Das Buch

Als Markus im Internet Anna kennenlernt, ist es sofort um ihn geschehen. Doch Annuschka ist Russin. Sie lebt weit weg mit ­ihrer Familie, den Eltern, dem Bruder und Babuschka Maria, in einer Stadt im Ural. Keine Frage, Markus muss zu ihr. Und so reist er mitten im russischen Winter nach Perwouralsk. Ohne Sprachkenntnisse und mit der Ahnung, dass es um seine Männlichkeit nach russischen Maßstäben nicht so gut bestellt ist.

Getreu dem russischen Motto »lieber zu viel als zu wenig« kämpft Markus im wilden Osten um Annuschkas Liebe – und um die Anerkennung ihrer russischen Verwandtschaft: Mit Vater Semjon misst sich Markus im Biathlon. Für Babuschka Maria wagt er sich an abenteuerliche Gerichte wie »Hering im Pelz­mantel« und mit Bruder Mischa im rostigen Lada auf die Autobahn. Für die mandeläugige Annuschka geht Markus in Russland jedes Risiko ein. Doch erst als die beiden gemeinsam zurück nach Deutschland reisen, merkt Markus, dass ihrer Liebe die größte Prüfung noch bevorsteht …

Der Autor

Markus Müller, Jahrgang 1965, hat in Köln Germanistik, Politik und Ethnologie studiert, danach arbeitete er unter anderem als Werbetexter, Journalist und Drehbuchautor von Fernsehserien für ARD, RTL und SAT1. Seit 2002 ist er überwiegend als ­Comedy-Autor tätig, unter anderem »Die dreisten Drei« und »Ich bin Boes«. Markus Müller ist glücklich mit seiner russischen Frau Ksenia verheiratet; sie leben gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn Aljoscha in Köln.

markus müller

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage September 2014

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014

Umschlaggestaltung: © semper smile, München

Illustration: © semper smile, München

Titelabbildungen: Hintergrund: © Shutterstock/Alina G;

Skyline Moskau: © Shutterstock/Yurkalmmortal

 

ISBN 978-3-8437-0738-1

 

Alle Rechte vorbehalten.

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E-Book: LVD GmbH, Berlin

Für die beste Ehefrau westlich des Ural – und östlich.

1.

Der Analphabet, der aus dem ­Flugzeug stieg und nie ankam

Moskau, Flughafen Scheremetjewo, zwei Wochen vor Weihnachten:

Ich muss umsteigen, Moskau ist gerade mal die halbe Strecke bis Jekaterinburg. Um umzusteigen, muss ich aber erst zum Inlandsterminal. Nur ist der Inlandsterminal nicht einfach ein Terminal, sondern ein eigener Flughafen, deshalb muss ich zunächst den Bus nehmen. Wo ist dieser verdammte Busbahnhof?! In meinem Kopf schnurren die zweieinhalb Stunden, die ich zur Ver­fügung habe, zu einem Minutenaufenthalt zusammen, während ich mit meiner schweren Reisetasche an der Schulter orientierungslos durch endlose Gänge haste.

So viel weiß ich bereits: Die Suche nach einem Infoschalter mit englischsprachiger Infeuse wäre reine Zeitverschwendung. Der Exil-Russe im Kölner Reisebüro, bei dem ich den Aeroflot-Flug gebucht habe, hatte eine recht lakonische Antwort parat, als ich ihn fragte, was zu tun sei, wenn ich mich in Moskau nicht zurechtfände: »Wenn Sie wollen, dass sich irgendein Offizieller um Sie kümmert, spielen Sie den Betrunkenen, lassen Sie eine Bierflasche fallen, pöbeln Sie ein bisschen rum. – Aber Englisch …«, der Alte lachte spöttisch. »Es gibt ein Sprichwort in Russland: Falls du am Ertrinken bist, solltest du schleunigst schwimmen lernen.«

Als ich mit den Tickets in der Hand und leicht mulmigem Gefühl im Bauch seinen Laden verließ, machte er ein Fischmaul und fröhlich Schwimmbewegungen: »Denken Sie dran …!«

Interessant, dachte ich, im ehemaligen Weltreich des Kommunismus gibt’s sogar eine säkulare Version von »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott«. Aber warum machte der Idiot ein Fischmaul?! Wenn ich ein Fisch wäre, müsste ich schließlich nicht schwimmen lernen – schon gar nicht Brustschwimmen!

Okay, ich habe zweieinhalb Stunden Zeit, um hier den verdammten Busbahnhof zu finden und in den Bus Nummer 5 zu steigen, das sollte für einen durchschnittlich intelligenten Mann wie mich doch machbar sein. Den Besoffenen spielen kann ich immer noch, wenn’s nicht klappt. – Bloß nicht hektisch werden, Markus!

Leicht gesagt. Ich schaue auf die Uhr. Wie lang die Busfahrt wohl dauert? Was, wenn diese Busse nur jede Stunde oder so fahren? Inzwischen trage ich die überladene Reisetasche in der Hand, weil meine Schulter schmerzt. Jetzt dengelt sie mir im Laufschritt ständig ans Knie, was auf die Dauer ebenfalls ziemlich weh tut. Warum, verdammt noch mal, habe ich mir nicht so ein praktisches Rollköfferchen angeschafft?! – Ach ja: Ich finde, Männer mit Rollköfferchen im Schlepp sehen albern aus.

Womöglich dient die Reisetaschen-Tortur auch dazu, mir ­einen letzten Rest Männlichkeit gegenüber Anna zu bewahren? Die Vorstellung, ihr bei der ersten Begegnung mit einem Roll­köfferchen an der Hand unter die Augen zu treten, würde mir jedenfalls ganz und gar nicht behagen. Die ganze Aktion ist ohnehin ziemlich heikel für (m)ein männliches Selbstverständnis. Da sich meine Russischkenntnisse nach wie vor auf »Harascho«, »Spassiba« und »Doswidanje« beschränken, werde ich nolens ­volens für die nächsten zwei Monate wie ein Kleinkind an ­Annuschkas Rockzipfel hängen. Und weil ich nach wie vor auch nicht in der Lage bin, Kyrillisch zu lesen, ist mein einziger Trost hier auf dem Flughafen: Wenigstens die Zahlen sind auch in Russland arabische. Habe ich erst den Busbahnhof gefunden, sollte der Bus Nummer 5 also kein Problem darstellen. – Also ruhig bleiben, gaanz ruhig, nicht hektisch werden!

