Frank Goldammer
Großes Sommertheater
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Frank Goldammer, 1975 in Dresden geboren, ist Handwerksmeister und entdeckte neben seinem Beruf mit Anfang zwanzig die Liebe zum Schreiben. Seine ersten Romane verlegte er im Eigenverlag. Bei dtv erscheint seine erfolgreiche Bestseller-Krimi-Reihe mit Kommissar Max Heller, der im Nachkriegsdeutschland ermittelt. Goldammer ist alleinerziehender Vater von Zwillingen und lebt mit der Familie in seiner Heimatstadt.
Mehr über den Autor: www.frank-goldammer.de
»Die OSTSEE kann manchmal richtig gemein sein.«
An einem heißen Sommerwochenende lädt der steinreiche Patriarch Joseph die gesamte Familie in seine Villa an der Ostsee ein. Der schwerkranke Alte möchte vor seinem Tod noch einmal seine drei Söhne sehen. Die Brüder sind seit Jahren zerstritten, aber die Aussicht auf das Erbe lässt sie mit Kind und Kegel anreisen. Josephs persönliche Betreuerin, Krankenschwester Agnes, kümmert sich um die bunt gemischte Gesellschaft. Da trifft der konservative Politiker Erwin aus Berlin auf seinen älteren Bruder Harald, von dem keiner weiß, mit welch halbseidenen Geschäften er zu Geld gekommen ist. Auch Josephs jüngster Sohn Uwe ist dabei, antriebsloser EDV-Nerd, Hartz-IVEmpfänger und das schwarze Schaf der Familie. Uwe hat – für alle unfassbar! – eine unbekannte attraktive Frau an seiner Seite. Man ahnt: Das Wochenende wird krisenreich, die Atmosphäre ist angespannt – bis es, im wahrsten Sinne des Wortes, knallt.
Originalausgabe 2019
2. Auflage 2019
© 2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43513-0 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26216-3
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ISBN (epub) 9783423435130
Ein richtiges Meer ist die Ostsee, wenn auch nur ein kleines, mit Gezeiten, die kaum zu spüren und erst recht nicht zu sehen sind. Bei Wismar hat die Tide gerade einmal eine Amplitude von fünfzehn Zentimetern, ziemlich schlapp für ein Meer. Aber doch auch irgendwie gut, denn wer will schon ein Meer, dem man immerzu nachlaufen muss, um wenige Stunden später wieder vor ihm zu flüchten?
Auch der Salzgehalt ist längst nicht so hoch wie in einem richtigen Ozean und stammt zum größten Teil aus der Vermischung mit der Nordsee. Ungenießbar ist das Wasser allemal, auch wenn seine geringere Dichte weniger Auftrieb verspricht. Wer also entspannt auf dem Wasser liegen möchte wie im Toten Meer, dem sei empfohlen, eine Luftmatratze unterzulegen. Aber Vorsicht: Man sollte dabei tunlichst vermeiden, vom Wind hinausgetrieben zu werden.
Die Ostsee ist auch nicht sehr tief im Vergleich zu den großen Ozeanen, vierhundertneunundfünfzig Meter an der tiefsten Stelle, in weiten Teilen oft noch viel niedriger. Das klingt nicht imposant, doch zum Ertrinken reicht es allemal für den unerfahrenen Luftmatratzenkapitän.
Vor gefährlichen Tieren muss man sich in der Ostsee nicht fürchten. Es gibt kaum welche. Außer es verirrt sich mal ein Hai hierher. Der hätte dann gute Chancen, einem Phocoena phocoena zu begegnen, einer Unterart der Schweinswale. Leider ist ihr Bestand rückläufig. Die sehr scheuen und geräuschempfindlichen Kleinwale werden gerade einmal 1,85 Meter lang und sind mit ihrem weißen Bauch und schwarzen Rücken sehr hübsch anzusehen. Aber sie mögen die allgemeine Geräuschbelastung durch Schiffsmotoren und die sich vermehrenden Offshore-Windparks nicht. Zwar fand man eine Lösung, durch Blasenschleier deren Lärmpegel zu mindern. Doch wird dieser aus Kostengründen oft eingespart.
Für ein so kleines Meer ist die Ostsee sehr international, die Anrainerstaaten sind Dänemark, Schweden, Finnland, Russland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Deutschland und Rügen (die nennen sich da Südschweden, und es ist ihnen vollkommen ernst damit).
Ehrlich gesagt ist Ostsee kein wirklich guter Name für so ein eindrucksvolles Gewässer. Das Baltische Meer klingt viel imposanter, noch besser: die Baltische See. Rechnet man das Kattegat dazu (Experten streiten darüber, ob es nicht zur Nordsee gehört), ist die Baltische See circa 412500 Quadratkilometer groß und beinhaltet eine Wassermenge von 20000 Kubikkilometern. Manche bezeichnen sie auch als das größte Brackwassermeer. Aber das klingt ja nun wirklich fies, so als würde jemand zu deinem geliebten alten Auto Schrottlaube sagen.
