Seymour M. Hersh

REPORTER

Der Aufdecker der amerikanischen Nation

Aus dem Amerikanischen von
Karoline Zawistowska

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

Copyright © 2018 by Seymour M. Hersh

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

Reporter. A Memoir bei Alfred A. Knopf.

1. Auflage

© 2019 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gesetzt aus der Minion Pro, Trixie

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

ISBN 978-3-7110-0237-2
eISBN 978-3-7110-5260-5

INHALT

Einleitung

Kapitel eins: Anfänge

Kapitel zwei: City News

Kapitel drei: Zwischenspiele

Kapitel vier: Chicago und AP

Kapitel fünf: Endlich in Washington

Kapitel sechs: Keime und ein Buch

Kapitel sieben: Wahlkampf

Kapitel acht: Auf der Jagd nach Biowaffen

Kapitel neun: Auf der Suche nach Calley

Kapitel zehn: Eine nationale Schmach

Kapitel elf: The New Yorker

Kapitel zwölf: Endlich angekommen

Kapitel dreizehn: Watergate und vieles mehr

Kapitel vierzehn: Henry und ich

Kapitel fünfzehn: Der ganz große Wurf

Kapitel sechzehn: Auf nach New York

Kapitel siebzehn: Noch einmal Kissinger, und darüber hinaus

Kapitel achtzehn: Rückkehr zum New Yorker

Kapitel neunzehn: Amerikas Krieg gegen den Terror

Danksagung

Anmerkungen

EINLEITUNG

Ich bin ein Überlebender aus dem Goldenen Zeitalter des Journalismus, als Zeitungsreporter nicht mit den Rund-um-die-Uhr-Nachrichten der Kabelsender konkurrieren mussten, als Zeitungsverlage dank ihrer Anzeigenkunden und Kleinanzeigen im Geld schwammen und als ich auf Kosten meiner Arbeitgeber jederzeit überallhin reisen konnte, ganz gleich, aus welchem Grund. Es gab genug Zeit, an einer sich entwickelnden Story zu arbeiten, ohne dass man sich ständig auf das berufen musste, was die eigene Website verlauten ließ.

Es gab keine »Expertengespräche« mit Journalisten im Fernsehen, bei denen jede Antwort auf jede Frage mit den gefürchtetsten zwei Worten der gesamten Medienwelt begann – »Ich glaube«. Wir sind inzwischen durchtränkt von Fake News, übertriebenen und unvollständigen Informationen und falschen Beteuerungen, die uns ohne Unterlass von unseren Tageszeitungen, unseren Fernsehgeräten, unseren Online-Nachrichtenagenturen, unseren sozialen Netzwerken und unserem Präsidenten präsentiert werden.

Ja, es ist eine Katastrophe. Und es gibt kein Allheilmittel, keinen Retter für die seriösen Medien. Die großen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender werden weiter Reporter entlassen, ihre Mitarbeiterzahlen reduzieren und Gelder für guten Journalismus, vor allem Investigativjournalismus, streichen, weil er hohe Kosten und unsichere Ergebnisse mit sich bringt, Leser verärgern und kostspielige Klagen nach sich ziehen kann. Die heutigen Zeitungen veröffentlichen viel zu oft vorschnell Berichte, die letztlich wenig mehr als Hinweise auf etwas Böses oder Kriminelles sind. Durch den Mangel an Zeit, Geld oder fähigen Mitarbeitern werden wir von »Er sagte, sie sagte«-Berichten bombardiert, bei denen den Reportern oft nur die Rolle eines Papageien zukommt. Ich war immer der Ansicht, einer Zeitung ginge es darum, die Wahrheit herauszufinden und nicht lediglich von den Diskussionen darüber zu berichten. Ist es zu Kriegsverbrechen gekommen? Heutzutage verlassen sich die Zeitungen für die Antwort auf einen ausgehandelten Bericht der UN, der bestenfalls Monate später veröffentlicht wird. Haben die Medien je versucht zu erklären, warum ein Bericht der UN von vielen Menschen auf der ganzen Welt nicht als das letzte Wort betrachtet wird? Wird über die UN kritisch berichtet? Darf ich es wagen, Fragen zum Krieg im Jemen zu stellen? Oder warum Donald Trump den Sudan wieder von der Liste seiner verbotenen Reiseziele genommen hat? (Die Führung in Khartum hat Saudi-Arabien im Jemen mit Truppen unterstützt.)

