Über Annick Cojean

Annick Cojean arbeitet als internationale Korrespondentin für die französische Tageszeitung Le Monde und ist eine der bekanntesten Journalistinnen Frankreichs. Sie hat bereits mehrere preisgekrönte Bücher veröffentlicht, u. a. »Niemand hört mein Schreien. Gefangen im Palast Gaddafis« (Aufbau, 2013), das in 19 Sprachen übersetzt wurde.

Kirsten Gleinig hat Germanistik, Kunstgeschichte und Romanistik in Göttingen und Aix-en-Provence studiert. Seit 2002 ist sie freiberuflich als Lektorin tätig sowie als Übersetzerin und Autorin mit den Schwerpunkten Belletristik, Biografien, Kunst, Frankreich und Reise.

Informationen zum Buch

Begegnen Sie den inspirierendsten Frauen unserer Zeit

Was hat uns geprägt? Was treibt uns an? Auf diese Fragen lässt Starjournalistin Annick Cojean außergewöhnliche Frauen aus unterschiedlichen Generationen und Bereichen unserer Gesellschaft antworten. Wir hören Patti Smith, wie sie über die unerschütterliche Liebe zu ihrer Mutter und zur Musik als Lebensmotor spricht. Wir erfahren von Bestsellerautorin Virginie Despentes, dass sie sich als junge Frau erst aus der Alkoholsucht befreien musste, um dorthin zu kommen, wo sie heute ist. Joan Baez erzählt von dem großen Glück, ihre Stimme für politische Zwecke einsetzen zu können  … Ein zutiefst berührendes Gesprächsbuch, das so farbenfroh und lebensklug ist, dass man es nicht mehr aus der Hand legt.

Gespräche u. a. mit: Patti Smith, Virginie Despentes, Claudia Cardinale, Asli Erdogan, Hélène Grimaud, Joan Baez, Juliette Gréco, Brigitte Bardot, Vanessa Redgrave, Marianne Faithfull

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Annick Cojean

Was uns stark macht

Begegnungen mit Patti Smith, Virginie Despentes, Joan Baez, Brigitte Bardot u. a.

Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig

Inhaltsübersicht

Über Annick Cojean

Informationen zum Buch

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Vorwort

Amélie Nothomb

Patti Smith

Virginie Despentes

Juliette Gréco

Hélène Grimaud

Claudia Cardinale

Joan Baez

Asli Erdoğan

Nicole Kidman

Anne Hidalgo

Marianne Faithfull

Vanessa Redgrave

Delphine Horvilleur

Shirin Ebadi

Brigitte Bardot

Agnès b.

Eve Ensler

Cecilia Bartoli

Hiam Abbass

Angélique Kidjo

Françoise Héritier

Dank

Abbildungsnachweis

Impressum

Für Maman, für immer.

Für Louise, Marie, Clémentine, Shilpa und Enora, meine Patenkinder, die sich der Welt mit ihrer Leidenschaft und ihrem Strahlen öffnen und sie unbedingt schöner machen möchten.

»Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn …«

Ich lächele und versuche, ermutigend zu wirken. Ich kann mir genau vorstellen, welches Wirrwarr von Gedanken, Erinnerungen, Gesichtern dieser Satzanfang auslöst, wenn man gebeten wird, ihn fortzusetzen. Darum wiederhole ich ihn leise und lasse das »wenn …« nachklingen, sodass der Anschluss fast natürlich folgen kann. Als wäre es ganz einfach. Aber ich weiß sehr wohl, dass diese Frage schwindelerregend ist.

Was hat mich aufgebaut, mir etwas verbaut, mich geprägt, gelenkt, erschüttert oder mir Kontur verliehen? Was hat mich dorthin getrieben, wo ich heute bin, zu diesem Beruf, in diese Situation oder einfach bis zu diesem Alter? Welcher Zufall, welche Begegnung, welches Unglück, welche Begabung, welche Wesensart oder vielleicht auch, welche tragischen Umstände haben mein Leben gelenkt? Wogegen habe ich mich aufgelehnt oder was hat mir große Freude bereitet, und hat mir das Flügel verliehen? Oder haben mich diese Erfahrungen belastet? Beunruhigt? Sodass ich kämpfen und mich wehren, hinfallen und wieder aufstehen musste? Habe ich einen Traum verfolgt? Oder hatte ich keinen klaren Kurs vor Augen? Gab es Lichter, die mir den Weg gewiesen haben? Hatte ich einen Schutzengel?

Und meine Eltern? Meine Erzeuger! Welche Rolle haben sie gespielt? Haben sie Schuld auf sich geladen? War unsere Beziehung belastet oder glücklich? Darüber wollen wir sprechen. Oder auch nicht. Ich begleite euch dabei. Ich unterstütze, hake nach, bin neugierig. Zutiefst neugierig auf das, was ich von euch erfahre. Was mich interessiert, ist die Kraft, die einem Werdegang zugrunde liegt. Die versteckten Triebfedern, die Schattenseiten, der Motor. Die Freuden. Wie gestalten wir unser Leben? Was bringt uns voran? Was lernen wir unterwegs? Das fasziniert mich.

