Klaus Seehafer
Roman
BOOKSPOT VERLAG
Am 2. April 1775, einem Sonntag, notieren die Tagebuchschreiber eine für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Witterung. Ein 25-Jähriger aus Frankfurt, Goethe oder Göthe, schreibt einer Bekannten, sie möge ihm doch eine Portion Pomade schicken, die das Haar wachsen macht, und auch das Rezept dazu geben. Ein kleiner Freundesbrief ist zuvor an den Pfarrer Herder abgegangen. »Lieber Bruder, schreib mir doch manchmal, grimm oder gut, über alles und nichts! − Sieh, da die Welt so voll Scheißkerle ist, sollten wir doch miteinander scheißen.« Dann nimmt er sich wieder sein Drama »Claudine von Villa Bella« vor, bei dem er immer noch nicht weiß, wie es weitergehen soll. Auch bei sich selber weiß er’s nicht.
Ein 15-jähriger Zögling der herzoglichen Militärakademie oberhalb Stuttgarts schreibt heute ebenfalls an seinem Drama weiter. Es soll »Die Räuber« heißen, und während der Woche kommt er nicht einen Augenblick dazu. Da stehen Logik und Rhetorik auf dem Stundenplan, Jura, Rechts- und Reichsgeschichte, Mathematik, Griechisch, Französisch. Und immer wieder Exerzieren. Der junge Schiller ist ein über die Jahre hoch aufgeschossener Kerl, kreuzunglücklich zumeist. Aber heute, überm Papier, ist er glücklich und erregt. Abends wird er den Freunden was vorzulesen haben.
An diesem Tag gesteht Cassandra Austen errötend ihrem Mann, dem Pfarrer von Deane und Steventon, dass sie abermals schwanger sei. Das Kind werde wohl im Dezember das Licht der Welt erblicken. Bei den in Frage kommenden Namen einigt man sich schnell auf Paulus, wenn es ein Junge wird. Ein Mädchen solle Jane heißen. Cassandra gefällt die Vorstellung, einer kleinen Jane Austen das Leben zu schenken.
Ungleich anders als der Friede einer englischen Landpfarrei ist das aufregende Leben des 43-jährigen Abenteurers und Schriftstellers Beaumarchais, der gerade mit einer neuen Fassung seines »Barbier von Sevilla« einen Misserfolg und Tage später Erfolg gehabt hat, beides lautstark. Heute bereitet er sich auf eine Reise nach London vor. Ihm ist aufgefallen, dass die Engländer Schwäche gegenüber ihren amerikanischen Kolonien zeigen. Er hatte Ludwig XVI. empfehlen wollen, sich stattdessen seinerseits stark zu machen, aber sich einmal mehr in seinem Leben im Ton vergriffen. Herrisch ist der Monarch selber, und Melodramatik liebt er nicht. So wurde eine große Chance für Frankreich vertan.
In der Schweiz bereitet der 80-jährige Voltaire die Veröffentlichung seiner Œuvres complètes vor. Unverdrossen arbeitet er auch heute wieder daran. Erst unternimmt er seinen täglichen Spaziergang von Schloss Les Délices am Genfer See hinauf ins Dorf Ferney, um das Blut zu erfrischen. Dann frühstückt er. Anschließend sitzt er wieder vor dem kleinen, mit Manuskripten und Zetteln überhäuften Secrétaire. Eine Besucherin wird später vom Feuer des Genies erzählen, das den mageren Körper noch immer durchpulse, vom spöttischen Ausdruck seiner blitzenden Augen, und wie jede Falte von Anmut künde. Eine andere empfindet bei seinem Anblick den Abschied einer Epoche.
Um sechs Uhr war die Sonne aufgegangen. Die wenigen Besucher der Frühmesse in Santa Maria della Salute hatten die Kirche in der Dunkelheit betreten und verließen sie jetzt, geblendet von der Schärfe des Morgenlichts. Zwei alte Frauen blieben ein Weilchen auf dem Vorplatz stehen und unterhielten sich laut. Von der Seite wankte ein männlicher Maskenträger in schwarzer Bucca zu den breiten Stufen des Kanals hinunter, brach in die Knie, schob sich die Maske mit letzter Kraft auf die Stirn, würgte und spie Gelbliches in das langsam davontreibende Wasser. Keiner scherte sich um ihn, nicht die eilig in die Gassen verschwindenden Kirchgänger noch die beiden Frauen.
Die Sonne stieg höher und ließ die Schatten auf den Plätzen nach Osten wandern, die Kirchtürme von unten her erstrahlen: die qualligen Kuppeln der Markuskirche, den rot-weiß-grünen Turm von San Giorgio Maggiore und auf der Giudecca-Insel die prachtvolle Salute. Von überall her strebten jetzt Männer, Frauen und Kinder in die Kirchen ihrer Gemeinden. Erst viele, dann weniger, schließlich kaum mehr welche. Nach einer Stunde oder mehr strömten sie wieder heraus. Männer und Kinder blieben diesmal länger auf den Plätzen, die Frauen verschwanden rasch in dunkle Küchen. Ebbe und Flut. Flut und Ebbe.
