Max Frisch

Amerika!

 

Herausgegeben von Volker Hage

 

 

Insel Verlag

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe des 1995

im Schöffling Verlag erschienenen Bandes

Max Frisch, In Amerika

Umschlagfoto: Max Frisch-Archiv, Zürich

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2011

© Insel Verlag Berlin 2011

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eISBN 978-3-458-74940-0



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Inhalt

Amerika, 1951

An Kurt Hirschfeld

Glossen zum amerikanischen Theater

Unsere Arroganz gegenüber Amerika

Begegnung mit Negern

Eine betörende Stadt

Sinfonie und Limonade

Elf Jahre in Manhattan

Was Amerika zu bieten hat

Lunch im Weißen Haus

Nachtrag zur Reise

Vorkommnis

Es waren Schwarze

Women's Liberation

Gestern in der Nachbarschaft

Wall Street

Alles ist Park

School of the Arts

Aufmarsch der Kriegsgegner

Brownsville

Freiheit, Anstand und Moral

Unterhaltung in der Fremde

Die Tapferkeit des Chlorophylls

Gedächtnis der Haut

Entwürfe zu einem Amerikabild

Nachbemerkung

Quellennachweise

Amerika, 1951

Pioniere

Viele amerikanische Erscheinungen erklären sich, wenn man sich den Pionier-Hintergrund bewußt macht. Daher wichtig die Kenntnis des Mittelwestens und des Westens. Alles von gestern auf heute gebaut. Die Pionierzeit ist überall noch spürbar. San Francisco, Oakland usw. Aus den Bedingungen des Pionierlebens dürften folgende Erscheinungen zu erklären sein: Help yourself. Es ist nicht möglich, dem andern beizustehen. Überraschung am Anfang, daß sehr freundliche Leute einem Fremden nichts abnehmen, z. B. Telefon, Adressenfinden usw. Es wird nicht »bedient«. Vorteil: auch kei­ne Bemutterung. Der Pionier muß alles können; es genügt, wenn er es einigermaßen kann, man geht weiter, es spielt keine große Rolle, daß die Dinge lange halten und daß sie schön aussehen. Bild der Ortschaft im Westen. Das Provisorische. In der Schule werden praktische Dinge unterrichtet, jedermann muß einen Schalter reparieren können usw. Die Umgangsform des betonten Positivismus und Optimismus als eine Umgangsform der Pioniere. Man muß sich gegen­seitig Mut machen; es geht nicht an, daß der andere mich mit seinen persönlichen Sorgen belastet. How are you? Fine. Das Problem der geringen menschlichen Beziehung; die Pioniere ziehen weiter, man sieht sich oft nur einmal kurz. Heu­te noch sehr stark alles in Bewegung, verhältnismäßig viele Ortsveränderungen innerhalb eines Lebens. Then I ­moved. Der Mangel an Ansässigkeit, daher auch kein Handwerk. Vorteilhaft die Beweglichkeit gegenüber materiellen Dingen, man ist bereit, alles wieder zu verlassen. Häuser nicht für die Ewigkeit gedacht, sondern wie ein Kleid zum Verbrauch. Überhaupt der Verbrauch, es wird nicht geschont. Rohstoff ist genügend vorhanden. Wenigstens bisher. Erinnerung an den Jeep-Fahrer in St. Margrethen, wie er die Benzintanks wegwarf. Im Pionierland hat man soviel Holz, als man schlagen kann; es ist keine Besorgtheit im Hinblick auf den Rohstoff, das Problem ist nur die Gewinnung. Es wird hier nicht geflickt, sondern produziert. Kapitalistische Grundlage, die ganze Wirtschaft ist nur durch laufende Produktion zu halten, daher ist der Verschleiß erwünscht. Im allgemeinen große Freigiebigkeit. Kein Geiz. Der Pionier und Nomade glaubt nicht ans Sparen. Merkwürdige Widersprüche zu der sonst deutlichen Bürgerlichkeit. Erinnerung an die Pionierzeit: der Drugstore, wo alles zu haben ist, Getränk und Werkzeug. Treffpunkt der Leute gewesen in den ersten Siedlungen.