Aber bleiben wir bei der Ostsee und stellen wir uns einen dieser schönen Tage vor, der sich zu einem prächtigen Sommertag entwickeln wird. Schon morgens ist es warm. Doch noch weht ein angenehmes Lüftchen. Irgendjemand hat Kaffee gekocht, in der Hecke zwitschern Vögel, jemand beginnt bereits, Rasen zu mähen, es riecht nach frischem Gras, die Schwalben zischen durch die Luft.
Die großen Ferien haben begonnen, und alle Sachsen (ja, wirklich alle!) haben ihre Koffer gepackt und sich am ersten Samstag auf der Autobahn im Stau angestellt, der sie im Schritttempo an die Ostsee bringt. Nun verteilen sie sich über die gesamte Küste. Aufgeregt pilgern sie über die Promenaden der Badeorte, begrüßen alte Bekannte, halten Ausschau nach neuen Geschäften, versuchen anzukommen und sind doch in Gedanken nie weg gewesen. Sie sind guter Dinge, freuen sich auf den Urlaub und hoffen auf gutes Wetter.
Denn gemein kann die Ostsee schon sein, richtig gemein. Wenn man Pech hat, werden zwei Wochen Ferien schnell zu einem Regendesaster, mit Ehekrach, dauernassen Kindern und einer fetten Erkältung. Dann sind in kürzester Zeit sämtliche Schlechtwetterattraktionen abgearbeitet, inklusive Stau auf Hin- und Rückweg, und die Reisekasse ist schneller leer als geplant.
Aber dieses Mal ist uns die Ostsee hold. Sie zeigt sich von der besten Seite, gelten doch ihre Küsten als die sonnenreichste Gegend Deutschlands.
Vormittags ist es schon so heiß, dass man es hinter den Dünen ohne Hut nicht aushält und man das Eis gar nicht so schnell essen kann, wie es einem in der Waffel schmilzt. Die Strände, an denen meist eine starke Brise weht, füllen sich unablässig, jeder freie Platz wird genutzt. Von der Strandpromenade tönt Musik. Es riecht nach Bratwurst und Sonnencreme. Kinder kreischen, trampeln über Handtücher und machen die Klamotten nass, die trocken bleiben sollten.
Lachmöwen, Chroicocephalus ridibundus, stoßen aus der Luft herunter, tauchen zwischen den kleinen Zelten und Sonnenschirmen ab, fischen nach sandigen Pommes, nach Wurstzipfeln, nach Keksresten, lassen angewidert Zigarettenkippen fallen. Männer stehen am Wasser, machen die Schultern breit und ziehen den Bauch ein, bis sie es irgendwann vergessen, sich entspannen und die Schwerkraft ihre Arbeit tun lassen.
Vom Ehrgeiz gepackt, buddeln Väter eifrig Sandburgen und bemerken nicht, dass ihre Kinder der Baustelle des Vaters längst den Rücken zugedreht haben und ihre eigenen, nicht so hohen, glatten, perfekten Burgen bauen. Sehnsüchtig blicken sie den braun gebrannten Eisverkäufern nach, die mit ihren Quads den Strand auf und ab fahren und Eis verkaufen, welches es hinter der Düne, keine zehn Minuten Fußmarsch entfernt, zum halben Preis gäbe.
Mütter sitzen auf ihren Badehandtüchern und schauen denselben braun gebrannten Eisverkäufern nach, ohne einen Gedanken an Eis zu verschwenden. Sie wissen nicht, ob sie sich ins Wasser wagen sollen. Nicht wegen der Quallen oder der oft niedrigen Wassertemperaturen, sondern weil sie unsicher sind, ob sie nicht doch besser den dunkelblauen Badeanzug statt des pink leuchtenden Bikinis hätten kaufen sollen. Hier am Strand scheint dieser plötzlich noch viel weniger Haut zu bedecken als noch vor dem heimischen Spiegel.
Kleine Käfer und Fliegen krabbeln durch das Zelt, kleben auf der Haut. Wespen tauchen auf, wo immer sich eine Bierflasche, ein Eis oder eine Bratwurst zum Munde bewegt. Ältere Herrschaften, die wie selbstverständlich ihre eigenen Regeln aufstellen, entkleiden sich auch am Textilstrand ganz und gar, um steifbeinig ins Wasser zu staken, als hätten sie gar kein Kälteempfinden mehr. Tatsächlich schwimmen sie schnurstracks aufs Meer hinaus. Jugendliche schlafen in der Sonne und verbrennen sich die Haut oder spielen Volleyball zwischen den Leuten und verbrennen sich die Haut, und der hochgeschleuderte Sand wird vom Wind aufgenommen, rieselt weiträumig auf die Strandgäste, bepudert Eis und Bratwürste. Leute rennen in die Dünen, obwohl es verboten ist. Manche allein, manche zu zweit. Möglicherweise schaut man Letzteren mit nostalgischen Gefühlen hinterher.
