Hanser E-Book
Der Horizont
Roman
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2010
unter dem Titel L’Horizon
bei Gallimard in Paris.
Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Unterstützung.
ISBN 978-3-446-24439-9
© Éditions Gallimard Paris 2010
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2013
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © Fred Van Schagen /Getty Images
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Für Akako
Seit einiger Zeit dachte Bosmans an gewisse Episoden seiner Jugend, folgenlose, jäh abgebrochene Episoden, namenlose Gesichter, flüchtige Begegnungen. Das alles gehörte zu einer fernen Vergangenheit, doch weil diese kurzen Sequenzen nicht verbunden waren mit dem Rest seines Lebens, blieben sie in der Schwebe, in einer ewigen Gegenwart. Er würde nicht aufhören, sich Fragen zu stellen, und er würde nie eine Antwort erhalten. Diese Bruchstücke würden für ihn immer rätselhaft sein. Er hatte angefangen, eine Liste anzulegen, und trotz allem versucht, Bezugspunkte wiederzufinden: ein Datum, einen genauen Ort, einen Namen, dessen Schreibweise er nicht mehr wusste. Er hatte sich ein Notizbuch aus schwarzem Moleskin gekauft, das er in der Innentasche seines Jacketts trug, was ihm erlaubte, zu jeder beliebigen Tageszeit Aufzeichnungen zu machen, jedesmal, wenn ihm eine seiner lückenhaften Erinnerungen durch den Kopf ging. Er hatte den Eindruck, sich in einem Geduldspiel zu üben. Doch während er den Lauf der Zeit zurückverfolgte, spürte er zuweilen ein Bedauern: Warum hatte er diesen Weg eingeschlagen und nicht einen anderen? Warum hatte er zugelassen, dass sich dieses Gesicht oder jene Silhouette, die eine lustige Pelzkappe trug und ein Hündchen an der Leine führte, im Unbekannten verlor? Schwindel erfasste ihn bei dem Gedanken an das, was hätte sein können und nicht gewesen war.
Diese Erinnerungsfetzen bezogen sich auf die Jahre, in denen das Leben voller Kreuzungspunkte ist und so viele Alleen sich vor einem auftun, dass man die Qual der Wahl hat. Die Wörter, mit denen er sein Notizbuch füllte, gemahnten an den Artikel über »dunkle Materie«, den er an eine Zeitschrift für Astronomie geschickt hatte. Er fühlte nur allzugut, was alles, hinter den genauen Ereignissen und vertrauten Gesichtern, zu dunkler Materie geworden war: kurze Begegnungen, verpasste Rendezvous, verlorene Briefe, Vornamen und Telefonnummern, die in einem alten Taschenkalender stehen und die man vergessen hat, und all die Frauen und Männer, deren Wege man gekreuzt hat, ohne es überhaupt zu wissen. Wie in der Astronomie war diese dunkle Materie gewaltiger als der sichtbare Teil des Lebens. Sie war unendlich. Und er, er verzeichnete in seinem Notizbuch ein paar schwach flimmernde Lichtpunkte in der Tiefe dieser Finsternis. So schwach flimmerten diese Lichtpunkte, dass er die Augen schloss und sich konzentrierte, auf der Suche nach einem bedeutungsschweren Detail, das ihm erlauben würde, das Ganze wiederherzustellen, doch es gab kein Ganzes, nur Splitter, Sternenstaub. Gern wäre er eingetaucht in diese dunkle Materie, hätte die abgerissenen Fäden einen nach dem andern wieder miteinander verknotet, ja, wäre umgekehrt, um die Schatten festzuhalten und mehr über sie zu erfahren. Unmöglich. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Namen wiederzufinden. Oder auch die Vornamen. Sie wirkten wie Magnete. Sie förderten wirre Eindrücke zutage, die nur schwer zu erhellen waren. Gehörten sie dem Traum oder der Wirklichkeit?
