BEREITS ERSCHIENEN:

DIABLO III Graphic Novel: Das Schwert der Gerechtigkeit

Softcover, ISBN 978-3-86201-310-4

DIABLO III: Die Cain-Chronik

Flint Dille – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2389-1

DIABLO III: Die Tyrael-Chronik

Matt Burns, Doug Alexander – gebundene Ausgabe,

ISBN 978-3-8332-2829-2

DIABLO III: Der Orden

Nate Kenyon – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2438-6

DIABLO III: Sturm des Lichts I

Nate Kenyon – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2860-5

DIABLO: Der Sündenkrieg III – Der verhüllte Prophet

Richard A Knaak – ISBN 978-3-8332-1713-5

DIABLO: Der Sündenkrieg II – Die Schuppen der Schlange

Richard A Knaak – ISBN 978-3-8332-1564-3

DIABLO: Der Sündenkrieg I – Geburtsrecht

Richard A Knaak – ISBN 978-3-8332-1574-2

DIABLO: Der Mond der Spinne

Richard A Knaak – ISBN 978-3-8332-1091-4

DIABLO: Das Königreich der Schatten

Richard A Knaak – ISBN 978-3-8332-1042-6

DIABLO: Der Dunkle Pfad

Mel Odom – ISBN 978-3-8332-1268-0

DIABLO: Das Vermächtnis des Blutes

Richard A Knaak – ISBN 978-3-8332-1267-3

Weitere Infos und Titel unter:

www.paninicomics.de

NATE KENYON

BASIEREND AUF DEM VIDEOSPIEL VON

BLIZZARD ENTERTAINMENT

Ins Deutsche übertragen

von Tobias Toneguzzo & Andreas Kasprzak

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

In neuer Rechtschreibung.

Amerikanische Originalausgabe: „DIABLO III: STORM OF LIGHT“

von Nate Kenyon, erschienen bei Gallery Books/Simon and Schuster, Inc.,

Februar 2014.

Deutsche Übersetzung © 2014 Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87,

70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2014 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

„Diablo III: Storm of Light“, Diablo, Blizzard Entertainment sind Marken

und/oder eingetragene Marken von Blizzard Entertainment, Inc.

in den USA und/oder anderen Ländern.

Übersetzung: Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Lektorat: Jonas-Philipp Dallmann für Grinning Cat Productions,

Katharina Reiche

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Titelillustration von Laurel Austin/Blizzard Entertainment

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-8332-2882-7

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-2860-5

www.paninicomics.de

www.blizzard.de

Ellie Rose gewidmet,

die während Daddys frühmorgendlicher Schreibsessions

stets so friedlich schlummert

PROLOG

Die Hohen Himmel

Seit Anbeginn der Zeiten stehen die Mächte der Dunkelheit und des Lichts miteinander in ewigem Streit. Im Verlauf der Jahrhunderte wüteten unsere Schlachten wie Flammen, die aus glühender Kohle hervorbarsten. Wann immer die Engel einen Schlag gegen die Dunkelheit führten, erhob sie sich wieder, stärker denn je. Und doch behaupteten die Hüter des Lichts und die Herrscher der Hohen Himmel jedes Mal, den endgültigen Sieg errungen zu haben.

Am Ende der Tage blendete uns närrischer Stolz, und Diablo erhob sich aus der Asche in Gestalt eines Kindes, um durch Sanktuario zum Diamanttor emporzusteigen und es zu zerschmettern. Und fürwahr, sein Triumph stand kurz bevor, denn der Kristallbogen, Quelle der Macht aller Engel, lag in Reichweite des Obersten Übels.

Bis die Menschheit eingriff.

Eine sterbliche Seele stellte sich gegen die Zerstörung beider Welten. Der Mut des Nephalem schenkte uns allen Stärke und wendete das Blatt des Schicksals. Er führte zum Sturz Diablos und zur Rettung Sanktuarios und der Hohen Himmel.

Doch die Dunkelheit weicht nicht so leicht. Einmal mehr nahmen wir zu früh den Sieg für uns in Anspruch.

Das Oberste Übel ist niedergestreckt. Doch es gibt andere Mächte, die gegen die Welt der Menschen ziehen.