Irgendwo waren Tauben aufgeflogen, zogen mit klatschendem Geflatter einen großen Kreis übers Dorsoduro, dann noch einen und entfernten sich nach Osten über die Frezzeria. Aus den Straßen der kleinen Leute quoll Wärme und Küchenbrodem. Der Tag würde heiß werden. Die winzigen Gässchen links und rechts waren von Lärm erfüllt. Durch ein Portal ging es zu einer Sackgasse, dem Corte del Luganegher, und von dort seitab in einen verkommenen Innenhof mit stinkendem Dreck in den Ecken. Dort war eine der Wohnungen Casanovas, und dort schlief er heute früh noch immer. Die beiden Zimmer, die er im ersten Stock bewohnte, nannte er je nach Laune seinen Fuchsbau, weil sie Ausgänge zu verschiedenen Straßen hatten, oder auch sein Appartamento dell’Identificazione. Von unten erkannte man die Wohnung an einem kleinen, gefährlich sich senkenden Alkoven, der überm Hof hing. Vom zweiten und dritten Stockwerk hing Wäsche aus den Fenstern. Beide Treppen, die vordere und die versteckte hintere, knarrten entsetzlich, wenn man sie betrat. Wozu die Vordertreppe ihren seltsamen Schlenker nach links machte und über zwei Zwischenstufen wieder zurück, hätte nur der längst verstorbene Architekt des Hauses sagen können. Aber vielleicht war ja auch keiner beauftragt worden. Es gab genug Häuser in Venedig, die man ohne Baumeister errichtet hatte. Manchmal waren sie dann später in sich zusammengefallen, viele aber standen immer noch, gestützt von anderen, stabileren.
Das erste Zimmer wurde von einem dunklen alten Schrank beherrscht, dessen Türen und Schubladen halb oder ganz geöffnet waren. Daneben stand ein großer Sessel, aus dem überall das Stroh herausquoll. Fast in der Mitte des Raumes befand sich ein Stehpult, wie es die einfachen Kopisten hatten, zerkratzt, mit Tinte beschmutzt, an den Seiten Zettel auf kleine Nägel gespießt. Auf dem Boden verstreut lagen Manuskriptblätter, Briefe, Federkiele. Dieses Zimmer war hell, ein zweites dahinter, an das sich ohne Tür ein Klosett anschloss, viel dunkler. Dort war ein Rouleau halb herabgelassen worden, bis es sich dann gestaucht hatte. Licht fiel in kleinen Streifen in diesen Raum, der so gut wie keine Möbel enthielt. Decken wohl, Matratzen, in einer Ecke eine Laute, in der anderen eine Truhe, über die Männer- und Frauenkleider geworfen worden waren. An der Wand lehnte ein für den Raum viel zu hoher, einst prächtiger, jetzt fleckiger Spiegel.
Der Mann unterhält sich mit einem unsichtbaren Kind. – Wer bist du? Gioaccino? Und wie alt bist du? – Sieben Jahre, Euer Gnaden. Abends singt meine Mutter in diesem Theater. Sie ist eine große Sängerin. Sie ist eine sehr schöne Frau. Alle haben sie lieb. – Da hast du sie wohl auch sehr lieb? – Sie ist die schönste Frau der Welt. Ich hab sie sehr lieb. – Aber sie lässt dich oft allein. – Manchmal darf ich auf die Bühne und ihr ein Sträußchen Blumen reichen. Das gehört zum Stück, Euer Gnaden. Sie schicken mich dann raus, und ich reiche ihr ein Sträußchen. Es sind aber gar keine echten Blumen. Aber dafür bekommt sie die jeden Abend neu.
Der Mann weint. Immer weint er an dieser Stelle. Es wird gleich zu Ende sein. Aber jetzt kommt die alte Frau. Immer wenn sie kommt, fühlt er Schmerzen.
– Ich bin krank. – Ach, das kenn ich, sagt der Kleine. Mir blutet auch immer die Nase. Ich bin schon ganz leer. – Nein, mir tut es hier unten weh. Man nennt das Syphilis. – Wenn Ihr aber dabei blutet, kommt mit zu meiner Nonna, die steckt Euch in eine Kiste. Da müsst Ihr ganz still sein, sonst seid Ihr tot. Aber nachher seid Ihr gesund.
Der Mann steigt in die Kiste. Der Deckel wird zugedrückt, ein Riegel vorgeschoben. Aber der Riegel hört sich an, als würde eine riesige Tür damit verschlossen. Eine Gefängnistür. Es ist finster. Er fängt an zu schreien. Er schreit und schreit und bäumt sich auf …
Casanova liegt auf seiner Matratze, ist wach, hält aber die Augen noch geschlossen. Merkt, dass er gar nicht schreit, nur das Laken hat er sich vom Leibe gestrampelt. Hat nur wieder den alten Traum geträumt. Aber das Kind hört er immer noch.
– Nonna, bittet das Kind, lies mir vor. – Nicht schon wieder, mein Kleiner. – Nonna, du strickst immer, erzähl mir was. – Was denn, mein Kleiner? Schlaf doch endlich, und sieh erst mal zu, dass du wieder gesund wirst. Was hat mein armer Kleiner für Narben im Gesicht! – Sie jucken nicht mehr so, wenn du mir was erzählst. Erzähl mir von Papa. Wie alt war ich, als er gestorben ist? – Da warst du acht Jahre, mein armer Kleiner, und dein lieber Papa ist uns allen als braver Schauspieler in Erinnerung geblieben. Er war ein guter Mensch. – Bin ich mehr wie Papa oder wie Mama? – Oh, du bist die ganze Zanetta, schön und frech, und wenn irgendwo eine Bühne ist und ein Licht auf dich fällt, dann verwandelst du dich und spielst und spielst und machst allen was vor. Du wirst sicher einmal in ihre Fußstapfen treten.