Mérovée? Ein Name oder ein Spitzname? Man durfte sich nicht allzusehr darauf konzentrieren, aus Furcht, das Flimmern könnte ein für allemal erlöschen. Mérovée. So tun, als denke man an etwas anderes, das einzige Mittel, damit die Erinnerung ganz von alleine klarer wird, auf natürliche Weise, ohne Zwang. Mérovée.
Er ging die Avenue de l’Opéra entlang, abends gegen sieben. Lag es an der Uhrzeit, an diesem Viertel nahe der Grands Boulevards und der Börse? Mérovées Gesicht tauchte vor ihm auf. Ein junger Mann mit blonden Locken und einem Gilet. Er sah ihn sogar als Groom gekleidet – einer von diesen Grooms vor Restauranteingängen oder an den Rezeptionen der Grandhotels, mit ihren Mienen frühzeitig gealterter Kinder. Auch er, dieser Mérovée, hatte ein trotz seiner Jugend verwelktes Gesicht. Angeblich vergisst man Stimmen. Und trotzdem hörte er noch den Klang seiner Stimme – ein metallischer Klang, ein gezierter Ton, in dem er Unverschämtheiten sagte, die sich anhören sollten wie von einem Gassenjungen oder einem Dandy. Und dann plötzlich Greisengelächter. Es war unweit der Börse, abends gegen sieben, kurz nach Büroschluss. Von überallher strömten die Angestellten in dichten Gruppen, und es waren so viele, dass sie einen auf dem Trottoir schubsten und dass man mitgerissen wurde in ihrer Flut. Dieser Mérovée und zwei, drei andere Personen derselben Gruppe kamen aus dem Gebäude. Ein dicker, weißhäutiger Bursche, unzertrennlich von Mérovée, hing immerzu mit verschüchterter und zugleich bewundernder Miene an seinen Lippen. Ein Blonder mit knochigem Gesicht trug eine getönte Brille und einen Siegelring und schwieg die meiste Zeit. Der älteste von ihnen mochte etwa fünfunddreißig sein. An sein Gesicht erinnerte sich Bosmans deutlicher als an das von Mérovée, ein aufgedunsenes Gesicht, eine kurze Nase, durch die er einen Bulldoggenschädel bekam, unter dem glatt nach hinten gebürsteten brünetten Haar. Er lächelte nie und gab sich sehr autoritär. Bosmans hatte zu verstehen geglaubt, dass er ihr Büroleiter war. Er redete streng mit ihnen, als sei er für ihre Erziehung verantwortlich, und die anderen hörten ihm zu, wie brave Schüler. Nur hin und wieder erlaubte sich Mérovée eine unverschämte Bemerkung. An die anderen Gruppenmitglieder erinnerte sich Bosmans nicht. Schatten. Das Unbehagen, das dieser Name, Mérovée, bei ihm auslöste; er spürte es von neuem, nachdem zwei Wörter wieder in seinem Gedächtnis aufgetaucht waren: die »Fröhliche Bande«.
