Biblische Zitate sind der Einheitsübersetzung entnommen, Zitate des Korans aus: Ahmad Milad Karimi/Bernhard Uhde, Der Koran, Herder, Freiburg i. Br. 2014.
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© 2019 Hermann-Josef Frisch, 2. Auflage 2020
Coverbild: Glasfenster der Stadtpfarrkirche St. Johannes in Rain am Lech, Foto: Wikipedia Commons, GFreihalter
Satz und Layout: Hermann-Josef Frisch, Overath
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
www.bod.de
Printed in Germany
Druck: ISBN 9783749484300
E-Book: ISBN 9783750483354
Man muss sich
auf das Fremde einlassen,
um sich selbst zu entdecken.
Navid Kermani
»Gott neu lernen« – das ist die Bilanz eines lebenslangen Lernprozesses, der mir je neue, oft überraschende, immer aber bereichernde Aspekte eines Glaubens an Gott geoffenbart hat. »Gott neu lernen« – das ist nicht nur das Fazit eines über 70-Jährigen, sondern auch eine Perspektive für die religiöse Situation unserer Zeit, nicht nur Rückblick also, sondern auch Ausblick und Anregung.
Alle Religionen stellen sich – auf jeweils unterschiedliche Weise, aber doch durchaus vergleichbar – den wichtigen Fragen der Menschheit nach dem Woher, Wozu und Wohin: Woher kommen wir? Wozu leben wir? Wohin gehen wir? Diese Fragestellungen führen die Religionen der Welt in ihren jeweils eigenen Weisen zur entscheidendsten Frage – der nach einem letzten Sinn von allem, nach einem Urgrund, einem Fundament, das alles Leben, den ganzen Kosmos trägt, nach einem Absoluten, das über die konkrete Alltagserfahrung mit dieser Welt hinausgeht.
Die Religionen benennen dieses Absolute unterschiedlich als Gott, die Götter, das eine Göttliche, das Alleine und Allganze – doch die Namen sind zweitrangig. Schon Mahatma Gandhi (1869–1948) schrieb in der Zeitschrift »Young India« (1925): »Für mich ist Gott Wahrheit und Liebe ... die Quelle des Lichtes und des Lebens. Doch er ist über und hinter all diesem ... In der Tat denken wir alle das Undenkbare, beschreiben das Unbeschreibbare, suchen das Unbekannte ... Und deshalb nennen wir alle den einen Gott unterschiedlich als Shiva, Vishnu, Rama, Allah, Hormuzda, JHWH, Gott und noch mit einer unendlichen Vielzahl von Namen.«
Und der Dalai Lama drückt die gemeinsame Suche nach dem Absoluten wie folgt aus: »Das Herz aller Religionen ist eins. – Sie sind wie die Finger an einer Hand.«
Erfahrungen, die die unterschiedliche, doch auf das gleiche Ziel ausgerichtete Suche der Religionen nach dem Urgrund des Lebens wiedergeben, haben mich das ganze Leben hindurch begleitet. Sie haben meinem Lernprozess »Gott« jeweils neue Impulse gegeben, mich an die anderen Ufer zunächst fremder Denkweisen, Begriffe, Vorstellungen und Gottesbilder geführt und dadurch in einer für mich faszinierenden Weise meine eigene Sicht beeinflusst, ergänzt, erweitert und bereichert. Davon wird in diesem Buch berichtet.
Was können Menschen über Gott aussagen, woher nehmen sie ihre Vorstellungen vom Göttlichen, vom Urgrund des Kosmos, der auch das Fundament ihres eigenen Lebens ist? Drei Impulsgeber sind zu nennen:
Genau dies möchte dieser Band auch erreichen. Allerdings steht bei ihm keine systematische Gotteslehre im Vordergrund, wie sie in theologischen Handbüchern zu finden ist. Hier ist der Ausgangspunkt jeweils ein Abschnitt meiner persönlichen Biografie; ich stelle mein eigenes, einmaliges und unverwechselbares Leben mit der Botschaft nicht nur des christlichen Glaubens, sondern mit den vielfältigen Botschaften der Weltreligionen in eine fruchtbare Korrelation und berichte davon. Denn ich habe immer wieder in Europa und vor allem auf meinen vielen Reisen nach Asien (dem Hotspot aller Religionen – alle heutigen Weltreligionen sind in Asien entstanden) erfahren, wie mich die Gotteserfahrungen anderer Menschen vorangebracht haben auf meiner eigenen, immer noch unvollkommenen Suche nach Gott.
Auch dies muss am Anfang gesagt werden: Wir Menschen bleiben Suchende, so viel wir auch immer gelernt haben und wissen mögen. Niemand hat endgültige Antworten, auch nicht die »Oberhäupter« einer konkreten Religion. Die Suche nach Gott, so sagte es Franz Kafka, ist »eine ungeheure Reise« – wir bleiben unterwegs. Wie Gott in sich ist, wissen wir mit unserem begrenzten Verstand nicht, wir können noch nicht einmal einen unwiderlegbaren Beweis seiner Existenz führen. Wohl können wir stammelnde und bruchstückhafte Erfahrungen sammeln, eigene wie fremde. Wir können und sollten uns über solche Erfahrungen mit dem Absoluten austauschen. Dieser Band ist ein Beitrag dazu aus meiner persönlichen Perspektive. Er ist ein Weg, »Gott neu zu lernen«, der von der christlichen Tradition ausgeht, aber darüber hinausschaut auf die anderen religiösen Traditionen, obwohl er weiterhin in der christlichen Tradition beheimatet ist. Christliche Theologie kann und darf heute nur im Blick auf die unterschiedlichen Erfahrungen und auf den Dia log der Religionen geschehen.