Es ist also zu heiß, zu laut, zu eng, zu teuer, zu sandig, aber genau das ist es!
Man möchte da sein.
Man möchte immer wieder kommen.
Man möchte gar nicht mehr weg.
Denn von der Promenade tönt Musik. Es riecht nach Sonnencreme, Bratwurst und Pommes, nach Fichten und nach Tang. Kinder essen Eis und kreischen im Wasser, Männer buddeln und vergessen sich und ihre alltäglichen Probleme, ihren Job, den Hauskredit, den Fußballverein. Frauen sitzen und schauen und entspannen sich ganz langsam, und eigentlich ist es ihnen längst egal, ob die Klamotten der Kinder nass geworden sind und Sand an den Keksen klebt. Jugendliche spielen Ball, bespritzen sich mit Wasser, sind gelöst und albern und nicht die coolen Typen, die sonst vorm McDonald’s abhängen. Und heut Abend werden sie nicht schlafen können, weil ihre Haut glüht und das Lagerfeuer brennt und jemand Gitarre spielt.
Die Sonne blendet, der Sand ist so heiß, man kann kaum treten. Das Meer rauscht, die Wellen brechen, rollen über die Buhnen, kleine Steinchen kullern im Sog hin und her, hoffnungslose Romantiker greifen danach, im Glauben, es sei Bernstein. Strandwanderer kreuzen, bücken sich nach Muscheln, bleiben stehen, wenn jemand vor ihnen ins Wasser rennt, müssen Kleckerburgen umrunden. Ältere Frauen belächeln die Familien mit den Kleinkindern in seliger Erinnerung. Der Rentner kommt aus dem Wasser, Tang hängt zwischen seinen Beinen, und niemand beachtet ihn. Die Frau im pinken Bikini wagt sich doch nach vorn ans Wasser und würde sich wohl geschmeichelt fühlen, wüsste sie, was die Männer hinter ihren verspiegelten Sonnenbrillen darüber denken.
Gerade war noch Vormittag, nun wird es schon Abend. Man weiß nicht, wo die Zeit geblieben ist. Die Sonne steht tief. Lauer Landwind kommt auf. In der Ferne kreist der Haliaeetus albicilla, der Seeadler, und hält Ausschau nach Fischen und Wasservögeln.
Doch wenn niemand hinsieht, setzt der König der Lüfte zum Landeanflug an und tut sich an toten Fischen gütlich. Am Horizont zieht ein riesiger Tanker seine Bahn. Segelschiffe kehren gemächlich von kleiner Fahrt zurück. Die Bars öffnen. Irgendwann packen alle zusammen, machen Pläne für das Abendessen, sammeln die Kinder ein. Glücklich, erschöpft, die Haut ist gerötet. Sand rieselt aus jeder Ritze, die Lippen schmecken nach Salz.
Nur die Jugendlichen bleiben. Bleiben, bis der Tag zur Neige geht. Bleiben, bis der Himmel sich rot färbt, die Leuchttürme blinken und die Sonne zischend im Meer versinkt.
Das ist so ein Tag. Ein Tag am Meer. Eine Erinnerung, die einem für den Rest des Lebens bleibt.
Es ist genau so ein Tag, an dem der große schwarze BMW über die unbefestigte Straße durch ein Kiefernwäldchen schleicht. Er schaukelt wie ein Boot durch die von Wohnmobilen ausgefahrenen Wellen des Waldweges. Dieser BMW ist eines der ganz großen Modelle. Eines, nach denen man sich auf der Straße umsieht, weil er so teuer und selten ist und weil man als Normalsterblicher darüber staunt, dass es Menschen gibt, die sich einen solchen Wagen leisten können. Und weil man als dessen Besitzer niemanden vermutet, der sein Geld auf ehrliche Art und Weise verdient.
Staub wirbelt träge auf in der sommerlichen Hitze, Kiefernzapfen geraten unter die Räder und tauchen beinahe unversehrt wieder auf. Die nachmittägliche Sonne, die gelegentlich zwischen den Bäumen zum Vorschein kommt, reflektiert in den verschlossenen, grünlich getönten Scheiben des Wagens. Es riecht herrlich, nach Wald, Wärme und salzigem Wind. Doch abgeschirmt vor der Hitze, sitzen die Insassen in ihrem eigenen künstlichen Klima. Zwischen den Kiefern wächst ein dünner Grasteppich wie Velours, wäre man aufmerksam, hörte man ein paar Singvögel träge piepsen und die Wellen der Ostsee rauschen. Vom nahen Strand ertönt ein Möwenschrei.