Ich habe über zwanzig bezaubernde Frauen mit diesem Satzanfang konfrontiert – im Rahmen eines wöchentlichen Treffens für La Matinale du Monde. Wunderbarerweise haben sie sich bereitwillig auf die Fortsetzung eingelassen und sich der Herausforderung gestellt: der Verkürzung, der Selbstbeobachtung, der selektiven Erinnerung. Sorgfältig und ernsthaft, offen und verstörend. Blitzschnell sind sie zum Wesentlichen gekommen. Und haben mich mitgenommen auf eine Fahrt auf dem Fluss ihres Lebens.

Das Interview ist die Kunst der Begegnung. Selbstverständlich braucht es Vorbereitung. Ich lese, erkundige mich, beschaffe mir Informationsmaterial, komme nicht planlos zu unserem Treffen. Ich habe chronologische Anhaltspunkte, eine Vorstellung davon, was mein Gegenüber bewegen könnte. Aber keinen festen Fragenkatalog, kein Skript, kein Musterformular. Ich lasse mich vom Gespräch treiben, und dann wird gemeinsam improvisiert. Ich höre zu. Ich höre ganz genau zu, bevor ich nachhake. Es ist ein Tanz, zu dem ich auffordere, ein Pas de deux.

Ich komme immer etwas ängstlich an. Was man mir hoffentlich nicht ansieht. Schließlich ist jede Begegnung eine Herausforderung, und ich darf nicht scheitern. Ich stelle mich vor, bedanke mich, ich stöpsele zwei kleine Aufnahmegeräte ein, wobei ich über meine legendäre Unbeholfenheit in Sachen Technik scherze, und dann sage ich ihn, den Satz: »Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn …« Wir springen ins kalte Wasser.

Nichts auf der Welt ist jetzt wichtiger als die Person mir gegenüber. Nichts darf mir entgehen, kein Lächeln und keine Tränen in den Augen, kein Zögern, kein Widerspruch, kein Zittern in der Stimme, keine Gereiztheit, kein Geständnis, kein Ausweichmanöver. Ich mache mir keine Notizen, ich lasse den Blick der anderen nicht los. Wir erleben dieses Abenteuer zu zweit. Zu zweit unterhalten wir uns, von Angesicht zu Angesicht. Das ist anstrengend. Und angenehm. Ich bin gespannt. Ich reagiere, ich bin nicht neutral. Zum Teufel mit der vielzitierten kritischen Distanz. Ich bewege mich, ich lache, ich reiße die Augen auf, schüttele den Kopf, bin ergriffen, ja, ergriffen von dem, was mir erzählt wird. Folge meiner Eingebung. Bin empathisch. Die Antworten interessieren mich in höchstem Maße, und das zeige ich deutlich. Ich erwarte sogar, dass sie mich bereichern. Freue mich über Unerwartetes. Es ist verrückt, was für ein subjektives Geschäft das Interview ist.

Vor ein paar Jahren wären meine Fragen nicht dieselben gewesen. Zumindest nicht alle. Ich schwebte wie auf einer Glückswolke. Kriege, Dramen, Katastrophen, über die ich als Auslandskorrespondentin berichtete, hatten mein unerschütterliches Vertrauen ins Leben nicht getrübt. Erstaunlicherweise habe ich immer eine große Lebensfreude empfunden. Hatte nur selten einen Durchhänger, Melancholie kannte ich nicht. Was für meine engsten Freunde, glaube ich, sogar befremdlich war. Als Yasmina Reza, über die ich eines Tages ein Porträt schrieb, mir anvertraute, man habe sie wegen ihres unerbittlichen und klaren Verstandes als Kind oft »alte Seele« genannt, war ich wie gebannt. Fehlte es mir womöglich an Besonnenheit? An einem Gespür für die Vergänglichkeit und Härte des Lebens?

Dabei hatte ich doch im Zuge vieler Reportagen Schreckliches erlebt, Augenzeugen in Not befragt, Beziehungen geknüpft mit Menschen, die aus der Hölle kamen. Ich hatte mich nachts damit gequält, die passenden Worte für ihr Unheil zu finden, um so direkt, so genau wie möglich die Tragik, die Ungerechtigkeit, das Leid zu beschreiben. Ich war verändert zurückgekehrt und wollte meine Leser unbedingt durch die Macht des Schreibens berühren und Brücken bauen zwischen ihnen und den Themen meiner Reportagen. Aber niemals hatte ich selbst, körperlich oder geistig, den wahren Kummer und die Verzweiflung gespürt. Und dann kam es über mich.