Der Theologe Paul Knitter spricht in diesem Zusammenhang vom »Welthaus« der Religionen, das aus den »Zimmern« der unterschiedlichen Religionen zusammengesetzt ist. Machen wir uns bei einem Rundgang durch die verschiedenen Zimmer der großen Religionen auf die Suche nach dem Absoluten, um dann nachdenklich und vielleicht bereichert in unser eigenes Zimmer zurückzukehren.
Hermann-Josef Frisch
Das Auge Gottes, Cao-Dai-Tempel, Tay Ninh, Vietnam
Im Jahr 1996 komme ich zum ersten Mal in die südvietnamesische Stadt Tay Ninh, nicht weit von der vietnamesisch-kambodschanischen Grenze entfernt. Es ist eine Tagesfahrt von Ho-Chi-Minh-Stadt aus, der früher Saigon genannten Metropole. Mein Ziel ist der Tempel der Cao-Dai-Religion, genauer der »Heilige Stuhl« dieser noch nicht einmal hundert Jahre alten Mischreligion. Dort möchte ich an der gottesdienstlichen Zeremonie um 12 Uhr teilnehmen und im Zentrum dieser Religion mein Wissen über die Cao Dai vertiefen, deren Tempel ich bereits vorab an einigen anderen Orten besucht habe.
Die Cao-Dai-Religion wurde 1927 vom Vietnamesen Le Van Trung in Tay Ninh gegründet. Le Van Trung benennt den obersten Gott und Erlöser der Menschen mit dem Namen Cao Dai (vietnamesisch »Hoher Altar«). Trung will aus Elementen des jüdischchristlichen Glaubens (ihm über die damalige Kolonial macht Frankreich vermittelt) und den älteren örtlichen Traditionen des Mahayana-Buddhismus, Konfuzianismus, Daoismus eine neue – alle bisherigen religiösen Erfahrungen integrierende – Religion schaffen: »die Lehre des Mose ist die Knospe, die Lehre Christi die Blüte, die Lehre des Cao Dai die Frucht«. Und so wird Jesus ebenso von den Cai Dai verehrt wie Buddha, Laozi und Kongzi (Konfuzius), zudem historische Gestalten aus allen Kulturen: der französische Dichter Victor Hugo und der vietnamesische Philosoph Nguyen Binh Khiem, die französische Jeanne d’Arc und Winston Churchill, Louis Pasteur und Wladimir Lenin – eine eigenartige und zuerst einmal befremdliche, wenn nicht sogar skurrile Mischung.
Interessant auch die religiöse Hierarchie der Cao Dai, die der katholischen Kirche nachgebildet ist: Über den meist weiß gekleideten Gläubigen stehen die Priester, die Bischöfe, die Kardinäle, selbst einen Papst hat es gegeben (diese Position wurde allerdings seit 1935 nicht mehr besetzt). Die Würdenträger ziehen zum Gebet am Mittag in einer langen Prozession in den Tempel ein, ihre Gewänder in leuchtenden Farben symbolisieren die drei für die Cao Dai wichtigsten Religionen: Rot = Christentum, Gelb = Buddhismus, Blau = Daoismus.
Ich sitze auf der seitlichen Empore des lang gezogenen Kirchenschiffes und verfolge das einstündige Mittagsritual mit Rezitationen, gesungenen Gebeten, Verehrung mit Weihrauch – eine intensive Gebetsatmosphäre ohne jede Störung von außen. Das Kirchenschiff, auf dessen Boden sich Gläubige und Würdenträger an genau festgelegten Stellen zum gemeinsamen Gebet niedergelassen haben, steigt in neun Stufen leicht zum Altarraum hin an – die neun Stufen des Erlösungsweges hin zur himmlischen Herrlichkeit sind hier symbolisch wiedergegeben. Vorn im Altarraum sind ein achteckiger Altar, dazu prachtvoll geschnitzte Stühle für die höchsten Repräsentanten dieser Religion. Die leuchtend bunten und mit kosmischen Drachen geschmückten Säulen, die Fahnen und Standarten, die Kerzenständer und Blumengebinde – alles in einer barocken Pracht und Farbenvielfalt – verdecken fast das Eigentliche, das Zentrum dieses Raumes, die – symbolisch – innerste Mitte von Kirchenraum, Gottesdienst und Glauben der Cao Dai: eine gewaltige grüne »Weltkugel«, auf der eine zentrale Ellipse ein schwarzes Auge auf rosafarbener Haut zeigt.
Dieses Auge war mir bereits außen am Eingang der Cao-Dai-Kirche über dem Portal aufgefallen; auch war es auf den vielen Fahnen zu sehen, die rund um das riesige Gotteshaus aufgestellt sind. Von diesem Auge gehen leuchtende Strahlen in alle Richtungen. Was ist mit diesem Auge?
Das »Alles-sehende-Auge« der Cao Dai steht für Gott selbst (den »Hohen Altar«), der von den Menschen zu verehren ist. Es steht für einen Gott, der unmittelbar mit der Welt zu tun hat, der nicht fern von ihr ist, sondern der über allem steht und alles sieht. Er ist der Allgegenwärtige, der Allsehende, der Allmächtige, der den Menschen überwacht, prüft und beurteilt.