Da, ein Piktogramm! Noch nie in meinem Leben habe ich mich so sehr über ein Wegweiser-Bildchen gefreut. Es zeigt zwar keinen Bus, sondern einen Fußgänger, aber entscheidend ist, dass es hier überhaupt Piktogramme gibt! Das ist ja das Schöne am Reisen: neue Erfahrungen, ungekannte Emotionen. Sagt man …

Und es stimmt. Als ich endlich das ersehnte Bus-Piktogramm erblicke, durchströmt mich ein wunderbares, großes Gefühl von Stolz und Zuversicht. So muss Kolumbus sich gefühlt haben, als der Ausguck rief: »Land in Sicht!« – Leider wissen wir, dass sich Kolumbus zu früh gefreut hat …

Sei gefälligst nicht so ein Pessimist, Markus, keine Hektik! Such dir den Bus Nummer 5 und ab geht’s! Uhrencheck. Super in der Zeit.

Ich stehe wie angewurzelt da und starre auf das letzte Bus-Piktogramm: Das da ist eindeutig kein Busbahnhof, obwohl es die Ausmaße eines Busbahnhofs hat. Vom Geruch her unterscheidet es sich kaum von einem durchschnittlichen Busbahnhof, aber mein Augenlicht trügt mich nicht: Es ist die zentrale Flughafentoilette! Ich gehe erst mal pinkeln.

Als ich mit leichter Blase und schweren Gedanken aus den ­Toiletten trete, entdecke ich einen kleinen, versteckten Ausgang. Und das hinter der Tür … ja, das ist ein Bus! Eindeutig. Ich ­könnte freudig losspurten, hätte ich mir nicht ausgerechnet jetzt den Hemdzipfel im Reißverschluss eingeklemmt.

Der Busfahrer lädt bereits Gepäck ein, als ich, immer noch am Hosenstall fummelnd, zu ihm trete und meine geballten Rus­sisch­kenntnisse zum Einsatz bringe: »Aeroport?« Ich deute dabei ­demonstrativ in weite, ungeahnte Ferne. Am Flughafen nach dem Flughafen zu fragen, kann schließlich leicht zu Missverständ­nissen führen. Statt wenigstens zu nicken, reißt er mir die Reisetasche aus der Hand und schleudert sie ins Gepäckabteil. Ich bin noch nicht überzeugt und deute auf den Bus: »Aeroport Jekaterinburg?« Der Mann hat sich schon abgewendet und bedeutet mir mit einem ungeduldigen Wink über die Schulter, einzusteigen. Ich zögere noch immer. Schließlich könnte er meine Frage auch so deuten, dass ich vorhabe, die nächsten zweitausend Kilometer bis in den Ural per Bus zurückzulegen.

Los, Markus, lass den Blödsinn! Steig ein, du Memme!

Der Fahrer lässt bereits den Motor an und würdigt mich keines Blickes. Sein Gestus lässt keinen Zweifel daran, dass er auch mit meiner Tasche und ohne mich fahren würde. Babysitter spielen für so ein zauderndes deutsches Sprachgenie, das sich auch noch ständig am Genital rumfummelt, hat ihm gerade noch gefehlt. Ich greife hastig nach der Stange und schwinge mich hinein.

Kolumbus im Bus hat endlich Zeit durchzuatmen, seinen Reißverschluss zu richten und sich umzuschauen: Um mich herum eindeutig nur Indianer. Das war im Flugzeug noch anders. Außer mir scheint kein anderer Westeuropäer Interesse daran zu haben, die Weiten Russlands auszuloten. Ha! Wieder erfüllt mich Stolz. Ich lehne mich zurück und schaue mit zufriedenem Lächeln aus dem Fenster, da lässt mich der Anblick eines an sich harmlosen Straßenschildes schockgefrieren: »Zentr«. Jetzt bin ich hektisch! Im Moment hätte ich auf lateinische Buchstaben ausnahmsweise prima verzichten können. Gab es am Flughafen vielleicht zwei Busbahnhöfe?! Einen für die Shuttles zu den anderen Terminals und einen für die Busse, die nach Moskau reinfahren? Das werde ich mit Sicherheit erst feststellen können, wenn wir am Roten Platz halten. – Vorausgesetzt, wir halten am Roten Platz und es heißt nicht irgendwann: »Endstation. Slums von Moskau. Alles aussteigen!« Aber selbst das würde ich ja gar nicht verstehen!

Nervös scanne ich die Insassen nach potenziell Englisch­sprachigen ab: jung, gebildet, zugänglich et cetera. Studenten wären natürlich besser geeignet als Businessleute mit akuter Tele­fonitis, ein oder zwei kommen schon infrage, aber ich traue mich nicht, sie anzusprechen.

Während vor dem Fenster im Grau der winterlichen Dämmerung eine endlose Kolonie von Vorstadthochhäusern vorüberzieht und ich in banger Hoffnung nach irgendetwas Flughafenähnlichem Ausschau halte, kommt eine SMS von Anna: »Wo bist du?«

»Im Bus.«

»In welchem Bus?«

Gute Frage. Ich mache auf selbstbewusst: »Scheremetjewo. Der Bus vom Auslands- zum Inlandsterminal.«

»Ach ja. Sitzt du auch im richtigen Bus?« Annuschka trifft mal wieder zielsicher den Kern der Sache. Heißen Dank für die ­extrem ermutigenden Worte, denke ich und simse mit zittrigen Fingern ein knappes männliches: »Klar.«

»Gut. Ist dein Anschlussflug denn pünktlich?«

»Davon gehe ich aus«, antworte ich geschäftsmäßig und ver­suche beim Tippen den Tatterich zu unterdrücken.

»Super«, simst Anna euphorisch zurück, »ich freu mich! Erwarte dich mit meinen Eltern am Flughafen.«

Da sehe ich auch schon mein nächstes Problem auf mich zukommen: So nett es auch sein mag, dass Semjon und Vera bereit sind, mich vom Flughafen abzuholen, lieber wäre mir Anna ­allein. Es ist schließlich das erste Mal, dass wir uns leibhaftig begegnen!

