Eins

Hätte es an jenem Morgen im Mai nicht geregnet, hätte Valancy Stirlings Leben einen völlig anderen Verlauf genommen. Sie wäre zu Tante Wellingtons Verlobungspicknick gegangen, und Dr. Trent hätte sich nach Montreal aufgemacht. Doch es regnete, und was ihr deshalb widerfuhr, will ich nun erzählen.

Valancy wurde früh wach, in der bleiernen, hoffnungslosen Stunde vor dem Morgengrauen. Sie hatte nicht gut geschlafen. Man schläft nicht unbedingt gut, wenn man am nächsten Tag neunundzwanzig wird und unverheiratet ist und dieser Umstand im ganzen Ort und in der eigenen Familie schlicht bedeutet, dass man es nicht geschafft hat, sich einen Mann zu angeln.

Deerwood und die Stirlings hatten Valancy schon lange als alte Jungfer abgeschrieben. Nur Valancy selbst hatte das armselige, verschämte Fünkchen Hoffnung, dass ihr Prinz noch kommen könnte, nie aufgegeben – bis zu jenem nassen, schrecklichen Morgen, als sie beim Aufwachen der Tatsache ins Auge sah, dass sie neunundzwanzig war und kein Mann sie haben wollte.

Ja, das war das Bittere daran. An sich fand Valancy es gar nicht so schlimm, eine alte Jungfer zu sein. Viel grässlicher wäre es, dachte sie, mit einem Onkel Wellington, einem Onkel Benjamin oder auch nur Onkel Herbert verheiratet zu sein. Aber dass sie nie die Aussicht gehabt hatte, etwas anderes zu sein als eine alte Jungfer, das tat weh. Sie hatte keinen einzigen Verehrer gehabt.

Während sie so allein in der sich langsam grau färbenden Dunkelheit lag, wurden ihr die Augen feucht. Doch sie wagte es nicht, ihren Tränen freien Lauf zu lassen, aus zwei Gründen. Wenn sie weinte, würde das womöglich wieder diese krampfartigen Schmerzen in der Herzgegend auslösen. Als sie zu Bett gegangen war, hatte sie einen solchen Anfall gehabt – den schlimmsten bislang. Und sie befürchtete, dass ihre Mutter beim Frühstück ihre geröteten Augen bemerken und sie mit bohrenden, hartnäckigen Fragen nach der Ursache piesacken würde.

Mal angenommen, dachte Valancy und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, ich sage ihr einfach die Wahrheit: »Ich habe geweint, weil ich nicht verheiratet bin.« Wie entsetzt Mutter wäre! Dabei schämt sie sich tagtäglich für ihre ledige Tochter in Grund und Boden.

Doch natürlich musste der Schein gewahrt werden. »Es gehört sich nicht«, konnte Valancy ihre Mutter in ihrem steifen, gebieterischen Ton sagen hören, »es gehört sich nicht für eine junge Dame, an Männer zu denken.«

Der Gedanke an den Tadel ihrer Mutter reizte Valancy zum Lachen. Sie hatte einen Sinn für Humor, von dem niemand in ihrer Familie etwas ahnte – was im Übrigen auch für manch andere ihrer Eigenschaften galt. Aber das Lachen verging ihr gleich wieder, und so lag sie im Bett, ein nichtiges Häuflein Elend, lauschte dem Prasseln des Regens und beobachtete mit verdrossenem Widerwillen, wie das kalte, gnadenlose Licht in ihre hässliche, schäbige Kammer kroch.

Sie kannte die Hässlichkeit dieses Zimmers in- und auswendig – kannte und hasste sie. Der gelb gestrichene Fußboden mit dem scheußlichen gehäkelten Bettvorleger, von dem ein grotesker gehäkelter Hund sie jeden Morgen beim Aufwachen angrinste; die von alten Wasserflecken und Rissen übersäte Zimmerdecke; der niedrige, wackelige Waschtisch; der Quervorhang aus Paraffinpapier mit lila Rosenmuster; der fleckige, in der Mitte gesprungene alte Spiegel auf der Schminkkommode, die diesen Namen fürwahr nicht verdiente; das Gefäß mit dem uralten Potpourri, das ihre Mutter während ihrer sagenumwobenen Flitterwochen angesetzt hatte; die an einer Ecke abgesplitterte Muschelschatulle, die Tante Stickles in ihrer ebenso sagenumwobenen Mädchenzeit gebastelt hatte; das perlenbesetzte Nadelkissen, an dem die Hälfte der Perlen fehlte; der eine harte, gelbe Stuhl; der verblichene alte Spruch »In unserem Herzen lebst du fort«, der in buntem Garn um Urgroßmutter Stirlings grimmiges altes Gesicht gestickt war; die alten Fotografien längst verstorbener Verwandter, die schon seit Ewigkeiten aus den Zimmern im Erdgeschoss verbannt worden waren. Es gab nur zwei Bilder, die keine Verwandten zeigten. Eins war eine alte handkolorierte Aufnahme eines Welpen, der im Regen vor einer Tür hockte. Das Bild betrübte Valancy immer wieder. Dieser traurige kleine Hund, der sich im strömenden Regen an der Türschwelle zusammenkauerte! Warum erbarmte sich denn niemand und ließ ihn ein? Das andere Bild war ein verblasster, mit Passepartout gerahmter Stich von Königin Luise auf einer Treppe, ein überaus großzügiges Geschenk von Tante Wellington zu Valancys zehntem Geburtstag. Seit neunzehn Jahren flößte es ihr Abscheu ein; schöne, eingebildete, selbstzufriedene Königin Luise. Doch sie hatte nie gewagt es zu zerstören oder abzuhängen. Mutter und Tante Stickles wären entgeistert gewesen oder, wie Valancy es in Gedanken respektloser formulierte, hysterisch geworden.

Hässlich war natürlich jedes Zimmer im Haus, aber das Erdgeschoss war leidlich herausgeputzt. Für Zimmer, in die kein Fremder je einen Fuß setzte, war kein Geld da. Manchmal dachte Valancy, dass sie selbst ihr Zimmer etwas hübscher machen könnte, auch ohne Geld, wenn man sie nur ließe. Doch ihre Mutter hatte jeden noch so schüchternen Vorschlag abgeschmettert und Valancy beharrte nicht darauf. Valancy beharrte nie auf irgendetwas. Sie traute sich nicht. Ihre Mutter ertrug keinen Widerspruch. Wenn sie gekränkt war, gebärdete sich Mrs Stirling tagelang wie eine beleidigte Majestät.

Es gab nur eines, was Valancy an ihrem Zimmer mochte: Sie konnte sich dort, wenn ihr danach war, nachts allein in den Schlaf weinen.

