Inhalt

  1. Cover
  2. Weitere Titel der Autorin
  3. Über die Autorin
  4. Über die Illustratorin
  5. Titel
  6. Impressum
  7. Widmung
  8.   1. Kapitel: Erntezeit in Hügelhausen
  9.   2. Kapitel: Ein Auftrag für die Geisterfreundinnen
  10.   3. Kapitel: Ein Gegenfluch muss her
  11.   4. Kapitel: Heimatkunde
  12.   5. Kapitel: Der Legende auf der Spur
  13.   6. Kapitel: Rolle, rolle, große Welle!
  14.   7. Kapitel: Jagd übers Maisfeld
  15.   8. Kapitel: Geistersterne und Sternschnuppenwünsche
  16.   9. Kapitel: Halluzinationen
  17. 10. Kapitel: Gewaltfreier Widerstand
  18. 11. Kapitel: Flüche für Anfänger
  19. 12. Kapitel: Familientreffen an der Dorfeiche
  20. 13. Kapitel: Gemeinsam sind wir stärker als alleine
  21. 14. Kapitel: Ein griesgrämiger Geistergreis
  22. 15. Kapitel: Aufstand an der Mühle
  23. 16. Kapitel: Märchenrunde
  24. Obst- und Gemüsekunde für Geisterfreunde
  25. Deine eigene Kastanien-Irmelina!
  26. Danksagung

Weitere Titel der Autorin

Irmelina Geisterkind – Das Geheimnis der Dorfeiche

Über die Autorin

Lydia Ruwe ist in den Kindermedien zu Hause: Nach Stationen bei Festivals, Medienprojekten und als Kinderbuchlektorin erhielt sie 2016 ein Autorinnenstipendium der Akademie für Kindermedien. Sie entwickelt und kuratiert Inhalte für Kinder und Jugendliche und schreibt u.a. für den KiKA. Am allerliebsten denkt sie sich in ihrem Berliner Schrebergarten neue Abenteuer für Irmelina Geisterkind aus.

Über die Illustratorin

Julia Bierkandt studierte Modedesign in Sigmaringen und arbeitete viele Jahre als Designerin für Kinderbekleidung. Mittlerweile illustriert sie für verschiedene Verlage Bücher für Kinder – die ihrer Meinung nach schönste Zielgruppe der Welt. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt sie am Fuße der Schwäbischen Alb.

Lydia Ruwe

Mit Bildern von Julia Bierkandt

 

Für meine Schwester

Erntezeit in Hügelhausen

Mmmhhh … lecker! Juna saß auf einem Baum im Nachbargarten und biss gerade in eine goldgelbe Birne. Die Sonne schickte heute noch mal warme Strahlen vom Himmel, sodass es sich fast wieder wie im Sommer anfühlte. Nur die kunterbunten Blätter der Bäume und die Jacke, die Juna trug, verrieten, dass es mittlerweile Herbst geworden war.

Herbstzeit bedeutete auch Erntezeit, und genau deshalb half Juna ihrem Nachbarn Herrn Roggi gerade. Gemeinsam hatten sie an diesem Nachmittag schon zwei große Körbe voller Birnen gepflückt. Sie oben auf dem Baum, er unten vom Boden aus. Einen Teil des Obsts würde Herr Roggi im Keller lagern und den Rest zu Kompott verkochen. Gerade verschwand er in seinem Gartenschuppen, um einen weiteren leeren Korb zu holen.

Obwohl Juna alleine auf dem Birnbaum thronte, hatte sie auf einmal so ein seltsames Gefühl … So, als wäre sie gar nicht alleine. Als würde sie irgendjemand beobachten.

Sie biss noch mal von ihrer Birne ab – einer Butterbirne, wie Herr Roggi gesagt hatte –, da knackte es plötzlich laut im Geäst über ihr. Ein kleiner Ast war abgebrochen und plumpste jetzt mit ein paar reifen Früchten direkt an Juna vorbei zu Boden.

