Er sitzt frierend und klappernd in Wind und Regen, ohne Kopfbedeckung und warme Kleidung. All seine Habe hat ihm ja das Land genommen. Aber er benutzt jede Gelegenheit, noch mal die Insel zu betreten. „Oh, ich möchte gleich mit Ihnen bleiben“, sagt er, „Spitzbergen ist ein wundervolles Land“ – und mit strahlenden Augen sieht er in den Nebel.

Ein schauerliches Land ist es, denke ich mir im stillen. Nichts als Wasser, Nebel und Regen; es benebelt die Menschen, bis sie ihren Verstand verlieren. Was haben die Menschen bloß an dieser Insel? Wieviel Hoffnungen, wieviel stolze Pläne sind hier vernichtet worden, wieviel Unternehmungen sind gescheitert, und nicht zuletzt: wieviel Menschenleben hat das Land gefordert!

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Die ersten Tage in der Wildnis oder: ein typischer Männerhaushalt

Wir kommen der Küste näher. Sie wird mit zunehmender Deutlichkeitnichteinladender. Ein unübersehbares, flaches, dunkles Land. Ganz unvermittelt liegen darauf drei gewaltige schwarze Berge, wie hingeschüttete Kohlenhaufen. Bis zur Hälfte sind sie gnädig bedeckt mit Nebel.

Die Matrosen rudern auf eine kleine Bucht zu, unweit der Hütte. Sie springen mit ihren hohen Wasserstiefeln ins Wasser und ziehen das Boot an Land. Ich werde wie eine Puppe herausgehoben und in hohem Bogen aufs Trockene gestellt. Kisten und Kasten fliegen hinterdrein.

Der Engländer hat sich unsere Hütte besehen; er findet, sie sei ein Palais. Dann springt er ins Boot, springt aber gleich wieder heraus und überreicht uns ein kleines Töpfchen mit Teer und Pinsel, den Überrest seiner Expeditionshabe. Das schenkt er uns zum Abschied. Karl und mein Mann sind hocherfreut.

Dann rudern sie fort, die uns an Land begleitet haben, zurück zum Schiff, das wie ein Schatten zwischen Nebel und Wasser liegt.

Mein Mann und Karl „hieven“ und „shieven“ das Gepäck aus dem Bereich der Brandung und mühen sich, die schweren Kisten die steilen Uferfelsen hinaufzuschieben, aufs ebene Land, auf dem die Hütte liegt.

Wie still es hier auf der Insel ist, wenn man noch das Stampfen der Schiffsmaschine im Ohr hat. Die Wellen schlagen monoton an den felsigen Strand, kalt und teilnahmlos. Unwillkürlich kommt mir der Gedanke: hier können wir leben, wir können auch sterben, ganz wie es uns behagt, es wird uns keiner daran hindern.

Die Landschaft ist trostlos. Weit und breit kein Baum und Strauch, alles grau und nackt und steinig. Ein Steinmeer, das unübersehbare breite Vorland, Steine bis hinauf zu den bröckelnden Bergen, Steine bis hinunter zur bröckelnden Küste, ein wüstes Bild von Tod und Zerfall.

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Die Hütte steht inmitten einer kleinen Halbinsel, deren Ufer steil zum Meer abfallen. Sie ist ein kleiner, kahler, viereckiger Kasten, ganz mit schwarzer Dachpappe bezogen. Einige Latten, hü und hott über die Pappe genagelt, sind das einzige Helle im Schwarz. Ein einsames Ofenrohr ragt vom Dach in die neblige Luft. An der Hütte lehnen Kisten und Bottiche, Schlitten, Ruder, alte Skier. Um die Hütte liegen Skelette von rätselhaften Tieren. Sie sind von Wetter und Sonne schneeweiss geblichen, wie aus Elfenbein und appetitlich, eine Fundgrube, um Tieranatomie zu studieren. Die beiden überlebensgroßen Riesengerippe mit den kurzen, wuchtigen Armknochen, mit Raubtiergebiß und menschenähnlichen Füßen mögen von Eisbären stammen. Merkwürdig sind die vielen spindelförmigen Brustkörbe, am winzigen Becken derbe Beinchen, daran langfingrige Füße … dann zierliche Gestelle, wie von laufenden Katzen. Und auf all die Gebeine und Steine rieselt der Regen, unablässig, leise und still. Da tutet es draußen dreimal. Es ist die „Lyngen“, die uns ein letztes Mal zum Abschied grüßt. Dann setzt sie sich in Bewegung, und langsam verschwindet ihr letzter Schimmer im Nebel.

Nun sind wir allein für ein Jahr. –

Dem trüben Himmelslicht ist keine Tagesstunde zu entnehmen, aber meinem bellenden Hunger nach zu schließen, dürfte es ungefähr Abendessenszeit sein. Die Männer hantieren noch mit dem Gepäck so will ich allein sehen, wie, wo, wann man hier eine Mahlzeit bereiten könnte. Etwas zaghaft betrete ich die kleine Hütte. Durch die Eingangstür gelange ich in eine Art Vorraum, mit einem verschlagartigen Schrank. Von da führt eine ganz kleine Tür mit einem geschnitzten Holzgriff in den Hüttenraum. Der ist bis zur Decke vollgestopft mit zugenagelten Kisten.

„Unser Proviant“, sagt mein eintretender Mann, auf die Kisten zeigend.

„Packt nur rasch aus, Kinder, ich hab’ nämlich einen furchtbaren Hunger.“