Das »Auge Gottes« im Cao Dai weckt in mir Kindheitserinnerungen. Da gab es immer wieder Sprüche wie: »Der liebe Gott sieht alles.« Und ein wenig rätselhafter, aber für ein Kind deshalb umso bedrohlicher war der bekannte Reim:
»Ein Auge ist᾽s, das alles sieht,
auch wenn᾽s in dunkler Nacht geschieht.«
In meiner eigenen Familie wurde zum Glück zwar selten so geredet, aber im Gesamtumfeld von Verwandtschaft, Nachbarschaft, Kindergarten und Grundschule (damals Volksschule), zudem auch im kirchlichen Bereich tauchten solche Gedanken häufig auf. Dies entsprach der damals üblichen Kindererziehung, die nicht nur auf Zuwendung, sondern auch auf Disziplinierung setzte und zwischen diesen beiden Polen auch die Drohung mit dem allmächtigen Auge manipulativ einsetzte.
Denn aus der Sicht von Kindern – so habe ich es damals auch empfunden – war dies schon eine Drohung. Wenn das »göttliche Auge« alles sieht, selbst das, was im Verborgenen geschieht, wenn es demnach keinerlei Geheimnis mehr geben kann, wenn somit auch kindliches Fehlverhalten sofort und überall (auch dort, wo Eltern und andere Erzieher nicht anwesend sind) wahrgenommen wird, dann ist dies eine Bedrohung durch den »big brother« im Himmel, durch einen Voyeur-Gott, der kleinlich alles Geschehene bemerkt, sogar das nur Gedachte.
Zu dieser Vorstellung kam eine weitere: Dieser alles sehende Gott im Himmel vergaß nichts. Denn alles wurde von ihm oder von einem seiner Mitstreiter, etwa dem Erzengel Michael, in einem Buch notiert und für ewig festgehalten. Nach dem Tod, so die oft angedeutete, selten explizit ausgesprochene Drohung würde dieses Buch dann die Grundlage für Gottes allmächtige und nicht zu hinterfragende Entscheidung sein, den Täter in den Himmel zu lassen oder ins ewige Feuer der Hölle zu verdammen – eine Entscheidung also über Heil oder Unheil, über Leben oder Tod. Das Buch, das der Nikolaus aus seinem Sack zog und aus dem er damals meist das Fehlverhalten eines Kindes öffentlich bekannt machte, war gleichsam ein Vorgeschmack auf kommende »Herrlichkeit« und kommendes Urteil und Unheil.
Wenn alles so vom alles sehenden Auge wahrgenommen und dann auch präzise in das alles umfassende Buch aufgeschrieben wird, dann gibt es letztlich kein Entrinnen. Zwar wurde ab dem Kommunionkurs im dritten Schuljahr die regelmäßige Beichte als Heilmittel gegen das drohende Urteil im Jenseits propagiert, aber sicher konnte man sich dabei nicht fühlen. Denn – was war, wenn man auch nur eine Sünde beim Beichten vergessen hatte oder nicht aufrichtig bereut oder die auferlegte Buße nicht sorgfältig verrichtet hatte? Dann war doch alles vergebens und die Verdammung und das Feuer der Hölle drohten.
Das »Allsehende Auge« Gottes war unheimlich, es schuf eine große Unsicherheit; es wurde aber von den Erziehern, gleich ob von Eltern, Lehrern und Kindergärtnerinnen oder auch den Geistlichen, häufig als Erziehungsmittel eingesetzt, besser gesagt als Druckmittel. Gott als Disziplinierungsinstanz – welches Gottesbild musste dadurch wachsen. Ein Gott, der kleinlich auf die Menschen sieht, dessen Hauptaufgabe zu sein scheint, die Gedanken und das Handeln der Menschen zu überwachen und anschließend zu beurteilen. Ein Gott, der als Bedrohung wahrgenommen werden musste, dessen Liebe und Erbarmen nicht im Vordergrund stehen, sondern dessen Strenge und Gericht. Ein Gott, der ihm Nichtgefallendes auch im Dunkeln wahrnimmt, der ins Herz und unter die Bettdecke schauen kann, der einen wie ein Schatten begleitet.
In diesen Zusammenhang passte auch die von vielen Predigern häufig ausgesprochene Mahnung und Drohung mit den Qualen im Jenseits, wenn man nicht den Geboten Gottes und zudem den Geboten der Kirche entspricht. Es gab natürlich auch andere Verkündiger, die wie Jesus von Gott als gutem und liebevollen Vater sprachen; aber meist war die Frohbotschaft des Evangeliums Jesu Christi gewandelt in eine Drohbotschaft, die Angst und Schrecken verbreitete und auch verbreiten sollte. Denn natürlich – dies muss man ganz realistisch sehen – ging es bei all dem auch (oder sogar vorrangig?) um die Macht der Kirche und ihrer Amtsträger, die gleichsam als Stellvertreter Gottes auf Erden erschienen und durch ihr Wissen aus der Beichte ja fast ebenso allwissend wie Gott selber waren, klerikal-schwarz gekleidete, manchmal unnahbare Autoritäten, die man ehrfurchtsvoll (oder furchtvoll) grüßte, zu denen man aber nur in Ausnahmefällen ein vertrauensvolles Verhältnis aufbaute.