Ohne Vorwarnung, ohne Ankündigung, ohne auf Wiedersehen zu sagen sind meine Eltern innerhalb weniger Wochen gegangen. Ich konnte es nicht fassen, war am Boden zerstört. Als ich aus der Bretagne zurückkam, wo meine beiden Brüder und ich das Haus abgeschlossen hatten, in dem so viel gelacht, diskutiert und gesungen worden war (meine Mutter sang immer), fühlte ich mich wie ein »wounded soldier«. Geschlagen, verwundet, benommen. Ausgebremst in meinem Elan. Unendlich traurig. Mit einem Schlag prasselten alle existenziellen Fragen auf mich nieder, die ich bis dahin vernachlässigt hatte. Warum? Für wen? Wie? Wohin? Welcher Sinn? Meine Mutter, meine über alles geliebte Mutter, hatte mir so vieles beigebracht, nur nicht, wie ich ohne sie leben sollte. Und im Regen tanzen. Ich war außer Atem. Erlebte das Fehlen, die eisige Stille, die unaussprechliche Traurigkeit. Ich war untröstlich. Wusste, dass das Glück, oder zumindest das Glück in seiner ganzen Fülle, auf ewig verschwunden war. War das also das Leben? Verlust? Und trotzdem weitermachen?

Le Monde ließ mir freie Hand bei der Wiederaufnahme meiner Interviews unter dem Titel »Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn …«, an denen ich mich einige Jahre vorher bereits probiert hatte. Jetzt würde ich alle Fragen stellen, die mir in den Sinn kämen. Von den einfachsten – »Wovon haben Sie mit fünfzehn geträumt?« – bis zu den schwierigsten – »Wie soll man mit der Lücke leben, die der Tod hinterlässt?«, »Ist Glück eine Begabung?«, »Gibt es etwas nach dem Tod?«. Das war nicht Ausdruck von Besessenheit, sondern einer neuen Freiheit. Mein Leben hatte sich verändert. Es gab ein Vor und ein Nach diesem Zusammenprall mit dem Tod. Meine Fragestellung erweiterte sich, gewann an Tiefe, und ich wagte mehr. Patti Smith nahm meine Fragen über Trauer und die Lücke durch den Tod unendlich wohlwollend auf. Amélie Nothomb sprach mit mir darüber, was für eine große Angst sie davor hat, ihre Mutter zu verlieren. Joan Baez erzählte mir, wie behutsam sie ihre eigene bis ganz zum Schluss begleitet hatte.

Zumindest eine Sache lernt man, wenn man »reif« wird! Cecilia Bartoli behauptet, mit zweiundfünfzig Jahren eine bessere Sängerin zu sein als mit zwanzig. Ich selbst denke, ich bin heute besser darin, Interviews zu führen, als mit dreißig.

Aber die Begegnung an sich ist nicht alles. Sie muss aufgeschrieben und anderen zugänglich gemacht, so bearbeitet werden, dass das Interview sich fließend liest. Man muss die Aufnahme wieder und wieder hören, selbstverständlich. Aber auch das Gespräch nachbilden, überarbeiten, formen, daran feilen, ihm Gestalt geben, Ausdruck verleihen, Leben einhauchen. Denn die, die es lesen, hören weder den Klang noch den Atem noch sehen sie den Blick meiner Gesprächspartnerin, sodass ich mit Worten, Rhythmus, Zeichensetzung, Pausen und den nachfassenden Fragen ihren Tonfall und ihre Stimme nachbilden muss. Ich habe meine Werkzeugkiste. Ich hobele, ich feile, ich säge. Ich kann ohne Weiteres zwanzig Stunden damit zubringen, den Frauen im Text Gehör zu verschaffen, so getreu wie möglich ihr Gefühl zu übertragen. Das ist harte Arbeit, die zuweilen auch frustriert. Hätte ich doch nur mehr Zeit mit meiner Gesprächspartnerin gehabt! Könnte ich sie doch nur noch einmal sehen! Manche von ihnen habe ich zwischen zwei Flügen getroffen. Andere zwischen zwei anderen Interviews. Oftmals habe ich nur eine Stunde zur Verfügung oder eineinhalb. Nur sehr selten gewährt mir eine drei Stunden. Ich vergesse, dass ich für eine Tageszeitung arbeite. Ich schreibe für die Ewigkeit. Wie vermessen!

Aber warum ein Interviewband nur mit Frauen? Schließlich habe ich Gespräche dieser Art auch mit vielen Männern geführt, und zwar durchaus mit Freude. Weil die Welt der Frauen eine besondere ist und ihr Weg ein Hindernislauf, der mich immer wieder fasziniert. Die hier versammelten Frauen haben sich in einer Welt behauptet, deren Regeln von Männern bestimmt werden. Sie haben in Männerdomänen gekämpft, die vorurteilsbehaftet gegenüber aufrechten Frauen sind. Etliche haben Gewalt erlitten. Alle haben ihr Haupt erhoben, die Zähne zusammengebissen, ihre Freiheit verteidigt. Stark haben sie sich ihren Weg gebahnt. Mit Träumen. Und Arbeit. Unglaublich viel Arbeit. Darauf sind sie am meisten stolz. Ihren Erfolg, ihre Karriere, ihren Einfluss haben sie nur sich selbst zu verdanken. Und wenn ich die Interviews all dieser Frauen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, noch einmal lese, dann finde ich darin etwas wie Familienähnlichkeit. Sie alle sind engagiert, jede auf ihre Art. Begeistert, kämpferisch, inspirierend. Gemeinsam geben sie uns Kraft, Energie, Hoffnung!