Einem vorbeifliegenden Falken wäre die Stadt vielleicht als Reihe silbergekrönter Berggipfel erschienen, die aus dem Nebel emporragten, so gewaltig, dass sie die Vorstellungskraft eines Menschen überstiegen. In ihrer Mitte erhob sich ein Gebilde, noch mächtiger als die anderen: ein schimmernder Turm mit einem facettenreichen Bogen an der Spitze, der strahlte wie geschliffener Diamant. Das Licht der Himmel küsste seine funkelnde Oberfläche, erfüllte sie mit solchem Feuer, dass die Szenerie aus himmelwärts gereckten Steinsäulen leuchtete wie ausgebreitete Schwingen, während Funken von dem schillernden Kristall stoben, um die Dunkelheit zu erwärmen.

Die Silberstadt.

In der Welt der Engel, dies hatte der Erzengel der Weisheit unlängst begriffen, gibt es keine Betten.

Müde und mit verquollenen Augen hob Tyrael den Blick von seinem Federkiel auf dem Pergament. Wärme und Licht brandeten durch den hohen Bogen und die Säulen darunter und erfüllten den gewaltigen offenen Raum rings um ihn mit Leben. Er hatte nie Grund zum Schlafen gesehen, bis seine sterbliche Seele sich in seiner Brust eingenistet hatte. Nun verwirrte das immerwährende Licht der Himmel seinen inneren Rhythmus, und er sehnte sich danach, den Kopf auf eine weichere Oberfläche zu betten als auf den steinernen Boden der Gemächer. Doch noch hatte er sich nichts Behaglicheres bringen lassen. Der Verlust seiner Flügel gab seinen Brüdern und Schwestern schon Anlass genug, nach Zeichen der Schwäche an ihm zu suchen, und er hatte nicht vor, ihnen noch weitere zu bieten.

Tyrael streckte die verkrampften Finger. Er hatte Deckards unleserliches Gekrakel mit eigenen Notizen ergänzt, aber trotz seines wortlosen Versprechens an Deckard und Leah, zu Ende zu bringen, was sie begonnen hatten, wollte er heute Nacht nicht weiterarbeiten. Doch konnte er sich auch nicht dazu überwinden, die Augen zu schließen. Noch nicht. Es gab so viel, worüber er nachdenken musste, über seine eigenen sterblichen Fehler hinaus. Die immer tiefer werdende Kluft zwischen ihm und Imperius und dem Rat, zum Beispiel. Oder die Rolle der Menschen bei der Bestimmung über ihr Schicksal. Oder das Schicksal Sanktuarios.

Und über allem anderen jedoch schwebte die Frage, was wegen jenes Dings unternommen werden sollte, das hier unter ihnen weilte, scheinbar stumm und reglos, während seine Fühler über geheiligten Boden krochen wie schwarzer Teer.

Der Erzengel verließ die Einsamkeit seiner Gemächer. Als er durch die verlassenen Räume und Korridore stapfte, welche die Höfe und den Ring der Richtbarkeit säumten, hallten seine Schritte wider von den endlosen Böden aus poliertem Stein. Es war schwer für seine sterblichen Sinne, die Umgebung zu begreifen; zwar lebte er hier schon seit zahllosen Millennien, und doch sah er nun alles in neuem Licht. Jeder Raum mündete in einen anderen, größer und staunenswerter als der vorige; spitz zulaufende Bögen und kunstvolle Rippenkuppeln schwangen sich hoch über ihm dahin; dicht gedrängte Säulen reihten sich aneinander bis in die Unendlichkeit, und das Licht ergoss sich willkürlich aus zahllosen Kristallfacetten, die ihre Form und Farbe nach Belieben zu verändern schienen.

Wenn die Engel hier weilten, formte ihr Gesang mit dem Schein des Bogens eine perfekte Einheit aus Licht und Tönen. Doch jetzt lagen die Höfe der Gerichtsbarkeit verwaist, seine weiten Plätze, Bänke und Sitzgelegenheiten leer und kalt, und die Musik der Himmel erklang nur leise und gedämpft.

Der Erzengel spürte einen merkwürdigen Schmerz in seiner Brust, ein Verlangen nach Dingen, die er hinter sich gelassen hatte. Obwohl die Engel an diesem Ort noch immer ihre Beschwerden vortrugen, lag Tyraels früheres Zuhause seit der Transformation die meiste Zeit verlassen. Die Luminarei, die Verteidiger des Bogens, hatten sich bei Imperius in den Hallen des Heldenmuts niedergelassen.