Eines Abends, als Bosmans wie gewöhnlich vor dem Gebäude auf Margaret Le Coz gewartet hatte, waren Mérovée, der Büroleiter und der Blonde mit der getönten Brille als erste herausgekommen und auf ihn zugegangen. Der Büroleiter hatte ihn ohne Umschweife gefragt:
»Wollen Sie der Fröhlichen Bande angehören?«
Und Mérovée hatte sein Greisengelächter angestimmt. Bosmans wusste nicht, was er antworten sollte. Die Fröhliche Bande? Der andere, immer noch mit seinem strengen Gesicht, mit seinem harten Blick, hatte gesagt: »Das sind wir, die Fröhliche Bande«, und Bosmans hatte das eher komisch gefunden, wegen des schaurigen Tons, den er angeschlagen hatte. Doch während er die drei an jenem Abend betrachtete, hatte er sich vorgestellt, wie sie mit dicken Knüppeln in der Hand über die Boulevards zogen und von Zeit zu Zeit überraschend auf einen Passanten einschlugen. Und jedesmal hätte man Mérovées piepsiges Lachen gehört. Er hatte ihnen gesagt:
»Was die Fröhliche Bande betrifft … lassen Sie mir noch ein wenig Bedenkzeit.«
Die anderen schienen enttäuscht. Im Grunde hatte er sie kaum gekannt. Er war nicht öfter als fünf-, sechsmal allein mit ihnen zusammengewesen. Sie arbeiteten im selben Büro wie Margaret Le Coz, und von ihr waren sie ihm vorgestellt worden. Der Brünette mit dem Bulldoggenschädel war ihr Vorgesetzter, und sie musste freundlich zu ihm sein. An einem Samstagnachmittag hatte er sie auf dem Boulevard des Capucines getroffen, Mérovée, den Büroleiter und den Blonden mit der getönten Brille. Sie kamen aus einer Turnhalle. Mérovée hatte gedrängt, dass er auf »ein Glas und eine Makrone« mit ihnen komme. Er war auf der anderen Seite des Boulevards gelandet, an einem Tisch der Teestube La Marquise de Sévigné. Mérovée schien begeistert, dass er sie alle in dieses Lokal geschleppt hatte. Er rief eine der Kellnerinnen herbei, in Stammgastmanier, und bestellte mit schneidender Stimme »Tee und Makronen«. Die beiden anderen betrachteten ihn mit einer gewissen Nachsicht, was Bosmans bei dem Büroleiter erstaunt hatte, der ja normalerweise so streng war.
»Also, was unsere Fröhliche Bande angeht … haben Sie eine Entscheidung getroffen?«
Mérovée hatte Bosmans in barschem Ton die Frage gestellt, und dieser suchte nach einer Ausrede, um aufzustehen. Er hätte ihnen zum Beispiel sagen können, er müsse telefonieren gehen. Dann würde er sich davonschleichen. Aber er dachte an Margaret Le Coz, die ihre Bürokollegin war. Er lief Gefahr, ihnen jeden Abend wiederzubegegnen, wenn er sie abholte.
»Also, was ist, haben Sie Lust, Mitglied unserer Fröhlichen Bande zu werden?«
Mérovée drängte, immer aggressiver, als wollte er Bosmans herausfordern. Man hätte glauben können, die zwei anderen machten sich bereit, einem Boxkampf zu folgen, der Brünette mit dem Bulldoggenschädel zeigte ein feines Lächeln, der Blonde war völlig unbewegt hinter seiner getönten Brille.
»Wissen Sie«, hatte Bosmans mit ruhiger Stimme erklärt, »seit Internat und Kaserne mag ich keine Banden mehr.«
Mérovée hatte, von dieser Antwort aus der Fassung gebracht, sein Greisengelächter angestimmt. Sie hatten von etwas anderem gesprochen. Der Büroleiter hatte Bosmans mit ernster Stimme erklärt, dass sie zweimal pro Woche in die Turnhalle gingen. Sie trainierten mehrere Sportarten, darunter französisches Boxen und Judo. Sogar ein Fechtsaal mit Fechtlehrer sei vorhanden. Und samstags meldeten sie sich an zu einem »Crosslauf« oder einer »Aschenbahn« im Bois de Vincennes.
»Sie sollten mit uns Sport treiben …«
Bosmans hatte das Gefühl, er gebe ihm einen Befehl.
»Ich bin sicher, dass Sie nicht genug Sport treiben …«
Er schaute ihm gerade in die Augen, und Bosmans hatte Mühe, diesem Blick standzuhalten.
»Also, kommen Sie mit uns Sport treiben?«
Ein Lächeln erhellte sein dickes Bulldoggengesicht.
»Einverstanden mit einem Tag nächste Woche? Ich melde Sie in der Rue Caumartin an?«
Diesmal wusste Bosmans nicht mehr, was er antworten sollte. Ja, diese Hartnäckigkeit erinnerte ihn an die ferne Zeit in Internat und Kaserne.
»Vorhin haben Sie mir doch gesagt, Sie mögen keine Banden?« fragte Mérovée mit schriller Stimme. »Die Gesellschaft von Mademoiselle Le Coz ist Ihnen wohl lieber?«
Den beiden anderen war diese Bemerkung offenbar peinlich. Mérovée lächelte immer weiter, dennoch schien er Bosmans’ Reaktion zu fürchten.