– Mama, ruft der kleine Giacomo, wo bist du jetzt? – In London, mein Kind. In Dresden. – Ist es wahr, dass dich all die hohen Herren lieben, wenn sie dich sehen? – Ach, mein dummer Junge, das sollen sie nicht, aber oft tun sie’s. Das ist schon wahr. – Wann kommst du wieder, Mama? – Das weiß ich noch nicht, mein kleiner Liebling. Wenn mich keiner mehr sehen will, wahrscheinlich. Willst du denn, dass mich keiner mehr sehen will? Sag, willst du das? – Nein, aber Mama, wo ist Papa jetzt? Ist er im Himmel, oder spielt er wieder Theater? Oder will den Papa keiner mehr sehen? Sag Mama, will den Papa keiner mehr sehen? Oder ist es, weil er …, weil er gar nicht mein Papa ist? Weiß er das, Mama? Mama, weiß er das? –
Casanova, als er heimgekehrt, empfand zunächst eine seltsame Unbestimmtheit des Gefühls. In der Fremde war er jahrelang mit den Gedanken daheim gewesen. Jetzt aber wusste er nicht mehr, wohin er gehörte. Unter dem Namen eines Chevalier de Seingalt war er seit seiner Flucht aus Venedig jahrelang durch halb Europa gereist. Doch lang schon, bevor er wieder zurück in die Serenissima Repubblica gelangt war, hatte er darauf geachtet, wieder zu dem zu werden, der er war. Als ein florentinischer Berichterstatter geschrieben hatte, es halte sich derzeit ein bekannter Edelmann innerhalb der Mauern der Stadt auf, diktierte ihm Casanova, wohl wissend, dass dessen Blatt auch in Venedig gelesen würde, ein Dementi in die Feder. »Der genannte Herr ist selbst zu uns gekommen, um zu erklären, dass er zwar Venezianer sei, doch kein Adliger, dass er sich diesen Rang, der weit über seine Qualifikation hinausgehe, niemals zugeschrieben habe, und sich darauf beschränke, ein guter Untertan dieses Landes, aber kein Edelmann zu sein.«
Und er hatte sich nicht nur darauf beschränkt, ein guter Untertan zu sein, sondern sich darum bemüht, der Republik zu zeigen, wie nützlich er ihr sein konnte. Da war die von ihm verfasste »Widerlegung der Geschichte der venezianischen Regierung von Amelot de la Houssaie«, eine Schrift, die wegen ihren treffsicheren Enthüllungen dem Großen Rat schon lange ein Dorn im Auge war. Da war die lukrative Neuorganisation der Postroute zwischen Triest und Venedig, die nunmehr auch über Udine fuhr. Und nicht zuletzt die Herabsetzung der Zollgebühren für österreichische Waren, womit er erreichte, dass die Österreicher venezianisches Gebiet nicht mehr auf dem Seeweg umgingen.
In ganz Europa fragte niemand Casanova danach, von welcher Beschaffenheit sein Adel sei, hier konnte er mit seinen Leistungen überzeugen. Aber für seine Heimatstadt konnte er tun und leisten, was er wollte, hier würde er immer nur Giacomo, der Sohn Gaetanos und Zanettas bleiben. Wenn Gaetano überhaupt sein Vater war, und er nicht in Wirklichkeit einen Bastard angenommen hatte! Casanova glaubte hierzu etwas herausgefunden zu haben, aber sich in dieser Hinsicht zu äußern, schien ihm vorerst noch zu gefährlich. Zuerst musste er sicheren Frieden mit den hiesigen Behörden schließen. Man ließ ihm vierhundert Franc für eine diplomatische Mission zukommen, später noch einmal hundert Dukaten, und versprochen war ein monatlicher Zuschuss von zehn Zechinen. Als Casanova endlich den sehnsüchtig erwarteten Geleitbrief aus den Händen des venezianischen Konsuls empfing, las er ihn schweigend, bedeckte ihn dann mit Küssen und brach in Tränen aus. »Ich empfinde es«, sagte er, »als einen Triumph, dem gleichen Tribunal dienen zu können, das mich ehedem meiner Freiheit beraubt hat und dessen Macht ich herausgefordert hatte.«
Der Prokurator Morosini half bei der Rückkehr. Senator Zaguri ließ ihn bei sich und in Unterkünften wohnen, die ihm gehörten. Sein alter Gönner Barbado hatte ihm einen monatlichen Zuschuss von sechs Zechinen vererbt, und von Marco Dandolo bekam er noch einmal so viel. Zwei Beträge freilich, die zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel waren. Die Inquisition, die ihn einst verfolgt hatte, lud ihn anfangs zum Essen ein und ließ sich die Geschichte seiner Flucht aus den Bleikammern erzählen. Bei einer dieser Gelegenheiten erfuhr er, dass der arme Lorenzo Basadonna, sein Gefangenenwärter, eingekerkert und zwei Jahre später zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Irgendwann aber war die Republik weder an seinen Geschichten noch an seinen Diensten interessiert. Aus dem Geheimdiplomaten wurde der kleine Agent Antonio Pratolini. So vieles hatte er getan und so wenig bewirkt. Einzig auf den Tag seiner Heimkehr hingearbeitet. Einzig um die Amnestie gerungen. Nun war er hier. Und nun?
