Am Ende der Dunkelheit

Durch einen Unfall verliert der 13-jährige Beer sein Augenlicht. In der nächsten Zeit durchlebt er Phasen der tiefsten Niedergeschlagenheit, aber auch Augenblicke der Hoffnung. Seine Familie wird vor Probleme gestellt, die nur mit viel Einfühlungsvermögen zu bewältigen sind. Doch trotz aller Verzweiflung und Angst, in die Beer gestürzt wird, eröffnen sich ihm neue Wege und Möglichkeiten, dieses veränderte Leben zu meistern.

Auswahlliste Silberne Feder des Deutschen Ärztinnenbundes

Jaap ter Haar

Behalt das Leben lieb

Roman

Aus dem Niederländischen von
Hans-Joachim Schädlich

1

Ein schreckenerregender Schrei, von Angst und rasendem Schmerz erfüllt. Sein Echo hallte wider und wider.

»Berend!«

»Beer ...!«

Bennies und Goofs Stimmen, ganz nahe, doch zugleich so unwirklich wie Geflüster in einer leeren Kirche. Eilige Schritte. In der Ferne das aufreizende Gesurr von Mofas. Und der Schmerz. O Gott, der Schmerz.

Während er stürzte, begriff Berend noch, dass er geschrien hatte. Ein wahnsinniger Schmerz durchschnitt seinen Körper und um ihn herum schien alles zu verschwimmen.

»Einen Arzt! Holt einen Arzt!«

Geräusche aus einer anderen Welt schienen zu ihm zu dringen, flüchtig, nicht erkennbar, vom Wind wieder fortgetragen. Eine Sirene heulte.

Dann barst etwas. Die Finsternis eines Urwaldes. Eine Welt voller Farbe. Und dann nichts mehr.

Berend hatte das Gefühl, in einer seltsamen Welt, die immer größer wurde, ganz allein zu sein. Sein Körper schien nicht mehr zu existieren, nur noch der Raum in seinem Kopf, in dem es hämmerte und schlug, in dem Feuerwerk sprühte, Züge zusammenstießen und laute Trommelklänge dröhnten. Allmählich löste sich das Chaos der Bilder und Farben auf. Er hörte jetzt das Rascheln einer gestärkten Schürze und roch die besondere, strenge Luft eines Krankenhauses. Strich da eine Hand über sein Haar? Es war dunkel. Berend versuchte, seine Augen zu öffnen, aber es blieb dunkel und er spürte einen stechenden, blendenden Schmerz. Seine rechte Hand mit zwei tüchtigen Schürfwunden glitt unruhig über das Laken.

»Wo bin ich?«

»Wir sind bei dir, Beer!«

Das war Vaters Stimme und eine vertraute Hand legte sich ermutigend auf seine Schulter. Berend versuchte, sich aus der verwirrenden Traumwelt in seinem Kopf loszumachen. Er musste seine Augen öffnen. Wach werden. Vater sehen. »Meine Augen! Wo sind meine Augen?« Beinahe unbewusst führte er seine Hand zu den Augen. Seine verwirrten Finger glitten tastend über den dicken Verband.

Er hörte ein kurzes Schluchzen, dann die sanfte Stimme von Mutter: »Mein Kleiner, hab keine Angst. Ich bin hier, neben deinem Bett!«

»Der Schmerz, der Schmerz ...« Berend wollte nicht weinen, nicht schreien, aber er hielt es nicht mehr aus. Seine Finger zerrten immer aufgeregter an dem Verband.

»Schwester!«, rief Mutter mit einer sich überschlagenden Stimme.

Schwester? Welche Schwester?

Die Decke wurde zurückgeschlagen. Beer fühlte den Stich einer Injektionsnadel in seinem Schenkel. Sein Bein zuckte. »Sei ruhig, mein Kleiner. Du brauchst keine Angst zu haben!«

Mutters Stimme kam nun aus großer Ferne. In diesem Moment spürte Berend mit aller Heftigkeit das fiebrige Glühen seines Körpers, das Pochen in seinem Blut. Und den Schmerz, diesen höllischen Schmerz in seinem Kopf. Da erfasste ihn einen Augenblick lang Panik. Starb er? Er wollte aufspringen, sich an irgendetwas festhalten, sich dem Tod widersetzen. Eine Hand drückte ihn zurück und da schien das Sterben auf einmal nicht mehr so schlimm zu sein. Er war nicht der Erste und würde auch nicht der Letzte sein. Dennoch blieb der Drang, um das Leben zu kämpfen.

Die undeutlichen Stimmen von Vater und Mutter und die Geräusche des Krankenzimmers trieben unaufhaltsam fort. Berend sank in einen Urwald voller unfassbarer Gestalten zurück, in eine Welt voller Farben, zurück in Leere und Düsternis.