Ein Sciurus vulgaris, ein Eichhörnchen, schaut aus etwa sechs Metern Höhe von einem Ast herab, wo es seinen Kobel hat. Es hat von den schwarzen Eichhörnchen gehört, die angeblich in die Reviere eindringen und die roten einheimischen Eichhörnchen vertreiben, doch das Ding da unten scheint keines zu sein. Ohnehin handelt es sich bei den schwarzen Eichhörnchen um Tiere derselben Art. Aber so ist es ja immer. Erst mal Panik machen.
Jetzt hält der Wagen an, schaukelt sacht auf seiner weichen Federung, die eigentlich dazu gebaut wurde, die Wageninsassen über die sanierungsbedürftigen Straßen Berlins schweben zu lassen. Die von ihm aufgewirbelte Staubwolke legt sich als feiner Film über den Lack.
Die Scheibe auf der Fahrerseite wird heruntergelassen, und der Fahrer wirft einen ungläubigen Blick auf das, was sein Navi ihm gerade befohlen hat: Biegen Sie jetzt links ab.
Von der Hauptstraße, die diesen Namen gar nicht verdient, zweigt ein Weg ab, kaum mehr als eine Doppelspur zwischen den Kiefern hindurch, und führt eine leichte Anhöhe hinauf. Zwischen den Bäumen schimmert etwas Weißes.
»Hier soll es sein?«, fragt der Fahrer. Der Mann ist sechzig, sein Haar ist dunkel, fast schwarz, ein wenig zu lang, nach hinten gekämmt und mit viel Gel fixiert. In Wirklichkeit ist sein Haar längst ergraut, und in Wirklichkeit hätte er wahrscheinlich gar nicht mehr so viele Haare auf dem Kopf. Doch mehrfache Haartransplantationen vertuschen die grausame Realität.
Der Fahrer des BMW ist groß und kräftig, jedoch nicht dick, eher massig. Ein Bär von einem Mann, wie es so schön heißt, und beinahe wirkt seine stattliche Erscheinung wie eine Legitimation, diesen Wagen zu fahren. Der Mann trägt einen dunkelroten Schlips auf weißem Hemd. Eine große spiegelnde Sonnenbrille amerikanisiert sein Gesicht, macht ihn zum Kleinstadtsheriff. Es fehlen nur der Cowboyhut und der goldene Sheriffstern.
Nun nimmt der Mann die Sonnenbrille ab, und die Illusion verliert sich sofort. Jetzt sieht er aus wie ein Mann, dessen Job viel Stress mit sich bringt und der es doch gewohnt ist, das Sagen zu haben. Unter seinen Augen haben sich in den letzten Jahren beachtliche Tränensäcke gebildet, und die Falten in seinem Gesicht kommen bestimmt nicht vom Lachen.
»Wirklich? Hier?«
»Weiß ich doch nicht.« Die blondierte Frau neben ihm ist seine Ehefrau, und sie ist skeptisch. So wie die Reifen des BMW an den Großstadtasphalt Berlins gewöhnt sind, so ist sie an das Leben in der Stadt angepasst. An das gute Leben, mit den Cafés, den Modeboutiquen, den Frauenfitnessstudios mit persönlichen Trainern, den Schönheitssalons und den Mittagessen ganz oben im KaDeWe, an das Penthouse mit Blick über die Stadt, mit Aufzug und Portier. Sie profitiert von der Stellung ihres Mannes und schämt sich nicht dafür. Das hat sie sich verdient, das steht ihr zu. Schließlich ist es auch nicht einfach, einen Mann wie ihn auszuhalten, psychisch und physisch.
Neben ihm wirkt die Frau klein und untersetzt, aber sorgfältig geschminkt und mondän frisiert. Morgen, weiß sie, würde ihr Haar nicht mehr so aussehen. Sie überlegt schon die ganze Fahrt über, welches Kostüm sie morgen wohl am Strand tragen wird und ob sie allein eingeladen waren oder ob (Gott bewahre) auch all die anderen kämen. Sie beugt sich ein wenig vor, um etwas sehen zu können, sieht aber auch nur grünen Rasenvelours, Kiefern und die Spur zwischen den Bäumen. Das Eichhörnchen sieht sie nicht. Sie zuckt mit den Schultern. Für die Navigation ist ihr Mann zuständig.