Casanova hielt die Augen geschlossen und spürte, wie ihm der Schweiß den Körper herablief. Das zerknüllte Laken lag gerade noch über den Knien. Mit dem beweglicheren seiner Beine schob er es ganz von sich. Winkelte die Arme und spannte die Muskeln an, ordnete Geräusche und Gerüche. Wusste wieder, wer er war und wo. Manchmal gelang ihm das nicht mehr so leicht. Dann verzwirnten sich seine Träume mit dem tätigen Leben, befeuerten es aus wunderlichen Quellen, ließen ein Leuchten in seine Augen treten, das ihn glaubwürdig gemacht hatte vor Konsuln, Diplomaten und Bankiers, die solches Leuchten nicht kannten, es aber für ihre Zwecke nutzen wollten. Von San Moisè läutete es die halbe Stunde. Halb acht oder schon halb neun? Ein Kinderschrei klang von der Gasse herauf und ging über in anhaltendes Weinen, das allmählich dumpfer wurde. Das Kind war offenbar ins Haus gezogen worden. Stimmengebraus in der Ferne. Geruch von Gekochtem und billigem Parfum.
Casanova streckte seinen Arm weiter, berührte mit der Handfläche den Körper neben sich. Knackend drehte er den Kopf und öffnete die Augen. Elvira lag neben ihm, die jüngere Schwester der Bäckerin, im Schlaf zusammengekrümmt, alle Laken an sich gezogen, das lange dunkle Haar überm Gesicht.
Er stemmte sich vorsichtig hoch, stand schwankend auf und ging hinüber zum Klosett, fühlte beim Niedersetzen die kühlere Luft von unten her. Er öffnete das kleine Fenster neben sich halb und hörte nahes und ferneres Schwatzen. Rieb sich über die fleckige Haut seiner Knie. So hatten sie früher nicht ausgesehen. War er alt geworden, ohne die Schwelle zum Alter bemerkt zu haben? Wie hatten denn die Ärzte und Philosophen von einst das Alter bestimmt? An den vorherrschenden Säften des Körpers. Die Kindheit werde von Schleim bestimmt, die Jugend von Blut, das Erwachsensein von der gelben Galle, das Alter von der schwarzen. War es etwa schon so weit? War er nur noch melancholisch, traurig, trocken, kalt? Er hörte hinüber, wo Elvira plötzlich im Schlaf aufseufzte. Ach nein, noch war er warm und zugewandt! Noch pulsierte das Blut in ihm und natürlich die gelbe Galle des männlichen Streits.
Casanova drehte sich die Papilloten aus dem Haar und schüttelte seine Frisur. Sie war noch immer voll und ansehnlich. Er wischte sein Gesäß ab und überlegte, ob er sich schon anziehen sollte. Noch steckte etwas von dieser süßen Müdigkeit des Morgens in ihm, die ein leichtes abermaliges Einschlafen versprach, verbunden mit angenehmem Aufwachen ohne Gliederschmerzen, ausgetrocknetem Mund und verquollenen Augen. Leise tappte er zurück ins andere Zimmer. Die Fenster waren offen, damit frische Luft hereinkam. Aber es war bereits zu spüren, dass auch dieser Frühlingstag wieder so heiß werden würde wie die Tage davor. Am besten verbrachte man die Zeit schon jetzt am Meer. Da wäre er zudem alleine. Er legte sich wieder auf sein Lager, blickte kurz zu seinem verpuppten Schmetterling hinüber und überließ sich seinen Gedanken.
Immer noch und immer wieder, manchmal Tag und Nacht, kreisten sie um jene Confidentes, die möglicherweise die Schuld an seiner Verhaftung trugen. Vor allem der Goldschmied Manuzzi kam ihm dabei in den Sinn, der ihn zweimal besucht und dabei Bücher und Manuskripte entdeckt hatte, die von Magie handelten. Giovanni Battista Manuzzi. Dieser kleine dickliche Mann mit den fettigen Haaren und dem unruhigen Blick. Ärmlich von Gestalt und Habitus. Einnehmend hatte er nicht ausgesehen, aber doch wie ein anständiger Mensch, was natürlich eine notwendige Eigenschaft für seinen Beruf war. In der Menschenmenge war er durchaus verwechselbar mit vielen anderen, aber Casanova würde sein Gesicht nie vergessen, denn er war sich so gut wie sicher, dass es diese erbärmliche Kreatur gewesen war, die ihn verraten und in die Bleikammern gebracht hatte. Hatte sich Messergrande Matteo Varutti, der Leiter der gefürchteten venezianischen Polizei, bei seiner Verhaftung nicht als erstes jene Bücher und Manuskripte über Magie und Okkultismus aushändigen lassen? Und auch das entzückende Büchlein Aretinos über die Liebesstellungen, das sich Manuzzi kurz zuvor für ein paar Tage ausgebeten hatte? All das wanderte damals zusammen mit vielen Papieren, die nur für Casanova wertvoll waren, in den Sack des Messergrandes. Giovanni Battista Manuzzi. Er war es. Er musste es gewesen sein. Warum aber hatte er es getan? Sie hatten einander vorher kaum gekannt. Casanova war damals ein selbstbewusster, ja stolzer, vielleicht sogar arroganter Mensch gewesen. Heute konnte er sich vorstellen, dass diese Eigenschaften so manchen gekränkt haben mochten. Aber Manuzzi? –Vielleicht hatte er