Andererseits kann ich gut verstehen, dass Annuschkas Eltern die neueste Eskapade ihrer Tochter in Augenschein nehmen wollen. Internet-Bekanntschaft aus Deutschland! Für jemanden, der in seinem Leben noch nie online war, muss das klingen wie: Er hat drei Beine, zwei grüne Fühler wachsen ihm aus der Stirn, und er trägt die Unterhose auf dem Kopf, aber ich mag ihn.

Dass meine Eltern mal eine Freundin in Augenschein nehmen durften, ist schon länger her. Alles unterhalb einer Beziehungs-Inkubationszeit von zwei Jahren interessiert sie auch gar nicht. Demzufolge könnte das Wasser, das seitdem an Leverkusen vorbei den Rhein hinuntergeflossen ist, locker das Becken der Ostsee füllen. Wie würde mein Vater wohl auf meine Bitte ­reagieren, mitten in der Nacht eine Schnecke von Gott-weiß-wo vom Flughafen abzuholen? Vermutlich so etwas wie: »Du hast wohl den Arsch auf, Müller! Fahr mal schön selbst.«1

Heute werde ich einen zarten Eindruck davon bekommen, wie junge, moderne Inder sich fühlen, wenn ihnen der Partner für die arrangierte Ehe vorgestellt wird. Mit dem feinen Unterschied, dass hier von Semjon und Vera rein gar nichts gewollt oder gar arrangiert ist. Und es wird tatsächlich tiefste Nacht sein, wenn fast die gesamte Familie Mischina meinetwegen am Flughafen ausharrt. Zu Hause bleiben nur Annas jüngerer Bruder ­Mischa, weil er in aller Frühe nach Jekaterinburg ins Konserva­torium muss, wo er Geige und Klavier studiert, und Babuschka Maria.

Dem Ziel der Busfahrt sehe ich inzwischen mit einem gesunden Schuss Fatalismus entgegen. Moskau liegt bereits im Dunkel. Die Nacht ist winterschnell hereingebrochen über der Stadt, als der Bus auf einen Parkplatz einbiegt. Falls der Fahrer gerade sagt, »Bitte aussteigen, verehrte Fahrgäste. Stellen Sie sich neben dem Bus in einer Reihe auf, damit meine Kumpels Sie ausrauben können«, werde ich es sowieso nicht verstehen.

Was ich dann erblicke, sieht aber doch einigermaßen nach ­einem Flughafenterminal aus – wenn auch nach einem ziemlich kleinen und alten. So ein bisschen wie die Miniaturausgabe von Berlin-Tempelhof.

Im plötzlichen Hochgefühl, mein erstes Russland-Abenteuer überstanden zu haben, steige ich aus. Schier grenzenloser Optimismus packt mich: Hier den richtigen Abflugschalter zu finden, kann kein Problem sein, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es doch kyrillische Zahlen und Ziffern gibt. Die Tasche lässig über den Rücken geworfen, marschiere ich Richtung Eingang und bin geradezu überwältigt von meinem virilen ­Entdeckermut.

1 Er nennt mich wirklich immer Müller.

2.

50 Schattierungen von Braun

Im Inneren hat die Halle nichts mehr von dem 30er-Jahre-Nazi-Bau-Charme, den sie von außen versprüht, sondern ist um Jahrzehnte jünger geworden. Das heißt, ich befinde mich in den ­frühen 70ern.

Der einzige Abfertigungsschalter ist tatsächlich schwer zu übersehen. Sein neumodisches Design stört empfindlich das ­nostalgische Retro-Markthallen-Ambiente, das Kiosk- und Last-Minute-Buden bieten. Ganz hinten hat man eine Galerie eingezogen, von der Kaffeeduft und sympathische Rauchschwaden herunterwabern.

Da bis zum Check-in noch Zeit ist, ziehe ich es allerdings vor, draußen zu rauchen. Leiser Schnee rieselt, als ich vor die Tür trete. Russischer Schnee auf russischem Boden! In wenigen Stunden werde ich im Ural landen, am östlichsten Zipfel Europas, und zum ersten Mal werde ich wirklich in Annuschkas strahlend grüne Augen sehen können und sie berühren. Es läuft alles perfekt – mehr als perfekt! Langsam beginne ich, diese Reise zu genießen.

»Do you speak english?« Zuversichtlich starte ich einen Präventiv-Test am Check-in-Schalter. Die Aeroflot-Stewardess, die ­gerade mein Ticket beäugt, macht sich allerdings kaum die Mühe, auch nur den Kopf zu schütteln. Immerhin war da aber etwas, das man mit Wohlwollen als Verneinungsgeste deuten kann. Was schon ein Fortschritt gegenüber dem Busfahrer ist, der mir statt zu nicken lediglich die Tasche aus der Hand gerissen hat. Egal, denke ich, geht auch ohne Englisch. Inzwischen kann ich Jeka­terinburg sogar halbwegs auf Kyrillisch entziffern. Das liegt da­ran, dass es hinter meiner Flugnummer auf der Anzeigetafel steht, die ich nur selten länger als zehn Minuten aus den Augen lasse. Sicher ist sicher.

Anna meldet sich per SMS: »Bist du da? War schon Check-in nach E-Burg2

»Ja. Alles ok.«

»Bist du sicher, dass du dich am richtigen Schalter angestellt hast?«

Typische Anna-Frage.

»Who knows, vielleicht hab ich nach Wladiwostok eingecheckt «

»Nein, wirklich, frag doch besser noch mal.«

»Erstens werden die mich wohl kaum im falschen Flugzeug mitfliegen lassen, zweitens gibt’s hier nur einen Check-in-Schalter und drittens absolut niemanden, den ich fragen könnte.«

»Ok, aber melde dich noch mal, bevor du einsteigst.«

In diesem Moment klickert die Anzeigetafel herunter, und bei Flug SU 1408 tauchen kyrillische Buchstaben in beunruhigender Farbe auf: Rot! Die Ziffern, die zum Glück immer noch arabisch sind, sagen mir, zwei Stunden Verspätung. Während sich am Schalter bereits ein kleiner Pulk zusammenrottet, simse ich die Neuigkeit noch relativ entspannt Annuschka.