Krieg

Gespräch mit einem Motel-Wirt in Kalifornien. Er sagt: Amerika ist für den Frieden, aber es kann sein, daß Krieg gemacht werden muß, um die Krise zu vermeiden. Als Zeichen der amerikanischen Friedensliebe erwähnt er, daß Amerika den Krieg nicht im eigenen Land wünscht. Meine Frage: Lieber in Europa? Seine unscherzhafte Entgegnung: Yes, they are used to have wars. Ich erzähle die Anekdote öfters, wo­bei mir in intellektuellen Kreisen versichert wird, der Mann spreche die Ansicht von einigen Millionen aus. Grundsätzlich: Die Angst vor der Krise ist größer als vor dem Krieg, wenigstens bei den mittleren und unteren Schichten, die wenig lesen. Die Depression ist für die Amerikaner eine eigene Erfahrung, die sie nicht vergessen haben. Nicht so der Krieg. Die Anzahl der Leute, die im Krieg waren, ist proportional sehr gering. Die Familien sind nicht betroffen wie in irgendeinem europäischen Land. Keine Zerstörungen im eigenen Land. Die Heimkehrer erzählen meistens nicht vom Krieg, sondern von ihren europäischen Eindrücken: Paris, Rom, Wien, Switzerland. Daher belletristische Färbung des Kriegserlebnisses. Für manche Amerikaner ist tatsächlich die Begegnung mit Europa (kulturell) ein entscheidendes Erlebnis geworden. Bekanntschaft mit einer anderen Lebensart. Die allgemein geringe Vorstellung davon, wie der Krieg aussieht, gibt der Propaganda ein leichtes Spiel. Schmucke Plakate in den Straßen: Job for a man, proudly serve, alles mit blanken, gesunden, strahlenden Gesichtern. Im allgemeinen das eindeutige Selbstbewußtsein, daß man den Krieg nur gewinnen kann. Mit wenigen Ausnahmen habe ich keine Leute getroffen, die kriegslustig waren. Viele aber halten den Krieg für unvermeidlich und für eine Angelegenheit in fernen Ländern. Korea völlig unpopulär. Bleistiftanschriften in der Subway: President Truman stop shooting in Korea, make peace my brother in Korea.

Schweizer

Es fällt mir auf, daß auch in Amerika (nicht nur wie bisher in Deutschland) die Tatsache, daß man Schweizer ist, immer besonders bemerkt wird; es folgt Lob oder auch offene Abneigung. Die Indifferenz, die ich mir wünschte, ist selten. Lob der Landschaft, der Produkte wie Uhren, Käse, Schokolade. Schon Maschinenindustrie und chemische Industrie nicht bekannt. Kulturell kaum gefragt; Erscheinungen wie Arthur Honegger, C. G. Jung, Frank Martin, Karl Barth werden nicht als Schweizer realisiert. Was wird von der Schweiz aus dagegen getan? Persönliche Erfahrung: Stelle mich vor auf Schweizer Gesandtschaft in New York, Dr. Gygax und Dr. Pestalozzi. Es erfolgt überhaupt nichts, weder eine Einladung in den Schweizer Club noch eine persönliche Einladung zu einem Lunch.

Sehr häufig Ausdrücke der Antipathie gegenüber der Schweiz, die man in Empfang zu nehmen hat. Zum Beispiel amerikanische Schriftstellerin: Die Schweiz ist übersauber, sehr an Geld interessiert, die Leute sind dem Amerikaner gegenüber devot. Andere: Die Schweiz hat ein gutes Geschäft im Krieg gemacht. Mein Widerspruch dagegen. Ein Junge in New Orleans: Die Schweiz ist die einzige wahre Demokratie, weil keine Diskrimination. Weil keine Neger! Es ärgert mich immer wieder, daß wir auf die Touristenherrlichkeit unseres Landes hin angesprochen werden, gelobt für Landschaft, im Grunde nicht voll genommen. Vor allem aber immer mit einer besonderen Beachtung der Nation betrachtet, Erinnerungen an schöne Ferientage und GI-Fun. Im Ganzen kennt man von den Qualitäten, die uns wichtig scheinen, so gut wie nichts. Wir werden sehr viel geringer eingeschätzt, als wir es aus dem Spiegel unserer Presse anzunehmen gewohnt sind.