Und ich sollte diesen Ort ebenfalls verlassen, dachte er. Er ist das Echo eines früheren Selbsts, das nie wiederkehren wird. Doch er brachte es einfach nicht über sich. Seit Malthaels Verschwinden war es auch in der Domäne der Weisheit still geworden, und der Angiris-Rat litt darunter. Tyrael hatte geplant, sich dieser Pflichten anzunehmen und bei den schwierigsten Entscheidungen, die der Rat treffen musste, als weisende Hand zu agieren. Doch die Becken der Weisheit waren ihm fremd geworden, und der Ruf von Chalad’ar war ein Lied, das er nicht zu beantworten wagte. Er war nicht sicher, ob er noch die Fähigkeiten besaß, die für den Umgang mit dem legendären Kelch erforderlich waren.

Tyrael spürte einen Schmerz im Rücken, ein Zwicken in den Knien. Seine körperliche Form war bereits im Verfall begriffen, jenem schleichenden Niedergang ins Grab, dem alle Sterblichen unterworfen waren. In seinem Herzen aber wusste er, dass er die richtige Wahl getroffen hatte. Und doch zweifelst du an dir selbst.

Was bedeutete es für einen Erzengel, wenn er zerbrechlich geworden war? Wie konnte er die Finsternis zurückschlagen, wenn sein neuer Leib durch jeden Angriff verwundet werden konnte? Wäre er besser für die bevorstehenden Herausforderungen gewappnet gewesen, wenn er sich anders entschieden hätte?

Die Höfe der Gerichtsbarkeit waren inzwischen einem Atrium gewichen, das sich hoch über seinem Haupt wölbte. Er passierte einen weiteren Bogen, und dann lag vor ihm eine Plattform aus Kristall und Stein, in die komplexe, fließende Muster geschnitzt waren: der Angiris-Ratssaal. Tyrael gegenüber erhoben sich jene Throne, von welchen die Erzengel ihre Argumente vortrugen, doch der Raum war leer, und das Licht, das zuvor durch die geschwungenen Fenster geströmt war, blieb diesem Ort auf mysteriöse Weise fern.

Der Schwarze Seelenstein lag auf seinem Podest. Er lag dort, als wartete er auf Tyraels Ankunft. Seine scharfen Facetten und Kanten ragten von seiner Basis empor wie eine geschwärzte Klaue, doch er war kaum größer als der Schädel eines Menschen. Wie konnte einem solchen Gegenstand nur eine derart schreckliche Finsternis innewohnen?

Langsam trat Tyrael darauf zu, zugleich fasziniert und angewidert von der Macht des Objekts; dabei überlief ihn ein fremdartiger Schauder, ein Warnschrei seines sterblichen Körpers. Das blutige Licht des Schwarzen Seelensteins war erloschen, nachdem sie Diablo besiegt und den Stein aus einer niederen Ebene der Himmel zurückgebracht hatten, doch als Tyrael sich ihm nun näherte, glaubte er einen unmerklichen Schimmer in seinem Inneren wahrzunehmen.

„Halt!“

Der Erzengel hatte die Hand nach dem Stein ausgestreckt. Nun zog er sie rasch wieder zurück und drehte sich zu der Stimme, die gesprochen hatte.

Balzael stand unter dem bogenförmigen Eingang des Saals, die Ehrfurcht gebietende Gestalt teilweise verborgen in den Schatten. Die rechte Hand von Imperius. Der Luminarei-Krieger trat auf die Plattform und entfaltete seine mächtigen Schwingen, sodass Ranken aus Licht zur Decke des Saals hochpeitschten. Seine Rüstung glänzte golden, und auf seiner Brustplatte prangte das Symbol seines Ranges.

„Was treibt Weisheit hier ganz allein?“

Hörte Tyrael bei der Erwähnung seines neuen Titels einen Hauch von Spott?

„Hinterfrage mich nicht, Balzael. Ich gehe, wohin ich will. Hat Imperius dich geschickt, mir nachzuspüren?“

„Ich bewache den Stein“, erwiderte der Luminarei. „So, wie es mir aufgetragen wurde. Das ist meine Aufgabe.“

„Aber es ist gewiss nicht die einzige Aufgabe, die der Erzengel des Heldenmutes dir aufgetragen hat, nicht wahr? Traut er seinem Bruder nicht?“

„Sterbliche Seelen sind leicht verführbar.“

Angesichts der Dreistigkeit des Kriegers schlug Tyraels Herz schneller. Die Anspielung war offensichtlich: Balzael hatte Flügel, Tyrael nicht; deshalb stand er nicht auf der gleichen Stufe mit ihm – nicht mehr.