Doch war es im Grunde nicht gleichgültig, ob ein Zimmer, das man nur zum Schlafen und Ankleiden benutzte, hässlich war oder nicht? Zu anderen Zwecken durfte sich Valancy ohnehin nie allein in ihrem Zimmer aufhalten. Wer allein sein wollte, davon waren Mrs Frederick Stirling und Tante Stickles überzeugt, konnte nur finstere Absichten hegen. Valancys Zimmer im Blauen Schloss aber war genau so, wie ein Zimmer sein sollte.

So scheu und verschüchtert Valancy im wahren Leben war, so geringschätzig behandelt und beharrlich übersehen, so prächtig lebte sie in ihren Träumen. Niemand in der weitverzweigten Stirling-Sippe ahnte etwas davon, am wenigsten ihre Mutter und Tante Stickles. Sie hatten nie mitbekommen, dass Valancy an zwei Orten zu Hause war, in dem hässlichen roten Backsteinkasten in der Elm Street und in ihrem Blauen Schloss in den Wolken. Seit sie denken konnte, hatte Valancy im Geiste im Blauen Schloss gewohnt. Eines Tages, sie war noch ein ganz kleines Kind gewesen, hatte sie auf einmal festgestellt, dass sie es in sich trug. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und schon sah sie es klar und deutlich vor sich, mit seinen Türmchen und Fahnen thronte es auf einem bewaldeten Berg, in seiner blau schimmernden Anmut, beschienen vom leuchtenden Abendhimmel eines schönen, fremden Landes. Alles Wunderbare und Herrliche gab es in diesem Schloss. Geschmeide, die einer Königin würdig waren; Gewänder von Mondenschein und Feuer; Diwane aus Rosen und Gold; prachtvolle weiße Vasen an langen, geschwungenen Marmortreppen, auf denen zarte, in Nebelschwaden gehüllte Jungfrauen wandelten; von Marmorsäulen umfasste Innenhöfe, auf denen glitzernde Springbrunnen plätscherten und Nachtigallen in Myrtenbäumen sangen; Säle mit verspiegelten Wänden, die nur das Bild stattlicher Ritter und liebreizender Frauen zurückwarfen – sie selbst die liebreizendste von allen, für deren Augenaufschlag Männer ihr Leben gaben. Das Einzige, was ihr die Eintönigkeit ihrer Tage ertragen half, war die Aussicht, sich nachts in ihr Schloss träumen zu können. Die meisten, wenn nicht alle Stirlings wären vor Entsetzen tot umgefallen, hätten sie auch nur im Entferntesten geahnt, was Valancy in ihrem Blauen Schloss alles tat.

Zum Beispiel hatte sie eine ganze Reihe von Liebhabern. Oh, natürlich immer nur einen auf einmal. Einen, der sie mit aller romantischen Inbrunst der Ritterzeit umwarb und nach langem, aufopferungsvollem Warten und vielen Heldentaten ihr Herz eroberte, worauf er sie in der prächtigen, mit Bannern geschmückten Kapelle des Blauen Schlosses mit Glanz und Gloria zur Frau nahm.

Als sie zwölf war, war dieser Liebhaber ein schmucker Bursche mit blonden Locken und Augen so blau wie der Himmel. Als sie fünfzehn war, war er hochgewachsen, dunkel und blass, aber natürlich trotzdem ein schöner Mann. Als sie zwanzig war, war er verträumt, asketisch, vergeistigt. Als sie fünfundzwanzig war, hatte er markante Wangenknochen und ein entschlossenes Gesicht, das eher charaktervoll und kantig war als schön. Älter als fünfundzwanzig wurde Valancy in ihrem Blauen Schloss nie, doch seit kurzem hatte ihr Held rostrot schimmerndes Haar, ein vieldeutiges Lächeln und eine geheimnisvolle Vergangenheit.

Ich sage nicht, dass Valancy diese Liebhaber vorsätzlich umbrachte, wenn sie ihnen entwuchs. Sobald ein neuer kam, verzog sich sein Vorgänger einfach. In dieser Hinsicht ist das Leben in Blauen Schlössern wirklich sehr praktisch.

Doch an jenem schicksalhaften Morgen konnte Valancy den Schlüssel zu ihrem Blauen Schloss nicht finden. Zu hartnäckig sprang die Realität sie an, kläffend wie ein lästiger kleiner Hund. Sie war neunundzwanzig, einsam, unbegehrt, unscheinbar – das einzige Heimchen in einer Familie hübscher Frauen, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. So weit sie zurückblicken konnte, war ihr Leben immer trüb und grau gewesen, ohne ein einziges rotes oder violettes Pünktchen. So weit sie vorausblicken konnte, schien alles dazu bestimmt, so zu bleiben, bis sie nur mehr ein vereinzeltes, verwelktes kleines Blatt wäre, das sich mit letzter Kraft an einen Winterzweig klammerte. War das nicht ein Vorgeschmack auf die Bitterkeit des Todes: zu erkennen, dass man weder Liebe noch Pflichten, weder Aufgaben noch Hoffnungen hatte, für die zu leben es sich lohnte?

Und ich muss trotzdem weiterleben, weil ich nicht anders kann. Womöglich werde ich achtzig Jahre alt, dachte Valancy in einem Anflug von Panik. In unserer Familie werden alle schrecklich alt. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke.

Sie war froh, dass es regnete, oder besser gesagt, sie empfand dumpfe Genugtuung darüber, dass es regnete. Das Picknick würde ins Wasser fallen. Der unvermeidliche Ausflug, mit dem Tante und Onkel Wellington – man nannte sie gedanklich immer in dieser Reihenfolge – jahraus, jahrein ihre Verlobung bei einem Picknick dreißig Lenze zuvor feierten, war für Valancy in den vergangenen Jahren regelrecht zum Albtraum geworden. Durch eine Laune des Schicksals fiel dieses Datum ausgerechnet auf ihren Geburtstag, und seit sie fünfundzwanzig war, rieben ihr das alle jedes Jahr von neuem unter die Nase.