»Autschi!«

Eine tiefe Stimme scholl zu Juna hinunter, und sie verschluckte sich vor Schreck fast an ihrem Birnenstück.

Autschi? Juna hatte eindeutig eine Stimme gehört. Neugierig kletterte sie ein Stück höher und beobachtete die Äste mit den bunten Blättern genauer: Ein Rascheln hier, ein Trippeln dort – huschte da etwa jemand heimlich umher und beobachtete Juna?

»Irmi?«, flüsterte sie. »Bist du das?«

Ihre kleine Freundin, das Naturgeistermädchen Irmelina Geisterkind, erlaubte sich gerne solcherlei Späße, schlich sich unentdeckt an Juna heran, verstellte ihre Stimme oder versuchte, sie zu erschrecken.

Doch dieses Mal bekam Juna keine Antwort. Vorsichtig kletterte sie noch ein Stückchen höher. Die Äste wurden hier oben immer dünner, aber Juna hielt sich gut fest und fand mit ihren Füßen einen sicheren Stand in einer Astgabelung. Sie ließ ihren Blick schweifen und suchte die Baumkrone nach der marmeladenglasgroßen Irmelina ab.

Naturgeister waren nicht etwa Gespenster, sondern sehr kleine Wesen mit festen Körpern. Sie waren die guten Seelen der Natur, und jeder von ihnen hatte ein eigenes Geisterreich, einen Ort in der Natur, den er beschützte.

Seit ein paar Monaten war Juna offiziell die Geisterfreundin von Irmelina: eine Vermittlerin zwischen Geister- und Menschenwelt. So war es auch in dem streng geheimen Paragraphen 127 im Naturgesetz festgehalten:

Als Vermittler zwischen den Welten
sind Menschenkinder unsre Gefährten.
Zu Geisterfreunden werden sie,
so eine Freundschaft endet nie.
Aufträge und Abenteuer,
Aufregendes und Ungeheuer –
im treuen Dienst der Geisterwelt

werden sie für uns zum Held.

Natürlich musste Juna ihre neue, wichtige Aufgabe genau wie das Wissen über die Geisterwelt streng geheim halten und durfte keiner Menschenseele davon erzählen. Umso mehr redete sie mit Irmelina darüber.

Doch in dem Birnbaum war keine Spur von ihrer Geisterfreundin zu entdecken. Aber was waren das dann eben für Geräusche gewesen?

»JUNA, riss sie die entsetzte Stimme von Herrn Roggi aus ihren Gedanken. »Komm da runter!«

Erst jetzt warf Juna das erste Mal einen Blick nach unten – und sofort wurde ihr ganz anders. Sie hatte ja gar nicht gemerkt, wie hoch oben im Birnbaum sie war! Herr Roggi sah von hier ganz klein aus. Mit bleichem Gesicht guckte er zu ihr hinauf, zwei leere Körbe in den Händen.

»Das ist zu hoch, Juna!«, mahnte er. »Deine Eltern machen mir die Hölle heiß, wenn du mir vom Birnbaum fällst …«

Unter Anleitung des besorgten Herrn Roggi – »Weiter links ist ein Ast, links, links … Genau! Und den anderen Fuß tiefer. Nein, noch tiefer.« – kletterte Juna wieder hinab. Sicher gelangte sie zu den dickeren Ästen weiter unten.

»Bei den Birnen ganz oben hilft mir dein Vater mit der Leiter«, sagte Herr Roggi und reichte Juna einen der leeren Körbe. Mit einem Haken hängte sie ihn an einen Zweig und machte sich an die Arbeit.

Schnell schweiften ihre Gedanken zurück zu der seltsamen Stimme, die sie eben gehört hatte. Mit Herrn Roggi in der Nähe wagte Juna nicht, weiter nachzuforschen. Aber es ließ ihr keine Ruhe. Ob es doch Irmelina gewesen war?