„Die Engel sind so geblendet von ihrem Stolz, dass sie ihr Schicksal nicht sehen“, entgegnete er. „Vor Kurzem noch nahmst du meine Befehle entgegen. Hast du so schnell vergessen?“

Statt zurückzuweichen, trat Balzael näher. „Du hast mich genug gelehrt, dass ich weiß, wann ich misstrauisch sein muss.“

Die Hand des Kriegers bewegte sich auf sein Schwert zu, eine kaum erkennbare Regung, doch was er damit zum Ausdruck bringen wollte, war deutlich. Die Herausforderung erfüllte Tyrael mit Zorn, und auch er tat nun einen Schritt nach vorn. Es juckte seine Finger, nach El’druin zu greifen, das an seiner Hüfte hing. Gleichzeitig war er sich jedoch seiner Grenzen bewusst. Obgleich ein fähiger Kämpfer in der Schlacht, war er nicht mehr so stark wie als Unsterblicher.

Einen Moment lang glaubte er, Balzael ziehe tatsächlich seine Waffe, doch dann wurde ein Lichtschimmer am Eingang des Raums sichtbar. Der Erzengel der Hoffnung erschien vor ihnen, und noch während Auriel auf die beiden zuschritt, schien sie die Situation in Sekundenschnelle abzuschätzen.

„Geh“, wandte sie sich an Balzael, „wir kommen bald zusammen.“

„Man hat mir nicht von einem Treffen …“

„Der Angiris-Rat ist nicht verpflichtet, dich über all seine Schritte zu unterrichten“, entgegnete Auriel. Das Licht, das sie einhüllte, veränderte sich leicht; jetzt pulsierte es wie ein schlagendes Herz. Es kam nicht oft vor, dass sie sich so kurz fasste, und das verlieh ihren Worten noch größere Wirkung. „Ich wache über den Stein. Geh jetzt.“

Balzael zögerte einen Moment, bevor er sich andeutungsweise verneigte. „Wie du wünschst“, sagte er. Dann wandte er sich ab und verschwand durch den Bogengang, wo sein Licht in der Düsternis verblasste.

Auriel und Tyrael blieben allein zurück. Nach ein paar pulsierenden Herzschlägen drehte sie sich zu ihm herum.

„Seine Erhebung hat ihn hochmütig gemacht.“

„Mut und Hochmut sind miteinander verwandt“, meinte Tyrael. „Im Kampf gegen das Oberste Übel bewies er Heldenmut und schickte mehr Dämonen zurück in die Hölle als jeder andere. Imperius traf die naheliegende Wahl. Ich an seiner Stelle hätte das Gleiche getan.“

„Vielleicht.“ Auriels Licht wurde schwächer und wärmer, während sie ihn musterte. „Ich wollte glauben, dass du hier weilst, um jemanden zu treffen. Nur tritt der Rat heute nicht zusammen. Du wirkst … müde, mein Bruder. Vermagst du nicht zu schlafen?“

„Ich wünschte, ich hätte es nicht nötig zu schlafen.“

„Oh, aber so ist es nun einmal“, erwiderte sie. „Ich spürte deinen inneren Konflikt. Er war es, der mich von den Gärten hierher zog. Balzael ist …“ Sie machte eine Bewegung, wie um Gedanken zu verscheuchen. „Die Himmel sind kein Ort der Versöhnlichkeit – und auch nicht der Feinfühligkeit. Die Engel haben wenig Verständnis für deine Entscheidung, Tyrael. Aber das heißt nicht, dass diese Entscheidung keine Berechtigung hätte.“

Auriel zog Al’maiesh hervor, die Kordel der Hoffnung, und streckte den Kampfhandschuh vor, in den ihre Rüstung und fließenden Roben ausliefen. Sie war die Verkörperung des Lichts selbst, und als sie ihm die Kordel über die Schulter legte, flutete Wärme durch sein sterbliches Fleisch, begleitet von einem Gefühl der Ruhe und des Behagens.

Die Zeit hörte auf, zu existieren, solange das Band um ihn geschlungen war. Dann zog Auriel es zurück, und die Wärme verebbte.