Niemand kennt den Abstand zwischen Leben und Tod. Niemand wusste, welche Strecke dieses Weges Berend zurückgelegt hatte. Die Ärzte und Krankenschwestern wussten nur, dass er dem Ende nahe gewesen war. In Fieberträumen war er bewusstlos in die tiefe, unerreichbare Welt hinabgetaucht, die auf dem Grunde jedes Menschen verborgen liegt. Dort bewegte er sich in dunklen Tunnels, sah drohende Ungeheuer und geriet in eine zeitlose Angst. Doch er ging in der Tiefe auch durch grüne Landschaften; und Gefühle des Glücks bewiesen, dass das Tiefste der menschlichen Seele nicht allein vom Elend erfüllt ist.

Zwei Tage und drei Nächte war Berend fast ununterbrochen bewusstlos. Manchmal war er unruhig und schrie. Manchmal auch zog unter dem dicken Verband ein stilles, glückliches Lächeln über sein weißes Gesicht. Dann hörte die Krankenschwester, die Wache hielt, geflüsterte Worte: »Gerne« oder »wie schön«. Und einmal sagte er deutlich hörbar: »Danke!«

Auf dem langen Weg zwischen Leben und Tod begann das hohe Fieber in der dritten Nacht zu sinken. Die Atmung wurde ruhiger und der Herzschlag fand den ruhigen Rhythmus von früher wieder.

Berend erwachte an diesem dritten Morgen, als hätte man ihn aus dem Traum eines beinahe bodenlosen Schlafes geweckt. Und langsam drang in sein Bewusstsein, dass er wach war. Er hatte schrecklichen Durst. Und der Schmerz kehrte zurück, doch nicht mehr so peinigend wie zuvor. Schmerz ...? Träge stellten schattenhafte Erinnerungen sich ein: Mutters sanfte Stimme, Vaters Hand und die undeutlichen Bilder, die sich wie im Dämmerlicht auf dem Bildschirm seines Traums bewegt hatten.

Schritte näherten sich. Sie klangen nackt und hohl auf dem harten Linoleum. Jemand zog die Vorhänge auf. Das war an dem metallischen Geräusch zu hören. Da stimmte was nicht, dachte Berend. Das Zimmer blieb dunkel.

»Mutter, bist du es?«

Mutter musste diese fremden Geräusche doch erklären können, den Schmerz und die Übelkeit erregende Luft.

»Wo bin ich?«

Eine kühle Hand ergriff seinen Arm.

»Du bist im Krankenhaus, Berend. Ich bin die Krankenschwester, Schwester Wil.«

Krankenhaus? Schwester Wil? Beer begriff nicht. Krampfhaft suchte er nach einem Anhaltspunkt. Ja, die Schule war zu Ende gewesen. Bennie hatte auf die Französischarbeit geschimpft und Goof hatte mit diesem kaputten Ball zum Schreien komisch à la Cruyff gespielt und dann diesen schrägen Schuss abgefeuert. Und dann ...? War er dann nicht auf die Straße gerannt, um den Ball zu erwischen? Und über Goofs Tasche gestolpert ...? Die Bilder wollten noch nicht klarer werden.

»Was ist passiert?«

»Du hattest einen Unfall, als die Schule aus war.«

»Einen Unfall?«

War er angefahren worden? Dann musste er ganz schön verletzt sein. Zögernd bewegte Berend seine Beine, dann seine Arme. Gott sei Dank, das tat nicht weh. Die waren noch heil.

»Deine Eltern werden bald hier sein. Die wissen, was sich abgespielt hat. Ich bin nicht dabei gewesen, verstehst du?« Beer fühlte wieder den Verband um seinen Kopf. Natürlich! Deswegen konnte er nichts sehen. Er drückte seine Hände auf den Bauch, die Schenkel, die Brust. Da schien alles vollkommen in Ordnung zu sein.

»Willst du was trinken?«

»Gerne, Schwester!«

Die Stimme der Schwester klang hell, freundlich und bestimmt. Die wusste, was sie tat. Beer wollte sich aufrichten, doch plötzlich pochte der Schmerz wieder in seinen Augen und erfüllte seinen ganzen Kopf.

»Bleib ruhig liegen. Ich geb dir eine Schnabeltasse.«

Ein Schnabel wie von einer Teekanne wurde zwischen seine trockenen Lippen geschoben. Lauwarmer Tee. Er trank ein paar Schlucke. Wie gut das seinem Mund tat!

»Vielen Dank«, sagte er aus tiefstem Herzen und versuchte mit neuer Kraft, seine Gedanken zu ordnen.

