Peter Finke
Citizen Science
Das unterschätzte Wissen
der Laien
Mit einem Nachwort
von Ervin Laszlo
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Deutsche Erstausgabe
© oekom verlag München 2014
Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,
Waltherstraße 29, 80337 München
Gestaltung und Satz: Reihs Satzstudio, Lohmar
Illustrationen: Bernd Wiedemann, Krailing
Lektorat: Susanne Darabas
eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-86581-588-0
Erinnerung und Protest zugleich:
Paul Feyerabend (1924–1994)
Inhalt
Vorwort
Teil I:
Die Expedition, oder: Laien sind nicht dumm
Der Status quo: Eine Ausgangslage mit manchen Lücken
Alte und neue Wurzeln von Citizen Science
Zwei Philosophen als Wegbereiter
Kant, Vordenker der Aufklärung
Feyerabend, Vorkämpfer einer freien Gesellschaft
Citizen Science: Der Begriff und seine Pole
Das Korsett der Profis: Institutionalisierung und Ökonomisierung
Teil II:
Der Apfelbaum, oder: Lebensnähe als Prinzip
Veränderte Perspektiven: Auch Wissen geht vom Volk aus
Nähe: Der Bodenkontakt der Wissenschaft
Grenzen: Was wir von den Fröschen lernen können
Zusammenhänge: Wider die Fraktionierung der Welt
Kreativität: Solidität allein genügt nicht
Die lebensnahe Wissenschaft ist nicht überholt
Strukturen: Die elementaren Schritte zum Wissen
Einige besondere Leistungen und Funktionen
Die Stärken von Citizen Science
Die Schwächen von Citizen Science
Eine Abwägung von Chancen und Risiken
Teil III:
Das Gebäude, oder: Das Wissen der freien Bürger
Komplexe Wissensfelder und Motive
Vom Hobby zur Wissenschaft: Die privaten Motive
Entdecken und Erhalten
Sammeln und Spielen
Bürgerschaftliches Engagement: Das zentrale Motiv
Worum es geht: Wissensfelder in Natur und Kultur
Die Ambivalenz der Freiheit von Citizen Science
Neue Medien: Information ist noch kein Wissen
Sprachprobleme: Citizen Science kommuniziert anders
Akteure: Wutbürger sind Wissensbürger
Schnittstellen: Wissenschaft im Dialog
Förderung: Zwei unterschiedliche Strategien
Geld: Warum das Ehrenamt nichts mit Kostenlosigkeit zu tun hat
Teil IV:
Die Pyramide, oder: Der schwierige Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft
Wissenschaftswandel: Es geht um Wahrheit, nicht um Macht
Politikwandel: Das demokratische Bildungsgebot ist nicht erfüllt
Kulturwandel: Wir erreichen die notwendigen Veränderungen nur mit Citizen Science
Zusammenfassung
Nachwort von Ervin Laszlo: Citizen Science – Wissenschaft für die Bürger einer Welt im Wandel
Anmerkungen
Literatur
Hinweise auf weiterführende Informationen
Maßnahmen zur Förderung von Citizen Science
Vorwort
Dieses Buch plädiert für eine Abrüstung: die Abrüstung unseres zu stark auf die professionelle Wissenschaft verengten, überhöhten Wissenschaftsbildes.
Dieses Buch schließt eine Lücke, eine Lücke im gewöhnlichen Wissenschaftsverständnis. Sie klafft zwischen den Profis und den Laien, dort, wo Menschen als Wissenschaftler tätig sind, ohne Wissenschaftler zu sein. Aber es ist auch ein Beitrag zur Veränderung unseres Lebens hin zu einer zukunftsfähigeren Welt. Das oft missachtete Wissen der Bürger spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Wie kann dies zusammengehen?
Hier wird etwas thematisiert, wofür es im angelsächsischen Raum schon einen populären Begriff gibt, anderswo noch kaum: Citizen Science. Ohne die Grenzen dieses Konzepts zu übergehen, die unübersehbar sind, lässt es doch angesichts seiner Chancen eine Vision aufscheinen: die Vision der teilweisen Befreiung der Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm und ihrer Rückkehr in die Mitte der Gesellschaft. Dort wird beides durch freie Wissensbürger zusammengebunden. Sicher: Wirklichkeit und Vision liegen ein Stück weit auseinander. Aber unerreichbar ist ihr Zusammentreffen nicht. Es ist allerdings eine Begegnung, der Brisanz innewohnt: An ihr muss gearbeitet werden.