Im Laufe dieser Interviews hat mich ein Detail verblüfft – aber handelt es sich wirklich nur um ein Detail? Die meisten Frauen haben mir erzählt, an ihnen sei »ein Junge verloren gegangen«, als sie kleine Mädchen waren. Sie spielten lieber Cowboy oder Robin Hood als mit Puppen, trugen lieber Shorts und Hosen als Prinzessinnenkleider. Da musste ich lachen. Verwendet man heute immer noch diese absurd sexistische Redewendung? Ich weiß es nicht. Aber wenn ich mich zurückerinnere und mich selbst mit acht Jahren sehe, wie ich mein Indianerzelt immer und immer wieder aufstellte und in die große Rotbuche kletterte, in der ich für einen Teil der Ferien verschwand, und verlangte, man solle mich mit meinem umgehängten Bogen »Cochise« nennen, dann sehe ich auch meinen Vater, der mir ebenfalls lachend zurief: »An dir ist ein echter Junge verloren gegangen!« Kurz verwirrt, dann rebellisch, zog ich schließlich meine rote Latzhose und das Stirnband mit der Feder in meinem wuscheligen Lockenkopf zurecht und antwortete: »Im Gegenteil, in mir befindet sich ein echtes Mädchen!«

»Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn …« Muss nun auch ich diesen Satz zu Ende führen? Ja. Ich möchte zu gern all das sagen, was ich meiner Mutter Marie-Germaine zu verdanken habe, diesem außergewöhnlichen Menschen. Ich möchte es aufschreiben. Denn indem ich mich an diese liebevolle, strahlende Person erinnere, die ich für unsterblich hielt, erwecke ich sie ein wenig wieder zum Leben. Wer kann schon glauben, dass die Sonne eines Tages nicht mehr scheint?

Ich erinnere mich, dass wir in der zehnten Klasse wie damals in der Fernsehsendung das »Spiel der Wahrheit« spielten. Wir saßen im Kreis auf dem Boden, mittags im Pausenhof, und mussten uns gegenseitig alles sagen, was wir an unseren Eltern auszusetzen hatten. Die heldenhaftesten Mädchen, die Stars, erzählten selbstverständlich schreckliche Geschichten und grenzten sich radikal von ihren Müttern ab. Ich konnte das nicht. Ich liebte es, lustig zu sein, ich hätte alles getan, um die anderen zum Lachen zu bringen, aber hierbei – unmöglich, das konnte ich nicht. Was für ein Verrat wäre das gewesen. Ich wusste, wie unendlich freundlich sie war. Kannte ihre Phantasie, ihren Humor, ihre Großzügigkeit, ihre leidenschaftliche Liebe. Sie war meine Verbündete, seit jeher. Für immer und ewig. Die anderen beneideten mich um sie, worüber ich glücklich war. Ich mochte sie gern mit anderen teilen, ihre Zärtlichkeit wurde dadurch nur noch größer. Aber ich war ihre einzige Tochter.

Sie hat mich nie zurückgehalten. Ich bin mit siebzehn Jahren von zu Hause ausgezogen, mit dem Abi in der Tasche. Mit zweiundzwanzig bin ich auf Weltreise gegangen. Damals gab es weder E-Mails noch Handys. Und so schrieb sie mir lange Briefe auf bläuliches »airmail«-Papier, die sie nach Sydney, Auckland, Papeete, San Francisco und New York schickte. Natürlich fehlte ich ihr, selbstverständlich machte sie sich Sorgen, aber sie sagte es nicht. Und ich behielt meine Siebenmeilenstiefel an. Ich wusste, sie wäre sehr glücklich angesichts all dessen, was ich entdeckte, sodass ich es für sie miterlebte. Die Freude über eine Begegnung oder eine Landschaft verdoppelte sich dadurch. Der Ärger über ein Problem halbierte sich. Ich fühlte mich dermaßen entlastet, nachdem ich es mit ihr geteilt hatte, dass es sogar interessant wurde.

Als ich Journalistin bei Le Monde wurde, unterstützte sie mich weiterhin aus der Bretagne. Ich weiß nicht, wie sie das machte, denn sie hatte nur ihr Telefon, ihr Radio, das sie überall mit sich herumtrug, Zeitungen, Fernsehen und stapelweise Notizzettel. Aber von unserem kleinen Städtchen aus in der Nähe von Morlaix gab sie mir unzählige Anstöße, die meine Lust entfachten, und versorgte mich mit Ideen. Ich fuhr in die Vereinigten Staaten? Passenderweise hatte sie den Hinweis auf ein Buch zu meinem Thema notiert. Ich nahm Kurs auf den Kosovo? Gerade hatte sie von einem Dorf gehört, nahe Pristina, das einer eigenartigen Guerilla Unterkunft gewährte. Ruanda? »Annick, das darfst du nicht verpassen. In Kigali gibt es eine wunderschöne Tutsi-Frau, die Witwen vor dem Genozid verteidigt.« Afghanistan? »Pass auf dich auf, Mädchen. Und versuch, die Frau von Karzai zu treffen. Sie hatte einen richtigen Beruf und muss jetzt zurückgezogen leben!« Ich staunte über sie. Das war lange vor Google. Im Laufe der Monate erhielt ich Umschläge mit Artikeln, die sie aus Zeitschriften herausgerissen hatte, beim Friseur, beim Zahnarzt, beim Arzt, darunter auch Schönheitstipps oder sogar lustige Geschichten. »Ich weiß, dass du keine Zeit hast, alles zu lesen, mein Liebes, aber nur für den Fall …«