„Du sorgst dich“, meinte sie nach einer Weile. „Meinetwegen?“

„Ich würde nie an dir zweifeln“, entgegnete Tyrael. Er hatte Mühe, teilnahmslos zu bleiben, wie es sich für einen Erzengel gehörte, denn er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Wenn er nachts schlief, träumte er so, wie die Sterblichen träumten; er erblickte nicht die Visionen der Engel, sondern versank in einen tieferen, fließenderen Zustand und besuchte Orte, die er nie zuvor gesehen hatte. Zunächst waren diese Träume fröhlich, erfüllt von Eindrücken der Hohen Himmel und seiner früheren unsterblichen Existenz. Doch im Verlauf der Nächte hatten sie begonnen sich zu wandeln: Das strahlende Licht und die Musik der Traumlandschaften verfinsterten sich. Er träumte davon, dass etwas ihn verfolgte, etwas, dem er nicht entkommen konnte – ein Schatten, gnadenlos und eisig kalt. Er schloss sich fest um ihn, bis sein schlagendes Herz verstummte. Er träumte davon, wie Menschenstädte vernichtet wurden und ihre Einwohner vor Qualen schrien, während etwas ihre sterblichen Leiber Stück für Stück auseinanderriss. Er träumte davon, wie Häuser einstürzten, der Boden aufbrach und sich selbst zerfleischte, bis nur noch Staub übrig war …

Auriel hätte diese Träume nicht verstanden, denn er war jetzt sterblich, und die Kluft zwischen ihnen zu weit geworden. Gleichzeitig ermöglichte seine sterbliche Schwäche ihm jedoch Einblicke, die dem Rest des Angiris-Rats verborgen blieben. Der Stolz der Erzengel machte sie blind für die Gefahr, die ihnen drohte …

Auriel rollte Al’maiesh an ihrer Seite auf, sodass die Kordel aus Licht wieder eins mit ihr wurde.

„Du bist Weisheit“, sagte sie. „Und doch weigerst du dich, bei den Becken zu ruhen. Du hast deine Rolle noch nicht angenommen. Aber nur, wenn du sie annimmst, helfen deine Ratschläge uns, die Geschicke der Himmel zu lenken.“

„Sofern der Rat mir Gehör schenkt.“

„Die anderen spüren deinen Konflikt“, erklärte sie. „Sie verstehen nicht, warum du deine Flügel aufgegeben hast. Falls du ohne jeden Zweifel sagen könntest, wem du Treue geschworen hast …“

„Was ist mit meinem Schwur, ein Band zwischen Engeln und Menschen zu schmieden? Vor vielen Jahrhunderten bewahrten unsere Stimmen Sanktuario vor dem Untergang. Heute haben die Menschen uns vieles zu bieten. Vergiss nicht: Ohne den Nephalem hätte das Oberste Übel den Bogen zerstört, und die Himmel selbst wären gefallen!“

„Aber ohne die Menschen wäre solch ein Gegenstand auch nimmermehr erschaffen worden“, gab Auriel zurück, wobei sie zu dem Stein auf dem Podest deutete. „Der Rat muss diesen Punkt erörtern, Tyrael. Das ist der richtige Ort für eine solche Beratung.“

„Eine Beratung wird nichts ändern“, wandte er ein. „Imperius wird sich nicht von seinem Standpunkt abbringen lassen. Ich glaube, auch Itherael wird gegen das Überleben Sanktuarios stimmen. Das ist nicht die Zukunft, die ich mir für uns wünsche, Schwester. Nur gemeinsam können Engel und Menschen die Finsternis endgültig zurückdrängen.“

Sie wandte sich zum Gehen, doch Tyrael stellte sich ihr in den Weg.

„Die Entscheidung liegt bei uns. Wirst du dieses Mal an meiner Seite stehen, so wie zuvor?“

Es widersprach den Konventionen des Rats, außerhalb einer Sitzung offen über derartige Angelegenheiten zu sprechen, und der Erzengel blieb ihm jede Antwort schuldig. Tyrael spürte zudem eine Starre und Kälte in Auriels Haltung, die er zuvor nicht an ihr erlebt hatte. Bislang war sie stets für das Überleben der Menschheit eingetreten; daher verstand er ihr Schweigen nicht.

Doch er fürchtete, was diese Stille bedeuten mochte.