Doch sosehr ihr das Picknick auch zuwider war, es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich dagegen aufzulehnen. Sie schien nicht zur Rebellin geboren. Dabei wusste sie genau, was jeder Einzelne während des Picknicks zu ihr sagen würde. Onkel Wellington, den sie nicht mochte und den sie verachtete, obwohl er das höchste Ziel erreicht hatte, das ein Stirling anstreben konnte, nämlich »reich zu heiraten«, würde sie ohne Umschweife fragen: »Na, noch keine Heiratspläne, meine Liebe?«, worauf er das bellende Gelächter ausstoßen würde, mit dem er jede seiner geistlosen Bemerkungen abschloss. Tante Wellington, die Valancy eine unterwürfige Ehrfurcht einflößte, würde ihr von Olives neuem Chiffonkleid und Cecils letztem schmachtenden Brief berichten. Valancy würde so erfreut und interessiert tun müssen, als handele es sich um ihr Kleid und ihren Brief, sonst wäre Tante Wellington beleidigt. Und Valancy hatte schon vor langem beschlossen, dass sie lieber Gott beleidigte als Tante Wellington, denn Gott würde ihr vielleicht vergeben, Tante Wellington jedoch niemals.

Tante Alberta, die ungeheuer dick war und die liebenswerte Angewohnheit hatte, immer nur »er« zu sagen, wenn sie ihren Mann meinte, als wäre er das einzige männliche Wesen auf der Welt, war nie darüber hinweggekommen, dass sie in ihrer Jugend eine echte Schönheit gewesen war, und würde mitleidig Valancys stumpfen Teint mustern. »Ich weiß auch nicht, warum die Mädchen heutzutage alle so sonnenverbrannt aussehen. Als ich jung war, hatte ich eine Haut wie Porzellan und rosa Rosen. Man sagte mir nach, das hübscheste Mädchen in ganz Kanada zu sein, meine Liebe.«

Onkel Herbert würde vielleicht nichts sagen – oder scherzend bemerken: »Du setzt ganz schön Fett an, Doss!« Und dann würden sich alle über die wahnsinnig witzige Vorstellung erheitern, dass die arme, dürre Doss Fett ansetzen könnte.

Onkel James, ein würdevoller, gut aussehender Mann, den Valancy trotz ihrer heimlichen Abneigung respektierte, weil er als überaus klug und daher als das Orakel der Familie galt (Denken war nicht gerade die Stärke der Stirlings), würde mit dem eulenhaften Sarkasmus, der ihm seinen Ruf eingetragen hatte, wahrscheinlich sagen: »Ich nehme an, du bist derzeit mit deiner Aussteuertruhe beschäftigt?«

Und Onkel Benjamin würde glucksend einige seiner schauderhaften Scherzfragen hervorpressen und sie selbst beantworten. »Was ist der Unterschied zwischen Doss und einer Maus? Die Maus geht den Rattengang und Doss geht auf Gattenfang.«

Dieses Rätsel hatte er schon fünfzigmal zum Besten gegeben, und jedes Mal war Valancy versucht, ihn mit irgendetwas zu bewerfen. Doch sie tat es nie. Erstens warf man als Stirling nicht mit irgendwelchen Dingen; und zweitens war Onkel Benjamin ein vermögender, kinderloser Witwer, und sie war mit der Angst vor seinem Geld und der steten Erinnerung daran erzogen worden. Wenn sie ihn kränkte, würde er sie aus seinem Testament streichen – falls sie überhaupt darin stand. Valancy wollte nicht aus Onkel Benjamins Testament gestrichen werden. Sie war ihr Leben lang arm gewesen; sie kannte die quälende Bitterkeit, die das mit sich brachte. Also ließ sie seine Sprüche über sich ergehen und rang sich sogar ein gezwungenes Lächeln ab.

Tante Isabel, geradeheraus und unangenehm wie ein kalter Ostwind, würde sie auf irgendeine Art kritisieren. Wie, war nicht vorauszusehen, denn Tante Isabel sprach nie zweimal dieselbe Kritik aus. Sie fand jedes Mal etwas Neues, mit dem sie einen treffen konnte. Tante Isabel war stolz darauf, dass sie immer aussprach, was sie dachte, vertrug es aber nicht so gut, wenn andere ihr gegenüber aussprachen, was sie dachten. Valancy sprach nie aus, was sie dachte.

Tante Georgiana – benannt nach ihrer Ururgroßmutter, die wiederum nach Georg dem Vierten benannt worden war – würde gramerfüllt die Namen aller Verwandten und Freunde aufzählen, die seit dem letzten Picknick verstorben waren, und laut fragen, »wer von uns wohl als Nächstes an die Reihe kommt«.

Die furchtbar tüchtige Tante Mildred würde Valancy stundenlang von ihrem Göttergatten und ihrer Brut von Wunderkindern erzählen, weil Valancy die einzige Zuhörerin war, die sie finden konnte. Aus demselben Grund würde Tante Gladys (genau genommen eine Tante zweiten Grades, nach den strengen Maßstäben, nach denen bei den Stirlings die Familienzugehörigkeit bemessen wurde), eine große, dünne, empfindsam veranlagte Dame, ihr in allen Einzelheiten die Qualen ihrer Neuritis schildern. Und Olive, der strahlendste Stern am Stirling-Himmel, die alles hatte, was Valancy nicht hatte – Schönheit, Beliebtheit, Liebe –, würde sich in ihrer Schönheit sonnen, an ihrer Beliebtheit weiden und der geblendeten, neiderfüllten Valancy ihre diamantenen Insignien der Liebe unter die Nase halten.

Das alles würde ihr nun also erspart bleiben. Und Teelöffel mussten auch nicht eingesammelt werden. Das Zusammenpacken wurde immer Valancy und Tante Stickles überlassen. Und einmal, vor sechs Jahren, war ein silberner Teelöffel aus Tante Wellingtons Hochzeitsservice verloren gegangen. Seither wurde Valancy unentwegt an diesen silbernen Teelöffel erinnert. Wie Banquos Geist trieb er bei jedem großen Familienessen seinen Spuk.

Oh ja, Valancy wusste genau, was sie bei dem Picknick erwartete, und sie dankte dem Himmel für den Regen, der sie davon erlöste. Dieses Jahr würde es kein Picknick geben. Wenn Tante Wellington nicht an dem heiligen Tag selbst feiern konnte, feierte sie lieber gar nicht. Gepriesen seien die Götter, welche auch immer.

Stattdessen wollte Valancy in die Bücherei gehen, falls der Regen bis zum Nachmittag anhielt, und sich ein weiteres Buch von John Foster ausleihen. Valancy durfte keine Romane lesen, aber John Fosters Bücher waren keine Romane. Es waren »Naturbücher«, wie die Bibliothekarin gegenüber Mrs Frederick Stirling erklärte, »alles über den Wald und die Vögel und Käfer und solches Zeugs«. Also durfte Valancy sie lesen. Bedenken gab es trotzdem, denn es war nur zu offensichtlich, dass die Lektüre sie fesselte. Es war erlaubt, ja löblich, durch Lesen Geist und Glauben zu bilden, doch ein Buch, das zu fesseln vermochte, war gefährlich. Valancy konnte nicht sagen, ob ihr Geist dadurch gebildet wurde, aber sie spürte dunkel, dass ihr Leben womöglich anders verlaufen wäre, wenn sie John Fosters Bücher schon früher entdeckt hätte. Durch sie schien sie Einblicke in eine Welt zu erhaschen, die sie einmal hätte betreten können, bevor ihr die Tür dazu für immer verschlossen worden war. John Fosters Bücher waren erst seit einem Jahr in der Bücherei von Deerwood zu haben, obwohl er sich, wie Valancy von der Bibliothekarin erfuhr, schon länger einen Namen als Schriftsteller gemacht hatte.