Das Wissen über das Tun und Lassen eines Menschen und eine Beurteilung darüber in der Beichte war eine wichtige Grundlage kirchlicher Bedeutung in einer damals geschlossen christentümlichen Gesellschaft. Zwar waren in meiner Heimatstadt Solingen zwei Drittel der Einwohner evangelisch, nur ein Drittel katholisch, Konfessionslose oder Zeugen Jehovas gab es fast gar nicht (sie wurden, wo sie vereinzelt auftraten, eher als exotische Gestalten bestaunt als abgelehnt). Muslime waren damals erst recht nicht sichtbar. Die katholischen Gemeinden der Stadt waren relativ geschlossene Gemeinschaften, man schickte seine Kinder natürlich in den katholischen Kindergarten (ich war eine Ausnahme, weil ich in den nahegelegenen evangelischen Kindergarten gehen durfte, ein katholischer war zu weit weg) und dann auch in die katholische Grundschule, wo immer das möglich war. Erst auf den weiterführenden Schulen kam es so zur Begegnung mit Jungen anderer Konfession (die Mädchen hatten ein eigenes Gymnasium, Koedukation gab es nur auf den als »minderwertig« angesehenen Volksschulen). Doch auch in den Gymnasialklassen war zumindest in den Anfangsjahren das Bewusstsein der wenigen katholischen Schüler so, dass sie eine eigene Gruppe innerhalb der Klasse bildeten. Dieses Bewusstsein wurde durch den geistlichen Studienrat, der den Religionsunterricht erteilte, in hohem Maß bestärkt: »Wir Katholiken sind die eigentliche Kirche, die richtigen Christen, und müssen deshalb zusammenhalten. Und katholische Jungen an diesem Gymnasium sind deshalb auch selbstverständlich Mitglieder des nach dem ersten Weltkrieg gegründeten katholischen Jugendbundes »Neudeutschland«.
Diese Gruppe Neudeutschland hatte – nicht weit vom Gymnasium entfernt – einen eigenen Raum in einem städtischen »Haus der Jugend«, doch an den anderen Angeboten dieser säkularen Jugendeinrichtung nahmen wir nicht teil. Wir hatten unser eigenes, von anderen abgeschirmtes Programm – Verbändekatholizismus in reiner Form. Auch zu Christen anderer Konfession hielt man Abstand, sie mussten ja erst zur katholischen Kirche zurückkehren, um von Gott gerettet zu werden. Und so sang man damals bei der Stadtprozession am Fronleichnamstag genau dann, wenn man an der evangelischen Stadtkirche vorbeizog, mit Inbrunst: »Wir sind im wahren Christentum, o Gott, wir danken dir!«
Eine Ausnahme dieser konfessionellen Trennung und Abgrenzung bildete mein Heimatpfarrer, ein überaus gütiger und pastoraler Mensch, dem auch die volksreligiöse Disziplinierung mit dem alles sehenden Auge Gottes zuwider war. Er war – seiner Zeit weit voraus – ökumenisch aufgeschlossen und traf sich mit seinem nahebei wohnenden evangelischen Kollegen häufig zu Gespräch und Kartenspiel. Dieser Pfarrer, Peter Rademacher (1913–1975), Neffe des bedeutenden Bonner Priesters und Fundamentaltheologen Arnold Rademacher (1873–1939, auch Rektor der Bonner Universität) war von einer herzlichen Menschlichkeit. Von manchen seiner Kollegen wurde er nicht ernst genommen, mit den Ellenbogen setzte er sich nicht durch. Auch war die kleine Engelbert-Gemeinde, die er leitete und zu der ich gehörte, ohne Bedeutung im Gefüge der Stadtpfarreien.
Doch ich habe durch ihn einen Zugang zu christlichem Glauben gefunden, der sich ein gutes Stück von dem absetzte, das andere Propagandisten christlichen Glaubens in unserer Stadt verkündeten. In kindlichem Verständnis nämlich musste ja der unsichtbare Gott so sein wie seine sichtbaren Vertreter auf Erden. Waren diese streng, scharf urteilend, alles überwachend wie später mein geistlicher Studienrat am Gymnasium, so musste auch Gott diese Charakterzüge haben. Wenn diese kirchlichen Vertreter nichts großzügig durchgehen ließen, sondern jedes reale oder auch nur angebliche Fehlverhalten sanktionierten, dann war das doch nichts anderes als der deutliche Hinweis darauf, dass der von ihnen verkündete Gott in gleicher Weise handeln muss. Gott also nicht menschenfreundlich, nicht von Großmut und Vergebung bestimmt, sondern streng und strafend – eine Quelle der Angst und Bedrohung.
Ein Gott also, der alle Fäden in der Hand hält und mit dem man sich gut stellen muss – bereits aus Selbstschutz und mit Berechnung, um spätere Strafen zu vermeiden. Im Psalm 7,12 heißt es: »Gott ist ein gerechter Richter, ein Gott, der täglich strafen kann.« Beim Bundesschluss am Sinai (Exodus 34,7) wird Gott als der jenige beschrieben, der »Tausenden Huld bewahrt, den Sünder aber nicht ungestraft lässt«. Und wer kann schon von sich behaupten, dass er nicht in irgendeiner Weise das Gebot Gottes übertritt und sündigt, damit aber der »gerechten« Strafe Gottes unterliegt.
»Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort!« – das war die gängige Redeweise, die man im damaligen Alltag häufig hörte. Und anders als heute, wo sie eher spöttisch anlässlich einer Ungeschicklichkeit ausgesprochen wird, war sie damals durchaus ernst gemeint: Jedes Fehlverhalten wird von Gott gesehen, beurteilt und sanktioniert. Damit nicht zu viel aufläuft – im Sinne also einer göttlichen Effizienz, vielleicht auch Mahnung – richtet Gott über kleinere Vergehen sofort und lässt den Menschen durch Schmerzen, Verlusterfahrung und anderes Leid seine Macht spüren. Gott also als einer, der dem Menschen durchaus Leidvolles zufügen kann – so wie er es als zynisches Spiel beim biblischen Ijob durch seine Wette mit dem Teufel tut. Ein solcher Gott ist keiner, dem man mit Liebe begegnet, sondern einer, vor dem man sich aus Angst vor Strafe duckt und klein macht. Und natürlich macht man sich damit auch klein vor den Vertretern dieses Gottes auf Erden, den Priestern und den höheren Chargen in der Kirche. Um diesen Gott zufrieden zu stellen und damit – was nicht die kleinen, sondern die großen Sünden angeht – einer bedrohlichen ewigen Verdammnis zu entgehen, ist es dann natürlich auch unbedingt und ohne Ausnahme verpflichtend, den Geboten Gottes und der Kirche nachzukommen, das tägliche Gebet zu verrichten, am sonntäglichen Gottesdienst teilzunehmen, möglichst immer »brav« zu sein, was damals hieß, den Erwartungen und Anforderungen der Erwachsenen in der eigenen Familie und darüber hinaus zu entsprechen. Ein Leben als also »Kind Gottes«, nicht des Teufels.
Ein Leben durchaus auch eingebettet in eine klar vorgebene Ordnung, aus der man nicht ausbrechen kann oder zumindest dann nicht, wenn man schwere Sanktionen relevanter Menschen des eigenen Umfelds vermeiden möchte. Hier spielten dann auch Religion und Kirche mit Gesellschaft, Politik, Erziehung und Bildung zusammen. Eine Gesellschaft, allgemein wie kirchlich, die von einer klaren Hierarchie und nicht hinterfragbaren Autoritäten bestimmt war. Oberste Autorität war für Katholiken natürlich der Papst in Rom (nicht der janusköpfige, doppelgesichtige Gott mit Vaterliebe und Gerichtsstrenge und auch nicht der ebenso ferne Christus als Weltenrichter über den Wolken). Papst Pius XII. (1876–1958), mit vergeistigtem Blick ins Jenseits und auf dem würdevollen Thronsessel der Sedia gestatoria in den Petersdom getragen – wer wollte an dieser schon fast göttlichen Gestalt und seiner Autorität zweifeln, den Stellvertreter nicht des Petrus, sondern sogar Christi? In Köln hatten wir zu dieser Zeit mit Joseph Frings (1987–1978, Erzbischof von Köln von 1942–1969) zwar einen durchaus mit Humor und Bauernschläue begabten Oberhirten (über oder unter dem Hirten Jesus?), der aber die kirchliche Autorität in traditionellem Stil hoch hielt und als Kirchenfürst von großer Bedeutung angesehen wurde. Erst später, im Zweiten Vatikanischen Konzil, wuchs er über diese traditionelle Rolle hinaus und wagte es, sich vehement gegen die Römische Kurie zu stellen und auf einen Neuaufbruch der Kirche zu pochen – dazu später mehr.
Klare kirchliche Verhältnisse, eine damals noch ungebrochene Volksfrömmigkeit und dies in Übereinstimmung mit einem Gottesbild, das selbst im Neuen Testament, sogar bei Paulus (!), beschrieben werden kann: »Lasst Raum für den Zorn Gottes, denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr« (Römerbrief 12,19, eine Anspielung auf Deuteronomium 21,35.41, aber auch auf andere Stellen der Hebräischen Bibel). Den Zorn Gottes vermeiden, in allem und jedem nach dem Willen Gottes leben, das war das Glaubensprogramm, das vermittelt wurde – denn »das Auge Gottes sieht alles, überall und jederzeit.«
Dabei ist das Bild des Auge Gottes keineswegs auf das Christentum beschränkt, auch andere Religionen kennen eine solche Deutung der Beziehung von Gott und Mensch. Die Cao Dai sind dabei nur ein erstes Beispiel.
Im alten Ägypten der Pharaonenzeit werden bereits die Augen des Sonnengottes Re genannt, gemeint ist dabei meist die Sonne als leuchtendes Auge dieses Gottes. Doch gibt es auch das sogenannte Horusauge (auch Udjat-Auge), das sich auf den falkenköpfigen Gott des Lichtes, Horus, bezieht. Das rechte Auge des Horus bezieht sich wie bei Re auf die Sonne als Lichtgestirn, sein linkes aber, das mit dem Mond verbunden ist (deshalb auch Mondauge genannt), wird ihm von seinem Rivalen Seth ausgerissen, allerdings danach vom Mond- und Schreibergott Thot wieder eingesetzt. In den alt ägyptischen Mythen jedoch hat das göttliche Auge eine völlig andere Bedeutung als die bislang in diesem Abschnitt genannte: Es ist ein Schutzzeichen, das als Amulett getragen oder am Haus befestigt wird und vor dem dämonischen Blick und Einfluss des Bösen beschützt – in diesem Sinne wurde es z. B. im alten Rom und wird es auch heute noch in Ländern des Orients verwendet. Schadenzauber feindlicher Menschen oder Mächte werden so abgewendet. Zudem allerdings symbolisiert das Horusauge im Blick auf den Gott Horus selbst weite Sicht, Allwissenheit sowie Allherrschaft. In dieser Deutung wird durchaus eine Beziehung zum christlichen Verständnis Gottes als des Allsehenden erkennbar.