»Jaja, so ist es. Wahrscheinlich haben Sie recht«, hatte Bosmans leise geantwortet.
Er hatte sich draußen auf dem Trottoir von ihnen verabschiedet. Sie entschwanden im Gewühl, der Büroleiter und der Blonde mit der getönten Brille gingen nebeneinander. Mérovée, ein Stück dahinter, drehte sich um und winkte noch einmal. Und wenn sein Gedächtnis ihn täuschte? Vielleicht war das an einem anderen Abend gewesen, um sieben vor dem Bürogebäude, als er auf Margaret Le Coz wartete.
Ein paar Jahre später, gegen zwei Uhr morgens, fuhr er mit dem Taxi über die Kreuzung, wo sich Rue du Colisée und Avenue Franklin-Roosevelt schneiden. Der Chauffeur hielt an der roten Ampel. Genau gegenüber, am Gehsteigrand, stand jemand reglos, sehr steif, in einer schwarzen Pelerine, mit bloßen Füßen in Sandalen. Bosmans erkannte Mérovée. Sein Gesicht war abgezehrt, das Haar kurz geschoren. Er stand da wie eine Schildwache, und immer wenn eines der seltenen Autos vorüberfuhr, zeigte er die Andeutung eines Lächelns. Eine Grimasse vielmehr. Man hätte meinen können, ein Stricher für Kunden aus dem Jenseits. Es war eine Nacht im Januar und außergewöhnlich kalt. Bosmans verspürte Lust, hinzugehen und ihn anzusprechen, doch er sagte sich, dass ihn der andere nicht erkennen würde. Er sah ihn noch durch das Rückfenster und bis der Wagen am Rond-Point abbog. Er konnte den Blick nicht losreißen von dieser reglosen Silhouette in der schwarzen Pelerine, und plötzlich fiel ihm der dicke, weißhäutige Bursche wieder ein, der Mérovée oft begleitete und ihn so sehr zu bewundern schien. Was war aus ihm geworden?
Es gab unzählige Gespenster dieser Art. Fast immer war es unmöglich, ihnen einen Namen zu verpassen. Also begnügte er sich damit, vage Angaben in sein Notizbuch zu schreiben. Das brünette Mädchen mit der Narbe, das immer um die gleiche Zeit auf der Linie Porte-d’Orléans/Porte-de-Clignancourt fuhr … Zumeist war es eine Straße, eine Metrostation, ein Café, was sie aus der Vergangenheit auftauchen ließ. Er erinnerte sich an die Pennerin im Gabardinemantel mit dem Gehabe eines ehemaligen Mannequins, der er mehrmals und in verschiedenen Vierteln begegnet war: Rue du Cherche-Midi, Rue de l’Alboni, Rue Corvisart …
Er hatte sich gewundert, dass man unter den Millionen von Einwohnern, die eine Großstadt wie Paris zählt, in langen Abständen zufällig wieder auf dieselbe Person stoßen konnte, und jedesmal an einem Ort, der vom vorangegangenen weit entfernt lag. Er hatte einen Freund gefragt, der Wahrscheinlichkeitsrechnungen anstellte und die letzten zwanzig Jahrgänge der Zeitung Paris Turf untersuchte, denn er wollte bei Pferderennen setzen. Nein, darauf gab es keine Antwort. Bosmans hatte sich gedacht, das Schicksal insistiere eben manchmal. Du begegnest zwei-, dreimal der gleichen Person. Und wenn du sie nicht ansprichst, bist du selber schuld.
Der Firmenname dieser Büros? Irgendetwas wie »Richelieu Interim«. Ja, sagen wir: Richelieu Interim. Ein großes Gebäude in der Rue du Quatre-Septembre, ehemals Sitz einer Zeitung. Eine Cafeteria im Erdgeschoss, wo er sich zwei- oder dreimal mit Margaret Le Coz getroffen hatte, weil der Winter in jenem Jahr besonders kalt war. Doch lieber wartete er draußen.