»Wo lebt er?«, hatte Valancy gefragt.

»Das weiß niemand. Den Büchern nach zu urteilen muss er Kanadier sein, aber mehr ist nicht über ihn bekannt. Sein Verlag schweigt dazu. Wahrscheinlich ist John Foster ein Nom de Plume. Seine Bücher sind ständig entliehen, so beliebt sind sie. Ich verstehe wirklich nicht, warum die Leute so verrückt danach sind.«

»Ich finde sie wunderschön«, sagte Valancy schüchtern.

»Nun ja …« Miss Clarksons herablassendes Lächeln machte Valancys Meinung zu Asche. »Ich für meinen Teil interessiere mich nicht sonderlich für Käfer. Aber Foster scheint tatsächlich alles zu wissen, was es darüber zu wissen gibt.«

Valancy war auch nicht sicher, ob sie sich wirklich für Käfer interessierte. Es war nicht John Fosters ungeheures Wissen über wilde Tiere und das Reich der Insekten, das sie so faszinierte. Sie konnte selbst kaum sagen, was es war. Der unwiderstehliche Reiz eines ungelösten Rätsels … die Ahnung eines großen Geheimnisses, das in nächste Nähe rückte … das ferne, flüchtige Echo wundersamer, vergessener Dinge … John Fosters Magie war nicht greifbar.

Ja, sie würde sich ein neues Foster-Buch holen. Es war einen Monat her, seit sie Die Distelernte ausgeliehen hatte, also konnte Mutter eigentlich nichts dagegen haben. Valancy hatte es viermal gelesen, sie kannte ganze Absätze auswendig.

Und sie spielte mit dem Gedanken, wegen der seltsamen Herzbeklemmungen zu Dr. Trent zu gehen. In letzter Zeit waren sie doch recht oft aufgetreten. Dieses Herzklopfen wurde allmählich lästig, ganz zu schweigen von dem Schwindelgefühl, das sie manchmal packte, und der sonderbaren Kurzatmigkeit. Aber konnte sie sich untersuchen lassen, ohne jemandem davon zu erzählen? Das wäre mehr als kühn. Kein Stirling ging je zum Arzt, ohne den Familienrat einberufen und Onkel James’ Zustimmung eingeholt zu haben. Erst dann suchte man Dr. Ambrose Marsh in Port Lawrence auf, der Großcousine Adelaide Stirling geheiratet hatte.

Doch Valancy konnte Dr. Ambrose Marsh nicht leiden. Und außerdem hätte jemand sie die fünfzehn Meilen nach Port Lawrence fahren müssen. Das mit ihrem Herzen sollte aber niemand wissen. Man würde ein fürchterliches Aufheben darum machen, und jedes Familienmitglied würde sie besuchen und darüber reden, sie beraten und belehren und warnen und ihr schauderhafte Geschichten von irgendwelchen Großtanten und Cousinen über vierzig Ecken erzählen, »da war es genauso und eines Tages ist sie plötzlich tot umgefallen, meine Liebe«.

Tante Isabel würde sich erinnern, dass sie ja schon immer gesagt hatte, Doss sehe aus, als würde sie einmal herzkrank werden, »immer so verkniffen und verhärmt«; und Onkel Wellington würde es als persönliche Beleidigung auffassen, wo doch »kein Stirling je was am Herzen gehabt hat«; und Tante Georgiana würde den anderen deutlich vernehmbar die düstere Prophezeiung zuflüstern, dass »die arme, liebe Doss leider nicht mehr lange unter uns weilen wird«; und Tante Gladys würde sagen: »Mit meinem Herzen geht es schon seit Jahren so«, wobei ihr Ton durchblicken ließ, dass eigentlich niemand außer ihr überhaupt das Recht auf ein Herz hatte; und Olive – Olive würde einfach nur schön, überlegen und unverschämt gesund aussehen, als wollte sie sagen: »Was soll das ganze Getue um ein altes Anhängsel wie Doss, wo ihr doch mich habt?«

Nein, Valancy wollte niemandem davon erzählen, solange es nicht unbedingt nötig war. Sie fühlte sich nicht ernstlich krank und konnte auf das ganze Theater, das unweigerlich folgen würde, wenn sie es erwähnte, gut verzichten. Sie würde einfach leise, still und heimlich zu Dr. Trent gehen, an diesem Tag noch. Was seine Rechnung anging – sie hatte die zweihundert Dollar, die ihr Vater am Tag ihrer Geburt für sie auf die Bank gelegt hatte. Davon würde sie gerade genug abheben, um Dr. Trent zu bezahlen. Sonst durfte sie ja noch nicht einmal die Zinsen anrühren.

Dr. Trent war ein ruppiger, geistesabwesender alter Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, aber er galt als Autorität auf dem Gebiet der Herzkrankheiten, auch wenn er nur Hausarzt im abgelegenen Deerwood war. Dr. Trent war über siebzig und es wurde gemunkelt, dass er sich bald zur Ruhe setzen wollte. Kein Stirling war mehr zu ihm gegangen, seit er vor zehn Jahren zu Tante Gladys gesagt hatte, dass ihre Neuritis nur eingebildet sei und sie sich als Leidende gefalle. Man konnte doch keinen Arzt konsultieren, der die eigene Tante zweiten Grades so behandelte – einen Presbyterianer obendrein, während die Stirlings samt und sonders in die anglikanische Kirche gingen. Valancy jedoch, vor die Wahl gestellt zwischen dem Tod von Gezeter, Gejammer und gut gemeinten Ratschlägen und dem Teufel des Treubruchs gegenüber ihrer Familie, beschloss, sich mit dem Teufel einzulassen.