Allgemeines

Quantität. Die Quantität spielt eine entscheidende Rolle. Quantität als Maß der Dinge. Beispielsweise bei Sightseeing. Über Architektur: wie lang, wie breit, wie viel gekostet. Dazu der Superlativ: one of the longest X in the world. Es wird nie von der Qualität gesprochen. Die Lust am Superlativ geht bis ins Komische: world's biggest little town (Reno). Dadurch, daß alles sich auf die ganze Welt bezieht, bekommt es oft etwas merkwürdig Provinzielles, Enttäuschung, daß die Welt nichts anderes übrig hat, als was man hier sieht. Die Sucht, sich in Superlativen auszudrücken oder in gesteigerten Ausdrücken, findet sich auch in der Umgangssprache. The nicest wine I ever had. Was man nicht mag: I hate it, nämlich einen vollen Aschenbecher. Das letztere erklärbar aus der Gefühlsarmut, übertriebene Betonung der Gefühlsurteile.

 

Das Heimweh nach Historie. Es genügt, daß ein Gebäude sehr alt ist, nämlich 50 oder 80 Jahre, um daraus einen point of interest zu machen, unabhängig davon, ob es als Architektur belanglos oder geradezu schlecht ist. Selbst Leute von Niveau betonen: it is really old. Der Mangel an Histo­rie als Quelle eines allgemeinen Unsicherheitsgefühls. Ich weiß nicht, woher ich komme. Dazu das Minderwertigkeitsgefühl des Parvenu. Es äußert sich teilweise im Wettstreit: der Amerikaner, der mir die Lichter am Times Square zeigt und mich fragt, ob das nicht mehr Leben sei als die Champs-Elysées, dabei kommt er von Paris. Der Hinblick auf Paris. Eine an­dere Äußerung von diesem Minderwertigkeitsge­fühl ist die erwähnte Sucht nach dem Superlativ: man muß immer an der Spitze sein, und wenn es auf die belanglose­ste Art ist. Das wunde Verhältnis zu Europa, Haßliebe ge­gen die Väter, vergleiche das Buch »Die Amerikaner«. Das Parvenuhafte auch in Umgangsformen, Staiger berichtet von einer Party in New York: Brötchenessen mit Glacéhandschuhen. In diesem Zusammenhang die sehr verbreitete Gehässigkeit gegenüber den Engländern bezüglich Sprache und ­Lebensart. Hier wird betont, daß man unformell ist, was teilweise gar nicht stimmt. Sehr formelle Wichtigkeiten, wei­ßes Hemd etc. Bei Intellektuellen ist das Verhältnis zu Europa meistens gelöster, man blickt nach Europa, bewundert, lernt, ohne deswegen das eigene Selbstbewußtsein aufzugeben. Bei Künstlern, vor allem bei den ganz kleinen, viel Nachahmung. Die Boheme spielt Paris, Village, etwas originaler in Santa Fe.

 

Das heilige Tier der Amerikaner, das nicht gestört werden darf: der Halbwüchsige. Er darf pfeifen und tun, was ihn lockt, wird nicht zurechtgewiesen, damit keine Frustration eintritt. Beispiel bei Verebes. Wir wollen uns ernsthaft unterhalten, was aber nicht möglich ist, weil der Bub vor der Television sitzt, es ist nicht möglich, ihm das zu verbieten oder auch nur anzuordnen, daß er leiser stellt. Die Hemmungslosigkeit der Jungen, trotzdem sehr viel Frustration bei den Erwachsenen. Was stimmt nicht? Positive Seite, Besuch bei Marshall, wir sprechen über die UNESCO, ein 14jähriger Junge sitzt dabei, der bisher ein Autoheft studiert hat, plötzlich aber am Gespräch teilnimmt: in my opinion. Dabei sehr kluge Fragen, die das Gespräch nicht stören. Vor allem aber, Mr. Marshall wird nicht ungeduldig, sondern unterrichtet den Jungen ohne jede Herablassung. Der junge Mensch ist gleichwertig und hat ein Recht, sich zu äußern ohne Angst vor Autorität.

An Kurt Hirschfeld

Berkeley, 15. 8. 51
Otis Street 2928 1/2

Mein lieber Hirschi!