Im persischen Zoroastrismus (legendenhafte Gründerpersönlichkeit Zarathustra, 1. Jahrtausend v. Chr.) gibt es schon in den Jahrhunderten vor der Zeitenwende eine nicht genau durch Quellen fassbare Richtung, die sich vom Hauptstrom des Zoroastrismus unterscheidet: Der Zurvanismus setzt über den guten Gott Ahura Mazda und den bösen Ahriman einen obersten Gott – Zurvan. Dieser ist der alles Erkennende, der Gott der alles sieht und der dementsprechend auch mit einem Auge dargestellt wird. Dieses Auge ist von einem Dreieck umgeben – ähnlich bei den viel späteren und vom Zurvanismus nicht abhängigen Cao Dai. Doch weist es nicht, wie es im christlichen Bereich denkbar wäre, auf einen dreifaltigen, dreieinen, dreigesichtigen Gott hinweist, sondern auf die Zeitenfolge Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Entsprechend einem zyklischen Zeitverständnis, das vor allem in Südasien (indischer Subkontinent) beheimatet ist, entspricht diese Dreiheit aber auch der bäuerlichen Kultur von Aussaat, Wachsen und Ernte und damit dem menschlichen Lebensweg in der Folge der Wiedergeburten mit Geburt, Leben, Tod und je neuer Geburt, neuem Leben, neuem Tod.
Die jüdisch-christliche biblische Tradition nutzt das Bild vom Auge Gottes als einen wesentlichen Zug Gottes selbst. So heißt es in Psalm 11,4 (ein Psalm mit dem späterem Titel »Gottes Blick auf den Menschen«): »Der Thron des Herrn ist im Himmel. Seine Augen schauen herab, seine Blicke prüfen die Menschen.« Das etwa um das Jahr 400 v. Chr. entstandene biblische Buch der Sprichwörter (dem weisen König Salomo zu geschrieben und deshalb früher auch »Sprüche Salomos« genannt) wird noch deutlicher: »An jedem Ort sind die Augen des Herrn, sie wachen über Gut und Böse« (Sprichwörter 15,3). Und selbst der um das Jahr 90 (also nach Paulus) entstandene Hebräerbrief formuliert: »Vor ihm (dem Wort Gottes, also Gott selbst) bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden« (Hebräer 4,13).
Das Symbol Auge repräsentiert damit die Allgegenwart Gottes, die aber nicht vorrangig als Heil schenkende Gegenwart verstanden wird, sondern als prüfende und gegebenenfalls auch strafende Anwesenheit Gottes an jedem Ort und zu jeder Zeit. So auch das Buch der Psalmen: »Wende dein strafendes Auge ab von mir, sodass ich heiter blicken kann, bevor ich dahinfahre und nicht mehr da bin« (Psalm 39,14).
Dieser Aspekt der Allgegenwart Gottes im Zusammenhang mit dem Gericht über den Menschen – hier speziell dem durch Christus bewirkten Weltgericht am Ende der Zeiten – klingt auch in der ganz eigenen Bildersprache des letzten Buches der christlichen Bibel an. In der Offenbarung (5,6) wird dabei bildhaft von Christus als dem Lamm gesprochen, das von dem, der auf dem Thron saß (Gott), das Buch entgegennimmt, welches das endzeitliche Geschehen des Gerichtes ankündigt. Dieses endzeitliche Lamm aber hatte »sieben Augen; die Augen sind die sieben Geister Gottes, die über die ganze Erde ausgesandt sind«. Sieben ist hier die heilige Zahl der alles umfassenden Vollkommenheit und die Geister Gottes sind Sinnbilder für die unbegrenzte Gegenwart, aber auch Macht Gottes. Wieder also – im Blick auf das bevorstehende Endgericht – eine bedrohliche Deutung Gottes, eine Gottesvorstellung, die das Christentum bis heute prägt.
Denn die Mitglieder der Schönstattbewegung – um nur ein Beispiel des 20. Jahrhunderts zu nennen – tragen oft ein Symbol an der Kleidung oder bringen dieses Symbol in Kapellen, Kirchen sowie in ihren Häusern als kleinen Hausaltar an: das »Vaterauge«. Diese Bewegung geht auf den Pallotinerpater Josef Kentenich (1885–1968) und die Zeit des Ersten Weltkrieges zurück und versteht sich als spirituelle Erneuerungsbewegung. Wegen ihrer eigenständigen Marienverehrung wurde die Bewegung von der Amtskirche kritisiert, Kentenich ins Exil nach Amerika geschickt, später aber rehabilitiert. Doch in unserem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass auch hier in einer Bewegung des letzten Jahrhunderts das Symbol des Auges Gottes auftaucht und das religiöse Leben von Menschen prägt.
Der Islam verweigert jede anthropomorphe (menschenähnliche) Beschreibung Gottes, kann also auch nicht auf ein »Auge Gottes« hinweisen. Dennoch ist das mit diesem Symbol Gemeinte in aller Klarheit im Koran enthalten und gehört zu den wesentlichen Zügen des muslimischen Gottesbildes. Immer wieder heißt es: »Und Gott sieht sehr wohl, was sie tun/ihr tut« (so etwa in Sure 2,96; 2,110; 2,234). Eine andere häufig genutzte Formulierung ist »Gott ist der unübertrefflich Hörende, der Sehende« (etwa Sure 4,58 in der Übersetzung von Karimi; »Gott hört und sieht alles« in der Übersetzung von Khoury). Bei diesem Sehen geht es vor allem um das Fehlverhalten des Menschen: »Der Herr genügt als Einer, der die Sünden seiner Diener sehr wohl kennt, sieht« (Sure 17,17). Gott lässt nichts unbeobachtet von dem, was Menschen tun (vgl. dazu Sure 2,149): »Er weiß, was vor ihnen [den Menschen] und was hinter ihnen. Und zu Gott werden zurückgebracht die Angelegenheiten.« (Sure 22,76)
Die Begründung dieser Fähigkeit Gottes, alles zu kennen und zu sehen, liegt für den Koran (Sure 42,11–12) in seiner Schöpfertätigkeit, die ihm Macht über alles Geschaffene gibt: »Der Schöpfer der Himmel und der Erde. Geschaffen hat Er euch ... Ihm ist nichts gleich, Und Er ist der unübertrefflich Hörende, der Sehende. Er hat die Schlüssel der Himmel und der Erde ... Wahrlich, Er ist alle Dinge wissend.«
Wie der Anfang, so das Ende: Beim Gericht am Ende der Zeiten wird jedem Menschen sein persönliches Buch übergeben, in dem aufgezeichnet ist, was er an Taten vollbracht hat. Diejenigen, die sich durch gute Werke auszeichnen und den rechten Glauben (Islam als Hingebung an Gott) besitzen, empfangen das Buch in die rechte Hand und dürfen zufrieden im Garten der Seligkeit leben. Diejenigen, die schlechte Werke vollbrachten und Ungläubige sind, erhalten ihr Buch in die linke Hand und werden dem Feuer der Hölle übergeben (vgl. Sure 69,19 ff.).