Zwei

Als Tante Stickles an ihre Tür klopfte, wusste Valancy, dass es halb acht war und sie aufstehen musste. Seit sie denken konnte, klopfte Tante Stickles immer um halb acht an ihre Tür. Tante Stickles und Mrs Frederick Stirling waren seit sieben auf den Beinen, aber Valancy durfte noch eine halbe Stunde länger liegen bleiben, weil es in der Familie als ausgemacht galt, dass sie zarter Natur war. Valancy stand auf, obwohl sie an diesem Morgen noch unwilliger aufstand als je zuvor. Was für einen Grund hatte man denn, überhaupt aufzustehen? Ein weiterer öder Tag, öde wie alle vorangegangenen Tage, voller sinnloser kleiner Aufgaben, die keine Freude machten und für niemanden von Bedeutung oder Nutzen waren. Doch wenn sie nicht unverzüglich aufstand, wäre sie nicht bis acht Uhr fertig, und dann gab es Frühstück. Feste Essenszeiten waren ehernes Gesetz in Mrs Stirlings Haushalt. Frühstück um acht, Mittagessen um eins, Abendbrot um sechs, jahraus, jahrein. Für Zuspätkommen gab es keine Entschuldigung. Also schwang sich Valancy zitternd aus dem Bett.

Es war eisig im Zimmer; die nasse Kälte eines verregneten Maimorgens hatte sich überall breitgemacht. Das Haus würde den ganzen Tag über kalt sein. Eine von Mrs Frederick Stirlings Regeln lautete, dass man nach dem vierundzwanzigsten Mai nicht mehr anzufeuern brauchte. Die Mahlzeiten wurden auf dem kleinen Petroleumofen im hinteren Anbau zubereitet. So eisig der Mai und so frostig der Oktober auch sein mochten, es wurde kein Feuer gemacht, bis der Kalender den einundzwanzigsten Oktober anzeigte. Ab dem einundzwanzigsten Oktober kochte Mrs Frederick Stirling auf dem Küchenherd und feuerte abends den Ofen in der Stube an. In der Familie hieß es hinter vorgehaltener Hand, dass der verstorbene Frederick Stirling sich die Erkältung, die in Valancys erstem Lebensjahr zu seinem Tod führen sollte, nur zugezogen hatte, weil Mrs Frederick auf keinen Fall am zwanzigsten Oktober anfeuern wollte. Sie feuerte am nächsten Tag an, doch für Frederick Stirling war das einen Tag zu spät.

Valancy schlüpfte aus ihrem Nachthemd, einem hochgeschlossenen Kleidchen aus grober, ungebleichter Baumwolle mit langen, engen Ärmeln, und hängte es in den Schrank. Dann zog sie einen ähnlich gearteten Unterrock, ein braun kariertes Kleid, dicke schwarze Strümpfe und Stiefel mit Gummiabsatz an. In den vergangenen Jahren hatte sie sich angewöhnt, das Rouleau des Fensters beim Spiegel herunterzulassen, bevor sie sich frisierte. Dann traten die Linien in ihrem Gesicht nicht so deutlich hervor. Doch an diesem Morgen zog sie das Rouleau mit einem entschlossenen Ruck ganz auf und betrachtete sich in dem aussätzigen Spiegel. Gut, sie würde sich so sehen, wie die Welt sie sah.

Das Ergebnis war niederschmetternd. Selbst für eine echte Schönheit wäre das harte, ungefilterte Seitenlicht eine Prüfung gewesen. Valancy sah glattes, dünnes schwarzes Haar, das immer stumpf war, obwohl sie es an jedem Abend ihres Lebens mit exakt einhundert Bürstenstrichen bearbeitete und gewissenhaft Redfern’s Haarkur in die Wurzeln einmassierte; dünne, gerade schwarze Augenbrauen; eine Nase, die Valancy selbst für ihr kleines, dreieckiges, weißes Gesicht immer zu klein vorgekommen war; einen kleinen, blassen Mund, der stets einen winzigen Spalt offen stand und kleine, spitze weiße Zähne entblößte; eine schmale, flachbrüstige, eher unterdurchschnittlich große Figur. Aus irgendeinem Grund hatte sie nicht die hohen Wangenknochen der Stirlings geerbt, und ihre dunkelbraunen Augen, die zu weich und schattig waren, um schwarz zu sein, hatten in ihrer Mandelform fast etwas Orientalisches an sich. Abgesehen von ihren Augen war sie weder hübsch noch hässlich, befand sie bitter – einfach nur unscheinbar. Wie deutlich die Linien um Augen und Mund in diesem gnadenlosen Licht hervortraten! Und nie hatte ihr schmales, weißes Gesicht so schmal und so weiß ausgesehen.

Sie bauschte ihr Haar zu einem Pompadour auf. Pompadour-Frisuren waren schon lange nicht mehr in Mode, doch sie waren schick gewesen, als Valancy sich zum ersten Mal das Haar hochsteckte, woraufhin Tante Wellington bestimmte, sie müsse es immer so tragen.

»Das ist die einzige Frisur, die dir steht. Dein Gesicht ist so klein, dass du den Pompadour-Effekt brauchst, um es länger erscheinen zu lassen«, dozierte Tante Wellington, die banale Aussagen stets so feierlich verkündete, als wären es bedeutende Weisheiten.

Eigentlich hätte Valancy ihr Haar am liebsten tief in die Stirn frisiert und über den Ohren gebauscht, so wie Olive. Doch Tante Wellingtons Urteil hatte sich ihr so eingebrannt, dass sie es nie mehr gewagt hatte, ihre Frisur zu ändern. Wie es ja überhaupt sehr viele Dinge gab, die Valancy nie zu tun wagte.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie vor irgendetwas Angst gehabt. Das reichte bis in die früheste Kindheit zurück, als sie schreckliche Angst vor dem großen schwarzen Bären gehabt hatte, der in dem Schrank unter der Treppe hauste, wie Tante Stickles behauptete.

Und so wird es mir immer gehen. Ich kann nicht anders. Ich weiß gar nicht, wie es sich anfühlt, nicht vor irgendetwas Angst zu haben, dachte sie grimmig.

Angst, ihre Mutter zu verstimmen; Angst, Onkel Benjamin vor den Kopf zu stoßen; Angst, Tante Wellingtons Verachtung auf sich zu ziehen; Angst, von Tante Isabel kritisiert zu werden; Angst, Onkel James Anlass zu Missbilligung zu geben; Angst, gegen die Meinungen und Standpunkte der Stirlings zu verstoßen; Angst, nicht den Schein zu wahren; Angst, auszusprechen, was sie wirklich dachte; Angst, im Alter arm zu sein. Angst, Angst, Angst – sie kam einfach nicht los davon. Die Angst fing und fesselte sie wie ein Spinnennetz aus Stahl. Nur in ihrem Blauen Schloss konnte sie für eine Weile frei atmen. An diesem Morgen jedoch konnte Valancy nicht glauben, dass sie ein Blaues Schloss hatte. Sie würde den Weg dorthin nie wieder finden. Neunundzwanzig, unverheiratet, unbegehrt – was hatte sie schon mit der feengleichen Herrin des Blauen Schlosses gemein? Sie würde solchen kindischen Unsinn ein für alle Mal aus ihrem Leben verbannen und entschlossen der Realität ins Auge sehen.