Seit Juna Irmelinas Geisterfreundin war, warteten die beiden Mädchen ungeduldig darauf, dass irgendetwas Aufregendes geschah. Irgendetwas Ungewöhnliches, Spannendes, nicht Alltägliches. Dass es irgendeinen geistermäßigen Auftrag für sie gab.

Doch bislang waren bloß einmal Irmis Tante und Onkel vorbeigekommen, um sich »so einen Menschen« aus der Nähe anzuschauen. Ganz genau hatten sie Juna unter die Lupe genommen und waren auf ihr herumgeklettert. »Schau mal, Hunzelchen, was für ein riiiiesiges Ohr!«, hatte Irmis Tante staunend gerufen – und Juna in ebendieses gebrüllt.

Die Neuigkeit von der neuen Verbündeten in Hügelhausen hatte sich anscheinend wie ein Lauffeuer in der Geisterwelt verbreitet. Kein Wunder also, dass Irmis Verwandtschaft bei nächster Gelegenheit vorbeigekommen war. Geisterfreundschaften waren selten, nur wenige Naturgeister wussten überhaupt davon – umso besonderer war die zwischen Irmelina und Juna.

Bei der Erinnerung an Irmis tollpatschige Tante musste Juna kichern. Bald würde sie Irmelinas Familie zum traditionellen Herbstfest der Naturgeister wiedersehen. Genaueres wusste Juna darüber noch nicht, aber sie war schon total gespannt darauf.

Bis dahin hatten Irmi und sie allerdings noch jede Menge zu tun! Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass es in Sachen Geisterfreundschaft zurzeit etwas ruhig um die beiden war, dachte Juna, während sie eine Birne nach der anderen in den Korb legte. Juna half nämlich nicht nur Herrn Roggi bei der Ernte, sondern musste auch für die Schule lernen. So kurz vor den Herbstferien wollten alle Lehrer noch schnell ihre Klassenarbeiten schreiben lassen. Und Irmi hatte nun jeden Sonntag Familientreffen und nahm endlich die Aufgaben in ihrem Geisterreich, der Dorfeiche von Hügelhausen, ernster. Mit manchen davon hatte sie ganz schön zu kämpfen, vor allem damit, sich bei den tierischen Bewohnern Respekt zu verschaffen.

Während Juna mit Herrn Roggi Birnen pflückte, hatte Irmelina auf ihrer Eiche mal wieder mächtig Streit mit einem Eichhörnchen. Streiten war eigentlich das falsche Wort, denn miteinander sprechen konnten Naturgeister und Tiere nicht. Aber fauchen und grummeln, das funktionierte. Mit in die Seiten gestemmten Armen hatte sich Irmi gerade vor dem Eichhörnchen aufgebaut. Das freche Ding saß gemütlich eingekuschelt in ihrem liebsten Astloch – so eine Unverschämtheit! Klar wie Krötenschleim, dass Irmelina sich das nicht gefallen ließ.

»Raus da! Hau ab!«, gab sie Kommandos von sich. »Das ist ein Befehl!«

Doch anstatt ihr zu gehorchen, brach das Eichhörnchen in keckerndes Gelächter aus und dachte gar nicht daran, sich zu bewegen.

Irmis Augen wurden immer größer, genau wie ihre Wut: Das war ihr Geisterreich! Sie, Irmelina Geisterkind, war die Chefin der Dorfeiche. Hatte das Eichhörnchen das nicht kapiert?

Mit dem Po auf Irmis Moos-Kopfkissen sitzend keckerte es vor sich hin. Das konnte das Geistermädchen auf gar keinen Fall auf sich sitzen lassen. Ruckartig machte sie einen Schritt nach vorne und fauchte so laut sie konnte: »Chraaaaauow!« Dabei fuhr sie ihre Finger wie Krallen aus, und ihre goldbraunen Augen blitzten wütend unter den wilden Locken hervor. Aber das Eichhörnchen fauchte einfach zurück – und Irmi erschrak viel mehr.