Beim ersten Mal war er sogar hinaufgegangen, um sie abzuholen. Ein riesengroßer Aufzug aus hellem Holz. Er hatte die Treppe genommen. Auf jeder Etage, an den Doppeltüren, ein Schild mit dem Namen irgendeiner Gesellschaft. Er hatte da geläutet, wo Richelieu Interim dranstand. Die Tür hatte sich automatisch geöffnet. Am anderen Ende des Raums, hinter einer Art Tresen mit Glasscheibe darüber, saß Margaret Le Coz an einem der Schreibtische, wie andere Personen um sie herum. Er hatte an die Scheibe geklopft, sie hatte den Kopf gehoben und ihm bedeutet, er solle unten auf sie warten.
Er stand immer ein wenig abseits, am Rand des Trottoirs, um nicht vom Strom all jener erfasst zu werden, die um die gleiche Zeit aus dem Gebäude kamen, während ein Klingelzeichen schrillte. Am Anfang hatte er gefürchtet, sie in dieser Menschenmenge zu übersehen, und er hatte ihr vorgeschlagen, sie solle ein Kleidungsstück tragen, an dem er sie leicht erkennen konnte: einen roten Mantel. Ihm war, als würde er bei der Ankunft eines Zuges nach jemandem Ausschau halten, nach jemandem, den man unter den vorbeiflutenden Reisenden auszumachen sucht. Es werden immer weniger. Nachzügler steigen hinten aus dem letzten Waggon, und man hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben …
Sie hatte etwa vierzehn Tage in einer Außenstelle von Richelieu Interim gearbeitet, nicht weit weg, in der Nähe von Notre-Dame-des-Victoires. Er wartete auch hier auf sie, abends um sieben, an der Ecke der Rue Radziwill. Sie war allein, wenn sie aus dem ersten Gebäude auf der rechten Seite trat, und sobald er sie kommen sah, dachte Bosmans, dass Margaret Le Coz nicht mehr Gefahr lief, in der Menge zu verschwinden – eine Furcht, die ihn zuweilen erfüllte, seit ihrer ersten Begegnung.
An jenem Abend hatten sich, auf der großen Fläche der Place de l’Opéra, Demonstranten vor einer Reihe von CRS-Männern versammelt, die entlang des ganzen Boulevards eine Kette bildeten, offenbar, um eine offizielle Fahrzeugkolonne zu schützen. Bosmans war es gelungen, durch diese Menschenmenge hindurch bis zum Metroeingang zu schlüpfen, bevor die CRS-Männer zum Angriff stürmten. Er war gerade erst ein paar Stufen hinuntergegangen, als hinter ihm Demonstranten nachdrängten und die Menschen auf der Treppe weiterstießen. Er hatte das Gleichgewicht verloren und ein Mädchen im Regenmantel, unmittelbar vor ihm, mitgerissen, und alle beide waren sie vom Druck der anderen gegen die Wand gepresst worden. Man hörte Polizeisirenen. Als sie schon fast zu ersticken drohten, hatte der Druck nachgelassen. Der Strom floss weiter, die Treppe hinunter. Stoßzeit. Sie waren miteinander in einen Metrowagen gestiegen. Vorhin hatte sie sich an der Wand verletzt, und sie blutete an der Augenbraue. Zwei Stationen weiter waren sie ausgestiegen, und er hatte sie zu einer Apotheke gebracht. Nach der Apotheke gingen sie nebeneinander her. Sie trug ein Pflaster über der Augenbraue, und auf dem Kragen ihres Regenmantels war ein Blutfleck. Eine ruhige Straße. Sie waren die einzigen Passanten. Es wurde langsam Nacht. Rue Bleue. Blaue Straße. Dieser Name war Bosmans völlig unwirklich erschienen. Er fragte sich, ob er nicht träumte. Viele Jahre später war er zufällig wieder in diese Rue Bleue gekommen, und ein Gedanke hatte ihn wie angewurzelt stehenbleiben lassen: Kann man wirklich sicher sein, dass Worte, die zwei Menschen bei ihrer ersten Begegnung gewechselt haben, sich in Nichts auflösen, als wären sie niemals gesagt worden? Und dieses Stimmengewirr, dieses Telefongeraune seit etwa hundert Jahren? Diese tausend und abertausend ins Ohr geflüsterten Worte? All diese Satzfetzen von so geringer Bedeutung, dass sie dem Vergessen anheimfallen?