Sie wandte sich von dem ungnädigen Spiegel ab und schaute aus dem Fenster. Der Ausblick war jedes Mal ein Schlag ins Gesicht, so hässlich war er. Der kaputte Zaun, die baufällige alte Kutschenwerkstatt auf dem Nachbargrundstück, die mit billigen Reklametafeln in grellen Farben zugepflastert war; dahinter der schmuddelige Bahnhof mit den zerlumpten Vagabunden, die sich dort immer herumtrieben, sogar zu dieser frühen Stunde. Im strömenden Regen sah alles noch schlimmer aus als sonst, besonders die grässliche Reklame: Bewahr dir deinen Schulmädchen-Teint! Valancy hatte sich ihren Schulmädchen-Teint bewahrt. Ebendas war ja das Problem. Weit und breit schimmerte nirgendwo Schönheit auf. Genau wie in meinem Leben, dachte Valancy düster. Ihre Bitterkeit war verflogen. Sie sah den Tatsachen so schicksalsergeben ins Auge, wie sie es immer getan hatte. Sie gehörte nun einmal zu den Menschen, an denen das Leben vorübergeht. Daran war nicht zu rütteln.

In dieser Gemütsverfassung begab sich Valancy zum Frühstück hinunter.

Drei

Das Frühstück war immer gleich. Porridge – Valancy konnte Porridge nicht ausstehen –, Toast und Tee, dazu einen Teelöffel Orangenmarmelade. Zwei Teelöffel hielt Mrs Frederick für unnötigen Luxus, was Valancy nicht weiter störte, da sie Orangenmarmelade auch nicht ausstehen konnte. Das kalte, ungemütliche kleine Esszimmer war noch kälter und ungemütlicher als sonst; draußen vor dem Fenster goss es in Strömen; aus scheußlichen vergoldeten Rahmen, die breiter waren als die Gemälde selbst, stierten verstorbene Stirlings von den Wänden herab. Und trotzdem wünschte Tante Stickles Valancy alles Gute zum Geburtstag!

»Sitz gerade, Doss«, war alles, was ihre Mutter sagte.

Valancy setzte sich gerade hin. Sie sprach mit ihrer Mutter und Tante Stickles über die Dinge, über die sie immer sprachen. Sie fragte sich nie, was wohl geschehen würde, wenn sie über etwas anderes sprach. Sie wusste es schon. Also versuchte sie es erst gar nicht.

Mrs Frederick nahm es der Vorsehung übel, dass sie ihr ausgerechnet dann einen Regentag schickte, wenn sie zu einem Picknick eingeladen war, und schmollte während des Essens schweigend vor sich hin, wofür Valancy eigentlich recht dankbar war. Christine Stickles hingegen gab wie immer eine nicht enden wollende Tirade an Klagen von sich – über das Wetter, die undichte Stelle im Dach der Speisekammer, den Preis von Hafermehl und Butter (Valancy schwante, dass sie ihren Toast zu dick mit Butter bestrichen hatte) und die Mumps-Epidemie in Deerwood.

»Doss wird es bestimmt auch erwischen«, prophezeite sie.

»Doss hat sich von möglichen Ansteckungsherden fernzuhalten«, sagte Mrs Frederick schroff.

Valancy hatte nie Mumps gehabt oder Keuchhusten oder Windpocken oder Masern – nichts von alle dem, was sie hätte haben müssen, nur böse Erkältungen jeden Winter. Doss’ Wintererkältungen waren gewissermaßen Familientradition. Nichts schien sie davor bewahren zu können, auch wenn Mrs Frederick und Tante Stickles aufopferungsvoll ihr Bestes gaben. In einem Winter stellten sie Valancy unter Hausarrest; von November bis Mai durfte sie die warme Stube nicht verlassen, nicht einmal zum Kirchgang. Trotzdem bekam Valancy eine Erkältung nach der anderen und lag im Juni schließlich mit Bronchitis darnieder.

»In meiner Familie gab es so etwas nicht«, sagte Mrs Frederick und deutete damit an, dass diese Anfälligkeit von den Stirlings kommen musste.

»Stirlings erkälten sich fast nie«, sagte Tante Stickles beleidigt. Sie war eine Stirling gewesen.

»Ich glaube«, sagte Mrs Frederick, »wenn man sich vornimmt, sich nicht zu erkälten, dann erkältet man sich auch nicht.«

Da also lag der Hund begraben. Valancy war selbst schuld.

Schier unerträglich erschien ihr an jenem besonderen Morgen aber etwas anderes, nämlich dass sie Doss gerufen wurde. Neunundzwanzig Jahre hatte sie es über sich ergehen lassen, doch plötzlich hatte sie das Gefühl, es keinen Tag länger aushalten zu können. Ihr voller Name lautete Valancy Jane. Valancy Jane klang furchtbar, aber Valancy gefiel ihr, es hatte etwas Eigentümliches, Fremdländisches an sich. Valancy staunte immer wieder darüber, dass die Stirlings sie tatsächlich auf diesen Namen hatten taufen lassen. Man hatte ihr erzählt, dass ihr Großvater mütterlicherseits, der alte Amos Wansbarra, den Namen für sie ausgesucht habe. Ihr Vater hatte dann noch das Jane drangehängt, um ihn halbwegs annehmbar zu machen, und die gesamte Verwandtschaft umschiffte das Problem, indem sie den Spitznamen Doss benutzte. Valancy wurde sie nur von Außenstehenden genannt.

»Mutter«, sagte sie schüchtern, »würde es dir etwas ausmachen, mich von jetzt an Valancy zu nennen? Doss ist irgendwie so … Es gefällt mir nicht.«

Mrs Frederick sah ihre Tochter verblüfft an. Sie trug eine Brille mit extrem dicken Gläsern, die ihren Augen einen seltsam unfreundlichen Ausdruck verliehen.

»Was stört dich denn an Doss?«

»Es … klingt so kindisch«, sagte Valancy verzagt.

»Ach!« Mrs Frederick war eine Wansbarra gewesen und das Lächeln der Wansbarras war nicht vorteilhaft. »So, so. Nun, dann passt er doch zu dir. Nichts für ungut, mein liebes Kind, aber kindisch bist du durchaus.«

»Ich bin neunundzwanzig«, sagte das liebe Kind verzweifelt.

