Eins
Hätte es an jenem Morgen im Mai nicht geregnet, hätte Valancy Stirlings Leben einen völlig anderen Verlauf genommen. Sie wäre zu Tante Wellingtons Verlobungspicknick gegangen, und Dr. Trent hätte sich nach Montreal aufgemacht. Doch es regnete, und was ihr deshalb widerfuhr, will ich nun erzählen.
Valancy wurde früh wach, in der bleiernen, hoffnungslosen Stunde vor dem Morgengrauen. Sie hatte nicht gut geschlafen. Man schläft nicht unbedingt gut, wenn man am nächsten Tag neunundzwanzig wird und unverheiratet ist und dieser Umstand im ganzen Ort und in der eigenen Familie schlicht bedeutet, dass man es nicht geschafft hat, sich einen Mann zu angeln.
Deerwood und die Stirlings hatten Valancy schon lange als alte Jungfer abgeschrieben. Nur Valancy selbst hatte das armselige, verschämte Fünkchen Hoffnung, dass ihr Prinz noch kommen könnte, nie aufgegeben – bis zu jenem nassen, schrecklichen Morgen, als sie beim Aufwachen der Tatsache ins Auge sah, dass sie neunundzwanzig war und kein Mann sie haben wollte.
Ja, das war das Bittere daran. An sich fand Valancy es gar nicht so schlimm, eine alte Jungfer zu sein. Viel grässlicher wäre es, dachte sie, mit einem Onkel Wellington, einem Onkel Benjamin oder auch nur Onkel Herbert verheiratet zu sein. Aber dass sie nie die Aussicht gehabt hatte, etwas anderes zu sein als eine alte Jungfer, das tat weh. Sie hatte keinen einzigen Verehrer gehabt.
Während sie so allein in der sich langsam grau färbenden Dunkelheit lag, wurden ihr die Augen feucht. Doch sie wagte es nicht, ihren Tränen freien Lauf zu lassen, aus zwei Gründen. Wenn sie weinte, würde das womöglich wieder diese krampfartigen Schmerzen in der Herzgegend auslösen. Als sie zu Bett gegangen war, hatte sie einen solchen Anfall gehabt – den schlimmsten bislang. Und sie befürchtete, dass ihre Mutter beim Frühstück ihre geröteten Augen bemerken und sie mit bohrenden, hartnäckigen Fragen nach der Ursache piesacken würde.
Mal angenommen, dachte Valancy und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, ich sage ihr einfach die Wahrheit: »Ich habe geweint, weil ich nicht verheiratet bin.« Wie entsetzt Mutter wäre! Dabei schämt sie sich tagtäglich für ihre ledige Tochter in Grund und Boden.
Doch natürlich musste der Schein gewahrt werden. »Es gehört sich nicht«, konnte Valancy ihre Mutter in ihrem steifen, gebieterischen Ton sagen hören, »es gehört sich nicht für eine junge Dame, an Männer zu denken.«
Der Gedanke an den Tadel ihrer Mutter reizte Valancy zum Lachen. Sie hatte einen Sinn für Humor, von dem niemand in ihrer Familie etwas ahnte – was im Übrigen auch für manch andere ihrer Eigenschaften galt. Aber das Lachen verging ihr gleich wieder, und so lag sie im Bett, ein nichtiges Häuflein Elend, lauschte dem Prasseln des Regens und beobachtete mit verdrossenem Widerwillen, wie das kalte, gnadenlose Licht in ihre hässliche, schäbige Kammer kroch.