Ich wäre also nicht die, die ich heute bin, wenn … ich nicht eine große Liebesgeschichte mit meiner fröhlichen Maman erlebt hätte, die mir riesengroße Flügel verliehen hat, indem sie, seit ich klein war, am äußersten Ende des Finistère all meinen Träumen freien Lauf gelassen hat.

Ich versuche, meine Träume weiter zu verfolgen. Aber, wie Romain Gary schreibt: »Mit der Mutterliebe macht dir das Leben in der frühesten Kindheit ein Versprechen …«

Annick Cojean

Amélie Nothomb

349-021.tif

Sie steht jeden Tag um 4 Uhr morgens auf, kippt einen halben Liter schwarzen Tee hinunter und macht sich mit einem Schulheft auf den Knien ans Schreiben. Unter den Neuerscheinungen im Herbst ist jedes Mal ein Titel von ihr, und so nimmt sie in dem merkwürdigen Kabuff, das ihr im Verlag als Büro dient, die Rolle der Interviewten ein. Witzig, offen und zugleich etwas eigentümlich. Denn hinter dieser Rolle und der erlesenen Freundlichkeit lauern viele Phantome.

Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn …

Wenn ich nicht seit meiner Geburt an Schlaflosigkeit leiden würde. Zu dem Schluss bin ich gekommen, nachdem ich lange über diesen wirklich faszinierenden Satzanfang nachgedacht habe. Ja, die Schlaflosigkeit ist entscheidend gewesen und ganz sicher das, was mein Leben am meisten geprägt hat. Sie war schon immer da, sogar, als ich noch ein Baby war, und obwohl meine Eltern ewig gebraucht haben, um sich darüber klar zu werden.

Aber ein Baby, das nicht schläft, schreit, weint und zappelt doch …

Nein. Die ersten beiden Lebensjahre war ich sozusagen regungslos, vollkommen stumm. Ich weiß nicht genau, was ich war, es ist ein echtes Rätsel. Meine Eltern, die damals in Japan lebten und Verfechter des Quietismus sind, fanden das toll. Sie waren keineswegs beunruhigt, ich glaube sogar, sie dachten, dass ich mit offenen Augen schlafe. Was nicht der Fall war. Ich schlief nicht, ich erinnere mich sehr gut daran. Und dann, mit etwa zweieinhalb Jahren, bin ich gewissermaßen aufgewacht – was paradox ist –, und habe den Schlaf immer mal wieder kurz zu fassen bekommen. Meine Eltern hatten noch immer nicht bemerkt, was los war, bis sie, als ich ungefähr fünf Jahre alt war, entdeckten, dass ich nachts im Haus herumlief. Woraufhin meine Mutter sofort eine Regel aufstellte: Nachts bleibt jeder in seinem Bett. Vor sechs Uhr morgens darf keiner aufstehen.

Und was haben Sie dann getan?

Ich habe mich beschäftigt! Zuerst habe ich meine Schwester lange angeschaut. Wir teilten uns ein Zimmer, und sie schlief für zwei. Und da ich mit der Zeit nachtsichtig geworden bin – was ja auch das Mindeste ist, wenn man schon unter Schlaflosigkeit leidet –, war es eine wunderbare Beschäftigung, sie zu betrachten. Und dann habe ich den Stimmen geantwortet, die ich hörte. Es gab Hunderte davon in meinem Kopf, und ich habe mit ihnen gesprochen. Mit anderen Worten: Ich habe mir die Geschichte erzählt. Nicht »Geschichten«, sondern »die Geschichte«. Das war meine Hauptbeschäftigung zwischen fünf und zwölf Jahren. Mir »die Geschichte« zu erzählen: eine Art Epos, das sich in alle möglichen Richtungen entwickelte mit ständig wechselnden Figuren, wobei es darum ging, dass ich sämtliche Gefühle so intensiv wie möglich kennenlernte. Es konnte um das Abenteuer von zwei verlassenen Kindern gehen, die Astronauten wurden. Oder um den gemeinen Prinzen, der die liebenswürdige Prinzessin quält …

Standen Sie selbst im Mittelpunkt der Geschichte?