»Ich an deiner Stelle würde das nicht gerade von den Dächern schreien«, sagte Mrs Frederick. »Neunundzwanzig! Mit neunundzwanzig war ich bereits neun Jahre verheiratet.«

»Ich war schon mit siebzehn verheiratet«, sagte Tante Stickles stolz.

Valancy musterte die beiden verstohlen. Mrs Frederick war, einmal abgesehen von der grässlichen Brille und der Hakennase, durch die sie papageienhafter aussah als ein Papagei selbst, eigentlich nicht hässlich. Mit zwanzig war sie vielleicht sogar hübsch gewesen. Aber Tante Stickles! Und trotzdem hatte es einmal einen Mann gegeben, der Christine Stickles begehrenswert fand. Das hatte Tante Stickles mit ihrem runden, flachen, verrunzelten Gesicht, dem Muttermal auf der Spitze ihrer Knollennase, den borstigen Haaren am Kinn, dem faltigen gelben Hals, den wässrigen, vorstehenden Augen und dem dünnen, gekräuselten Mund ihr voraus, dachte Valancy; das gab ihr das Recht, auf sie herabzusehen. Noch dazu wurde Tante Stickles von Mrs Frederick gebraucht. Valancy fragte sich bitter, wie es sein mochte, von jemandem gewollt, ja gebraucht zu werden. Niemand auf der Welt brauchte sie oder würde irgendetwas in seinem Leben vermissen, wenn sie plötzlich daraus verschwände. Für ihre Mutter war sie eine einzige Enttäuschung. Niemand liebte sie. Noch nicht einmal eine Freundin hatte sie je gehabt.

»Ich eigne mich nicht einmal für eine Freundschaft«, hatte sie einmal laut geklagt.

»Doss, du hast deine Brotkanten nicht gegessen«, hatte Mrs Frederick tadelnd erwidert.

Es regnete den ganzen Vormittag hindurch. Valancy nähte einen Quilt. Valancy hasste es, Quilts zu nähen. Obendrein war es unnötig. Das ganze Haus war voller Quilts. Auf dem Dachboden standen drei große, mit Quilts vollgestopfte Truhen. Mrs Frederick hatte begonnen Quilts zu horten, als Valancy siebzehn war, und sie hortete sie weiter, auch wenn es nicht danach aussah, als würde Valancy sie jemals brauchen. Doch Valancy musste beschäftigt werden, und für feine Handarbeiten war kein Geld da. In einem Stirling-Haushalt galt Muße als Kardinalsünde. In ihrer Kindheit war Valancy jeden Abend dazu verdonnert worden, in einem verhassten schwarzen Heftchen fein säuberlich zu vermerken, wie viele Minuten sie an jenem Tag müßig gewesen war. Sonntags musste sie die Zahlen vor ihrer Mutter zusammenzählen und dann ein Gebet sprechen.

An jenem Vormittag ihres Schicksalstages verbrachte Valancy nur zehn Minuten mit müßigem Tun. Zumindest hätten Mrs Frederick und Tante Stickles es müßig genannt. Sie ging auf ihr Zimmer, um einen besseren Fingerhut zu holen, nahm schuldbewusst Die Distelernte zur Hand und schlug eine beliebige Stelle auf.

»Der Wald ist so menschlich«, schrieb John Foster, »dass man mit ihm leben muss, um ihn zu kennen. Wer nur gelegentlich auf ausgetretenen Pfaden in ihm umherschlendert, wird nie in sein Innerstes Einlass finden. Wollen wir ihn uns zum Freund machen, so müssen wir zu ihm kommen und ihn für uns einnehmen mit ehrfurchtsvollen Besuchen zu jeder Tages- und Nachtzeit; am Morgen, zur Mittagszeit und bei Nacht; und zu allen Jahreszeiten, im Frühling, im Sommer, im Herbst, im Winter. Sonst lernen wir ihn niemals wirklich kennen, und sollten wir auch noch so oft das Gegenteil behaupten, es wird doch an ihm abperlen. Er hat seine eigene, wirkungsvolle Art, Fremde von sich fernzuhalten und sein Herz vor bloßen Schaulustigen zu verschließen. Es ist zwecklos, den Wald aus irgendeinem anderen Motiv als lauter Liebe zu ihm aufsuchen zu wollen; er wird dies sogleich erkennen und all seine süßen, uralten Geheimnisse vor uns verbergen. Doch wenn er weiß, dass wir aus Liebe zu ihm kommen, wird er uns herzlich empfangen und uns Schätze von solcher Schönheit und Wonne schenken, wie man sie auf keinem Marktplatz der Welt kaufen oder verkaufen kann. Denn wenn der Wald sich einmal öffnet, so öffnet er sich ganz und gar und hält vor seinen wahren Jüngern nichts zurück. Wir müssen voller Liebe, voller Demut, Geduld und Achtsamkeit zu ihm kommen, und nur so werden wir erfahren, welch ergreifender Liebreiz sich in den wilden Schluchten und stillen Tälern verbirgt, die sich im Licht der Sterne und des Sonnenuntergangs erstrecken, welch geisterhaft schöne Musik auf alten Kiefernzweigen gezupft wird oder durch Tannenwäldchen säuselt, welch zarte Düfte von Moosen und Farnen in sonnenbeschienenen Winkeln oder an gurgelnden Bächen aufsteigen, welch Träume und Sagen und Legenden einer vergangenen Zeit dort umgehen. Dann wird das unsterbliche Herz des Waldes in unserer Brust schlagen und sein sachtes Leben wird sich in unsere Adern schleichen und uns für immer in Besitz nehmen, so dass wir, wohin und wie weit auch immer uns unsere Füße tragen, stets zum Walde zurückstreben, dem wir uns wahrhaft zugehörig fühlen.«

»Doss«, rief ihre Mutter vom Treppenhaus herauf, »was machst du da allein in deinem Zimmer?«

Valancy ließ Die Distelernte fallen, als hätte sie sich die Finger daran verbrannt, und eilte nach unten zu ihren Stoffresten; doch sie verspürte wieder die eigenartige Hochstimmung, die stets eine ganze Weile in ihr nachwirkte, wenn sie sich in eines von John Fosters Büchern versenkt hatte. Valancy wusste nicht viel über Wälder, sie kannte nur die verwunschenen Eichen- und Kiefernhaine rings um ihr Blaues Schloss. Aber sie hatte sich insgeheim immer danach gesehnt, und ein Buch von Foster über den Wald war das Nächstbeste, was man außer dem Wald selbst bekommen konnte.

Mittags hörte es zu regnen auf, doch die Sonne zeigte sich erst gegen drei. Dann brachte Valancy schüchtern vor, dass sie gern in die Stadt gehen würde.