[…]

Hier, Du wirst es gehört haben, habe ich ein kleines Haus zwischen Negern und Chinesen, wunderbar allein, Arbeitszimmer mit Blick auf Wäsche, einen Garten, Eisschrank, Radio und viel Platten. Klima wie Herbst bei uns, köstlich, die Tage vergehen mir, ich weiß nicht wie. Ich arbeite nur. Dazwischen habe ich hin und wieder Gäste, sehr nette junge Menschen, Amerikaner, Studenten und Leute von jungen Theatern. Über Theater schreibe ich darum nichts, weil nichts Nennenswertes war; Gutes, ja, und viel Dilettantisches auch. Aber ich habe ja noch den Winter in New York. Uta Hagen ist in Paris. Sie kochte mir ein himmlisches Essen in ihrer himmlischen Wohnung, aber ich bin dieser Frau gegenüber immer befangen, ich könnte sie lieben, blödsinnig, doch muß ich anfangen, mit dem Einsammeln von Niederlagen etwas sorgfältig zu werden. Sonst küsse ich mich so oberflächlich durchs Land, das ja groß ist, und das ist die eine Offenbarung für mich, dieses Meer von Land, viel Wüste auch, Gestirnlandschaft, man reist so von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang, ich verstehe die Brüder, die da gegen Westen zogen, Gold war die Ausrede, wirklich meinten sie das ungeheuerliche Gefühl von runder Erde, deren Gast wir sind. Das andere: die Neger, ein Gottesdienst nur unter Negern. Ich habe versucht, es am Radio zu erzählen. Und das Dritte: die Eremitage, Begegnung mit mir, ein grobes Ding, dem man bestenfalls mit Schreiben beikommt. Ich habe hier, meine Arbeit von New York betrachtend, nochmals von vorne begonnen, was hinwiederum nicht heißt, daß ich jetzt besser schreibe, aber ich bin völlig in der Arbeit, ohne Zeit, nach San Francisco zu fahren, das keine Stadt ist, aber viele Reize hat – neben dem allgemeinen Reiz, fremd zu sein, so daß man keine Klumpen an den Füßen hat, man kann bleiben und gehen, was man auch in Zürich kann, aber ich mußte gehen, um es zu wissen.

 

Zuhanden Deiner Neugierde: Eva geht es gut, so wie es den sogenannt selbständigen Frauen gut geht, noch immer mit ihm (ob wir den selben meinen?), mein eigentlicher Engel in New York, aber wir werden älter, die Frauen kommen zuerst in den kühlen Schatten. Und Cleveland: zehn Tage bei Benno, der unverdrossen wuchtet, wie immer Mittelpunkt der Welt, Karamu geht es gut, aber viel Dilettantismus, finde ich, rührender Art. Natürlich läßt Dich alles grüßen, ich bin Dir auf den Spuren –

 

Was macht Ihr? Trudy kommt im September, dann auf nach Mexiko, hoffe ich. Grüße von mir – der Brief ist an Dich allein – Otto, Oberer, Böppli, Weber, Bischof und Vergessene – Dir, lieber Hirschi, alles Gute. Herzlich Dein