Im Laufe meiner Karriere ging es mir immer darum, wie wichtig es ist, große und unbequeme Wahrheiten zu enthüllen und Amerika zu mehr Wissen zu verhelfen. Ich war in meinen Bemühungen nicht allein; denken Sie nur an David Halberstam, Charley Mohr, Ward Just, Neil Sheehan, Morley Safer und Dutzende weitere erstklassige Journalisten, die so viel dafür getan haben, uns über die düsteren Seiten des Vietnamkriegs zu informieren. Ich weiß, dass es mir nicht möglich wäre, in der heutigen Zeitungswelt Alleingänge zu machen, wie ich es vor einem Jahrzehnt noch tat, als die Finanzkrise begann. Ich erinnere mich noch gut an den Tag im Jahr 2011, als David Remnick, der Chefredakteur des New Yorker, bei mir anrief und mich bat, ein Interview mit einem wichtigen Informanten am Telefon abzuhalten, anstatt 3000 Meilen zu fliegen, um es von Angesicht zu Angesicht zu führen. David, der sein Möglichstes getan hatte, um mich in meiner Berichterstattung über die furchtbaren Geschehnisse im Abu-Ghraib-Gefängnis im Jahr 2004 zu unterstützen – er hat teuer dafür bezahlen müssen, dass ich Berichte in drei nacheinanderfolgenden Ausgaben veröffentlichen konnte –, trug seine Bitte in einem unangenehm und peinlich berührten Tonfall, fast flüsternd, vor.

Wo bleiben heute die schwierigen Storys über amerikanische Sondereinsätze und die nie enden wollenden politischen Zerwürfnisse im Nahen Osten, in Mittelamerika und Afrika? Sicher wird es immer wieder Missbräuche geben – Krieg ist immer die Hölle –, aber heutzutage können es sich Zeitungen und Fernsehsender schlichtweg nicht mehr leisten, Korrespondenten im Ausland zu unterhalten, und diejenigen, die es trotzdem tun – eigentlich nur die New York Times, bei der ich in den 1970er-Jahren acht Jahre lang gern gearbeitet und für viel Ärger gesorgt habe –, schaffen es nicht, die Art von Langzeitberichterstattungen zu finanzieren, die nötig wäre, um tief in die Korruption im Militär und in den Geheimdiensten einzudringen. Wie sie in diesem Buch erfahren sollen, brauchte ich zwei Jahre, bis ich erfahren hatte, was nötig war, um über die illegale innerstaatliche Spionage der CIA in den 1960er- und 1970er-Jahren zu berichten.

Ich gebe nicht vor, mit Lösungen für die Probleme der heutigen Medienwelt aufwarten zu können. Sollte die Regierung die Medien unterstützen, wie es mit der BBC in England geschieht? Fragen Sie Donald Trump. Sollte es einige staatliche, von der Allgemeinheit finanzierte Zeitungen geben? Wenn dem so wäre, wer dürfte davon profitieren? Es ist eindeutig an der Zeit, über das weitere Vorgehen zu diskutieren. Ich hatte jahrelang geglaubt, dass sich alles einpegeln würde, dass die schwächelnden amerikanischen Zeitungen durch Blogs, Online-Nachrichtenkollektive und Wochenzeitungen ersetzt werden würden, die die Lücken in der lokalen Berichterstattung wie auch diejenigen in der nationalen und der Auslandsberichterstattung füllen könnten, aber trotz einiger weniger Erfolge – VICE, BuzzFeed, Politico und Truthout beispielsweise – passiert das nicht; und es führt dazu, dass die Medien wie die Bevölkerung immer voreingenommener und schriller werden.

Betrachten Sie also diese Memoiren als das, was sie sind: die Erinnerungen eines Typen aus dem Mittleren Westen, der seine Karriere als Bürobote einer kleinen Nachrichtenagentur begann, die über Verbrechen, Brände und die örtlichen Gerichte berichtete, und elf Jahre später als freiberuflicher Reporter für eine kleine kriegskritische Nachrichtenagentur in Washington dem regierenden Präsidenten das Leben schwer machte, als er ein schockierendes amerikanisches Massaker aufdeckte, und dafür belohnt wurde. Sie müssen mir nichts vom Wunder und den Möglichkeiten des amerikanischen Traums erzählen. Vielleicht ist es deshalb so schmerzhaft, darüber nachzudenken, weil mir all das in der heutigen chaotischen und unstrukturierten Welt des Journalismus eventuell nicht möglich gewesen wäre.

Natürlich versuche ich es trotzdem weiter.