»Was willst du denn in der Stadt?«, fragte ihre Mutter.

»Ich will mir ein Buch aus der Bücherei ausleihen.«

»Du hast dir erst letzte Woche eins ausgeliehen.«

»Nein, das war vor vier Wochen.«

»Vier Wochen. Lächerlich!«

»Doch, wirklich, Mutter.«

»Du täuschst dich. Es kann unmöglich mehr als zwei Wochen her sein. Ich mag es nicht, wenn man mir widerspricht. Und außerdem begreife ich nicht, wozu du überhaupt ein Buch haben willst. Du vergeudest zu viel Zeit mit Lesen.«

»Wozu ist meine Zeit denn nütze?«, fragte Valancy bitter.

»Doss! Nicht in diesem Ton!«

»Wir brauchen Tee«, sagte Tante Stickles. »Sie könnte welchen besorgen gehen, wenn sie sich die Beine vertreten will. Allerdings erkältet man sich bei diesem feuchten Wetter leicht.«

Sie diskutierten noch zehn Minuten weiter, dann ließ Mrs Frederick Valancy missmutig gehen.

Vier

»Hast du deine Galoschen übergezogen?«, rief Tante Stickles, als Valancy das Haus verließ.

Christine Stickles hatte es noch nie versäumt, sie an ihre Galoschen zu erinnern, wenn Valancy an einem nassen Tag aus dem Haus ging.

»Ja.«

»Hast du deinen Flanellunterrock an?«, fragte Mrs Frederick.

»Nein.«

»Doss, ich verstehe dich wirklich nicht. Willst du dir denn wieder den Tod holen?« Die Frage klang, als wäre Valancy schon mehrmals einer tödlichen Erkältung erlegen. »Du gehst sofort nach oben und ziehst ihn an!«

»Mutter, ich brauche keinen Flanellunterrock. Der aus Satin ist warm genug.«

»Doss, denk daran, dass du vor zwei Jahren Bronchitis hattest. Geh und tu, was man dir sagt!«

Valancy ging, und es sollte für immer ihr Geheimnis bleiben, wie nah sie daran war, den Gummibaum neben der Haustür auf die Straße zu schleudern, bevor sie ging. Sie hasste diesen grauen Flanellunterrock mehr als jedes andere Kleidungsstück, das sie besaß. Olive musste nie Flanellunterröcke tragen. Olive trug gerüschte Seide und feinen Batist und Volants aus Klöppelspitze. Doch Olives Vater hatte »reich geheiratet« und Olive bekam nie Bronchitis. Also.

»Bist du sicher, dass du die Seife nicht im Wasser vergessen hast?«, fragte Mrs Frederick. Aber Valancy war schon fort. An der Ecke drehte sie sich um und blickte zurück auf die hässliche, biedere, ehrbare Straße, in der sie wohnte. Das Haus der Stirlings war das hässlichste von allen – ein Kasten aus Backstein, mehr nicht. Zu hoch für seine Breite, und dann noch eine bauchige Glaskuppel obendrauf. Es dämmerte vor sich hin in dem verwaisten Frieden eines alten Hauses, dessen Leben vorbei ist.

Gleich um die Ecke lag ein sehr hübsches Haus mit bleigefassten Flügelfenstern und abgerundeten Giebeln – ein neues Haus, eins dieser Häuser, in die man sich auf den ersten Blick verliebt. Clayton Markley hatte es für seine Braut gebaut. Im Juni wollte er Jennie Lloyd heiraten. Das Häuschen, erzählte man sich, war vom Keller bis zum Dachboden möbliert worden; alles war bereit für den Einzug der Hausherrin.

Ich beneide Jennie nicht um den Mann, dachte Valancy aufrichtig (Clayton Markley gehörte nicht zu ihren vielen Idealtypen), nur um das Haus. Es ist ein so schönes junges Haus. Ach, wenn ich doch ein Haus für mich allein haben könnte, ein ganz armseliges und winziges, aber meins! Ach, was soll’s, setzte sie bitter hinzu, wozu den Mond anheulen, wenn man nicht einmal eine Talgkerze bekommen kann.

Im Land der Träume gab sich Valancy mit nichts Geringerem zufrieden als einem Schloss aus hellem Saphir. Im echten Leben wäre sie mit einem kleinen Häuschen für sich allein vollauf zufrieden gewesen. An diesem Tag beneidete sie Jennie Lloyd glühender als je zuvor. Jennie sah nicht so viel besser aus als sie und sehr viel jünger war sie auch nicht. Trotzdem würde sie dieses entzückende Haus bekommen. Und wunderhübsche kleine Wedgwood-Teetassen, das hatte Valancy gesehen; einen offenen Kamin und Wäsche mit ihrem Monogramm; Tischdecken mit Hohlsaum und Vitrinenschränke. Warum bekamen manche Mädchen alles und andere nichts? Das war ungerecht.

In Valancy gärte der Unmut, während sie so dahinspazierte, eine hausbackene Erscheinung in schäbigem Regenmantel und mit drei Jahre altem Hut. Gelegentlich bespritzte eines dieser unerhört jaulenden Automobile sie im Vorbeifahren mit Schlamm. Automobile waren in Deerwood noch die Ausnahme, obwohl sie in Port Lawrence gang und gäbe waren und die meisten Sommergäste oben in Muskoka eins besaßen. In Deerwood hatten nur einige Familien der feinen Gesellschaft ein Automobil; denn selbst Deerwood war in verschiedene Gruppen aufgeteilt. Es gab die feinen Leute, die Studierten, die Alteingesessenen (zu denen die Stirlings gehörten), die kleinen Leute und einige Außenseiter. Unter den Stirlings hatte sich noch niemand zu einem Automobil durchgerungen, obwohl Olive ihrem Vater den Floh ins Ohr zu setzen versuchte. Valancy hatte noch nie eines von innen gesehen, aber sie war auch nicht sonderlich erpicht darauf. In Wahrheit machten ihr Automobile sogar Angst, vor allem nachts. Sie kamen ihr wie große, schnurrende Raubtiere vor, die plötzlich kehrtmachen und einen zermalmen oder einen entsetzlichen wilden Sprung tun konnten. Auf den steilen Bergpfaden rund um ihr Blaues Schloss mochten nur stolze Rösser mit bunt verzierten Satteldecken traben; im echten Leben wäre Valancy schon ganz zufrieden gewesen, in einem Einspänner hinter einem hübschen Pferd zu sitzen. Zu einer Kutschfahrt kam sie nur, wenn irgendein Onkel oder Vetter ihr so gnädig »eine Runde« anbot, als wäre es ein Knochen, den man einem Hund hinwirft.