einfach das Geld gebraucht, das mit den Aufträgen des Großen Rates an seine Confidente verbunden war. Aber der entlohnte seine Spitzel oft nur geringfügig. Wer hätte das besser gewusst als Casanova selbst, der sich freilich mit allerlei Tricks und Finessen bislang immer bemüht hatte, für kleines Geld unbedeutende Nachrichten zu liefern. Und warum gelang es ihm in dieser Stadt mit ihren hundertvierzigtausend Einwohnern nicht, Manuzzi zu treffen, ihn zur Rede zu stellen? Eine Begegnung, die mittlerweile zur fixen Idee geworden war; für die er sich geradezu zwanghaft vernichtende Dialoge zurechtgelegt hatte, Dialoge, deren letzte Sätze auch nach all den Jahren noch nicht feststanden, sondern immer diffuser wurden. Der Goldschmied wohnte sicher nicht auf den Inseln, sondern hatte seine Werkstatt irgendwo zwischen dem Rialto, wo die meisten Handwerker und Händler arbeiteten, und dem Canareggio. Alle Welt, so schien es Casanova, war hier Tag und Nacht auf den Beinen, mal mehr, mal weniger, Ebbe und Flut. Aber wenn man nur lange genug auf allen Wegen und Stegen unterwegs war, musste man ihn doch einmal treffen. Nein, man traf ihn nicht, er war wie vom Erdboden verschwunden. Ebbe und Flut, Flut und Ebbe. Die schmerzhaften Gedanken verebbten allmählich, er schmiegte sich an Elvira, die Unverständliches murmelte, und erinnerte sich an gestern Abend.
Ein schöner Tag war das gewesen. Einer von denen, die vielleicht darum so geglückt waren, weil er sie gut vorbereitet und mit einem glänzenden Auftritt abgeschlossen hatte. Natürlich war er kein Schauspieler, aber auch Dichter brauchten gelegentlich ihre Auftritte. Ah, das Licht im Palazzo Diedo, die abendlich sanfte Kühle, die vom Rio di San Maurizio heraufwehte! Alle waren sie da gewesen, die er verehrte und die ihn liebten, achteten oder einfach nur über die Jahre zuverlässig gefördert hatten. Gerolamo Diedo lud jeden Samstag zu einem opulenten Abendessen mit guten Weinen und Gesprächen ein. Unterhaltungen, die natürlich auch von dem Witz und den geistvollen Wendungen beflügelt wurden, denen die Venezianer gern und widerstandslos erlagen. Hier aber waren originelle Ideen und widerspenstige Argumente fast noch mehr gefragt. Hier stürzte manch absichtslos dahingeworfene Behauptung durch unerbittliches Nachfragen die Anwesenden oft schnell genug in philosophische Tiefen. Diskurse, wie Casanova, Dandolo und Zaguri sie besonders liebten, bei denen der Hausherr, ein weißhaariger, etwas fülliger Endfünfziger, zwar nicht mithalten konnte, denen er aber gerne lauschte.
Es hatte ein einfaches Mahl gegeben, Lerchen mit Ragout. Casanova kannte das Rezept aus Württemberg und hatte es Diedos Koch in der Frühe genau beschrieben: In eine mit Speck ausgelegte Kasserolle kam passiertes Lerchenfleisch, wurde angebraten, gewürzt und dann in einer kräftigen Brühe aus Champignons, Artischockenböden und Morcheln gekocht. Und für jene, die ihre heimische Küche vorzogen, waren gegrillte Meeräschen, frittierte Krebse, Seespinnen und Tintenfische serviert worden. Bei Obst, Käse und Diedos Weinen fanden die Geschmäcker dann wieder zusammen.
Gestern hatte der Hausherr außer Casanova noch die hochmögenden Herren Dandolo, Zaguri und Grimani den Jüngeren eingeladen, dazu zwei ältere, ihm unbekannte Damen vom Festland, die in nicht näher ergründbarer Beziehung zu Diedo standen. Mochten auch die meisten Gäste hin und wieder wechseln, einer war immer dabei, Corrado, ein Jesuit, der stets neben Casanova saß, weshalb niemand daran zweifelte, dass er ein Spion war.
Marco Dandolo war einer der ältesten Freunde Casanovas. Sie brauchten kein Wort zu wechseln, sich nur anzuschauen, und jeder wusste, was der andere dachte oder bezweckte. So hatten sie schon manchen Streich zusammen ausgeheckt, wie sie überhaupt zu Zeiten und besonders im Karneval albern wie kleine Jungs sein konnten. Beide liebten schöne Frauen und genossen vor allem die Erinnerung an Elsa Muratori, mit der sie sich einen ganzen Winter gemeinsam vergnügt hatten. Es war abgemacht worden, dass Elsa ihre Wohnung in völliger Dunkelheit lassen sollte, damit ihr Mann, wenn er nach Hause kam, nichts merkte und annahm, sie schliefe. Tatsächlich hatte sie auf diese Weise nicht bemerkt, dass ihre Liebhaber sich die ganze Nacht über abwechselten. Trat der eine vor die Tür, kam der andere herein. Einzig über die Standfestigkeit ihres nimmermüden Liebhabers hatte sie sich gewundert. Aber das Verwundern war nicht in Misstrauen umgeschlagen, sondern hatte sich in eine glückliche Apathie verwandelt, die jegliches Nachdenken ausschaltete, denn Elsa war eine angenehme, aber doch eher einfältige Frau.