Die Chancen werden auch von Risiken begleitet. Das größte Risiko besteht darin, den neuen Begriff unter Wert zu handeln. Es gibt reichlich Literatur über Wissenschaft, aber nur wenig über Citizen Science. Und dies Wenige bleibt oft oberflächlich. Citizen Science endet in solchen Darstellungen meist irgendwo zwischen Mitmachportalen und Freizeitgestaltung. Begeisterung ist oft spürbar, aber eine genauere Reflexion auf den Sinn des Ganzen fehlt. Dabei geht es um ein ganz großes, aktuelles Thema: die Wissenschaftsgrenze für Nichtprofis auch in der Forschung durchlässiger zu machen.
Mit diesem Programm ist die Citizen Science-Bewegung eine der stärksten, zugleich traditionsreichsten und modernsten Ausdrucksformen bürgerschaftlichen Engagements in der Zivilgesellschaft. Sie engagiert sich für einen breiten Zugang zum Wissen, wirbt für die aktive Beteiligung vieler Menschen an seiner Gewinnung, stärkt die Position der Laien gegenüber den Experten und verändert dadurch die Gesellschaft. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der notwendigen Vermeidung der Fallen unserer riskant gewordenen Lebensweisen, der Zurückdrängung unserer Abhängigkeit von etablierten Institutionen und Gewohnheiten, der Befreiung von den vielen neuen Mythen (»Geld, Wachstum, Fortschritt«) und der nötigen Orientierung beim Aufbruch in eine demokratische Wissensgesellschaft. Sie sucht mit diesen Tugenden nicht die Konfrontation mit der normalen akademischen Wissenschaft, auch wenn ihre andere Verfasstheit, ohne Stellen, Institute und Machtzentren, kritische Impulse freisetzt, die sich nicht zuletzt an jene Adresse richten. Citizen Science könnte, so bescheiden sie auftritt, Professional Science verändern helfen. Das Einfache und das Anspruchsvolle schließen einander nicht aus.
Meine Methode ist also anders als üblich. Gemeinhin redet man nur von Wissenschaft und Nichtwissenschaft; ich weise aber darauf hin, dass nicht alle Wissenschaft so aussehen und agieren muss wie die professionelle in ihren Institutionen. Nur wenn man zu dieser Differenzierung bereit ist, kann man die Charakteristika von Citizen Science wirklich erfassen. Auch muss man den Blick deutlich über die Naturwissenschaften hinaus erweitern; es geht letztlich um einen kulturellen Wandel.
Zwei Ergänzungen des fortlaufenden Textes sollen diesen nicht nur auflockern, sondern das Buchthema direkter erfahrbar machen. In Kästen lasse ich anonyme Sprecher aus verschiedenen Berufen typische Citizen Science-Situationen kommentieren. Dieses Material stammt aus mehreren Befragungen, die ich in verschiedenen Lehrforschungsprojekten zwischen 1996 und 2005 gemeinsam mit Studierenden in Bielefeld und Witten-Herdecke durchgeführt habe. Die Kapitel leite ich jeweils durch einen kurzen kursiv gedruckten Abschnitt ein, der einzelnen Citizen Scientists gewidmet ist. Dabei verkörpern neben einigen herausragenden Persönlichkeiten viele nur regional bekannte oder unbekannte Personen dasjenige, was ich das »Basislager der Wissenschaft« nenne. Ich möchte diesen Menschen hier stellvertretend für viele andere die Ehre der Anerkennung ihrer Leistung erweisen, die ihnen von der Gesellschaft meistens vorenthalten wird. Schließlich werden noch einzelne kürzere Abschnitte durch einen Balken hervorgehoben.
Metaphern können helfen, eine unbekannte Sache zu verstehen. Vier von Bernd Wiedemann sehr sorgfältig gezeichnete Bilder sollen auf die verschiedenen Aspekte des Themas aufmerksam machen: die Expedition, der Apfelbaum, das Haus und die Pyramide. Sie werden zu Beginn der jeweiligen Buchteile erläutert.