Ich verkörperte alle Figuren gleichzeitig: die verlassenen Kinder, den gemeinen Prinzen, die liebenswürdige Prinzessin … Ich erzählte mir selbst die Geschichte – ich war also gleichzeitig Erzählerin und Zuhörerin –, und das funktionierte bestens. Ungeduldig erwartete ich die Nacht. Und meine Eltern, die froh waren, so ein braves Kind zu haben, wussten, wenn ich unbedingt früh ins Bett gehen wollte, nicht, dass »die Geschichte« im Schutz der Dunkelheit unter meiner Decke ihren Lauf nahm. Als ich zwölf Jahre alt war, kippte diese Methode leider, und die Geschichte hörte plötzlich auf. Dass ich Schriftstellerin geworden bin, hat, denke ich, zum Großteil damit zu tun, dass ich mir »die Geschichte« im Kopf nicht mehr weitererzählen konnte. Ich brauchte von nun an ein Bindeglied – das Papier –, um sie festzuhalten. Auf diese Weise sind aus »der Geschichte« »die Geschichten« geworden.

Was hat ihr Gleichgewicht mit zwölf Jahren gestört?

Ein Schlüsselerlebnis, von dem ich kurz in Biographie des Hungers berichte. Ich war in Bangladesch, wo meine Eltern inzwischen lebten, im Meer baden und wurde dabei von vier Männern sexuell belästigt. Ich will nicht weiter auf dieses Ereignis eingehen, das ich erst einmal überwinden musste. Nur so viel: Das Jahr, in dem ich zwölf war, war ein Angelpunkt. Auf einmal entdeckte ich die Pubertät, Gewalt, Hass auf mich selbst und, ganz generell, Erschöpfung und Emotionslosigkeit. Lauter Empfindungen, die ich vorher überhaupt nicht kannte. Bis zu diesem Zeitpunkt war mein Leben zwar nicht unbedingt glücklich, aber doch schön gewesen und meine Schlaflosigkeit hatte mir Momente des Glücks beschert, in denen ich mithilfe »der Geschichte« die Wirklichkeit erforschen konnte. Nach diesem dramatischen Vorfall wurde die Schlaflosigkeit zum Problem, und die Stimmen in meinem Kopf wurden deutlich unangenehmer. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mit einem inneren Feind zusammenzuleben. Einer Art Monster, das mir Angst machte. Mein Leben geriet völlig aus den Fugen.

Und Sie erkrankten an Magersucht.

Ein Jahr später, mit dreizehneinhalb. Gefolgt von diversen Essstörungen, die jahrelang anhielten. Denn eine echte Magersucht lässt man nicht einfach so hinter sich. Es ist grauenvoll, wenn man wieder anfangen will zu essen, man merkt, dass man nicht mehr essen kann, dass der Körper nichts mehr verträgt, dass einem ständig schlecht ist, dazu das Gefühl, vom Teufel besessen zu sein. Man ist vor allem kein soziales Wesen mehr. Und man wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen, weil man nicht mehr in der Lage ist, mit anderen zusammen zu essen. Es geht einem schlecht, und alle sehen, dass es einem schlecht geht. Ein Albtraum. Also, selbst wenn die Magersucht wichtig war in meinem Leben und dazu beigetragen hat, dass ich die Schriftstellerin wurde, die ich heute bin, messe ich ihr auf keinen Fall einen positiven Wert bei. Zu viele Menschen idealisieren sie und denken, es läge ein Reiz darin. Das stimmt nicht. Sie ist verheerend. Ich wäre ein besserer Mensch, wenn ich nicht magersüchtig gewesen wäre.

War das Schreiben nicht von Anfang an ein Ausweg?

Nein. Bevor ich siebzehn Jahre alt war, habe ich kein einziges Wort geschrieben. Abgesehen von Briefen. Seit ich sechs war, hatte ich ebenso wie mein Bruder und meine Schwester den Auftrag von meinen Eltern, einmal in der Woche an meinen Großvater zu schreiben, der in Brüssel lebte. Wir bekamen alle ein großes weißes DIN A4-Blatt, das unbedingt vollgeschrieben werden musste, was mir echtes Kopfzerbrechen bereitete, selbst wenn ich mich bemühte, groß zu schreiben. »Erzähl ihm, was du erlebt hast!«, spornte meine Mutter mich an. Aber ich fragte mich, wie das, was ich als kleines ausgewandertes Mädchen in Asien erlebte, einen alten Mann interessieren konnte, den ich noch nicht einmal kannte. Wie Sie sehen, hatte ich schon immer den Leser im Blick! Ich denke, wenn ich das entwickelt habe, was ich »das Gespür für den anderen« nenne, dann liegt es zum Teil an dieser Übung, die mir nicht geheuer war. Das war eine Zwiesprache mit dem Unbekannten, ganz anders als die Geschichte, die ich mir nachts erzählte.

Aber warum haben Sie sich selbst nicht gestattet, etwas anderes als diese Briefe an den Großvater zu schreiben?