An dieses Abenteuer und viele andere musste Casanova denken, wenn er mit Dandolo zusammen war, und er blieb ihm immer dankbar, dass er sich, zusammen mit Zaguri und anderen wohlmeinenden Bekannten, immer wieder dafür eingesetzt hatte, ihn zurück in die Heimat zu lassen.
Pietro Antonio Zaguri war ein venezianischer Nobile und Mitglied des Großen Rates, der Casanova einmal einen Empfehlungsbrief geschrieben hatte. Aber weder diese Freundlichkeit noch der Rang Zaguris hatten ihn schließlich bewogen, den Kontakt zu ihm zu suchen, sondern die stilistische Wendigkeit dieses Mannes. »Als ich diesen Brief gelesen hatte«, versicherte er seiner Tischnachbarin, »entzückte mich mehr noch als sein Inhalt die darin zum Vorschein tretende Formulierungskraft. Man konnte jemanden, den man nicht kannte, kaum vornehmer und gewiss nicht mit geschickteren Wendungen empfehlen. Ich wusste, dass ich Zaguri unbedingt kennenlernen wollte, wenn ich wieder zurück in Venedig wäre. Und obwohl wir heute gar nicht so weit voneinander wohnen, schreiben wir uns noch immer Briefe und versuchen uns dabei mit den ausgesuchtesten Formulierungen zu überbieten. Ein unschuldiges Vergnügen, wie Sie mir zugeben werden.«
Der allzeit fröhliche Zaguri, ein gut aussehender kleiner Mann in den Anfangsvierzigern, hatte gerade über einen Traktat gespottet, der die oberitalienischen Städte als Tiere darstellte, eine platte Fabel in schlichtem Stil, an der nicht einmal versöhnte, dass im großen Kampf der Tiere nicht der Wolf von Rom, sondern der Löwe von Venedig gesiegt hatte. Eine der Damen, die fülligere, ansehnlichere, wurde von einem tief sitzenden Gelächter erschüttert, als sie sich bemühte, ein nur halb gelesenes Buch zu referieren, dessen Inhalt sie aber offenbar nicht verstanden hatte. Seltsamerweise erregte sie damit das Interesse nahezu aller, und auch Casanova hatte sich vorgenommen, das Werk bei Curzio Maffei zu bestellen.
»Und was habt Ihr Neues mitgebracht«, wurde er gefragt. »Wir wissen doch, dass Ihr ein großer Leser seid auf euren Reisen.«
»Nun reise ich aber nicht mehr, sondern versuche, das Gesehene zu sammeln und das Unvollkommene in eine Form zu bringen.«
»Und das bedeutet?« Diedo blickte vom Essen auf.
»Oh, ich sitze an diesem und jenem, vor allem aber an einem großen Roman.« Casanova sah für einen Moment zur Decke. »Wir alle wissen, wie viel Seltsames unter der Sonne geschieht, Verworrenes und Verworfenes. Da liegt doch der Gedanke nahe, einmal dorthin zu schauen, wo die Sonne nicht hinscheint.«
»Ich fürchte, ich verstehe Euch nicht.«
»Nun, Ihr spaziert über die Erde, lebt und erlebt so vieles und nehmt es hin. Ich habe mich zum Schöpfer einer neuen Welt gemacht, eines neuen menschlichen Geschlechts, das unter der Erdoberfläche lebt.«
»Dort kann man nicht leben«, warf Dandolo ein, »dort sind nur Steine«.
»Aber, aber, die Welt ist doch hohl!« Zaguri blinzelte Casanova zu. »Das weiß unser belesener Freund doch von Dante!«
Casanova ließ sich nicht beirren. »Diese Wesen haben ein neues Zivilrecht, eine bessere Art sich zu ernähren, zu wohnen, zusammenzuleben.«
»Und natürlich auch sich fortzupflanzen?«, fragte Zaguri abermals mit kaum verhohlenem Spott.