»Margaret Le Coz. Le Coz in zwei Worten.«
»Wohnen Sie hier im Viertel?«
»Nein. Drüben in Auteuil.«
Und wenn all diese Sätze weiter in der Luft schwebten bis ans Ende der Zeiten und ein bisschen Stille und Aufmerksamkeit genügte, um ihre Echos einzufangen?
»Dann arbeiten Sie hier im Viertel?«
»Ja. In einem Büro. Und Sie?«
Bosmans hatte ihre ruhige Stimme überrascht, die friedliche und langsame Art zu gehen, wie bei einem Spaziergang, diese äußerliche Gefasstheit, die im Widerspruch stand zu dem Pflaster über der Augenbraue und dem Blutfleck auf dem Regenmantel.
»Oh, ich … ich arbeite in einer Buchhandlung …«
»Das ist sicher interessant …«
Der Tonfall war höflich, unbeteiligt.
»Margaret Le Coz, ist das bretonisch?«
»Ja.«
»Also sind Sie in der Bretagne geboren?«
»Nein. In Berlin.«
Sie beantwortete die Fragen mit großer Höflichkeit, doch Bosmans spürte, mehr würde sie nicht sagen. Ungefähr vierzehn Tage später wartete er auf Margaret Le Coz, draußen auf dem Trottoir, abends um sieben. Mérovée war als erster aus dem Haus gekommen. Er trug einen Sonntagsanzug – einen jener Anzüge mit zu knappen Schultern, wie sie damals ein Schneider namens Renoma herstellte.
»Kommen Sie heute abend mit uns?« hatte er Bosmans mit seiner metallischen Stimme gefragt. »Wir gehen aus … In ein Lokal auf den Champs-Élysées … Le Festival …«
Er hatte »Festival« in einem respektvollen Ton ausgesprochen, als handle es sich um eine Hochburg des Pariser Nachtlebens. Bosmans hatte die Einladung abgelehnt. Da hatte sich Mérovée vor ihm aufgepflanzt:
»Verstehe … Sie gehen lieber mit der Boche aus …«
Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, niemals auf die Aggressivität anderer zu reagieren, auch nicht auf Beleidigungen oder Provokationen. Außer mit einem nachdenklichen Lächeln. In Anbetracht seiner Größe und seines Gewichts wäre es meistens ein ungleicher Kampf gewesen. Und schließlich, so schlimm waren die Menschen auch wieder nicht.
An jenem ersten Abend waren sie einfach immer weitergegangen, er und Margaret Le Coz. Sie waren in die Avenue Trudaine gekommen, eine Straße, von der es heißt, dass sie nirgendwo anfängt und nirgendwo endet, vielleicht, weil sie eine Art Enklave oder Lichtung bildet und nur wenige Autos hindurchfahren. Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt.
»Was tun Sie in Ihrem Büro?«
»Sekretariatsarbeit. Und ich übersetze Briefe ins Deutsche …«
»Ach ja, richtig … Sie sind in Berlin geboren …«
Er hätte gern gewusst, warum diese Bretonin in Berlin geboren war, aber sie schwieg. Sie hatte auf ihre Uhr geschaut.
»Ich warte, bis die Stoßzeit vorüber ist, dann nehme ich wieder die Metro …«
Und so warteten sie in einem Café, gegenüber dem Lycée Rollin. Bosmans war zwei oder drei Jahre lang Internatszögling auf diesem Gymnasium gewesen sowie in vielen anderen Schülerheimen in Paris und der Provinz. Nachts stahl er sich aus dem Schlafsaal und lief die stille Straße entlang bis zu den Lichtern von Pigalle.