Sie kannte die Hässlichkeit dieses Zimmers in- und auswendig – kannte und hasste sie. Der gelb gestrichene Fußboden mit dem scheußlichen gehäkelten Bettvorleger, von dem ein grotesker gehäkelter Hund sie jeden Morgen beim Aufwachen angrinste; die von alten Wasserflecken und Rissen übersäte Zimmerdecke; der niedrige, wackelige Waschtisch; der Quervorhang aus Paraffinpapier mit lila Rosenmuster; der fleckige, in der Mitte gesprungene alte Spiegel auf der Schminkkommode, die diesen Namen fürwahr nicht verdiente; das Gefäß mit dem uralten Potpourri, das ihre Mutter während ihrer sagenumwobenen Flitterwochen angesetzt hatte; die an einer Ecke abgesplitterte Muschelschatulle, die Tante Stickles in ihrer ebenso sagenumwobenen Mädchenzeit gebastelt hatte; das perlenbesetzte Nadelkissen, an dem die Hälfte der Perlen fehlte; der eine harte, gelbe Stuhl; der verblichene alte Spruch »In unserem Herzen lebst du fort«, der in buntem Garn um Urgroßmutter Stirlings grimmiges altes Gesicht gestickt war; die alten Fotografien längst verstorbener Verwandter, die schon seit Ewigkeiten aus den Zimmern im Erdgeschoss verbannt worden waren. Es gab nur zwei Bilder, die keine Verwandten zeigten. Eins war eine alte handkolorierte Aufnahme eines Welpen, der im Regen vor einer Tür hockte. Das Bild betrübte Valancy immer wieder. Dieser traurige kleine Hund, der sich im strömenden Regen an der Türschwelle zusammenkauerte! Warum erbarmte sich denn niemand und ließ ihn ein? Das andere Bild war ein verblasster, mit Passepartout gerahmter Stich von Königin Luise auf einer Treppe, ein überaus großzügiges Geschenk von Tante Wellington zu Valancys zehntem Geburtstag. Seit neunzehn Jahren flößte es ihr Abscheu ein; schöne, eingebildete, selbstzufriedene Königin Luise. Doch sie hatte nie gewagt es zu zerstören oder abzuhängen. Mutter und Tante Stickles wären entgeistert gewesen oder, wie Valancy es in Gedanken respektloser formulierte, hysterisch geworden.
Hässlich war natürlich jedes Zimmer im Haus, aber das Erdgeschoss war leidlich herausgeputzt. Für Zimmer, in die kein Fremder je einen Fuß setzte, war kein Geld da. Manchmal dachte Valancy, dass sie selbst ihr Zimmer etwas hübscher machen könnte, auch ohne Geld, wenn man sie nur ließe. Doch ihre Mutter hatte jeden noch so schüchternen Vorschlag abgeschmettert und Valancy beharrte nicht darauf. Valancy beharrte nie auf irgendetwas. Sie traute sich nicht. Ihre Mutter ertrug keinen Widerspruch. Wenn sie gekränkt war, gebärdete sich Mrs Stirling tagelang wie eine beleidigte Majestät.
Es gab nur eines, was Valancy an ihrem Zimmer mochte: Sie konnte sich dort, wenn ihr danach war, nachts allein in den Schlaf weinen.
Doch war es im Grunde nicht gleichgültig, ob ein Zimmer, das man nur zum Schlafen und Ankleiden benutzte, hässlich war oder nicht? Zu anderen Zwecken durfte sich Valancy ohnehin nie allein in ihrem Zimmer aufhalten. Wer allein sein wollte, davon waren Mrs Frederick Stirling und Tante Stickles überzeugt, konnte nur finstere Absichten hegen. Valancys Zimmer im Blauen Schloss aber war genau so, wie ein Zimmer sein sollte.
So scheu und verschüchtert Valancy im wahren Leben war, so geringschätzig behandelt und beharrlich übersehen, so prächtig lebte sie in ihren Träumen. Niemand in der weitverzweigten Stirling-Sippe ahnte etwas davon, am wenigsten ihre Mutter und Tante Stickles. Sie hatten nie mitbekommen, dass Valancy an zwei Orten zu Hause war, in dem hässlichen roten Backsteinkasten in der Elm Street und in ihrem Blauen Schloss in den Wolken. Seit sie denken konnte, hatte Valancy im Geiste im Blauen Schloss gewohnt. Eines Tages, sie war noch ein ganz kleines Kind gewesen, hatte sie auf einmal festgestellt, dass sie es in sich trug. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und schon sah sie es klar und deutlich vor sich, mit seinen Türmchen und Fahnen thronte es auf einem bewaldeten Berg, in seiner blau schimmernden Anmut, beschienen vom leuchtenden Abendhimmel eines schönen, fremden Landes. Alles Wunderbare und Herrliche gab es in diesem Schloss. Geschmeide, die einer Königin würdig waren; Gewänder von Mondenschein und Feuer; Diwane aus Rosen und Gold; prachtvolle weiße Vasen an langen, geschwungenen Marmortreppen, auf denen zarte, in Nebelschwaden gehüllte Jungfrauen wandelten; von Marmorsäulen umfasste Innenhöfe, auf denen glitzernde Springbrunnen plätscherten und Nachtigallen in Myrtenbäumen sangen; Säle mit verspiegelten Wänden, die nur das Bild stattlicher Ritter und liebreizender Frauen zurückwarfen – sie selbst die liebreizendste von allen, für deren Augenaufschlag Männer ihr Leben gaben. Das Einzige, was ihr die Eintönigkeit ihrer Tage ertragen half, war die Aussicht, sich nachts in ihr Schloss träumen zu können. Die meisten, wenn nicht alle Stirlings wären vor Entsetzen tot umgefallen, hätten sie auch nur im Entferntesten geahnt, was Valancy in ihrem Blauen Schloss alles tat.