Weil in der Kindheit meine Schwester diejenige war, die schrieb. Geschichten, Gedichte, Theaterstücke. Sie war ein Genie, und alle bewunderten sie. Vor allem ich, die sie wie eine Gottheit betrachtete und ihre Texte voller Hochachtung las. Aber auch meine Eltern und unsere Lehrer, denn ihre Stücke wurden von den Mädchen in der Schule aufgeführt. Als sie mit sechzehn Jahren aufhörte zu schreiben, habe ich ein wenig gewartet, weil ich dachte, sie würde vielleicht wieder anfangen. Und dann habe ich Rilke und seine Briefe an einen jungen Dichter entdeckt. Da war ich siebzehn, und das war eine echte Erleuchtung. Mit einem Mal erschien mir das Schreiben möglich und zudem als etwas Wirkungsvolles. Ich würde sogar sagen, als lebenswichtig. Und wie durch ein Wunder begann die alte Geschichte in schriftlicher Form von Neuem. Ich schrieb die ersten Romane.

Sie begannen also, sich ein Leben als Schriftstellerin vorzustellen?

Oh nein! Dazu fühlte ich mich gar nicht imstande. Ich schrieb schon damals wie eine Wahnsinnige, aber ich musste erst zehn Bücher schreiben, bevor ich mich traute, das elfte, Die Reinheit des Mörders, einem Verlag anzubieten. Was daraus wurde, ist ja hinlänglich bekannt. In den ersten Jahren war meine geliebte Schwester meine einzige Leserin.

Was haben Sie sich als junges Mädchen gewünscht, als Ihre Familie sich schließlich in Belgien niederließ?

Ich wollte einfach nur japanisch sein. Denn ich war überzeugt, dass der Grund für all die dramatischen Erlebnisse seit meinem fünften Lebensjahr mein Abschied von Japan und die Trennung von meiner japanischen Mutter war. Ein totales Drama, das mich ebenfalls stark geprägt hat. Bis dahin führte ich ein Doppelleben mit meinen beiden Müttern, der Belgierin und der Japanerin, die ich beide liebte und die sich gegenseitig völlig akzeptierten. Aber unser Weggang aus Japan läutete die Trauer über den Verlust dieses perfekten Gleichgewichts ein. Es war eine tiefgreifende Trennung. Und in mir verschmolzen Japan und diese bescheidene Frau aus dem Volk, die so sanft und mütterlich war. Ich träumte davon, dorthin zurückzukehren.

Unterdessen haben Sie, wie so viele andere, angefangen zu studieren.

Ja. Und es ging mir total schlecht. Ich war allein. Fürchterlich allein. Ich hatte keinen Liebhaber, keine einzige Freundin. Weil ich so entwurzelt war, weil ich mich zutiefst fremd fühlte, weil aus meinem ganzen Wesen mein Unbehagen sprach. Ich wusste nicht, wie man sich anzog, wie man sich unterhielt, kannte die Musik nicht, die angesagt war. Ich war die Dumme. In der Uni schauten die Leute mich an wie ein seltsames Tier. Und mein Nachname machte es nur noch schlimmer: Nothomb! Ich erfuhr, dass er in Belgien der Inbegriff der katholischen Rechten war, obwohl ich mich doch gerade für eine linke Universität entschieden hatte. Sowohl die Professoren als auch die Studenten waren erstaunt: Was machst du denn hier mit diesem Namen? Alle waren gegen mich. Und um es ihnen zu zeigen, entschied ich mich für eine Doktorarbeit über Bernanos.

Warum haben Sie ein Philologiestudium gewählt, die Wissenschaft der Sprache?

Angesichts der ständigen Entwurzelungen, die der Karriere meines Vaters als Diplomat geschuldet waren, hatte ich ziemlich schnell verstanden, dass die Sprache und die Literatur mein einziger Anker waren. Mit sechzehn Jahren habe ich Latein gesprochen. Auf meinen eigenen verschrobenen Wunsch hin, der nichts mit meiner Familie zu tun hatte. Ich war schon immer reaktionär! Schon als ich klein war, gefiel mir nur das, was sehr alt war oder irgendwie im Zusammenhang mit der Vergangenheit stand. Erst als ich mit einundzwanzig Jahren nach Japan zurückkehrte, habe ich die Moderne für mich entdeckt.

Konnten Sie denn zumindest im Studium glänzen?

Ich war leidenschaftlich bei der Sache und sehr fleißig. Aber mein Sozialleben war trotz meiner verzweifelten Versuche die reinste Katastrophe. Ich erinnere mich, dass ich mehrmals zum Gespött des Hörsaals wurde. »Wie bescheuert!«, hörte ich es schreien, nachdem ich eine Frage gestellt hatte. Ich versichere Ihnen: Ich war wie eine Aussätzige.