KAPITEL EINS

ANFÄNGE

Ich wuchs in Chicagos South Side auf, wo ich niemanden aus der Zeitungsbranche kannte und mich hauptsächlich für Baseball interessierte. Nur den Sportteil der Zeitungen las ich, und sonntags auch die Comics. Meine Eltern waren jüdische Einwanderer – mein Vater Isadore kam aus Litauen, meine Mutter Dorothy aus Polen. Sie waren beide direkt nach Ende des Ersten Weltkriegs in Ellis Island angekommen und hatten sich in Chicago niedergelassen, wo sie sich trafen und heirateten. Ich glaube nicht, dass sie in Amerika ihre Schulabschlüsse gemacht hatten; beide mussten arbeiten und die Familie ernähren. Sie bekamen vier Kinder: Meine Schwestern Phyllis und Marcia, Zwillinge, kamen 1932 zur Welt und sind fünf Jahre älter als mein Zwillingsbruder Alan und ich. Wir alle haben nie ganz verstanden, warum unsere Eltern ihre Heimat verlassen und sich auf den langen Weg nach Amerika gemacht hatten. Es wurde nie darüber gesprochen, genauso wie die fehlende schulische Bildung unserer Eltern nie zur Sprache kam.

Wir gehörten zur unteren Mittelschicht. Mein Vater besaß in 4507 Indiana Avenue, mitten im Zentrum eines schwarzen Gettos in der South Side von Chicago, eine Schnellreinigung. Er arbeitete von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends und musste danach oft noch eine Stunde lang Lieferungen erledigen. Als Al und ich ins Teenageralter kamen, wurde von uns erwartet, an Wochenenden oder besonders geschäftigen Abenden unter der Woche im Laden auszuhelfen. Mein Bruder und ich hatten großen Respekt vor unserem Vater, einem jähzornigen Mann, dessen sonntägliches Vergnügen darin bestand, uns beide früh zu wecken, mit uns im Laden die Böden zu scheuern und dann in ein russisches Badehaus in der West Side zu fahren, was es längst nicht mehr gibt, wo wir schwitzten und mit rauen Birkenzweigen geschrubbt wurden. Danach wurde es auch für uns angenehmer; wir konnten in ein kleines Schwimmbecken hüpfen, und anschließend gab es frischen Hering und Root Beer zum Mittag. Daddy war ein Mysterium. Erst sechzig Jahre nach seinem Tod erfuhr ich, dass er aus Seduva, einem größtenteils jüdischen Dorf ungefähr hundert Meilen nordwestlich der litauischen Hauptstadt Vilnius, stammte. Im August 1941 wurde Seduvas 664-köpfige jüdische Bevölkerung, darunter 159 Kinder, von einer deutschen Kommandoeinheit und litauischen Kollaborateuren aus dem Dorf beordert und nacheinander hingerichtet. Mein Vater sprach nie über Nazideutschland oder den Zweiten Weltkrieg. Auf seine eigene Art war Isadore Hersh gleichzeitig ein Überlebender und ein Leugner des Holocaust.

Erzählt hat mir mein Vater jedoch, dass er nach seiner Ankunft in Amerika Anfang der 1920er-Jahre ein wenig Geld damit verdient hatte, auf der Geige Vogelgesänge zu spielen. Das war lediglich eine Anekdote, bis mein Bruder und ich unter Zwang an Sonntagnachmittagen Geigenunterricht nahmen. Unser Lehrer David Moll war damals, zu Kriegsende, bei den Symphonikern in Chicago Violinist. Al und ich kratzten eine Stunde lang kläglich auf unseren Geigen herum, und anschließend spielten Moll und mein Vater ein Duett nach dem anderen. Unser Vater konnte sehr gut spielen, tat es jedoch nie, abgesehen von diesen Geigenstunden mit Moll. Ich kann mich lediglich an ein anderes seiner Hobbys erinnern: Jeden Monat spielte er an einem Samstagabend mit seinen Landsmännern Karten. Auch sie waren Flüchtlinge aus Seduva, die in Chicago kleine Läden betrieben.