Zum Beispiel hatte sie eine ganze Reihe von Liebhabern. Oh, natürlich immer nur einen auf einmal. Einen, der sie mit aller romantischen Inbrunst der Ritterzeit umwarb und nach langem, aufopferungsvollem Warten und vielen Heldentaten ihr Herz eroberte, worauf er sie in der prächtigen, mit Bannern geschmückten Kapelle des Blauen Schlosses mit Glanz und Gloria zur Frau nahm.
Als sie zwölf war, war dieser Liebhaber ein schmucker Bursche mit blonden Locken und Augen so blau wie der Himmel. Als sie fünfzehn war, war er hochgewachsen, dunkel und blass, aber natürlich trotzdem ein schöner Mann. Als sie zwanzig war, war er verträumt, asketisch, vergeistigt. Als sie fünfundzwanzig war, hatte er markante Wangenknochen und ein entschlossenes Gesicht, das eher charaktervoll und kantig war als schön. Älter als fünfundzwanzig wurde Valancy in ihrem Blauen Schloss nie, doch seit kurzem hatte ihr Held rostrot schimmerndes Haar, ein vieldeutiges Lächeln und eine geheimnisvolle Vergangenheit.
Ich sage nicht, dass Valancy diese Liebhaber vorsätzlich umbrachte, wenn sie ihnen entwuchs. Sobald ein neuer kam, verzog sich sein Vorgänger einfach. In dieser Hinsicht ist das Leben in Blauen Schlössern wirklich sehr praktisch.
Doch an jenem schicksalhaften Morgen konnte Valancy den Schlüssel zu ihrem Blauen Schloss nicht finden. Zu hartnäckig sprang die Realität sie an, kläffend wie ein lästiger kleiner Hund. Sie war neunundzwanzig, einsam, unbegehrt, unscheinbar – das einzige Heimchen in einer Familie hübscher Frauen, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. So weit sie zurückblicken konnte, war ihr Leben immer trüb und grau gewesen, ohne ein einziges rotes oder violettes Pünktchen. So weit sie vorausblicken konnte, schien alles dazu bestimmt, so zu bleiben, bis sie nur mehr ein vereinzeltes, verwelktes kleines Blatt wäre, das sich mit letzter Kraft an einen Winterzweig klammerte. War das nicht ein Vorgeschmack auf die Bitterkeit des Todes: zu erkennen, dass man weder Liebe noch Pflichten, weder Aufgaben noch Hoffnungen hatte, für die zu leben es sich lohnte?
Und ich muss trotzdem weiterleben, weil ich nicht anders kann. Womöglich werde ich achtzig Jahre alt, dachte Valancy in einem Anflug von Panik. In unserer Familie werden alle schrecklich alt. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke.
Sie war froh, dass es regnete, oder besser gesagt, sie empfand dumpfe Genugtuung darüber, dass es regnete. Das Picknick würde ins Wasser fallen. Der unvermeidliche Ausflug, mit dem Tante und Onkel Wellington – man nannte sie gedanklich immer in dieser Reihenfolge – jahraus, jahrein ihre Verlobung bei einem Picknick dreißig Lenze zuvor feierten, war für Valancy in den vergangenen Jahren regelrecht zum Albtraum geworden. Durch eine Laune des Schicksals fiel dieses Datum ausgerechnet auf ihren Geburtstag, und seit sie fünfundzwanzig war, rieben ihr das alle jedes Jahr von neuem unter die Nase.