»Ok, und du bist sicher, dass dein Flug gemeint ist?«

Langsam fängt ihre Fragerei an, mich zu verunsichern.

»Kannst gerne mal auf der Flughafen-Website nachschauen: Flug SU 1408.«

»Gute Idee, mach ich.«

Ich stehe ein bisschen unschlüssig herum, ob ich mich jetzt sinnfrei an der Zusammenrottung am Schalter beteilige oder auf die Galerie gehe und mir Kaffee und Kippe reinziehe. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass die Saftschubse am Schalter ­immer noch dieselbe ist, entscheide ich mich für Letzteres.

In der Cafeteria gibt es ein paar Tische für Raucher und einige für Nichtraucher – direkt nebeneinander. Mein Problem sind aber nicht die vermeintlich leidenden russischen Nichtraucher, sondern Rubel. Ich besitze nicht einen einzigen!

Also wieder runter, Wechselstube gesucht. Gibt’s nicht.

Warum auch, ist ja ein Inlandsflughafen.

Anna simst: »Hier hat dein Flug drei Stunden Verspätung.«

Ich sehe mich bereits inmitten der Zivilisation verdursten.

Der Reisebüro-Russe in Köln hätte mir ruhig sagen können, dass man sich die Flasche Bier zum Auf-den-Boden-Werfen am besten gleich selbst mitbringt. Da hätte ich glatt zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Stattdessen schlage ich mich jetzt doch zum Schalter durch und versuche aus dem lärmenden Pulk ­he­raus der des Englischen gänzlich unfähigen Aeroflot-Biene auf Englisch klarzumachen, dass ich englischsprachige Hilfe be­nö­tige. Entgegen jeglicher Logik und allen Erwartungen holt sie tatsächlich irgendwann eine Kollegin herbei. Die erklärt mir sofort in bestem Englisch, dass sie leider ebenfalls kein Englisch spricht. Damit ist die Sache für sie hinreichend erledigt, und sie wendet sich anderen nach Information heischenden Fluggästen zu.

Langsam verstehe ich Annuschkas Skepsis. Den beiden ist es vermutlich egal, ob ich nach Jekaterinburg, Wladiwostok oder sonst wohin einchecke, Hauptsache, sie haben mein Ticket ordnungsgemäß abgerissen.

»Wenn du am Ertrinken bist, solltest du schleunigst schwimmen lernen!«

Apropos: Ich habe Durst. Großen Durst! Ich könnte glatt den Baikalsee leertrinken.

Aber die Grundbedürfnisse müssen warten. Weil mir nichts anderes mehr einfällt, verlege ich mich aufs laut in die Menge Rufen: »Somebody who speaks english? Is there somebody who speaks english?? …«

Zu meinem Erstaunen erhalte ich ziemlich prompt dreifache Hilfe. Ein älterer Russe verabschiedet sich allerdings rasch wieder, weil ihm offenbar einfällt, dass er gar kein Englisch kann, als ich ihn anspreche. Trotzdem bin ich schier überwältigt von so viel Hilfsbereitschaft. Es bleiben ein Pärchen Mitte dreißig und Sergej, Anfang zwanzig, der einen schicken Anzug trägt. Von ­ihnen erfahre ich schließlich, dass der Flug Verspätung hat, weil für Jekaterinburg in der Nacht Schneesturm vorausgesagt wurde. Wann es losgeht, kann niemand sagen. Es stellt sich allerdings heraus, dass Sergej auf denselben Flug wartet wie ich. Als ich ihn frage, ob er mir Euro in Rubel tauschen kann, damit ich etwas zu trinken bekomme, will er mir sofort einen ausgeben. Ich bedanke mich und erkläre ihm, dass ich ihm nicht die ganze Nacht zur Last fallen möchte, woraufhin er mir sofort 500 Rubel schenkt. Da meine Zunge bereits am Gaumen festpappt, bin ich nicht mehr in der Lage, das generös abzulehnen, bestehe aber darauf, dass er sein Geld am Flughafen Jekaterinburg zurück­bekommt, sollten wir diesen je erreichen.

Das Erste, was ich also tun werde, wenn ich Annuschka zum ersten Mal sehe, ist, sie anzuschnorren – vor ihren Eltern. Prima Einstieg, kann man nichts machen.

Merke: Der russische Spruch vom Ertrinkenden, der gefälligst schwimmen lernen soll, bezieht sich nur auf die offiziellen Stellen. Gerade weil man von dort keinerlei Hilfe erwarten kann, hilft man sich untereinander umso mehr. Daraus ergibt sich für den gemeinen Russen die Überlebensnotwendigkeit, wenigstens den ein oder anderen Beamten privat zu kennen. Andernfalls ist man ziemlich aufgeschmissen.

Raucher sind schon ziemliche Saubeutel, denke ich, während ich in der Cafeteria zwischen Müll und darin ausgedrückten Kippen sitze, an meinem von Sergejs Geld gekauften Wasser nippe und an einer Art russischem Yes-Törtchen mümmele, das mir den Mund schnurstracks wieder austrocknet. Das Ding ist so trocken, dass selbst ein Sandfloh daran ersticken würde.

Drei Stunden sind inzwischen vergangen, ein Start von SU 1408 ist immer noch nicht in Sicht. Ich habe beschlossen, mir Nahrung und Wasser strikt einzuteilen. Annas Vater Semjon, der soweit ich weiß eine Art Survival-Trainer an der Oberschule von Perwouralsk ist, wäre stolz auf mich.

Vierte Wartestunde: wieder draußen. Der frische russische Schnee ist inzwischen übersät von meinen deutschen Raucherhinterlassenschaften, da kommt Sergej angeschlendert. Aber er kommt nicht aus der Halle, sondern aus einer völlig anderen Richtung: »Hey, hast du schon was gegessen?«

»Na ja, Schokoriegel.«

»Das meine ich nicht. Die haben Essensmarken ausgeteilt. Du kriegst dahinten was.«

Er deutet an der Fassade hinunter.