Der Mann kennt dieses Schulterzucken. Von dieser Seite kommt keine Hilfe. Er ist auch sonst Kummer gewohnt, denn er ist ein CDU-Mann und hat es als Senator nicht leicht in Berlin. Ein kleiner, eingeschworener Wählerkreis beschert ihm mit eigentlich beruhigender Regelmäßigkeit seinen Posten. Doch da er weder migriert noch homosexuell noch körperbehindert ist (das sagt er selbst gern am Stammtisch) und auch sonst unter keinerlei Artenschutz steht (das sagt seine Frau), gehört er im Berliner Senat zu einer Minorität und ist Angriffen von allen Seiten ausgesetzt. Ständig will man ihm etwas ankreiden, andauernd soll er seine Finanzen offenlegen, immerzu lauert ihm jemand auf, will Beweise dafür haben, dass er Steuergelder verschwendet, dass er gegen private Spenden Aufträge vergibt, dass er die Sache mit dem Flughafen verschlampt hat. Und zu allem Übel scheint jemand aus der eigenen Fraktion seit einigen Monaten belastende Unterlagen aus seinem Büro zu entwenden, um sie direkt der taz zu übergeben. Es ist nicht wirklich brisantes Material, eher so Denkspiele, Rechenexempel, Was-wäre-wenn-Skizzen, geänderte Bauunterlagen, nicht öffentlich ausgeschriebene Bauverträge, Geschenke. Was kann er überhaupt dafür, dass Bauunternehmer ihm Geschenke machten? Reisen, Hotelaufenthalte, Fahrräder, Kleinwagen. Es wäre ja unhöflich, stets alles abzulehnen.
Er hat nicht die geringste Ahnung, wer von seinen Leuten der Maulwurf sein könnte. Keinem von denen traut er das zu, keiner hätte wirklich Grund, ihm in den Rücken zu fallen. Aber jeder ist käuflich, weiß er, man muss ja nur seine Senatorenkollegen betrachten. Nein, niemandem kann er mehr trauen.
Noch einmal sieht er auf den kleinen Bildschirm mit dem großen roten Pfeil, der nach links deutet. Doch wenn man nicht einmal mehr seinem Navi Glauben schenken darf, wem denn dann? Kurz entschlossen schlägt er das Lenkrad ein, nimmt den Weg, die sanfte Steigung hinauf.
Ein Acheta domesticus, ein Heimchen, beginnt zu singen, indem es seine Schrillader unter dem rechten Flügel über die Schrillkante auf dem linken Flügel bewegt und somit das Stridulationsgeräusch verursacht. Als es bemerkt, dass es zu früh ist, zieht es sich beschämt zurück.
Nach etwa hundert Metern erreicht der BMW ein von Hecken umsäumtes Grundstück. Ein offenes schmiedeeisernes Tor zwischen zwei steinernen Pfosten, auf denen jeweils ein Löwe thront, wirkt einladend. Die Einfahrt ist ein Bett aus strahlend weißem Kies, der so sehr blendet, dass der Fahrer seine Brille wieder aufsetzen muss.
Wären es nicht die Räder des Wagens, könnte man meinen, seine Zähne knirschten im Zorn. Seine Kiefer mahlen, an der Schläfe schwellen die Adern. Er hält sich in dem großen Rondell rechts, fährt eine Viertelrunde und stoppt in sicherem Abstand zu der wirklich, wirklich großen Villa.
Der Fahrer, nennen wir ihn Erwin, schüttelt fassungslos den Kopf, beugt sich weit vor über das Lenkrad und lugt durch die Frontscheibe des BMW, um das Gebäude in seiner vollen Größe in Augenschein zu nehmen. Es gelingt ihm nicht ganz, denn zwei Türmchen mit Wetterfahnen recken sich eifrig in den blauen Himmel.
»Das kann nicht sein Ernst sein. Was der Alte sich nur dabei gedacht hat?«
Gisela, Erwins Frau, sieht aus dem Seitenfenster. Sie kann bis zu den Spitzen der Türmchen hinaufsehen. Ihr gefällt das Haus. Es trifft genau ihren Geschmack. Es hat nur einen entscheidenden Makel: Es ist nicht ihres.
»Ich hab es dir gesagt. Du hättest eher mit ihm reden sollen!«
Ja, das kann sie gut. Vorwürfe machen.
»Was denn reden?«, knurrt Erwin und kann seinen Blick nicht losreißen.
»Du weißt genau, was ich meine. Dass er deine Vormundschaft anerkennt, dass du über sein Vermögen verfügen kannst, ehe er in seiner Senilität alles verprasst!«
»Erstens: Es ist sein Geld«, sagt Erwin und denkt insgeheim etwas anderes, »und zweitens: Er ist nicht senil! Er mag zwar klapprig sein, aber hier«, Erwin tippt sich an die Stirn, »hier tickt noch alles richtig!«
»Du wirst sehen, wenn der mal den Löffel abgibt, ist nichts mehr da!«
»Mama!«, mahnt da eine junge Frau von der Mitte der Rückbank. Es ist Regina, die jüngere Tochter des Ehepaares. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt, auf die Entfernung sehr hübsch, schlank, dunkle Haare, dunkle Augen. Betrachtet man sie näher, wirkt sie abgekämpft, müde und schwitzt trotz der Klimaanlage. Stille Hysterie begleitet sie bei allem, was sie tut, und schon immer glaubt sie, dass immer alles schiefgehen wird. Das ist grundsätzlich gar keine schlechte Einstellung, vermeidet man so größere Enttäuschungen.