Doch sosehr ihr das Picknick auch zuwider war, es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich dagegen aufzulehnen. Sie schien nicht zur Rebellin geboren. Dabei wusste sie genau, was jeder Einzelne während des Picknicks zu ihr sagen würde. Onkel Wellington, den sie nicht mochte und den sie verachtete, obwohl er das höchste Ziel erreicht hatte, das ein Stirling anstreben konnte, nämlich »reich zu heiraten«, würde sie ohne Umschweife fragen: »Na, noch keine Heiratspläne, meine Liebe?«, worauf er das bellende Gelächter ausstoßen würde, mit dem er jede seiner geistlosen Bemerkungen abschloss. Tante Wellington, die Valancy eine unterwürfige Ehrfurcht einflößte, würde ihr von Olives neuem Chiffonkleid und Cecils letztem schmachtenden Brief berichten. Valancy würde so erfreut und interessiert tun müssen, als handele es sich um ihr Kleid und ihren Brief, sonst wäre Tante Wellington beleidigt. Und Valancy hatte schon vor langem beschlossen, dass sie lieber Gott beleidigte als Tante Wellington, denn Gott würde ihr vielleicht vergeben, Tante Wellington jedoch niemals.
Tante Alberta, die ungeheuer dick war und die liebenswerte Angewohnheit hatte, immer nur »er« zu sagen, wenn sie ihren Mann meinte, als wäre er das einzige männliche Wesen auf der Welt, war nie darüber hinweggekommen, dass sie in ihrer Jugend eine echte Schönheit gewesen war, und würde mitleidig Valancys stumpfen Teint mustern. »Ich weiß auch nicht, warum die Mädchen heutzutage alle so sonnenverbrannt aussehen. Als ich jung war, hatte ich eine Haut wie Porzellan und rosa Rosen. Man sagte mir nach, das hübscheste Mädchen in ganz Kanada zu sein, meine Liebe.«
Onkel Herbert würde vielleicht nichts sagen – oder scherzend bemerken: »Du setzt ganz schön Fett an, Doss!« Und dann würden sich alle über die wahnsinnig witzige Vorstellung erheitern, dass die arme, dürre Doss Fett ansetzen könnte.
Onkel James, ein würdevoller, gut aussehender Mann, den Valancy trotz ihrer heimlichen Abneigung respektierte, weil er als überaus klug und daher als das Orakel der Familie galt (Denken war nicht gerade die Stärke der Stirlings), würde mit dem eulenhaften Sarkasmus, der ihm seinen Ruf eingetragen hatte, wahrscheinlich sagen: »Ich nehme an, du bist derzeit mit deiner Aussteuertruhe beschäftigt?«
Und Onkel Benjamin würde glucksend einige seiner schauderhaften Scherzfragen hervorpressen und sie selbst beantworten. »Was ist der Unterschied zwischen Doss und einer Maus? Die Maus geht den Rattengang und Doss geht auf Gattenfang.«
Dieses Rätsel hatte er schon fünfzigmal zum Besten gegeben, und jedes Mal war Valancy versucht, ihn mit irgendetwas zu bewerfen. Doch sie tat es nie. Erstens warf man als Stirling nicht mit irgendwelchen Dingen; und zweitens war Onkel Benjamin ein vermögender, kinderloser Witwer, und sie war mit der Angst vor seinem Geld und der steten Erinnerung daran erzogen worden. Wenn sie ihn kränkte, würde er sie aus seinem Testament streichen – falls sie überhaupt darin stand. Valancy wollte nicht aus Onkel Benjamins Testament gestrichen werden. Sie war ihr Leben lang arm gewesen; sie kannte die quälende Bitterkeit, die das mit sich brachte. Also ließ sie seine Sprüche über sich ergehen und rang sich sogar ein gezwungenes Lächeln ab.
Tante Isabel, geradeheraus und unangenehm wie ein kalter Ostwind, würde sie auf irgendeine Art kritisieren. Wie, war nicht vorauszusehen, denn Tante Isabel sprach nie zweimal dieselbe Kritik aus. Sie fand jedes Mal etwas Neues, mit dem sie einen treffen konnte. Tante Isabel war stolz darauf, dass sie immer aussprach, was sie dachte, vertrug es aber nicht so gut, wenn andere ihr gegenüber aussprachen, was sie dachten. Valancy sprach nie aus, was sie dachte.
Tante Georgiana – benannt nach ihrer Ururgroßmutter, die wiederum nach Georg dem Vierten benannt worden war – würde gramerfüllt die Namen aller Verwandten und Freunde aufzählen, die seit dem letzten Picknick verstorben waren, und laut fragen, »wer von uns wohl als Nächstes an die Reihe kommt«.