All diese Aussagen des Koran ähneln stark der traditionell christlichen Gedankenwelt und Bildersprache – bis hin zur Drohung mit den Feuern der Hölle. Doch ist dieser Aspekt muslimischer Gottesvorstellung keineswegs der vorrangige, ich werde im Kapitel über den Islam darauf zurückkommen.
Kehren wir zum Auge Gottes zurück, das nicht nur im unmittelbaren Bereich der Weltreligionen, sondern auch an ihrem Rand beziehungsweise im säkularen Bereich seinen Widerhall gefunden hat. Die Freimaurer übernahmen das Symbol »Auge der Vorsehung« aus dem Christentum, doch hat es dort nichts mit dem Allmächtigen Baumeister des Kosmos zu tun, sondern bezeichnet die Wahrheit, die alles enthüllt. Im Freimaurersymbol ist das alles sehende Auge in der Regel von einem Dreieck umgeben und dieses bedeutet die Geometrie stellvertretend für alle Wissenschaften, die der Wahrheit nachforschen.
Aus diesem Kontext der Freimaurer wurde das Auge mit Dreieck zum Teil des Wappens der USA und ist dort über eine Pyramide (= Abbild gesellschaftlicher Hierarchie) angeordnet. Diese Darstellung wird bis heute auf der Rückseite einer jeden Ein-Dollar-Note wiedergegeben.
Im säkularen Bereich findet sich heute die Vorstellung eines alle Tätigkeiten von Menschen überwachenden Auges als Zeichen für die Überwachung durch die Geheimdienste (z. B. NSA) oder auch durch die Internetfirmen, die über Ortungsdienste und vielerlei Rückmeldungen der internetfähigen Geräte (Smartphones, Tablets und andere Computer) nicht nur den Aufenthaltsort des betreffenden Nutzers, sondern auch viele seiner Tätigkeiten, Vorlieben, Kaufwünsche und anderes mehr erfassen. Das »Auge, das alles sieht« ist heute ganz konkret mitten unter uns, aber es sind menschliche Überwachungsaugen, die die Freiheit des Menschen zunehmend eingrenzen. Dagegen ist das Auge im Vorspann der Krimireihe »Tatort« eine harmlose Chiffre für die Aufklärung eines Verbrechens.
In der asiatischen Religiosität findet sich das Symbol des Auges in unterschiedlichen Kontexten. Im Hinduismus ist das dritte Auge, das sich auf der Stirn befindet, ein Symbol für die Erkenntnis der nicht mit den fünf Sinnen wahrnehmbaren Wahrheit. Dieses im Sanskrit dyoya-drsti genannte Dritte Auge ist somit eine Wahrnehmungsfähigkeit, die tiefer schaut, die vorausschaut in die Zukunft, die sogar das Göttliche in allen Lebewesen erkennen kann.
Bei hinduistischen Tempelritualen wird dem Gläubigen vom Brahmanenpriester ein Punkt mit Farbpulver auf diese Stelle getupft, ein tilaka (sanskrit = Zeichen, Markierung; zu unterscheiden vom bindi, einem roten Farbpunkt auf der Stirn einer verheirateten Frau, die ihren Stand als Verheiratete anzeigt). Ein Tilaka (umgangssprachlich auch Tika) ist ein Segenszeichen, das zum einen den Schutz der jeweiligen Gottheit des betreffenden Tempels ausdrückt, zum anderen das Bekenntnis des Gläubigen zu diesem Gott auch außerhalb des Tempels bezeichnet. Es ist zudem ein Hinweis auf die Suche des Menschen nach einer überweltlichen Wahrheit, nach dem Alleinen. In tantrischen Richtungen des Hinduismus steht dieses Zeichen auf der Stirn für Kraft, markiert das an dieser Stelle vermutete Energiezentrum, das »dritte Auge«, und schützt die Suche des Menschen nach einer nicht sichtbaren, aber letztlich alles entscheidenden Wahrheit.
Soweit zum hinduistischen Dritten Auge bei Menschen. Trägt jedoch der große und heute wohl neben Vishnu wichtigste Gott Shiva ein drittes Auge auf der Stirn, so hat dies eine andere Bedeutung: Sein Auge ist geschlossen und das ist gut so, denn öffnet er sein drittes Auge, so fließt aus ihm eine alles vernichtende Kraft: Dies musste der Liebesgott Kamdev (sanskrit kama devi = Gott der Liebe) erfahren, als er dem in tiefe Meditation versunkenen Shiva dessen Frau Parvati zuführen wollte und ihn deshalb mit einem Liebespfeil (ähnlich dem Pfeil des römischen Gottes Amor) aufweckte. Shiva öffneet sein Drittes Auge und vernichtete den ihn störenden Kamdev. Hier bezeichnet das Auge des Gottes Unheil und Vernichtung.