Irmelina war schon drauf und dran, wütend mit dem Fuß aufzustampfen, doch da hatte sie eine viel, viel bessere Idee. Ihr großer Bruder Iwo, ein Windgeist, ärgerte sie auch oft, und gegen ihn hatte sie eine Geheimwaffe: kitzeln.

Geschwind wie der Wind stürzte sich Irmi auf das Eichhörnchen und nahm sich seine felligen Pfoten vor. Hin und her wand es sich und keckerte noch lauter.

»Nimm das!«, rief Irmelina – und mir nichts, dir nichts machte sich das Eichhörnchen von dannen. Erschöpft ließ das Geistermädchen sich in ihr Astloch plumpsen. Geschafft! Ihren Posten würde sie so schnell nicht wieder aufgeben.

Über den ganzen Trubel durfte sie nur nicht die Blitzwunde der Eiche vergessen. Im Sommer hatte bei einem Gewitter ein Blitz in ihren Baum eingeschlagen. Er hatte Feuer gefangen und war durch Junas Hilfe gerettet worden. Nun war es an Irmi, sich um den geschwächten Baum zu kümmern: Es sollten sich schließlich keine Schädlinge in dem Spalt im Holz einnisten. Täglich machte Irmelina einen Kontrollgang – dafür würde sie ihr Astloch wohl oder übel noch einmal verlassen müssen …

Ein Auftrag für die
Geisterfreundinnen

»Wir klappen einfach ihre Augen auf. Einer zieht oben, einer unten«, schlug eine tiefe Stimme vor.

»Was für ein Quatsch, Fidelius, das tut doch weh!«, schimpfte eine Frauenstimme.

FLAPP!

»Autschi! Das tut weh!«, beschwerte sich die tiefe Stimme, und Juna zuckte vor Schreck im Schlaf zusammen. Es war mitten in der Nacht, und sie lag in ihrem Bett. Was war das für ein komischer Traum? Wer unterhielt sich da bloß? Dieses Autschi gerade kam Juna seltsam bekannt vor.

Jetzt war ein lautes Schmatzen zu hören, und sie hatte das Gefühl, als würde sich etwas auf ihrer Bettdecke bewegen.

»Bei eurer Lautstärke ist sie sowieso gleich wach«, murmelte eine zweite Frauenstimme.

Wach war Juna nun wirklich, wenn auch noch ganz schön verschlafen. Irgendwie klang das alles ziemlich echt und gar nicht wie in einem Traum. Langsam schlug sie ihre Augen auf.

Tatsächlich: Im Dämmerlicht ihres Kinderzimmers erkannte Juna drei kleine Wesen. Die Kleinste von ihnen mümmelte genüsslich an einer goldgelben Birne und hatte schon einen Birnensaftfleck auf Junas Bettdecke hinterlassen. Der grauhaarige Mann – es musste Fidelius sein – stützte sich auf eine Holzkrücke und rieb sich den Hinterkopf. Die Dritte im Bunde, eine sportlich aussehende Frau mit kurzen Haaren, stand auf der Fensterbank. Sie blätterte durch Junas Matheheft, das noch vom Lernen am Abend herumlag.

»Erstaunlich, wie einfältig die Menschen sind …«, sagte die Frau gerade nachdenklich und schlug gelangweilt Junas Heft zu.

Die drei Wesen waren eindeutig Naturgeister, das erkannte Juna sofort. Aber was wollten sie von ihr? Was hatten sie mitten in der Nacht in ihrem Kinderzimmer zu suchen?

Da schoss Juna ein Gedanke durch den Kopf, und sie bekam augenblicklich Panik.