Das Schlimme daran ist, dass ihr Vater genau das Gleiche glaubt von seiner jüngeren Tochter und sie schon längst als hoffnungslosen Fall aufgegeben hat.
Regina wünscht sich nichts mehr als Ruhe und Frieden. Sie hasst den Beruf ihres Vaters und wünschte, er hätte einen normalen und vor allem richtigen Beruf. Wozu Politiker nicht zählt.
Rocco, Reginas Sohn und Erwins Enkel, ist noch nicht vier Jahre alt und schläft links von ihr in seinem Kindersitz. Sein Kopf hängt nach vorn, die Haare sind verschwitzt. Seine Nase läuft, und er riecht verdächtig. Doch die Augen sind geschlossen.
Alle Anwesenden sind froh über diesen Zustand. Es hat eine Ewigkeit gedauert, den Jungen müde zu machen, fast den gesamten Weg von Berlin hierher. Ständig verlangte er nach seinem Spielzeugauto und nach seiner Plüschkuh, die sich nach Reginas Angaben beide hinten in einem der Koffer befinden sollten, tief im Kofferraum versteckt. Erst nachdem Erwin auf einer Autobahnraststätte ziemlich unwirsch alle Koffer durchsucht hatte, war man zu dem Schluss gekommen, dass Auto und Kuh in der Hektik des Aufbruchs wohl zu Hause vergessen worden waren. Regina war darüber in stumme Panik geraten, denn der Junge schlief nie ohne Kuh und Auto. Nun waren sie gezwungen gewesen, den Jungen von Kühen und Autos abzulenken, was nicht gerade leicht war auf einer voll befahrenen Autobahn und anschließenden Überlandfahrt. Erst kurz vor der Insel Usedom, nach zahllosen Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-Runden, nervtötenden Klatsch- und Singspielen und vier Pipistopps übermannte Rocco zu Erleichterung aller der Schlaf.
Moment, eine Person betrifft das nicht. Ein zweiter Junge sitzt ganz rechts auf der Rückbank. Auch er ist ein Enkel Erwins. Er ist vierzehn, hat glattes, etwas zu langes dunkelblondes Haar, das mühsam zur Tolle aufgeföhnt ist, und leichte Akne im Gesicht. Seine Zahnspange ist erst seit einigen Tagen aus dem Mund verschwunden. Diese Zahnspange, vielmehr der Umstand, sie tragen zu müssen, hatte den Jungen seit Jahren belastet. Kaum, dass er den Mund zu einem Lächeln öffnen, ein Wort zu viel sagen oder bei irgendeiner Gelegenheit in den Vordergrund treten wollte.
Nun aber könnte er sich befreit fühlen, das Leben genießen, es endlich wagen, auf Leute zuzugehen, vor allem auf Mädchen. Doch seitdem seine Großeltern ihn in Potsdam eingesammelt haben, ist sein Blick nicht ein einziges Mal von dem Smartphone in seinen Händen gewichen. Was um ihn herum geschieht, ist ihm egal, solange es ihn nicht direkt betrifft. Sein Cousin Rocco auf der anderen Seite von Tante Regina ist für ihn so fern wie der Mann auf den Mond. Opa Erwins unterschwelliger Zorn, Oma Giselas ewige Unzufriedenheit sind nichts weiter als Hintergrundgeräusch. Und der Alte, von dem alle sprachen, ist ihm sowieso egal.
Nennen wir den Jungen Tom. In einer anderen Realität heißt er Dunkler Rächerelf, ist ein Krieger der elften Stufe, fähig, ein Rudel Wölfe zu führen. In einer weiteren Realität heißt er Nachtschatten, ist ein Assassine, ein lautloser Mörder, Godfather der Meuchelgilde. In einer vierten Realität nennt man ihn Lord Memrod, und er ist ein wüster Herrscher in einem Strategiespiel. Im echten Leben wünschte er, T genannt zu werden. Einfach so. Die Leute in seiner Schulklasse nennen ihn jedoch T-Beutel, denn Spitznamen haben ihre eigene Dynamik. Seine Eltern nennen ihn einfach Thomas, wie es in seiner Geburtsurkunde steht.
Toms Mutter Carola, die ältere Tochter von Erwin und Gisela und somit die Schwester von Regina, kann aus beruflichen Gründen nicht mitkommen. Wobei sie nicht gern über ihren Beruf spricht. Tom weiß, dass sich seine Mutter absichtlich vor Familienzusammenkünften drückt. Toms Vater Jens hat sich ebenfalls entschuldigt, er ist Feuerwehrmann und damit arm dran, denn Feuerwehrleute haben immer gerade Dienst, wenn es darum geht, an Familienzusammenkünften, Beerdigungen oder Schulausflügen teilzunehmen.