Für Anregungen, Ermutigung und Kritik danke ich vielen Freunden und Kollegen. Ich nenne stellvertretend nur wenige, unter ihnen an erster Stelle einen, der seit zwei Jahrzehnten nicht mehr unter uns ist: Paul Feyerabend. Sein Buch »Erkenntnis für freie Menschen« verschonte nur eine Gruppe der Gesellschaft von beißender Kritik: die Laien. Hieran möchte ich erinnern. Feyerabend war ein höchst ideenreicher Zyniker und Verfechter des demokratischen Prinzips, dass Wissen auch vom Volke ausgeht. Damit gebührt ihm ein Platz in der Geschichte von Citizen Science. Doch meine Erinnerung ist zugleich ein Protest, denn er hat sich leider durch seine maßlose Wissenschaftskritik selbst die Wirkung genommen. Für einzelne konkrete Hinweise danke ich vor allem Haji Badaruddin (Kuching), Sarah Darwin (Berlin/Landermere), Herve Gonin (Paris), Stefan Menzel (Schierke), Christian Preiswerk (Bern), Joachim Radkau (Bielefeld), Hermann-Josef Roth (Bonn), Gerhard Scherhorn (Mannheim), Ingo Schindler (Berlin), Jan Wirrer (Spenge) und Zahar Zakaria (Kuala Lumpur).
Christoph Hirsch und seine Kolleginnen und Kollegen vom oekom verlag waren hilfreiche Begleiter, von denen ich viel über den Unterschied von Bücherschreiben und Büchermachen gelernt habe. Olivier Perrin danke ich dafür, dass er uns im Sommer 2013 seine Pariser Wohnung auf dem Montmartre zur Verfügung stellte, damit ich die wesentlichen Teile des Manuskripts dort fertigstellen konnte.
Dass Ervin Laszlo für mein Buch ein Nachwort geschrieben hat, freut mich besonders. Während ich die Wissenschaft von unten sehe, sieht er sie eher von oben. Er hat sie als eine der kulturellen Kräfte bezeichnet, ohne die wir aus den Sackgassen der Gegenwart nicht herausfinden werden. In den Gedanken, die er meinem Buch mit auf den Weg gibt, bestätigt er, dass auch Citizen Science dazu gehört, ja sogar eine sehr wichtige Rolle hierbei spielen muss. Er gibt damit dem Wissen der Laien die Würde zurück, die die bisherige Nichtbeachtung durch Forscher und Politiker ihm genommen hat.
Bielefeld und Paris, im August 2013
Peter Finke
Wissenschaft ist wie eine große, aufwendige Expedition, eine Art Himalayaexpedition in das Land des Wissens. Viele sind daran beteiligt. Es fällt aber auf, dass das Interesse der Öffentlichkeit und der Medien eigentlich nur den professionellen Gipfelstürmern gilt. Nur sie werden als Bergsteiger gefeiert beziehungsweise als Wissenschaftler bezeichnet. Dabei verdanken sie ihren Erfolg maßgeblich auch all jenen, die die nötige Grundausrüstung tragen, selber jedoch nur bis zum Basislager mitkommen. Man sollte nicht vergessen, dass auch sie gute bis sehr gute Bergsteiger sind, Menschen, ohne die die Expedition kaum Erfolg haben könnte. Auch ein Berufswissenschaftler kann lernen, dass es Laienwissenschaftler gibt, die sich in der Hingabe und der Lust am Wissenwollen und in den Basisfähigkeiten von ihm nicht unterscheiden.
Citizen Science ist eine Art Basislager der Wissenschaft. Die Selbstbeschränkung auf grundlegende und einfache, bisweilen auch komplexere, aber zumeist lokal oder regional geerdete Forschung auf vielen lebenspraktisch relevanten Gebieten ist ein durchgängiges und oft als Qualitätsmangel missgedeutetes Merkmal von Citizen Science. Grundlegend heißt jedoch nicht schlecht. Die Beschränkung auf die Basis ist kein Zeichen minderer Qualität, sondern ein Beleg für Einsicht, Lebensnähe und Praxisbezug; also eher ein Qualitätsmerkmal. Es reicht völlig aus, um Wissenschaft zu kennzeichnen. Die vielen Spezialinstrumente, die Profis darüber hinaus noch benötigen, lenken hiervon eher ab.
Unserem Wissenschaftsverständnis tut eine Abrüstung gut.