»Geht es Irmi gut?«, fragte sie, plötzlich hellwach. Sie schaltete ihre Nachtischlampe ein und setzte sich abrupt auf.

»Uaaaaaaaahhhh!«

»Ooooooiiiiiii!«

Durch Junas Bewegung waren die beiden Naturgeister auf ihrer Bettdecke ins Straucheln geraten: Die Birnenfrau purzelte rückwärts vom Bett runter, und Fidelius kippte einfach steif wie ein Brett zur Seite. Juna konnte ihn gerade noch auffangen, sonst wäre auch er auf den Boden geplumpst. Schnell wand er sich aus ihrer Hand heraus und zupfte seine Weste zurecht. Hoffentlich wachten Junas Eltern im Zimmer nebenan nicht von dem Lärm auf!

»Irmelina?« Die sportliche Frau beachtete den Tumult auf der Bettdecke kaum und beantwortete stattdessen Junas Frage. »Die ist ganz schön durchgeknallt, wenn du mich fragst. Das hab ich von Anfang an gesagt«, tat sie ihre Meinung über Junas Geisterfreundin kund.

Das gefiel Juna ganz und gar nicht: Wie gemein die Frau über Irmelina sprach! Irmi war ja wohl alles andere als durchgeknallt! Aber Juna ging nicht darauf ein, sondern versicherte sich noch einmal: »Also ist alles in Ordnung mit Irmelina?«

»Ja-ha, sie schläft selig auf ihrer Eiche«, bekräftigte die Frau und verdrehte genervt ihre Augen. Dadurch wurde sie Juna kein bisschen sympathischer.

FLUPP!

Die Birne landete auf Junas Bettdecke, und im nächsten Augenblick kam auch die dazugehörige Naturgeisterfrau hinaufgeklettert.

»Irmelina hat im Schlaf geredet«, erklärte sie freundlich. Ihre kleinen schwarzen Locken standen ihr wild vom Kopf ab. »Wir haben sie einfach nicht wachgekriegt – obwohl ihre Augen offen waren! Sie hat immerzu gekreischt: ›Hau ab, du Fellknäuel!‹«

»Durchgeknallt, sag ich ja«, spottete die andere Frau erneut.

»Und um sich geboxt hat sie!«, mischte sich Fidelius empört ein. Er rieb sich die Magengegend, als würde es ihm dort weh tun. Anscheinend hatte er heute nicht nur den Klaps eben, sondern auch einige Schläge von Irmelina einstecken müssen.

Juna konnte sich ihre Geisterfreundin im Schlaf lebhaft vorstellen. Wahrscheinlich war sie wieder mal mit diesem frechen Eichhörnchen aneinandergeraten, und es verfolgte sie nun sogar bis in ihre Träume.

»Deswegen sind wir ja jetzt hier bei dir. Wir haben eben schon viel zu viel Zeit auf dieser Eiche verplempert, ohne etwas zu erreichen«, erklärte die Frau mit dem kurzen Haar ungeduldig und wandte sich an Juna. »Wenn du mich fragst, ist es für einen Menschen ein Leichtes. Ihr legt am besten direkt morgen los. Das Marketingproblem bekommt ihr mit gezielter Kampagnenplanung schnell in den Griff – ich halte nicht viel von Flüchen, aber wenn ein Gegenfluch hilft, soll es mir recht sein … Hauptsache, das Thema ist endlich vom Tisch.«

Marketing, Kampagnen, Flüche? Juna schwirrte der Kopf. Sie verstand nur Bahnhof. Die Frau hatte wahnsinnig schnell gesprochen. Als hätte sie es sehr eilig.