Die furchtbar tüchtige Tante Mildred würde Valancy stundenlang von ihrem Göttergatten und ihrer Brut von Wunderkindern erzählen, weil Valancy die einzige Zuhörerin war, die sie finden konnte. Aus demselben Grund würde Tante Gladys (genau genommen eine Tante zweiten Grades, nach den strengen Maßstäben, nach denen bei den Stirlings die Familienzugehörigkeit bemessen wurde), eine große, dünne, empfindsam veranlagte Dame, ihr in allen Einzelheiten die Qualen ihrer Neuritis schildern. Und Olive, der strahlendste Stern am Stirling-Himmel, die alles hatte, was Valancy nicht hatte – Schönheit, Beliebtheit, Liebe –, würde sich in ihrer Schönheit sonnen, an ihrer Beliebtheit weiden und der geblendeten, neiderfüllten Valancy ihre diamantenen Insignien der Liebe unter die Nase halten.
Das alles würde ihr nun also erspart bleiben. Und Teelöffel mussten auch nicht eingesammelt werden. Das Zusammenpacken wurde immer Valancy und Tante Stickles überlassen. Und einmal, vor sechs Jahren, war ein silberner Teelöffel aus Tante Wellingtons Hochzeitsservice verloren gegangen. Seither wurde Valancy unentwegt an diesen silbernen Teelöffel erinnert. Wie Banquos Geist trieb er bei jedem großen Familienessen seinen Spuk.
Oh ja, Valancy wusste genau, was sie bei dem Picknick erwartete, und sie dankte dem Himmel für den Regen, der sie davon erlöste. Dieses Jahr würde es kein Picknick geben. Wenn Tante Wellington nicht an dem heiligen Tag selbst feiern konnte, feierte sie lieber gar nicht. Gepriesen seien die Götter, welche auch immer.
Stattdessen wollte Valancy in die Bücherei gehen, falls der Regen bis zum Nachmittag anhielt, und sich ein weiteres Buch von John Foster ausleihen. Valancy durfte keine Romane lesen, aber John Fosters Bücher waren keine Romane. Es waren »Naturbücher«, wie die Bibliothekarin gegenüber Mrs Frederick Stirling erklärte, »alles über den Wald und die Vögel und Käfer und solches Zeugs«. Also durfte Valancy sie lesen. Bedenken gab es trotzdem, denn es war nur zu offensichtlich, dass die Lektüre sie fesselte. Es war erlaubt, ja löblich, durch Lesen Geist und Glauben zu bilden, doch ein Buch, das zu fesseln vermochte, war gefährlich. Valancy konnte nicht sagen, ob ihr Geist dadurch gebildet wurde, aber sie spürte dunkel, dass ihr Leben womöglich anders verlaufen wäre, wenn sie John Fosters Bücher schon früher entdeckt hätte. Durch sie schien sie Einblicke in eine Welt zu erhaschen, die sie einmal hätte betreten können, bevor ihr die Tür dazu für immer verschlossen worden war. John Fosters Bücher waren erst seit einem Jahr in der Bücherei von Deerwood zu haben, obwohl er sich, wie Valancy von der Bibliothekarin erfuhr, schon länger einen Namen als Schriftsteller gemacht hatte.
»Wo lebt er?«, hatte Valancy gefragt.
»Das weiß niemand. Den Büchern nach zu urteilen muss er Kanadier sein, aber mehr ist nicht über ihn bekannt. Sein Verlag schweigt dazu. Wahrscheinlich ist John Foster ein Nom de Plume. Seine Bücher sind ständig entliehen, so beliebt sind sie. Ich verstehe wirklich nicht, warum die Leute so verrückt danach sind.«
»Ich finde sie wunderschön«, sagte Valancy schüchtern.
»Nun ja …« Miss Clarksons herablassendes Lächeln machte Valancys Meinung zu Asche. »Ich für meinen Teil interessiere mich nicht sonderlich für Käfer. Aber Foster scheint tatsächlich alles zu wissen, was es darüber zu wissen gibt.«
Valancy war auch nicht sicher, ob sie sich wirklich für Käfer interessierte. Es war nicht John Fosters ungeheures Wissen über wilde Tiere und das Reich der Insekten, das sie so faszinierte. Sie konnte selbst kaum sagen, was es war. Der unwiderstehliche Reiz eines ungelösten Rätsels … die Ahnung eines großen Geheimnisses, das in nächste Nähe rückte … das ferne, flüchtige Echo wundersamer, vergessener Dinge … John Fosters Magie war nicht greifbar.