Anders dagegen im Buddhismus: Hier steht das zusätzliche Stirnauge ausschließlich für positive Eigenschaften eines Buddhas, Bodhisattvas oder Gottes. Bereits der historische Buddha (Siddhartha Gautama) trägt das Himmlische Auge (sanskrit divyacaksus), das ihm ermöglicht, rückblickend die eigenen Wiedergeburten und ebenso die Wiedergeburten aller Lebewesen und damit das alle Wiedergeburten prägende Prinzip des Karma zu erkennen: Jeder wird aufgrund seiner guten oder schlechten Taten zu einer neuen – guten oder schlechten – Wiedergeburt gelangen. Dieses Himmlische Auge des Buddha gewinnt Siddhartha während seiner Erleuchtung in Bodh Gaya, es ist der Ausgangspunkt der Erkenntnis der vier edlen Wahrheiten und damit der Beginn der buddhistischen Lehre. Ein Auge also mit Folgen – die buddhistische Lehre beruht auf dieser übermenschlichen Erkenntnisfähigkeit des Buddha.
Von da aus können auch die verschiedenen Buddhas, vor allem die fünf transzendenten Buddhas im Mahayana-Buddhismus ein Drittes Auge auf der Stirn tragen. Noch weiter verbreitet ist dieses Stirnauge allerdings im tibetischen Vajrayana-Buddhismus, wo nicht nur Buddhas, sondern männliche und weibliche Bodhisattvas (Mitleidswesen des Mahayana und Vajrayana), dazu auch vielfach Götter und sogar tibetisch-buddhistische Heilige wie Padmasambhava dieses Erkenntnis-Auge auf der Stirn tragen können.
In Nepal liegen nur wenige Kilometer von der Hauptstadt Kathmandu entfernt zwei bedeutende Stupas, die von Bodhnath und Svayambunath. Über einer quadratischen Terrasse erhebt sich die Halbkugel des Stupa, der von dem quadratischen Aufbau (Harmika) mit Augenpaaren in die vier Himmelrichtungen, einer 13-stufigen vergoldeten Pyramide (13 Stufen eines Meditationsweges zur Erleuchtung symbolisierend) und einem Ehrenschirm mit hoch aufragender Spitze bekrönt wird. Durch die »Augen«, die im Tibetischen Buddhismus häufiger vorkommen, gleichen beide Stupas einem sitzenden, meditierenden Buddha, dessen Botschaft in alle Himmelsrichtungen ausstrahlt. Vergleichbare Darstellungen gibt es auch auf tibetischen Thangkas (auf Stoff gemalten Rollbildern).
Der (transzendente) Buddha ist hier also derjenige, der alles mit seinem Erleuchtungsauge erkennt – diese Bedeutung wird beim Bodhisattva Avalokiteshvara (sanskrit = der Herr, der mitleidsvoll herabschaut) verstärkt. Er ist eine Erscheinungsweise des Buddhas des unermesslichen Lichtes Amitabha, in dessen Paradies des Westens die an ihn Glaubenden und ihn um Hilfe Anrufenden gerettet werden. Avalokiteshvara ist deshalb der wichtigste der Bodhisattvas. Er wird verschieden dargestellt, unter anderem auch mit elf Köpfen und tausend Armen, damit er allen Lebewesen im Kosmos helfen kann. Die Handflächen dieser tausend Arme tragen alle ein magisches Auge, damit der Bodhisattva keine Not übersieht – hier finden sich also Augen des Mitleids und der Hilfe und keineswegs eines strengen Richters (vgl. das Kapitel »Der Gott der Liebe« ab Seite 127).
Gleiches gilt auch von seiner weiblichen Erscheinungsweise, der Sitatara (Weiße Tara). Sie wird mit weißer Körperfarbe (Farbe der Reinheit) im Lotossitz gezeigt, ihre beiden Hände sind in der Haltung der Schutzgewährung und der Wunscherfüllung dargestellt. Sie gilt als die Siebenäugige, weil sie außer den natürlichen Augen sowohl das Dritte Auge auf der Stirn, als auch je ein weiteres Auge in ihren Handflächen und auf den Fußsohlen trägt – auch bei ihr ein Symbol für ihr alles umfassendes Sehen jeder Not und ihre Bereitschaft, jedem zu helfen, der ihr vertraut. Die Augen sind hier also eine liebevolle Verbindung zwischen Buddha, Bodhisattva, Gottheit und dem Menschen beziehungsweise jedem Lebewesen.
Fassen wir zusammen, was sich aus der Kindheitserinnerung an das Auge Gottes, das alles sieht, ergeben hat:
Zum Glück haben solche eher bedrückenden christlichen Gottesvorstellungen während meiner Kindheit keine allzu große Rolle gespielt – wohl auch deshalb, weil ich neben diesem fragwürdigen Gottesbild auch eine Verkündigung eines liebenden Gottes durch meinen Heimatpfarrer erfahren habe. Zudem übernimmt man als Kind weithin die Vorstellungen der Erwachsenen im Umfeld, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Fragen in Bezug auf Gott kamen mir erst später.
Mönche bauen Tempel, Vat Choum Khong, Luang Prabang, Laos