»Faralda! Was für ein Kauderwelsch!«, fuhr die Birnenfrau dazwischen und übernahm das Reden: »So ein schönes Reich, Juna! Und diese Bücher!« Staunend deutete sie auf Junas Regal. »Kannst du die wirklich alle lesen?« Juna nickte, noch immer verwirrt, und die Birnenfrau erklärte: »Du bist mein erster Mensch. Also der erste, den ich treffe. Ich bin recht frisch im Geisterrat.«

Jetzt machte es endlich Klick bei Juna: In ihrem Kinderzimmer hatte sich doch tatsächlich der Geisterrat der Naturgeister versammelt! Das höchste Gremium der Geisterwelt. Was für eine Ehre!

Und vielleicht waren es sogar die drei gewesen, die vorhin in Herrn Roggis Baum umhergehuscht waren. Schließlich hielt die Frau eine Birne in den Händen, und Juna war die Stimme des Mannes gleich bekannt vorgekommen.

»Habt ihr mir etwa heute Nachmittag im Birnbaum nachspioniert?«, fragte Juna.

»Spionage? So eine Unverschämtheit!«, empörte sich die kurzhaarige Frau auf der Fensterbank. »Recherche nennt man so was.«

Egal, wie sie es nannte, Juna hatte richtiggelegen: Es war der Geisterrat gewesen, der sie vorhin beobachtet hatte. Aber warum hatten die Geister das gemacht? Was wollten sie von ihr und Irmi?

»Ähm … vielleicht stellen wir uns endlich mal vor«, mischte sich der Mann ein, bevor Juna auch nur eine der Fragen stellen konnte, die ihr im Kopf rumschwirrten. »Ich bin Fidelius vom Element Feuer. Ava«, er deutete auf die Birnenfrau, »vertritt das Element Erde. Faralda gehört zu den Luftgeistern« – gemeint war die sportliche Frau auf der Fensterbank –, »und Lando ist ein Wassergei…« Fidelius unterbrach sich selbst, und alle drei Geister blickten sich hektisch um. »Lando?«, rief Fidelius. Nichts rührte sich.

»Verflixt-verfluxt noch eins!«, begann Ava lautstark zu fluchen und nahm wütend einen großen Bissen von ihrer Birne. »Wie konnte das schon wieder passieren?«, fragte sie schmatzend, während ihr Birnensaft aufs Kleid tropfte. Auch Fidelius schüttelte ungläubig den Kopf. Dieser Lando war wohl der Vierte im Bunde, und Juna hatte das Gefühl, als hätte der Geisterrat ihn bereits öfter verloren.

»Ich schick ihm ’ne Gedankenpost«, seufzte Faralda und kletterte durch den Spalt des auf Kipp stehenden Fensters nach draußen. Gedankenpost funktionierte ausschließlich unter Naturgeistern und erforderte allerhöchste Konzentration: Sie konnten sich gegenseitig kurze Nachrichten zuschicken.

»Also gut …«, murmelte Ava, in Gedanken offenbar noch beim verlorengegangenen Lando, und wandte sich verwirrt zurück an Juna. »Wo war ich …?«

»Warum habt ihr mich denn heute beobachtet? Was wollt ihr von Irmelina und mir?«, brach es aus Juna heraus, bevor Ava weitersprechen konnte.

Die beiden Geisterräte tauschten einen Blick, und Fidelius nickte Ava kaum merklich zu.

»Der Geisterrat hat einen Auftrag für euch«, rückte Ava mit der Sprache heraus. »Für euch Geisterfreundinnen.«

Vor Aufregung kribbelte es Juna am ganzen Körper – als hätte sie sich mitten in einen Ameisenhaufen gesetzt. Der Moment war endlich gekommen! Mit Irmelina hatte sie sich alles Mögliche ausgemalt, und jetzt sollten sie tatsächlich ihre erste Aufgabe bekommen. Und dann auch noch vom Geisterrat höchstpersönlich! Was hätte Juna dafür getan, dass Irmi an ihrer Seite wäre!

»Es geht um den …«, Ava holte tief Luft, »… Fluch vom Ringelbach.«

Juna stutzte. »Ein Fluch?«

Der Fluch vom Ringelbach.