Einen Moment lang standen sie einander gegenüber, dann wurde ihm klar, dass er zu weit gegangen war. Betrübt trat er zur Seite. Ohne ein weiteres Wort huschte sie an ihm vorbei, und er ließ sie gehen. Der Schmerz in seiner Brust weitete sich, als sie durch den Bogen verschwand und ihn allein zurückließ. Ihre Freundschaft hatte Jahrtausende überdauert, und die Zurückweisung fühlte sich an wie tausend kleine Messerstiche. Er nahm alle Affekte inzwischen viel stärker wahr, ebenso, wie er das wachsende Misstrauen der Erzengel tiefer in sich spürte.

Er wandte sich wieder dem Schwarzen Seelenstein zu. Still und leblos lag er da, wie um ihn zu verhöhnen. Als Tyrael ihn genauer betrachtete, stellte er fest, dass sein Aussehen sich verändert hatte; da war er sicher. War der Stein größer geworden, seit er den Raum betreten hatte?

Er reagiert auf meine Gegenwart, genau, wie ich vermutet habe. Sollte dem so sein, blieb ihnen wirklich nicht mehr viel Zeit. Eine Dunkelheit durchdringt die Himmel, auf eine Art wie niemals zuvor. Es ist nicht wie der dreiste Angriff des Obersten Übels auf die Tore. Nein, es ist subtiler, hinterhältiger … ein schleichendes Unheil, das nur ich spüre.

Weisheit fürchtete um die Zukunft der Hohen Himmel und Sanktuarios, und mehr denn je war er davon überzeugt, dass ihnen allen Schreckliches bevorstand.

In den Schatten jenseits der Angiris-Ratskammer beobachtete Balzael, wie Auriel davonging und das Leuchten ihrer Flügel im Dunkel verblasste. Er hatte nicht jedes Wort hören können.

Doch es war genug gewesen.

In den Korridoren herrschte um diese Zeit Stille; Engel schliefen nicht, jedenfalls nicht so wie die Sterblichen, doch es gab Phasen schweigsamen Sinnierens und Studierens, während derer die Musik der Himmel leiser wurde und Ruhe unter ihren Einwohnern einkehrte. Eigentlich hätte auch er diesem Beispiel folgen sollen. Doch ihm war eine wichtige Aufgabe anvertraut, und er war entschlossen, seine Pflicht zu erfüllen.

Bislang war alles genau so geschehen, wie der Wächter es vorhergesagt hatte. Doch sein Plan konnte nur dann gelingen, wenn jeder Schritt vollkommen durchgeführt wurde. Bis es so weit war, musste Tyrael genauestens beobachtet werden, ungeachtet von Auriels jüngster Einmischung.

Als Weisheit wenige Augenblicke später auftauchte, zog Balzael sich zurück und verhüllte seine Schwingen, um nicht entdeckt zu werden. Sterbliche Augen mochten in vielerlei Hinsicht schwach sein, doch Licht gegenüber waren sie empfindlich. Er sah zu, wie Tyrael den Versammlungsort des Rates hinter sich ließ. Seine Schritte hallten in dem Korridor, und er zog den penetranten Gestank von Fleisch hinter sich her. Balzael musste ein angewidertes Knurren unterdrücken. Wie ein legendärer Erzengel so schnell so tief fallen konnte, überstieg sein Verständnis. Doch nicht mehr lange, dann würde dieser widerwärtige Geruch für alle Zeit fortgewischt sein …

Er wartete, bis Tyraels Schritte in der Ferne kaum noch zu hören waren, dann folgte er ihm, wobei er sich sorgsam im Verborgenen hielt. Später wollte er dem Wächter Bericht erstatten und sich seine nächsten Anweisungen geben lassen. Weisheit wusste es vielleicht nicht, doch er spielte eine Schlüsselrolle in einer Angelegenheit, bei der es für Engel wie Menschen um Leben und Tod ging, bei der das Ende des Ewigen Kriegs in der Waagschale lag – des Kampfes zwischen den Himmeln und den Höllen.

Ganz gleich, was geschah: Tyrael durfte keine Gelegenheit bekommen, jene Dunkelheit aufzuhalten, welche sich schleichend im Reich der Engel ausbreitete.

Die Zukunft der Himmel selbst stand auf dem Spiel.

1. TEIL

Das Schleichende Dunkel