»Nein, denn ich halte die jetzige Methode für recht beliebt. Aber in der Tat habe ich mir auch darüber – genauer gesagt über ihre Folgeerscheinungen, die Gesellschaft der Unterirdischen betreffend – meine Gedanken gemacht. Ich überlege noch, ob es vielleicht kaum Nachkommen geben wird, dafür aber auch keinen Tod. Der Tod ist ein Moloch, der uns Zuschauer aus dem großen Welttheater wirft, noch bevor wir das Stück, das uns doch fesselt, haben zu Ende sehen können. Allein das müsste schon genügen, um ihm Widerstand zu leisten. Und warum sollte ich eine Utopie entwickeln, wenn nicht darum, dass ich gegen die mir vertraute Welt ein glücklicheres Gegenmodell aufstelle?«
Daraufhin meldete sich der finstere Jesuit zum ersten Mal an jenem Abend zu Wort. »Wahrscheinlich habt Ihr auch gleich einen neuen Gott erfunden. Sicher sogar, denn wie sollen sie dort unten von Jesus Christus wissen, wenn sie doch nach Eurer Vorstellung keinen Zutritt zur Welt des Herrn haben, auf Erden nicht und offenbar auch nicht im Himmel?«
Das war nicht nur eine Frage, sondern gleich auch noch eine Behauptung samt beigegebener Antwort. Casanova hasste diese gefährlichen Spielchen, aber im Gespräch war er selten zu schlagen. »Nein, mein Herr«, antwortete er lächelnd. »Gott durchdringt seine Schöpfung ober- und unterirdisch, und nur ein Narr wollte heute noch glauben, je tiefer hinab es ginge, desto näher kämen wir dem Teufel. Ich darf Euch an den ersten Vers von Psalm 24 erinnern: ‚Die Erde gehört dem Herrn und alles was darin ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.’ Wohl verstanden: auch was darin ist.«
»Aber Dante –«
»Dante hat in Bildern zu uns gesprochen, wie auch ich es versuche. Ob die Menschen meiner glücklichen Welt unsern Christus kennen oder eine Spiegelung oder seiner nicht bedürfen, weil die ihre nicht vom Teufel verunstaltet worden ist, weiß ich noch nicht. Ein derart voluminöses Werk – fünfhundert Seiten überschlagsweise – schreibt sich nicht an einem Tag. Aber ich denke, kluge Herren wie Ihr wären in der Lage, mir mit klugen Gedanken zur Seite zu stehen.«
Touché! – Mit einem, der seine Fangfragen so simpel stellte wie Corrado, war fertig zu werden. Man musste nur aufpassen. Ein bisschen nur, nicht allzu sehr.
Die schlankere der Damen hatte fasziniert zugehört. »Und wie soll Ihr Werk heißen, Signor Casanova?«
»Icosameron oder Eduard und Elisabeth«, war die umgehende Antwort. Dann erhob er sein Glas und weidete sich an den Gesichtern der Gäste. Die beiden Damen schienen beeindruckt, vielleicht sollte er ihnen später einmal seine Subskriptionsliste zuschicken. Diedo zupfte sich versonnen am Bart und dachte der großen Geschichte innerlich beschäftigt nach. Er war ein idealer Zuhörer und dankbarer Leser. Dandolo und Zaguri wechselten anerkennende Blicke, sie waren immer schnell zu überzeugen. Gian Carlo Grimani freilich wirkte verblüfft. Er hatte Casanova angestarrt, und der wusste sofort, dass auf dem Heimweg noch einmal die Rede aufs ‚Icosameron’ kommen würde. Als sie später in Grimanis Gondel saßen, schwieg der Patrizier eine Weile in der Dunkelheit; und dann, ohne ihn anzusehen, sagte er: »Giacomo, Ihr seid und bleibt ein Blender. Ich bin mir sicher, dass von Eurem Roman bestenfalls ein paar Seiten existieren können, wenn Ihr ihn nicht zur Gänze am heutigen Abend erfunden habt. Alle Einzelheiten. Alle Behauptungen. Heiße Luft, mein Lieber, und es liegen noch fünfhundert Seiten vor Euch.«
»Vierhundertsechzig. Aber Ihr wisst doch, eine Gesellschaft wie die heutige ermuntert meinen Geist. Eine Tafelrunde voller befruchtender und widerstandsfreudiger Musen, die mir die Ideen aus dem Kopf fragen, und dann sind sie auf einmal da und müssen nur noch aufgeschrieben werden. Außerdem habt Ihr doch gemerkt, wie Corrado wieder einmal darauf aus war, Geständnisse aus mir herauszuholen, die er dann vermutlich weiter tragen wollte. Ich habe gelernt, dass man im Verkehr mit den Menschen mit vertraulichen Geständnissen sparsam sein muss. Die Zahl der tatsächlichen Ereignisse, die man mit Stillschweigen übergehen muss, ist weit größer als die der erfundenen, die sich offen erzählen lassen. Im Augenblick werde ich besser daran tun, nicht den Roman meines Lebens zu erzählen, sondern meine Ideen in einen utopischen Roman zu packen.«
»Ihr seid ein Teufelskerl, Casanova. Ihr wisst, ich habe Euch lieb, aber zugleich fürchte ich Euch auch immer ein wenig. Euer Feind jedenfalls möchte ich nicht sein.«
Auf den Fondamente hatten sie sich umarmt und waren dann schnell auseinandergegangen, beide ein wenig geniert ob der alten Herzlichkeit, die Grimani ihm noch immer bewies. Und Casanova hatte sich aufgemacht, um seine schöne Freundin vom Theater abzuholen.
Euer Feind möchte ich nicht sein, hatte Grimani der Jüngere gesagt. War er denn mein Feind? Er konnte nichts dafür, dass er es war. Er wusste es vermutlich nicht einmal. Er hat mich schon oft zu sich eingeladen, freundlich, ja herzlich, aber letztlich doch mit jener Herablassung, die der Nobilitierte für den Bürger übrig hat. Er merkt es einfach nicht. Ich lebe heute in Armut, und es gibt viele, die verächtlich von mir denken, obwohl ich doch fleißig, erfindungsreich und zu allermeist freundlich bin. Gian Carlo lebt in den Tag hinein und hat keine Ahnung, dass er nicht der Sohn seines Vaters ist. Ich arbeite und weiß, dass ich …
Casanova kehrte in die Wirklichkeit des Tages zurück und schaute auf die kleine goldene Taschenuhr, die neben seinen Kleidern lag. Es war nach acht Uhr. Sanft zupfte er das Laken von Elviras Körper. Die Vierundzwanzigjährige war ein Schatz, den er eines Abends nach dem Besuch des Teatro San Moisè entdeckt hatte. Stets war sie schon am frühen Nachmittag im Theater, wo sie als Näherin an den Kostümen arbeitete. Wann immer ein Mann zudringlich wurde, reagierte sie spröde und entzog sich auf eine leise, aber bestimmte Art.