»Ich muss jetzt gleich weg«, sagte die Schwester. »Versuch, noch ein bisschen zu schlafen.«

Das Rascheln der Schürze. Geklirr von einem Schüsselchen. Schritte zur Tür. Beer blieb allein zurück, von vagen, unbestimmten Geräuschen des Krankenhauses umgeben. Welches Krankenhaus war das? Und wie lange würde er hierbleiben müssen?

»Dumm, das hätte ich fragen sollen«, murmelte er. Er wollte auch wissen, wann sie ihn von diesem dicken, drückend heißen Verband befreien würden, denn die andauernde Dunkelheit gefiel ihm gar nicht. Außerdem hätte er diese Schwester Wil ganz gerne einmal gesehen. Sie hatte bestimmt blondes Haar, blaue Augen und einen festen Busen unter ihrer weißen Schürze. Das hörte man schon an ihrer Stimme.

Berend lag jetzt ganz still. Er versuchte sich vorzustellen, was nach der Schule passiert war.

Goof hatte dem Ball einen Stoß versetzt ... Ja, gleich darauf musste das Unglück passiert sein. Hatte ihn ein Auto erwischt? Dann hab ich Glück gehabt, dachte Beer, denn an seinem Körper war noch alles ganz. War er nicht vielleicht mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe geflogen? Hatte er deshalb den Verband um den Kopf? Und dann durchzuckte ihn plötzlich ein schrecklicher Gedanke, der aller Unsicherheit und allem Zweifel ein Ende setzte.

Es gibt Dinge, die Kinder manchmal ganz plötzlich mit großer Bestimmtheit wissen; Gedanken, die aus dem Nichts auftauchen und deren Richtigkeit mit absoluter Gewissheit gefühlt wird. Wenn sie auch keinen einzigen Beweis liefern können, so erkennen sie doch die Wahrheit – mit einer Art Hellsichtigkeit, die den meisten Erwachsenen verloren gegangen ist.

Solch ein Moment der Sicherheit, solch ein Augenblick der Wahrheit war für Berend Ligthart gekommen. Er erinnerte sich auf einmal, dass er in seinen Schmerzen und Traumbildern etwas gerufen hatte. Er hörte wieder seine ängstliche Stimme: »Meine Augen! Wo sind meine Augen!«

Und plötzlich begriff er mit unerbittlicher Klarheit, dass er die blonde Schwester Wil nie wirklich sehen würde. Dass er auch seine Eltern, Annemiek, die Schule und seine Freunde nie mehr sehen würde. Nie mehr würde er sich an einem Fußballspiel, am Fernsehen oder an einem Strauch in sanftgrüner Frühlingspracht erfreuen können. Die Sonne würde für ihn nie mehr aufgehen. Darüber gab es keinen Zweifel mehr, nur noch Sicherheit.

»O Gott, ich bin blind geworden«, flüsterte Beer entsetzt und er wusste nicht, wie er damit fertigwerden sollte.

Es dauerte eine geraume Zeit, ehe die Schwester zurückkam. So hatte Beer Gelegenheit, in Ruhe zu verarbeiten, was er sich eben klargemacht hatte. Einfach war das nicht. In der dunklen Welt unter dem Verband flatterten alle möglichen Gedanken und Bilder wie ein Schwarm unruhiger Zugvögel durcheinander.

Blind! Er erinnerte sich des Mannes mit der dunklen Brille und dem weißen Stock, der sich in einer engen Ladenstraße so hilflos vorwärtsgetastet hatte. Genauso würde er von nun an seinen Weg suchen müssen, zu Hause, in der Schule oder wo auch immer. Für den Rest seines Lebens würde er von anderen abhängig sein. Beer ballte zornig die Fäuste, besann sich jedoch: War nicht jeder von anderen Menschen abhängig?

Blind! Plötzlich packte ihn Angst. Würden sie ihn in eine Blindenanstalt schicken? Nein, das konnte nicht sein. Beer dachte an Vater und Mutter und an ihre Streitereien, bei denen er manchmal zwischen ihnen gestanden hatte. War es nicht denkbar, dass sie für immer auseinandergingen, wenn er nicht mehr bei ihnen war? Dieser Gedanke war unerträglich. Und dann wurde ihm bewusst, wie schrecklich es für seine Eltern sein musste, dass er blind geworden war. Wussten sie es schon?

Blind! Verdammt, nein, er wollte nicht weinen. Er würde damit fertigwerden. Er erinnerte sich eines Satzes, den er vor längerer Zeit einmal zu seiner Mutter gesagt hatte: »Wenn man das traurigste Kind der Welt ist, braucht man mit niemandem Mitleid zu haben!« Er war damals tief betroffen gewesen vom Anblick im Krieg verstümmelter Kinder. Oder von kleinen Knirpsen, die an Lepra litten. Vielleicht auch hatte er den Satz ausgesprochen, nachdem er die apathischen Opfer einer Hungersnot im Fernsehen gesehen hatte.