»Anderer Eingang. Die Marken kriegst du von den Stewar­dessen.«

Ich zögere immer noch. Mir behagt der Gedanke nicht, mich wieder mit den beiden Saftschubsen aus­einandersetzen zu müssen: »Und der Flug?«

»Ist auf morgen verschoben. Sie bringen uns später ins
Hotel.«

Die Hektik, die mich jetzt erfasst, ist nicht gerade förderlich, um meinen Hintern zielgerichtet in Bewegung zu setzen. Fol­gende Fragen schießen mir durch den Kopf:

1. Wie lange ist »später«?

2. Wie lange kann ich es noch ohne etwas zu essen aushalten?

3. Wie komme ich eigentlich an meine Reisetasche?

4. Komme ich überhaupt je wieder an meine Reisetasche, oder ist die schon in Wladiwostok?

Sergej scheint meine Gedanken gelesen zu haben, er schaut auf seine Uhr: »Okay, wenn du noch was essen willst, würde ich mich beeilen.«

Ich nicke ihm zu und haste zum Check-in-Schalter: »Coupon, Coupon?!« Dabei führe ich die rechte Hand zum Mund. Im Übrigen habe ich nicht die geringste Ahnung, ob »Coupon« im Rus­sischen geläufig ist, ich benutze einfach eine der beiden Fremdsprachen, die mir selbst einigermaßen geläufig sind. Da sich Englisch nicht bewährt hat, jetzt einfach mal Französisch. Und siehe da, ich werde verstanden!

Ich hechele mit dem Coupon in der Hand in die Richtung, aus der Sergej gekommen ist. Dabei fällt mir siedend heiß Annuschka ein! Wenn die Mischinas meinetwegen die ganze Nacht am Flughafen campieren müssen, habe ich schon verschissen, bevor ich überhaupt gelandet bin. Ich versuche, im Laufen zu simsen: »Fulg errt mrgen. Hotl.«

»Was?«

»Flug gecnnclt.«

»Gecancelt?«

Ich bin am Ende des Gebäudes angekommen und habe offenbar den Eingang verpasst.

»Ja, bin in Eile. Schau noch mal ins Netz.«

Ich stecke das Handy weg und hechele zurück. Da, eine Tür! Ich stoße sie auf und stutze: Kann das richtig sein? Das erinnert eher an einen Mietshausflur …

Ich haste die Treppen hinauf, und schon im zweiten Stock schlägt mir tatsächlich Essensduft entgegen: Egal, was es ist, es riecht wunderbar! Vier bis fünf Stockwerke später stehe ich atemlos röchelnd und halb betäubt vom Duft vor einer Russin mit Haarnetz und weißem Kittel. Falls sie keine Krankenschwester ist, muss es hier irgendwo auch eine Kantine geben. Ob ich mich gerade zu einer freiwilligen Nierenspende oder zu gebratenen Nierchen anmelde, ist mir aber schon egal. Ich reiche ihr den Coupon. Sie sagt etwas auf Russisch, dann schüttelt sie be­dauernd den Kopf. Hinter ihr in der Küche wird schon abgespült – tiiief durchatmen.

Ich trotte die Stufen wieder hinunter. Annuschka simst etwas. Draußen vor der Tür ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Dann fällt mein Blick zum Halleneingang: Da steht ein Bus! Ich renne los. Im Näherkommen erkenne ich tatsächlich einige Gesichter aus dem Pulk vorm Schalter wieder und ziehe meinen Spurt an, denn die Letzten steigen bereits ein. Ich hechte schwungvoll in den Bus, ohne zu bedenken, dass schwungvolles Hechten und Schneematsch im Allgemeinen keine gute Kombination darstellen. Ich knalle mit dem Schienbein heftig vor die Stufe. Na ja, Unglück im Glück ist immer noch besser als nur Unglück, sage ich mir, während ich zum nächstbesten Sitz humple und mein farbenfroh schillerndes Hämatom begutachte: Gut, dass es nichts mehr zu essen gab – irgendwie …

Ist mir jetzt auch wurst, ob meine Tasche dabei ist: Wurst? Wurst! Fleischwurst, Bratwurst, Bierwurst, Brühwurst – mit ­Erbsensuppe! Ich will ein Zimmer und ein Bett mit leberwurstfarbener Nackenrolle zum Draufrumkauen. Wenn’s dem Hotelservice gefälligst nicht zu viel Mühe macht!

Als der Bus in die Auffahrt zum Hotel einbiegt, sagt mir Annas SMS, dass mein Flug morgen um acht Uhr Moskauer Zeit los­gehen soll. In Jekaterinburg wird es also schon Mittag sein, wenn wir landen. Irgendwie beruhigt das mein schlechtes Gewissen gegenüber Semjon und Vera, wenigstens können sie ausschlafen.

»Bin am Hotel. Gute Nacht, Annuschka. Kuss«

»Ok, wie sieht es denn aus, taugt es was?«

Ich muss unwillkürlich schmunzeln. Annas stete Besorgtheit ist gleichermaßen nervig wie liebenswert. Momentan ist sie eindeutig liebenswert, denn sie gibt mir das Gefühl, dass ich hier in Russland niemals so richtig verlorengehen kann. Ihre SMS wird mich finden, selbst wenn es mich noch in die nordsibirische ­Tundra verschlägt.

»Sieht ganz ordentlich aus.«

»Dann ist gut! Gute Nacht, bis morgen. Küsse dich auch.«

Ich habe das Handy gerade wieder eingesteckt, da kommt noch eine SMS: »Schlaf gut.«

»Du auch.«

»Kuss, Kuss, Kuss«

Ich seufze lächelnd: »Gute Nacht! – Kuss«

Kurze Zeit nichts, dann: »Freue mich auf morgen.«

Gerade richte ich mich darauf ein, die Nacht SMS schreibend in der Hotelauffahrt zu verbringen, da fällt mir auf, dass der Fahrer im Gewühl vor dem Bus schon seit geraumer Zeit ungeduldig eine Reisetasche hochhält, die niemandem zu gehören scheint, allerdings meiner frappierend ähnlich sieht. Ich nehme sie erleichtert entgegen.

Meine Tasche habe ich also bekommen, aber nichts zu essen, denn es ist schon ein Uhr nachts. Einzelzimmer gibt es auch nicht, und so finden Sergej und ich uns zu einer Schlafgemeinschaft zusammen. Zumindest kriegen wir an der Bar noch zwei Flaschen Bier. Als wir endlich auf dem Zimmer sind, sende ich Annuschka noch einen Kuss und beeile mich, das Handy auszuschalten. Wer weiß, was ihr sonst noch dringend Mitteilenswertes einfällt, und ich möchte gegenüber Sergej nicht unhöflich erscheinen.