 Max

Glossen zum amerikanischen Theater

Arthur Miller, von den glorreichen Autoren der einzige, dem ich persönlich zu begegnen die Gelegenheit hatte, wohnt drüben in Brooklyn, wo er als Sohn jüdischer Kleinbürger aufgewachsen ist, heute in einem schönen, nicht zu gro­ßen, doch eleganten Haus, elegant ohne die Atmosphäre persönlichen Geschmackes. Man denkt an einen glücklichen Mann, der etwas plötzlich das große Los gewonnen hat; was darüber hinaus weist, sind drei wunderbare Blätter von Picasso, ferner ein Schrank mit Grammo-Platten: Bach, Mozart, Beethoven, Brahms, Debussy, Strawinsky, Honegger. Es ist ein säuberlich geräumter Salon ohne Bücher, ausgenommen ein dickes Werk, das unzufällig-würdig auf dem marmornen Cheminee steht: A TREASURY OF THEATER, von Aeschylos bis Arthur Miller. Und am andern Ende des marmornen Cheminees steht das andere Buch, das in diesem Salon zu sehen ist, in edles Leder gebunden mit Goldschrift: DEATH OF A SALESMAN. Kurz darauf kam Arthur Miller selbst, der mich versehentlich in Manhattan gesucht hatte, ein großer und hagerer Mann von 36 Jahren, der sich sogleich im offenen Mantel niedersetzt, einen Drink nimmt, bevor er den Mantel in die Halle hängt, schlaksig in seiner Bewegung, jungenhaft wie ein sieghafter und etwas müder Sportler, der beide Beine von sich streckt, ungezwungen im Gespräch und von jener flinken Offenheit so mancher Amerikaner, die wir so leicht für Freundschaftlichkeit halten. Überzeugt, daß Miller im Laufe der letzten drei Jahre genug über sein erfolgreiches Stück vernommen haben dürfte, zog ich das Gespräch auf andere Gebiete, Mexiko zum Beispiel, wobei ich vernehme, daß Miller einmal auch ein Stück über Cortez und Montezuma geschrieben hat, nicht aufzuführen, da es zuviele Bühnenbilder erheischt. Ein Gespräch, obzwar noch ein interessantes Ehepaar hinzu kam, wurde es nicht, Miller ist offensichtlich daran gewöhnt, Audienzen geben zu müssen, so daß er die andern Menschen wesentlich als seine Interviewer betrachtet. Notiert habe ich lediglich seinen Ausspruch: »Da heutzutage niemand so gute Stücke schreibt wie ich.« Und trotzdem möchte ich nicht in seiner Haut sein; Selbstbewußtsein, wunderbar, und warum dürfte das Selbstbewußtsein [in] der schöpferischen Phase nicht maßlos sein? Hier aber das Selbstbewußtsein eines Gewin­ners, dahinter die Angst: Wie wiederhole ich meinen Tref­fer? Der große Tagesruhm als ein menschliches Problem, man spürt es schon daran, daß es immer wieder Arthur Miller selbst ist, der den »Tod eines Handelsreisenden« in die Unterhaltung ruft. In der Halle draußen, beim Verabschieden, weist er auf Haufen von Post, Geschiebe des Ruhms, Leute drohen mit dem Gashahn, wenn man ihnen nicht tausend Dollar schicke, und Miller lacht, erzählt noch andere Schnurren aus der Zeit seines Erfolges, der nun zwei Jahre zurückliegt; Miller kommt nicht davon los, scheint es, er besetzt ihn wie andere ein Weltkriegserlebnis … Ich erwähne diese Begegnung, weil sie zeigt: Nicht einmal für die wenigen, die das große Los ziehen, ist der Broadway ein menschlicher und künstlerischer Segen, ganz zu schweigen von den Hunderten und Tausenden, die ihr ganzes Leben verkrampfen in der Hoffnung, so glücklich zu werden wie Arthur Miller.

[…]

 

Negertheater – eine meiner großen Erwartungen! – ist überraschenderweise kaum zu finden. Es gibt ein sehr interessantes Unternehmen in Cleveland: Karamu, was ein afrikanisches Wort ist und heißt: Ort der Versammlung und Erbauung. Aber eine Gründung der Weißen, was diesen Weißen zwar zum Lobe gereicht, ist es eine einzigartige und bedeutende Ermunterung für die Neger, ihr eigenes Theater zu gründen, aber noch nicht dieses Theater. Tatsächlich hat der Neger, auf seinem Weg zur Gleichberechtigung, nirgends ein so ­offenes Tor wie in der Kunst. Warum nutzt er es kaum hinsichtlich des Theaters? Ich sah eine Gruppe in Harlem, genug um zu wissen, was man schon weiß: wieviel die Schauspielkunst von den Negern zu erwarten hat. Und trotzdem gibt es zurzeit kein Theater der Neger: – weil sie als Publikum nicht hingehen, sagt mir ein zuständiger Neger, denn ihre Mehrzahl will ja nicht Neger sein; ihr Minderwertigkeitsgefühl drängt sie, wenn sie es sich leisten können, in das Theater der Weißen, das heißt Broadway und Broadway-Trabanten.

 

Anläßlich eines Treffens in Chicago, veranstaltet von der Rockefeller Stiftung, machte ich eine aufschlußreiche Bekanntschaft mit sieben jüngeren amerikanischen Autoren. Wie steht es um das amerikanische Theater? war das Thema der Konferenz. Und wenn es nicht zum besten steht: Was ist zu tun? – Nach unsrer europäischen Meinung gibt es wohl nur ein Instrument, das sich als tauglich erwiesen hat: das Repertoire-Theater, das Ensemble-Theater. Seine Vorzüge, ganz kurz summiert: ein literarisches Experiment, das zu einem Mißerfolg wird, bedeutet noch nicht den Bankrott des Theaters, da es seinen Haushalt durch das Repertoire ausgleichen kann; das Repertoire-Theater, im Gegensatz zum Broadway, kann sich ein Wagnis leisten. Im Gegensatz zum College-Theater, das man im großen ganzen als dilettantisch bezeichnen muß, bietet es dem neuen Stück eher eine taugliche Aufführung, so daß wir das Stück beurteilen mögen. Ferner hat ja das Repertoire-Theater meistens ein Stammpublikum, womit es sich die unfruchtbaren Summen für große Reklame erspart; [es] braucht nicht einen Star bloß für Reklame, so daß es eher ein gutes Ensemble bieten kann. Und so weiter! – Ich verschwieg nicht, daß die meisten europäischen Repertoire-Theater, um ihre Aufgabe besser erfüllen zu können, eine staatliche oder andere Subvention genießen, und hier klafften unsere Meinungen nun rettungslos auseinander.