Doch das alles ist Tom vollkommen egal. So egal, wie es einem Teenager nur egal sein kann.
Erwin, der große CDU-Mann, mag Tom lieber als Rocco, obwohl er seine Enkel eigentlich gleich liebhaben müsste. Tom war immer ein stilles Kind gewesen, es genügte, wenn man ihm eines dieser elektronischen Spielgeräte in die Hand drückte, während Rocco ein unerzogenes, verwöhntes und vor allem unberechenbares Ekel ist.
Früher war Rocco niedlich, ein richtiger Wonneproppen. Egal, was er absonderte, und war es nur ein Pups, es wurde mit Beifall begrüßt. Jedes Zimmer wurde ihm zur Bühne, ständig verdunkelte sich der Himmel über seinem Kinderwagen wegen der Köpfe verzückt dreinblickender Männer und Frauen. Rocco war mal der Star der Familie gewesen, doch der Ruhm war ihm zu Kopf gestiegen. Seine Vorstellungen verloren an Reiz. Inzwischen kann ihn niemand mehr leiden. Außer vielleicht Regina, auf deren mahnenden Tonfall ihre Mutter Gisela nun nicht eingehen will. Für alle anderen ist er nur noch nervig. Ein kleiner Tyrann, voller Ansprüche. Aber schlau. Und durchtrieben.
Zurück zum BMW, der im weißen Kies steht. Erwin glotzt die Villa an, Gisela unterstellt dem Alten Altersblödheit.
Angesichts der großen weißen Villa, die der Alte sich geleistet hat im achtundachtzigsten Jahr seines Lebens, scheint Gisela nicht ganz im Unrecht zu sein. Wer weiß, welchem Immobilienmakler er auf den Leim gegangen ist, denkt sie sich, wer weiß, was an der Bude nicht stimmt. Diesen Immobilienmaklern ist alles zuzutrauen. Gisela weiß, wovon sie redet. Bevor sie Erwin kennenlernte, hat sie selbst in der Immobilienbranche gearbeitet. Die Prämien, die sie dabei ergattert hat, waren nicht die schlechtesten gewesen.
Hätte sich der Alte nicht einfach davonstehlen, wie er es schon oft getan hatte in seinem Leben, und ihnen diesen Anteil seines vermutlich beträchtlichen Vermögens hinterlassen können? Sie hätte Erwin endlich überzeugen können, die Politik aufzugeben. Aber weil Erwin nicht einmal halb so viel Ehrgeiz entwickeln kann wie sein alter Herr, hatten sie keine Millionen Spendengelder auf geheime Konten umgeleitet und kein schönes Leben in der Schweiz in Aussicht.
Stattdessen nun dieses riesige Haus, welches erst mal wieder verkauft werden musste. Das würde Gutachterkosten und Maklergebühren nach sich ziehen, dazu noch Unterhaltskosten und Steuern. Das würde eine erkleckliche Summe ergeben, deren anteilige Zahlung sich zumindest einer im Kreise der Erben nicht leisten können würde.
Dieser Gedanke lässt Gisela seufzen. Sie presst die Lippen zusammen. Wie konnte er nur, der Alte. Das ist keine Villa mehr, das ist ein Schloss, bestimmt älter als hundert Jahre. Was das gekostet haben muss? Gisela schaudert. Saniert ist das Gebäude, die Türmchen glänzen wie Elfenbein. Fensterläden und Balustraden sehen aus wie handgeschnitzt, das war selbst in Polen nicht mehr billig. Die Malerei über der Eingangstür stammt von einem alten Meister, einem der letzten wahrscheinlich, die überhaupt noch in der Lage sind, so etwas ohne Schablonen zu zaubern. Aus dem Brunnen vor der Sandsteintreppe sprudelt klares Wasser aus den Mäulern verschiedenster Meerestiere.
»Na dann«, brummt Erwin in demselben Tonfall, mit dem er sich bei Pressekonferenzen der Journalistenmeute stellt, und steigt aus dem BMW. Gisela nimmt den großen weißen Strohhut vom Armaturenbrett und folgt ihrem Mann. Etwas unsicher steht sie im Kies, setzt den Hut auf und zieht das Kleid straff. Insgeheim denkt sie sich, dass es hier draußen wunderbar nach Meer riecht und dass sie versuchen sollte, ein wenig zu entspannen. Vielleicht wird alles nur halb so schlimm.
Da sollte sie sich gründlich irren.
Der Moment der Stille währt nur kurz. Genau genommen nicht einmal eine Sekunde. Als hätte es ein Dramaturg geplant, nähert sich Motorengeräusch und wird schnell lauter. Dann rauscht ein mächtiger silberner Jeep auf das Grundstück, fährt rechts an dem BMW vorbei, bespritzt ihn mit kleinen weißen Steinchen und bremst schließlich hart.