Ja, sie würde sich ein neues Foster-Buch holen. Es war einen Monat her, seit sie Die Distelernte ausgeliehen hatte, also konnte Mutter eigentlich nichts dagegen haben. Valancy hatte es viermal gelesen, sie kannte ganze Absätze auswendig.
Und sie spielte mit dem Gedanken, wegen der seltsamen Herzbeklemmungen zu Dr. Trent zu gehen. In letzter Zeit waren sie doch recht oft aufgetreten. Dieses Herzklopfen wurde allmählich lästig, ganz zu schweigen von dem Schwindelgefühl, das sie manchmal packte, und der sonderbaren Kurzatmigkeit. Aber konnte sie sich untersuchen lassen, ohne jemandem davon zu erzählen? Das wäre mehr als kühn. Kein Stirling ging je zum Arzt, ohne den Familienrat einberufen und Onkel James’ Zustimmung eingeholt zu haben. Erst dann suchte man Dr. Ambrose Marsh in Port Lawrence auf, der Großcousine Adelaide Stirling geheiratet hatte.
Doch Valancy konnte Dr. Ambrose Marsh nicht leiden. Und außerdem hätte jemand sie die fünfzehn Meilen nach Port Lawrence fahren müssen. Das mit ihrem Herzen sollte aber niemand wissen. Man würde ein fürchterliches Aufheben darum machen, und jedes Familienmitglied würde sie besuchen und darüber reden, sie beraten und belehren und warnen und ihr schauderhafte Geschichten von irgendwelchen Großtanten und Cousinen über vierzig Ecken erzählen, »da war es genauso und eines Tages ist sie plötzlich tot umgefallen, meine Liebe«.
Tante Isabel würde sich erinnern, dass sie ja schon immer gesagt hatte, Doss sehe aus, als würde sie einmal herzkrank werden, »immer so verkniffen und verhärmt«; und Onkel Wellington würde es als persönliche Beleidigung auffassen, wo doch »kein Stirling je was am Herzen gehabt hat«; und Tante Georgiana würde den anderen deutlich vernehmbar die düstere Prophezeiung zuflüstern, dass »die arme, liebe Doss leider nicht mehr lange unter uns weilen wird«; und Tante Gladys würde sagen: »Mit meinem Herzen geht es schon seit Jahren so«, wobei ihr Ton durchblicken ließ, dass eigentlich niemand außer ihr überhaupt das Recht auf ein Herz hatte; und Olive – Olive würde einfach nur schön, überlegen und unverschämt gesund aussehen, als wollte sie sagen: »Was soll das ganze Getue um ein altes Anhängsel wie Doss, wo ihr doch mich habt?«
Nein, Valancy wollte niemandem davon erzählen, solange es nicht unbedingt nötig war. Sie fühlte sich nicht ernstlich krank und konnte auf das ganze Theater, das unweigerlich folgen würde, wenn sie es erwähnte, gut verzichten. Sie würde einfach leise, still und heimlich zu Dr. Trent gehen, an diesem Tag noch. Was seine Rechnung anging – sie hatte die zweihundert Dollar, die ihr Vater am Tag ihrer Geburt für sie auf die Bank gelegt hatte. Davon würde sie gerade genug abheben, um Dr. Trent zu bezahlen. Sonst durfte sie ja noch nicht einmal die Zinsen anrühren.
Dr. Trent war ein ruppiger, geistesabwesender alter Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, aber er galt als Autorität auf dem Gebiet der Herzkrankheiten, auch wenn er nur Hausarzt im abgelegenen Deerwood war. Dr. Trent war über siebzig und es wurde gemunkelt, dass er sich bald zur Ruhe setzen wollte. Kein Stirling war mehr zu ihm gegangen, seit er vor zehn Jahren zu Tante Gladys gesagt hatte, dass ihre Neuritis nur eingebildet sei und sie sich als Leidende gefalle. Man konnte doch keinen Arzt konsultieren, der die eigene Tante zweiten Grades so behandelte – einen Presbyterianer obendrein, während die Stirlings samt und sonders in die anglikanische Kirche gingen. Valancy jedoch, vor die Wahl gestellt zwischen dem Tod von Gezeter, Gejammer und gut gemeinten Ratschlägen und dem Teufel des Treubruchs gegenüber ihrer Familie, beschloss, sich mit dem Teufel einzulassen.