Mein Vater hat Amerika nie ganz verstanden. Als Al und ich in der zehnten Klasse waren, zogen wir von unserer kargen Wohnung in der East 47th Street, einer Gegend, die wir für größtenteils jüdisch hielten, in ein neues Wohngebiet weit entfernt in der Far South Side. Die Idee musste von unserer Mutter gestammt haben. Unser neues Heim war ein Eckhaus mit neuen, in Plastik gewickelten Möbeln und einem kleinen Vorgarten. Wir konnten es nicht ausstehen, obwohl wir jetzt zwei Badezimmer hatten, denn wir waren unseren Freunden und Sportplätzen plötzlich sehr fern. Ein paar Tage nach unserem Umzug stand ich pflichtschuldig neben meinem Vater, der still – er war immer sehr still, bis er sich plötzlich aufregte – unseren Rasen wässerte. Einer unserer neuen Nachbarn kam lächelnd auf uns zu. Er war eindeutig Ire und sprach mit starkem irischen Akzent. Er stellte sich als McCarthy vor und begrüßte uns im Namen der Nachbarn. Mein Vater gab ihm die Hand und erkundigte sich mit kläglicher Miene: »Sie sind nicht zufällig Jude, Mr McCarthy?« Ich weiß bis heute, wie sehr ich mich schämte und dass ich zurück ins Haus lief. Auch für meine Mutter muss es schwierig gewesen sein, sich an Amerika zu gewöhnen, doch sie fand ihre Erfüllung, so vermute ich, im Kochen und Backen. Durch Essen kommunizierte sie mit uns. Man muss zugeben, dass sie eine hervorragende Bäckerin war; ich kann mich noch gut an den Geschmack ihres Apfelstrudels erinnern. Ob ich je persönliche Gespräche mit ihr geführt habe, weiß ich nicht mehr.

Dad rauchte drei Packungen Lucky Strike am Tag – ich fürchtete mich vor seinen nächtlichen Hustenanfällen – und man diagnostizierte bei ihm akuten Lungenkrebs, als ich kaum 16 Jahre alt war. Ich selbst habe deshalb, abgesehen vom einen oder anderen Joint, nie geraucht. Eine Operation blieb erfolglos, und der Krebs breitete sich über ein Jahr lang weiter aus, bis schließlich die Gehirnzellen angegriffen waren. Ich musste ihn pflegen, weil ich weniger Angst davor hatte, ihn zu verärgern und ab und zu das lederne Band zu spüren, das er zum Schärfen seines Rasiermessers verwendete. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist es, ihm voller Ehrfurcht beim Rasieren mit der Furcht einflößenden Klinge zuzusehen. Mein Vater sagte nicht viel, aber innerlich war er wütend auf sein Schicksal, und unseres. Man konnte es spüren. Ende Juli 1954 starb er im Alter von 49 Jahren, einen Monat nachdem mein Bruder und ich unseren Schulabschluss erlangt hatten.

Ich hätte es fast nicht geschafft, weil ich wie mein Vater in ein dunkles Loch gefallen war. Ich hatte immer eifrig gelernt und war um meine Bildung bemüht. Im Alter von ungefähr 13 Jahren war ich einem monatlichen Buchklub beigetreten und schickte gewissenhaft jeden Monat einen Dollar ein, um ein Sachbuch zu erhalten. Meist war das eine antikommunistische Tirade von J. Edgar Hoover oder seinen Gleichgesinnten. Doch es gab auch Ausnahmen – lange Historien der Habsburger Monarchie, Abhandlungen über die römisch-katholische Kirche und die Kreuzzüge des Mittelalters. Die Schule jedoch verlor immer mehr an Bedeutung, während mein Vater langsam abbaute. Ich schwänzte den Unterricht, machte keine Hausaufgaben mehr, war den Lehrern gegenüber frech und zeigte auf verschiedene andere Arten, dass ich Hilfe brauchte, die mir weder in der Schule noch zu Hause zukam.

Mit Alan, der sich seit Jahren für die neue Wissenschaft der Kybernetik und ihren Guru Norbert Wiener vom Massachusetts Institute of Technology interessierte, kam ich überein, dass er Chicago verlassen und sich an der zwei Autostunden entfernten University of Illinois in Urbana-Champaign einschreiben sollte. Im Gegenzug würde er sich nach seinem Abschluss um unsere Mutter kümmern. Al studierte Elektrotechnik und erlangte danach zum Stolz der gesamten Familie einen Doktortitel in Fluiddynamik von der University of California in Los Angeles.