Der Fahrer drückt fanfarengleich auf die Hupe.
»Was für eine Bude!«, blökt er aufgedreht durch das offene Fenster. Seine Frau auf dem Beifahrersitz winkt geziert und zeigt blendend weiße Zähne.
»Oh nein«, stöhnt Erwin.
»Ich hab es dir ja gesagt«, zischt Gisela und zwingt sich ein Lächeln ins Gesicht angesichts ihres Schwagers und dessen Frau. Dessen neuer Frau.
»Und, ändert das jetzt irgendwas?«, presst Erwin ebenfalls lächelnd durch seine Zähne.
»Papa!«, mahnt Regina. Sie hat sich Rocco zugewendet, doch der schläft weiter, trotz des lauten Hupens. Regina wundert sich, denn daheim genügt das leiseste Geräusch, um das Kind aus dem Schlaf fahren zu lassen.
Jetzt aber regt sich Rocco nur ein wenig und schüttelt unwillig den Kopf.
»Ähhhhh!«, sagt der kleine Junge und sein Kopf fährt hoch.
Alle drehen sich zu ihm um und starren ihn an, nur nicht Tom, der starrt auf sein Smartphone.
Das piepst leise. Tom hat gerade Probleme. Sein Dorf wird angegriffen, und seine Türme waren noch nicht fertig gebaut, erst recht nicht sein Burgwall. Nun muss er Baukräfte vom Turm abziehen, damit sie Schleudern bauen können. Toms Blick zuckt zur Akkuanzeige, und das erste Mal seit drei Stunden zeigt er eine Gemütsregung.
Oder ist es doch nur ein nervöses Zwinkern?
Rocco schmatzt im Halbschlaf. Sein Kopf kippt wieder nach vorn, er schläft weiter. Vor seinem Mund bilden sich kleine Bläschen. Erwin atmet aus, verzieht unbewusst das Gesicht.
Der Mann im Jeep ist Harald, Erwins Halbbruder und vier Jahre älter als er. Vier Jahre, von denen er drei allein mit seinem Vater verbringen durfte. Drei Jahre, in denen Vaters Aufmerksamkeit nur ihm galt und keinem anderen Kind.
Das denkt Erwin. Natürlich schenkte der Vater dem kleinen Harald nicht die ganze Aufmerksamkeit. Der größte Teil galt den Geschäften, der nächstgrößte Teil den Frauen. Harald und seine Mutter durften sich mit dem mageren Rest begnügen. Harald lernte schnell, seinem Vater auszuweichen, denn der hatte immer mal eine Schelle parat, auch wenn es gar keinen Grund gab. Doch diese drei Jahre waren Erwin Anlass genug, seinem älteren Bruder dies ein ganzes Leben lang übel zu nehmen.
Harald, auch er ein großer kräftiger Mann, dessen Haar schon weit über die Stirn zurückgewichen und ergraut ist, steigt nun aus seinem Wagen. Im Gegensatz zu Erwin hat er noch nie einen Gedanken an eine Haartransplantation verschwendet. Er lässt das, was noch übrig ist auf dem Kopf, einfach wachsen und bindet es zu einem Zopf.
Nun knallt er die Jeeptür zu, vergisst dabei aber seine neue Frau. Wahrscheinlich ist er noch nicht an sie gewöhnt. Oder weil er einfach schlechte Manieren hat.
Wider besseres Wissen hat die neue Frau wohl gehofft, dass er ihr aus dem Auto hilft. Leicht beleidigt, eher noch peinlich berührt, macht sie sich am Türöffner zu schaffen. Tut beinahe so, als sei der Hebel etwas Unanständiges, das zu berühren ihr der Anstand verbietet. Sie benutzt hierfür nur zwei Finger und presst umständlich mit dem rechten Unterarm gegen die Tür. Endlich schwingt die gewaltige Beifahrertür auf und zieht dabei die Frau beinahe mit aus ihrem Sitz. In einer Abfolge affektierter Bewegungen, die verhindern sollen, den sowieso schon kurzen Rock nicht noch höher rutschen zu lassen, überwindet sie den Höhenunterschied von fast einem Meter zum Boden. Dann muss sie sich noch einmal strecken, nimmt ihren weißen Strohhut, der im Durchmesser mindestens doppelt so groß ist wie Giselas, vom Armaturenbrett und setzt ihn auf.
Harald hat indessen eine Zigarettenpackung aus der Hemdtasche geholt, klopft sich eine Zigarette heraus, holt nun aus der Hosentasche ein silbernes Feuerzeug hervor und zündet sich die Kippe an. Genüsslich saugt er den Rauch ein, tut etwas für die Umwelt, indem er ihm den Großteil aller gefährlichen Inhaltsstoffe entzieht, und bläst ihn wieder aus. Nun schlendert er lässig dem BMW