Casanova schob sich neben sie und genoss ihren Anblick. Die helle Haut, ihre dunklen, immer zerzausten Haare. Jetzt zog sie die Knie hoch, drückte den Kopf schnaufend auf die Brust und nahm die Haltung eines schutzbedürftigen Kindes an. Ihr Po spannte sich, und als Casanova die Spitzen ihrer kleinen weichen Brüste zu umkreisen begann, überflog eine Gänsehaut ihren Rücken. Er wusste, wie sehr sie dieses Aneinanderaufwachen liebte und drückte sich fester gegen sie. Elvira seufzte und drehte sich auf den Rücken. Ihre Schenkel fielen ein wenig auseinander. Sie hatte so viele Vorzüge. Solche für die Augen und solche für die Finger. Solche, die aus ihrem Wesen herrührten, ihrem Temperament, der stillen, umgänglichen Art. Und nicht zuletzt liebte Casanova sie für die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Beziehung als einen Dreierbund am Leben hielt, zu der auch Mona gehörte, ihre Schwester; vier Jahre älter als sie und Mutter zweier Kinder. Mona war fülliger als Elvira, aber auf hübsche Weise und an Stellen, in die Casanova sein Gesicht so gerne drückte. Elvira hatte nur vormittags für ihn Zeit; Mona nur nachmittags, wenn das morgendliche Geschäft vorbei war, und Bäcker Pietro die Hitze verschlief, bevor er gegen Abend mit ihr zusammen den Teig für den nächsten Tag vorbereitete. Elvira und Mona. Vormittag und Nachmittag. Ebbe und Flut. So lange eine von ihnen im Zimmer war, fühlte sich Casanova wie in alten Zeiten, und sein Herz schlug wie früher.
Immer noch angenehm müde, streichelte er sich an Elvira entlang, grub sich hier und dort mit Fingern und Nase ein. In dem Maße, in dem die Vorfreude seinen Körper wärmte, glitten ungreifbare Bilder und schwer zu fassende Worte durch seinen Sinn. Eine Enzyklopädie der Liebesbewegungen hatte er einmal schreiben wollen, eine Sammlung aller Gebärden der Lust, eine Beschreibung der köstlichsten Ausschweifungen. Es war dann eines jener Bücher geworden, die ungeschrieben blieben, aber immer wieder gelebt wurden. Mit jeder Verführung, jeder zärtlichen Bewegung seiner Finger auf einem Frauenkörper.
Langsam wachte Elvira auf, öffnete ihre Augen kurz, blickte durch ihn hindurch und kuschelte sich fester an ihn. Casanova machte sich so leicht er konnte, glitt über sie, schob sich vorsichtig in sie hinein. Dieser magische Moment des ersten Eindringens erregte ihn fast so stark wie der eigentliche Höhepunkt. Ruhig blieb er auf ihr liegen, während nun sie seine Bewegungen fortsetzte. Schließlich drehte er sich unter Elvira, damit ihre Brüste über ihm schwebten, er sie halten und heben konnte. Ich habe immer, dachte er, den Eindruck, dass ihr Genuss noch größer als der meine ist. Und warum auch nicht? Die Lust der Frau muss doch eigentlich auch größer sein als die des Mannes, findet doch das Fest in ihrem Hause statt. In seinem Kopf ließ er jetzt wieder Bilder erstehen, die ihn besonders erregten, Stellungen mit ihr und ihrer Schwester, mit beiden zusammen. Und immer noch tauchte auch Lia auf, seine letzte Geliebte, die Tochter des reichen, tief gläubigen Juden Mordechai. Heftiger bewegte sich Elvira jetzt über ihm, heftiger antwortete er mit seinem Becken. Stieß sie, warf sich abermals herum. Sie keuchten und begannen zu schwitzen. Dann kam das lang gezogene, heisere Schreien, das ihm ihre schnell ansteigende Lust zeigte. Er selber schrie schon längst nicht mehr. Er musste sich auf die Lippen beißen bei seiner Lust, die eher wie ein Schmerz war. Als sie auseinanderfielen, blieb übrig: ihre Vertrautheit und alsbald erneute Gier auf einander, etwas Rasendes, von dem sie nicht wussten, ob man es Liebe nennen konnte. Die vielen fremden, durchscheinenden Bilder seiner Erinnerungen, die einander überlagerten, um ihr Vorrecht rangen und eben noch so erfreulich hochgestiegen waren, verglühten und verloren ihren Glanz.
»Erzähl mir etwas«, flüsterte sie und legte ihre Linke auf seine Brust.
Es war ein Ritual zwischen den Liebenden, dass Elvira hernach immer eine Geschichte erzählt bekam, und sie genoss es wie ein kleines Kind.
»Ich kenne alle Geschichten aus Venedig«, sagte Casanova, »die wahren und die erfundenen. Was möchtest du hören?«
»Eine erfundene, aber ich muss auch wieder drin vorkommen.«