Wir teilen uns ein geräumiges, in beruhigenden, Flecken absorbierenden Brauntönen gehaltenes Nullachtfuffzehn-Hotel­kettenhotelzimmer, das man so überall auf der Welt hunderttausendfach findet. Sergej schaut mich fragend an, als ich das Handy wegstecke: »Familie in Deutschland?«

»Nein, Russland.« Ich stutze selbst, als ich mich antworten ­höre. Sergej ebenfalls: »Du hast Familie in Jekaterinburg?«

»Nein, nein, ich meine, ich hab mit Russland gesimst«, ant­worte ich reichlich vage. Ich merke, dass mir seine Fragen ein bisschen peinlich sind. Russische Männer sind vermutlich schlecht zu sprechen auf diese West-Typen, die mit ihrem Geld herkommen, um ihnen die Frauen wegzuschnappen.

Ich wäre es bestimmt.

Da ich das Gespräch aber auch nicht abwürgen will, werde ich konkreter: »Ich werde am Flughafen von einer Frau erwartet. Sie kommt aus Perwouralsk.«

»Deine Freundin?«

Ich nicke. »Ja.« So muss man das wohl sagen: Anna ist meine Freundin. Zumindest verhalten wir uns beide so, obwohl wir uns noch nie gesehen haben. Jedenfalls verhalten wir uns meistens so … Kurz schießt mir Ella in Köln durch den Kopf. Ich verdränge den Gedanken an sie so schnell wie möglich.

»Wir kennen uns aus dem Internet.« Jetzt ist es raus.

Sergej nickt. »Versteh meine Frage nicht falsch«, bemerkt er, »aber wie lange kennst du sie denn schon?«

»Inzwischen seit fünf Monaten.«

Erstaunlicherweise ist er ganz und gar nicht sauer auf den Wessi, im Gegenteil: »Okay, das ist ja schon eine ganze Weile. Weißt du, es gibt hier viele Frauen, die suchen nur jemanden mit Geld …«

Ich bin unschlüssig, ob ich gerührt sein soll, weil Sergej so an meinem Wohlergehen gelegen ist, oder beleidigt, weil er an meiner Menschenkenntnis zweifelt.

Sergej wirkt ein bisschen altklug, was auch mit seinem Äußeren zusammenhängt. Die dunkelblonden Haare rahmen ein rundliches Gesicht mit fast noch kindlichem, rosig-blassem Teint ein, und er ist vielleicht gerade mal 1,73 groß. Das jugendliche Erscheinungsbild passt nicht recht zu seinem schnieken Business­anzug, der chromglänzenden Brille und dem prächtigen Timex-Wecker am Handgelenk, der laut zu schreien scheint »Wenn ich groß bin, werde ich mal eine Rolex!«. Ohne diese Insignien eines Geschäftsmannes würde man Sergej für höchstens siebzehn ­halten.

Seine Warnung höre ich im Übrigen nicht zum ersten Mal. Als ich meine Absichten in Deutschland kundtat, konnte ich mich vor wohlgemeinten Ratschlägen kaum retten, die samt und ­sonders in der impliziten Behauptung mündeten, Annuschka sei so etwas wie eine Amateurprostituierte oder Betrügerin, die ­bestimmt nur an mein Geld wolle. Man hält mich offensichtlich für ziemlich naiv. Und wohlhabend. – Dies natürlich zu Recht! Durch nichts wird man schneller Millionär als mit dem Schreiben von Sketchen für TV-Comedy-Shows … Und dass ich in einer 50m2-Wohnung hause statt in einem Landschlösschen mit eng­lischem Park, ist selbstverständlich allein meiner rasenden Bescheidenheit zu verdanken. – Na ja, warum soll es mir auch besser ergehen als Anna. Semjon und Vera sind offenbar noch nicht restlos davon überzeugt, dass ich nicht doch eine Art Mafioso bin, der nichts anderes im Schilde führt, als ihre Tochter in den Westen zu ­locken, wo sie fortan in irgendeiner ranzigen Kaschem­me ein ­Leben als Zwangsprostituierte fristen soll. Schön zu wissen, dass einen hüben wie drüben nur die besten Hoffnungen begleiten.

»Ich denke, das kann ich bei Anna ausschließen«, sage ich zu Sergej.

»Dann wünsche ich dir alles Gute und eine schöne Zeit in Russland.«

Wir stoßen an: »Nastrowje!«

Wenig später liege ich im Halbdunkel unserer braungetönten Luxus-Notunterkunft und kann nicht schlafen, obwohl ich ­eigentlich todmüde bin. Sergej schnorchelt seelenruhig vor sich hin, während ich auf dem Rücken liegend mal wieder die Schlaflos-Frage Nummer eins zu klären versuche: Hände über oder unter der Decke? Verdammt! Ich werfe mich entnervt auf die ­Seite. – Jetzt scheinen mir die Hochhauslichter der Moskauer Vorstadt direkt in die Augen, aber wenigstens wird mir dadurch klar, was mich eigentlich nicht schlafen lässt. Es ist eine Frage, die schon den ganzen Tag lang seit meiner Abreise immer wieder versucht, sich dreist in den Vordergrund zu drängen, und sie lautet: Ist das alles hier nicht doch total idiotisch?!

Ist dieses unfreiwillige Moskau-Intermezzo denn nicht bloß der Auftakt zu einem viel größeren Fiasko, das mir noch nach der Landung in Jekaterinburg bevorsteht, sollte ich je dorthin gelangen? Wer zum Teufel reist denn 4000 Kilometer weit, bloß um eine Frau zu treffen, die er nur aus dem Internet kennt?!3 – Als ich diesen Entschluss vor fast zwei Monaten gefasst hatte, schien er mir noch das einzig Richtige zu sein.

2 Die meisten Jüngeren nennen Jekaterinburg E-Burg, denn auf Russisch schreibt es sich Екатеринбург.

3 Ja, ja, schon klar, das waren jetzt drei Fragen.

3.