Blind! Das war schlimm, aber es gab noch schlimmere Dinge auf der Welt. Er hatte noch immer eine Zukunft. Er würde die Blindenschrift lernen müssen. Er würde sein Leben auf eine vollkommen neue Art leben müssen. Während er alles überdachte, verwunderte sich Beer, dass er über seine Blindheit mit ziemlicher Ruhe nachzudenken vermochte.

Schritte auf dem Korridor. Das leise Öffnen der Tür. Die Stimme von Schwester Wil: »Da bin ich wieder, Berend!« Irgendetwas wurde auf das Tischchen – oder war es ein Schränkchen – neben seinem Bett gestellt.

»Schwester?«

»Ja?«

»Ich bin doch blind, nicht? Für immer!«

Einen Augenblick lang blieb es still. Beer hörte, wie die Schwester Luft holte. Er hoffte inständig, sie würde ihm eine ehrliche Antwort geben. Die Wahrheit war besser zu ertragen als Ungewissheit und falsche Hoffnung.

Glücklicherweise war Schwester Wil klug genug, um zu wissen, dass die meisten Kinder sehr tapfer sind und allerhand Umstände auf sich nehmen, solange sie nicht von Erwachsenen verwirrt werden.

»Ja«, sagte sie und Beer fühlte wieder ihre kühle Hand auf seinem Arm. »Deine beiden Augen sind so schwer verletzt, dass du wahrscheinlich nie mehr wirst sehen können.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Beer. Er war wirklich dankbar, dass sie keine Ausflucht versucht und ihn nicht mit einer halben Antwort im Ungewissen gelassen hatte. War es nicht merkwürdig, dass Schwester Wil in seinen Augen ein fantastischer Kerl war, obwohl er sie noch nie gesehen hatte? »Ich hab hier dein Frühstück. Ein Ei, Butterbrot und einen Zwieback mit Marmelade. Wollen wir mal versuchen, ob wir zusammen etwas runterkriegen?«

»Ja«, antwortete Beer. Es war gut zu wissen, dass das Leben – wenn man auch blind war – normal weiterging. Bald würden Vater und Mutter kommen. Er würde ihnen gleich die Wahrheit sagen. Ganz einfach, so, wie Schwester Wil es getan hatte. Vielleicht würde es sie dann nicht so schockieren.

Als die Tür aufging, war es wie das Geräusch eines leichten Windstoßes, an das sich Beer schon ein bisschen gewöhnt hatte. Die Stimme von Schwester Wil, noch immer hell und freundlich, noch immer ganz natürlich: »Berend, hier sind deine Eltern.«

Jetzt war es an Beer, tief Luft zu holen. Er streckte seine Hand nach rechts aus, doch Mutter schien schon um das Bett herumgegangen zu sein. Von links kam ein Kuss auf seine Wange. Und ihre Stimme, heiser und nervös: »Ach Junge, mein Junge ...«

Es war Vater, der seine Hand nahm. Sie standen also zu beiden Seiten des Bettes. »So, Beer. Da sind wir wieder. Gott sei Dank, dass du jetzt wieder bei Bewusstsein bist, die letzten Male warst du noch vollkommen benebelt!«

»Ja«, nickte Beer; er fragte sich, wie er anfangen sollte.

»Wie fühlst du dich jetzt, mein Lieber?« Es war zu hören, dass Mutters Stimme so normal wie möglich klingen sollte. Sie klang so unnormal wie die Pest.

»Die Schmerzen sind nicht mehr so schlimm.«

»Ist die Schwester nett?«

»Ja«, sagte Beer und dann durchschlug er den Knoten mit einem einzigen Hieb, weil er diesen Tanz um die unabwendbare Wahrheit einfach abscheulich fand: »Ihr wisst doch, dass ich blind bin? Für immer?«

Ein lautes Schlucken. Er fühlte, wie Mutters Hand sein Handgelenk umklammerte, als könnte sie da einen Halt finden.

»Ja, Beer, wir wussten es«, sagte Vater. »Wir wussten nur nicht, dass du es schon weißt. Wir wollten es dir erst sagen, wenn du ein bisschen zu Kräften gekommen sein würdest.« »Mein Junge ...«, fing Mutter an, doch dann hörte sie auf. Vater sprach ihren Satz zu Ende: »Wir haben etwas zu tragen bekommen, alle miteinander. Es bleibt nichts anderes übrig, als tüchtig zuzupacken.

»Miteinander?«

»Ja, natürlich. Du, Mutter und ich!«