Das ist unbegreiflich. Sie waren hübsch, nett, kultiviert …

Hübsch, na ja. Ich weiß nicht, als was ich heute äußerlich gelte, aber ich bin überzeugt, dass ich mit fünfzig besser aussehe als mit achtzehn. Ich fühlte mich so unwohl in meiner Haut. Darum versuchte ich es mit dem Nachtleben. Ich erinnere mich an schlecht besuchte Unipartys, an aufregende Garagenfeten mit äußerst dubiosen Leuten. Ich hatte einige wenige Liebesabenteuer, die völlig widerwärtig, ja sogar demütigend waren, aber ich sagte mir: Das ist immer noch besser als gar nichts zu erleben. Da stand ich nun. Das Ergebnis einer glücklichen Kindheit und einer chaotischen Jugend, die in mir die Überzeugung geschürt hatte, mein Leben sei futsch. No future. Aus und vorbei! Ich kannte zwar das Wort Punk nicht, aber meine Denkweise entsprach dem vollkommen. Mit fünfzehn Jahren war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch lebte. Immerhin hat die Magersucht meine Aufmerksamkeit zumindest in eine andere Richtung gelenkt. Ich war nicht länger besessen von dem Gedanken »es ist alles nichts wert wegen dem, was mir passiert ist«, sondern »es ist alles nichts wert, weil ich nichts essen kann«. Paradoxerweise war das ein Schritt in Richtung Rettung.

Sie zitieren häufig den Satz von Nietzsche, der ebenfalls Philologe war: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.«

Das stimmt. Die Idee des Kampfes ist interessant. Und das Leben hat mich gelehrt, dass ich letztlich robuster bin, als ich dachte. Aber man darf Prüfung und Erniedrigung nicht verwechseln. Die Magersucht war eine Prüfung, denn ich musste kämpfen. Was mir mit zwölf Jahren passiert ist, war eine Erniedrigung. Und die Erniedrigung bleibt für immer bestehen. Sie ist der Grund für die enorme Verletzlichkeit, die ich jeden Morgen bezwingen muss, und für die existenzielle Notwendigkeit des Schreibens, die daraus resultiert. Jeden Morgen muss ich aufs Neue kämpfen. Jeden Morgen geht alles wieder von vorn los. Denn die dunklen Kräfte sind noch immer in mir.

Ist dies das »unaussprechliche Geheimnis«, welches Sie schon oft erwähnt haben, ohne es konkret zu benennen?

Ja, natürlich.

Dieser sexuelle Übergriff, als Sie zwölf Jahre alt waren?

Den ich noch immer in mir trage.

Das bezeichnet man als Trauma.

Zweifellos. Aber mir gefällt die Vorstellung der Erniedrigung, der Degradierung: Ich war wie ein kleiner Soldat, dem man die Tressen weggenommen hat.

Warum sprechen Sie von dunklen Kräften?

Weil ich das Ganze, als ich einmal für längere Zeit im Amazonas-Regenwald war, in einem Trance-Zustand als Bild fassen konnte: diese Dämonen, die noch immer da waren und die ich mit aller Kraft versuchte, aus meinem Körper zu vertreiben. Eine unglaublich brutale Teufelsaustreibung. Ohne Erfolg. Also habe ich mir gesagt: Amélie, du lebst schon so lange damit in dir …

So viele Frauen haben das Geheimnis einer Vergewaltigung in sich begraben.

Das ist grauenhaft. Und, ich denke, eine Generationsfrage. Wenn ich überhaupt einmal über dieses Erlebnis gesprochen habe, mit älteren Personen allerdings, habe ich nur scheußliche Reaktionen geerntet. Es herrscht noch immer die Vorstellung, dass letztlich das Opfer schuld ist. Nicht umsonst hat mir diese Geschichte so zugesetzt. Man hat mir eine Schuld zugewiesen, die ich schließlich verinnerlicht habe.

Warum haben Sie diese Reise in den Amazonas-Regenwald gemacht, die Sie gerade erwähnt haben?

Corine Sombrun hat mir mit ihren Büchern Lust darauf gemacht. Sie ist Schamanin. Ich bin das zwar nicht, aber ich bin »ein guter Empfänger«. Und ich hatte Lust, mich derselben Erfahrung wie sie auszusetzen – einer Begegnung mit »den Geistern« – im tiefsten Amazonas-Regenwald, bei den Indianern. Die Bedingungen sind hart, die Essensvorschriften und Regeln sehr strikt. Das ist alles andere als ein Vergnügen. Und es kann sogar gefährlich sein. Aber für mich war es unglaublich: Der Kontakt mit dem Geist, den man sieht, den man hört, den man spürt; das Wiedersehen mit verschiedenen Toten; der Zugang zu einem wimmelnden Paralleluniversum, das ansonsten unsichtbar ist. Es hat mir die Tür in eine andere Welt geöffnet.

Haben Sie über diese Erfahrung geschrieben?

Ja, obwohl das sehr schwer war. Aber mein Verleger hat das Manuskript abgelehnt. »Hören Sie«, hat er zu mir gesagt, »die Leute glauben ohnehin schon, dass Sie verrückt sind. Wollen Sie Ihnen den Beweis auch noch auf dem Silbertablett servieren?«

Aber was ist mit der Freiheit der Schriftstellerin, über ihre Erfahrungen zu schreiben?

Die jungen Mädchen