Es war einmal im Herbst

Nach drei Monaten hatten sich unsere Webcam-Rendezvous Anfang Oktober schon zum fast alltäglichen Ritual entwickelt. Sie waren zu etwas geworden, das man unwillkürlich vermisste, wenn es aus irgendeinem Grund mal nicht stattfand. Und doch wurde mit jedem Treffen klarer: Etwas fehlte.

»Hattest du eigentlich in letzter Zeit mal Sex?«

Annuschkas Frage traf den Nerv unserer Beziehung, denn wir hatten bisher keinen. Wie auch? Sie saß wie gesagt ziemlich weit entfernt am anderen Ende einer Internetleitung.

Cybersex, ja, den hatten wir. Aber wenn man ehrlich ist, ist das nur ein cooles Wort für eine ziemlich uncoole Angelegenheit. Ein Euphemismus für bedripstes Befummeln mit Zuschauer. Nicht jeder ist zum Peep-Show-Star geboren. Annuschka und ich sind es eher nicht. Ursprünglich waren wir richtig »wissenbeflissen« unterwegs in einem Europa-Forum für Reisen, Sprache und ­europäische Geschichte. Ich wollte für die Übersetzung einer BBC-Comedyserie meine Englischkenntnisse auf Vordermann bringen, und Anna hatte als Englischlehrerin mitten in Russland kaum Gelegenheit, die Sprache wirklich zu praktizieren. Alles ging also ganz brav und sittsam zu, als wir uns kennenlernten. Nur sind Gespräche über den Hitler-Stalin-Pakt oder die Vorzüge der Reisefreiheit in der EU auch nicht wirklich sexy. Und letzten Endes, wenn man ganz ehrlich ist, ist es doch so: Eine Beziehung wird erst besiegelt durch den Austausch realer Körperflüssig­keiten!

Annuschkas Frage jetzt war kein Keuschheits-Check, sondern sie hatte vermutlich selbst Sex gehabt, seit wir uns kannten. Realen Sex!

Eigentlich war mir das egal – so lange ich nichts davon wusste. Auch mir ging Cybersex inzwischen gehörig auf den Sack. Das wollte ich Anna aber nicht sagen.

»Nein«, antwortete ich betont sachlich und leider wahrheits­gemäß, »hatte ich nicht. Kein Sex in den letzten drei Monaten. Hattest du?«

Schon im selben Moment bereute ich die Frage. Annuschka war sichtlich bemüht, ganz unbedarft zu erscheinen, klimperte dabei aber verdächtig oft mit den großen grünen Scheinwerfer-Augen, zupfte verlegen an ihrem Pony und drehte sich ansonsten eifrig Locken ins schwarze Haar. »Nein, ich auch nicht.«4

So viel war klar, nach einem Vierteljahr Cyber-Geplänkel musste endlich mal Butter bei die deutsch-russischen Fische. Ich unterstellte ihr daher einfach mal, dass sie mit dem Thema Sex lediglich unsere Beziehung voranbringen wollte: »Aber du hast recht, auf Dauer geht das mit uns so nicht weiter.«

Anna ließ sich dankbar darauf ein: »Tja, was können wir denn da machen?«

»Da gibt’s eigentlich nur eins: uns treffen!«

»Ja? Na ja, ich hab natürlich auch schon darüber nachgedacht, ob wir uns mal besuchen sollten.«

Das klang jetzt nicht eben euphorisch, eher schon ein bisschen zu beiläufig. Womöglich wollte Annuschka sich einfach nicht die Blöße geben, ein Treffen mehr zu wollen als ich. Allerdings: Wenn sie tatsächlich Sex gehabt hatte, sich dessen ungeachtet aber mit mir treffen wollte, konnte das nur heißen, dass ich ­immer noch ihr Favorit war. Noch! Also Dampf machen, volle Breitseite: »Annusch­ka, das Ob ist für mich eigentlich schon ­keine Frage mehr!«

»Wirklich nicht?«

»Nein.«

»Okay, dann komm doch her.«

Ach, so läuft der Hase! Das eigene Terrain verlassen und mich auf russisches Glatteis begeben. So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt.

»Du könntest auch nach Köln kommen.« Den Schwarzen ­Peter mal eben elegant zurückgeflippt, 4000 Kilometer weit ­direkt auf Annas Schreibtisch.

»Ja, du aber auch nach Russland.«

Das konnte langwierig werden. »Ja, schon …«

»Und was spricht dagegen?«

Vieles. Doch dann hatte ich plötzlich einen akuten Anfall von Abenteuerlust: »Gut, angenommen, ich komme nach Russland. Wo wohnen wir dann?«

»Na, bei mir.«

»Du meinst, mit deinen Eltern, deinem Bruder und deiner Oma? In einer Wohnung?«

Es ist in Russland nicht wie hier, wo die Eltern einem, kaum volljährig, noch einen dankbaren Tritt versetzen. Als russischer Spross muss man einen triftigen Grund zum Ausziehen vorweisen, selbst wenn man weit über zwanzig ist. Zugelassen sind nur: Heirat, Job in Moskau oder Tod. Ledige Russen, die ihren Eltern verkünden, sie wollten jetzt mal ausziehen, um ihre Freiheit ­auszukosten und so weiter, würden eine schwere Familienkrise heraufbeschwören, die damit endet, dass Mama sich Gram gebeutelt aus dem Fenster wirft, wo nur eine Schneewehe Schlimmeres verhindert, während Papa sofort die Enterbung der undankbaren Brut einleitet.

»Ja«, sagte Annuschka trocken. Dabei konnte ich dank Webcam allerdings sehen, dass sie unruhig auf ihrem Stuhl hin- und herrutschte.

»Ich stelle mir gerade vor, wie du das deiner Familie beibringst«, schmunzelte ich, »Mama, Papa, mein Freund kommt zu Besuch.« – »Ach, du hast einen neuen Freund?« – »Ja.« – »Und wo kommt er her?« – »Aus Deutschland.« – »Aus Deutschland?« – »Ja, wir kennen uns aus dem Internet.« – »Aus dem Internet? Aha, und was macht er so beruflich: Zuhälter, Sittenstrolch, ­Nazi …?!«

Anna lenkte ein: »Ich kann uns auch günstig eine Wohnung ­besorgen, das ist kein Problem.«

Große Erleichterung westlich des Rheins: »Ich glaube, das wär mir lieber – vorausgesetzt natürlich, ich komme …«

Annuschka nickte. »Ich weiß da auch schon eine hier ganz in der Nähe. Die Tochter der Freundin meines Großonkels ist zurzeit bei ihrem Mann im Norden, der arbeitet da auf den Öl­feldern …«

So läuft das in Russland: Ohne Connections geht gar nichts! Ohne Connections bist du ein Niemand, ein Nichts, ein ganz ­armes Schwein. Wenn sich das Problem nicht über den großen Kreis von Verwandten lösen lässt, dann über Kollegen und Bekannte, oder über die Bekannten der Verwandten, oder über die Kollegen der Bekannten der Verwandten, oder … Meister dieser Disziplin: Annas Vater Semjon.