»Dieser Gedanke«, sagte ein ernsthafter Kollege im Namen aller andern, »ist uns vollkommen zuwider, er verträgt sich nicht mit unserer amerikanischen Überzeugung: Was gesund und wertvoll ist, macht sich selbst bezahlt.«

Wievieles unter diesem Grundsatz nie hätte geschrieben und komponiert und gemalt werden können, was wir so zu den Schätzen der westlichen Kultur zählen, ist nicht abzu­sehen, ganz zu schweigen davon, daß etwa Philosophie, die ja auch an amerikanischen Universitäten unterrichtet wird, nicht rentiert und [auch] andere Wissenschaften nicht immer zu verkäuflichen Ergebnissen kommen … Wissenschaft, sagte man mir, das ist etwas anderes! Und damit kamen wir schon zu einem nächsten Punkt, der meines Erachtens un­sere Wege trennt: Kunst als ENTERTAINMENT, Unterhaltung, Geschäft mit Unterhaltung, wobei Unterhaltung nicht gemeint ist als wesentliche Unterscheidung gegenüber Kunst, sondern alles umfaßt von Shakespeare bis Hammerstein, Theater sozusagen als eine Art von Bar, wo man sich durch Berauschung erholt, diese Auffassung scheint in Amerika doch verwurzelter zu sein, als ich aus Protest gegen das Klischee vermutete. Selbst unter Künstlern ist es vorderhand noch eine Minderzahl, die ganz frei davon ist; mit vielen, denen es nicht an bewundernswertem Talent fehlt, werden wir uns daher nie ganz verständigen können. Was soll Theater anderes sein als ENTERTAINMENT? Wie so manches in der amerikanischen Denkart (leider begnügt sich der Europäer, da sie ihn befremdet, allzu leicht mit arroganten Verurtei­lungen, getreu dem klassischen Unfug, daß man, was fremd bleibt, als barbarisch bezeichnet) erläutert sich wohl auch diese Haltung zur Kunst mindestens teilweise aus der Tatsache, daß Amerika noch bis gestern ein Kontinent der Pionie­re gewesen ist, jener Leute also, die vorerst einmal anderes zu erledigen hatten, Straßen bauen und Wüsten bewässern, eine Welt des homo faber, der am Feierabend vielleicht noch ei­nem Dudelsack oder einer Gitarre zuhört: zur Unterhaltung; ernsthaft aber ist der Bau der benötigten Brücken, das Züchten der Pferde, das Roden des Urwalds. Und wenn sie auch heute meistens keine Pioniere mehr sind, sondern bürgerliche Herren, etwas davon bleibt als Reminiszenz: Wieviele amerikanische Männer, um männlich zu sein, überlassen es ihren Damen, über Bücher und Gemälde zu plaudern! Das Pioniertum des letzten Jahrhunderts, die zivilisatorische Erschließung des Kontinents war eine gigantische Leistung, wovon sich heutzutage auch das etwas arrogante Europa ernährt, und die neue Generation, die darüber hinaus vorstoßen kann zur kulturellen Erschließung, zur Eroberung der großen Muße als Voraussetzung einer Kunst, die über das Feierabend-ENTERTAINMENT in der Prärie hinausgeht, die­se Generation ist ja eben erst angetreten. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß sie, die Söhne, ihrer nächsten Aufgabe, so verschieden von der Aufgabe ihrer großen Vorfahren, nicht gewachsen sein werden – auch keinen Grund zu übersehen, daß es heute noch nicht vollbracht ist. Ansätze sind allenthalben vorhanden und deutlich genug, uns im übrigen ahnen zu lassen, daß Amerika, trotz seiner wirtschaftlichen und politischen Bevaterung unsres armen Europa, als Kultur sich von der europäischen Bemutterung befreit und uns immer fremder sein wird, je gültiger es sich selbst verwirklicht.

(Mai 1952)