Aber es gab ja nicht nur das Wohnungsproblem. »Dir ist schon klar, dass ich dann hundertprozentig auf dich angewiesen bin? Ich kann kein Wort Russisch und vermutlich bist du die Einzige in Perwouralsk, die so gut Englisch spricht.« Annuschkas Heimatstadt ist eine kleine, hässliche Industriestadt vor den Toren Jekaterinburgs. Sozusagen das russische Pendant zu meiner alten Heimatstadt Leverkusen, bloß dass die zwei Fußballvereine, die sich hassen, hier zwei Eishockeyvereine sind.

»Meine beste Freundin Ewa spricht auch Englisch.«

Herzlichen Glückwunsch, wenn’s mit uns eine Katastrophe wird, kann ich mich ja bei deiner besten Freundin ausheulen, dachte ich, sagte aber stattdessen: »Ich kann nicht mal kyrillische Buchstaben lesen.«

In dem Moment wurde mir erst mit aller Deutlichkeit bewusst, dass ich in Russland tatsächlich der totale Analphabet sein würde. Meine Abenteuerlust schwand wie Neuschnee auf einem sibirischen Kernkraftwerk. »Vielleicht kommst du doch einfach nach Köln, ich hab eine eigene Wohnung.«

»Und wenn wir uns nicht verstehen?«

Oder wie Adi Preißler in seiner unendlichen Weisheit sagen würde: »Entscheidend is’ aufm Platz!«5

Annas Offenheit löste zwar nicht unser Problem, brachte sie mir aber doch näher. Es war gut zu wissen, dass wir beide das Gleiche fühlten und dachten. Ich machte einen letzten Versuch, sie nach Köln zu lotsen: »In Russland kann ich nicht mal allein eine doofe Tüte Milch kaufen.«

»Na und, du hast doch mich. Und Milch heißt Moloko

Die Sache war entschieden. Irgendwie schien es mir auch gerecht, dass ich das größere Risiko tragen würde: Abenteuer und Edelmut, ja, das gefiel mir! Außerdem wollte ich Anna wirklich nicht sang- und klanglos wieder verlieren, sie hatte für mich das Potenzial zur absoluten Traumfrau!

Man lernt sich schon ziemlich gut kennen, wenn man drei ­lange Monate aufs Reden reduziert ist. Mal abgesehen von Annuschkas umwerfender Kombination aus dunklem Haar, grünen Augen und Sommersprossen, war das eigentlich Entscheidende die Vertrautheit, die von Anfang an zwischen uns herrschte. Man weiß nicht, wo sie herkommt, und man weiß auch nicht, wieso sie da ist. Mit manchen Menschen redet man von Anfang an, als würde man sie schon ewig kennen. Verlegenes Schweigen oder gar verzweifelte Suche nach Themen kannten wir nicht. Manchmal dauerten unsere Webcam-Sessions vier bis fünf Stunden und wurden nur dadurch beendet, dass einem von uns die Augen zufielen oder ihn der Hunger übermannte – und nicht eine Minute davon hatten wir uns gelangweilt.

Würde ich diese Gelegenheit verstreichen lassen, wäre ein schlichter Biss in den eigenen Allerwertesten jedenfalls nicht ­Strafe genug; ich müsste ihn abreißen, einpökeln und mir jeden Abend ein Stück zum Lonely Candle-Light-Dinner servieren lassen, um mich an meine eigene Dummheit zu gemahnen.

»Okay, ich werde mich mal nach Flügen erkundigen und nach den Visumsformalitäten.«

»Jipiee …!« Annuschka hüpfte durchs Zimmer. Als sie ihren Hintern mit vollem Schwung wieder vor den Schreibtisch befördern wollte, sah ich sie von rechts nach links durchs Bild ­rutschen, dann hörte ich ein Poltern und einen dumpfen Aufprall. Das war womöglich der Hauptgrund, warum wir uns unbedingt kennenlernen mussten: Minus mal Minus ergibt Plus. An den entgegengesetzten Enden Europas hatten wir endlich jemanden gefunden, der uns in puncto Schusseligkeit ebenbürtig war. Gemeinsam sollten wir ein glückliches – und vor allem unfallfreies – Leben führen können!6

Annuschka zog sich mit ungetrübter Laune am Schreibtisch hoch. Als ihre glücklicherweise unbeschädigte Nase mit den zarten Sommersprossen wieder auf meinem Bildschirm erschien, konnte ich ehrliche Freude sehen. »Markus …!«

Plötzlich wurde es mir doch noch mulmig. »Ja?« Hoffentlich sagt sie jetzt nicht, ich liebe dich. Man kann niemanden lieben, den man nur übers Internet kennt!

»Ich freue mich wirklich, wenn du kommst.«

Strike! Perfekt, die perfekte Antwort. In diesem Moment ­freute ich mich wirklich auf Russland …

4 Liebe Leserinnen, wenn ihr um eine »süße Lüge« nicht herumkommt, gönnt euch vorher eine schöne Kopfrasur. Das hilft zwar nicht gegen ­Augenklimpern, kommt mit Sonnenbrille dafür aber ziemlich cool rüber.

5 Adi war hauptberuflich Stürmer bei Borussia Dortmund, trotzdem haben etliche hauptberufliche Philosophen nicht annähernd etwas derart Wahrhaftiges zustande gebracht.

6 Hätten wir je Nachwuchs, der unbedingt Atomphysiker werden möchte, würde ich mich auf diese Rechnung aber lieber nicht verlassen und vorsichtshalber in ein Land emigrieren, das außerhalb der Reichweite einer etwaigen radioaktiven Wolke liegt.