Mir machte das alles nichts aus, denn ich war schon immer mehr als er im Laden unseres Vaters beschäftigt gewesen. Ich wollte dieses Geschäft mit seinem ständigen Geruch nach Dampf, den die Bügelmaschine verbreitete, nicht bankrottgehen lassen und meiner Mutter auch weiterhin Mehl, Töpfe und Pfannen ermöglichen. Ein klarer Fall von Verlagerung. Es tat nichts zur Sache, dass ich gemeinsam mit zwei Mitschülern im letzten Schuljahr das höchste Ergebnis im IQ-Test erzielt hatte. Die beiden anderen Jungen gingen nach Harvard, und ich hatte keinerlei Vorstellungen davon, was ich mit meinem Leben anfangen könnte, außer den Familienbetrieb weiterzuführen. Meine Schwestern waren schon vor einiger Zeit von zu Hause weggegangen, und so waren nur noch meine Mutter und ich übrig, mit einem Zuhause, das ich nicht ausstehen konnte, und dem Laden. Intelligenz zählte zu diesem Zeitpunkt wenig. Aber ich war erwachsen und traf eine Entscheidung, die mir richtig erschien, auch wenn ich dafür weiter in der Indiana Avenue bleiben musste.

Ein paar Wochen nach dem Tod meines Vaters gab mir Benny Rubenstein, der Patriarch des Tempels in unserem alten Viertel, Ratschläge zur Geschäftsethik. Keiner in unserer agnostischen Familie war jemals in den Tempel gegangen, obwohl mein Bruder und ich die dortige Hebräischschule besucht hatten; wahrscheinlich nur wegen des großen Softballfelds, über das die Schule verfügte. Benny, ein Überlebender des Holocaust, war ein kleiner, dünner Mann Ende achtzig mit großer Nase und riesigen Büscheln weißen Haars, die ihm aus den Ohren wuchsen. Es war Hochsommer und sehr heiß, und seine Wohnung hatte wie die aller anderen in unserer alten Wohngegend keine Klimaanlage. Ich hatte ziemliches Muffensausen bekommen, als Benny mich zu sich zitiert hatte, und als ich die Wohnung betrat, schnappte er abrupt mit der Hand nach einer Fliege und ließ sie anschließend zerquetscht zu Boden fallen. Ein ziemlich guter Trick. Ich werde nie vergessen, wie er mit seinem starken jiddischen Akzent zu mir sagte: »Seymour. Du bist jetzt der Mann im Haus, und du musst dich um deine Mutter kümmern. Ich will dir einen Tipp geben, unter Geschäftsmännern. Bescheiß die anderen, bevor sie dich bescheißen!« Ich war völlig baff. Hatte er wirklich gerade zweimal ein Schimpfwort benutzt? Redete er von Nazis oder zukünftigen Geschäftspartnern? Ich verabschiedete mich, so schnell ich konnte.

Einen Monat später schlug ich den einzigen Pfad ein, der mir offenstand: Als Generalist ohne das geringste Interesse für wissenschaftliche Fächer, aber mit einem Faible für Romane und Geschichte, schrieb ich mich an einem Junior College am Rand von Downtown Chicago ein, wo die einzige Zugangsvoraussetzung für die zweijährigen Kurse die Schließfachgebühr von 45 Dollar pro Semester war. Navy Pier, so der Name der Schule, war von der University of Illinois direkt nach Kriegsende in einem ehemaligen Marinestützpunkt eröffnet worden, der über eine halbe Meile in den Lake Michigan hineinragte. Es sollte heimkehrende Veteranen aufnehmen, die trotz geringer Ersparnisse zu höherer Bildung kommen wollten. Nach zwei Jahren musste man zum Campus nach Urbana-Champaign wechseln, um seinen Abschluss zu machen.

Unter der Woche musste ich um sieben Uhr morgens den Laden aufmachen und dann, wenn die Angestellten ankamen, ein paar Meilen weiter nach Süden zu meinen Vorlesungen fahren. Ich kann mich noch an den düsteren Hauptgang erinnern, durch den man die holzgetäfelten Seminarräume erreichte, in denen einst Rekruten Navigation und ähnliche Fächer gelernt hatten, bevor sie in den Krieg zogen. Besonders zuwider waren mir die verpflichtenden Sportstunden, in denen jeder Student täglich eine Viertelmeile in unter einer Minute rennen musste; oder es zumindest versuchen sollte. Ich kannte niemanden an der Schule und lernte auch niemanden näher kennen. Ich fuhr einfach hin, saß in Seminaren, rannte eine Runde und fuhr wieder zurück zum Laden.

Und trotzdem erfuhr mein Leben dort eine vielleicht rettende Wendung, an die ich mich drei Jahrzehnte lang nicht einmal erinnern konnte. Im Jahr 1983, im Anschluss an die Veröffentlichung meines Buches The Price of Power, einer höchst kritischen Betrachtung der Karriere von Henry Kissinger im Weißen Haus, geschah Folgendes. Ich arbeitete in Washington, D.C., war glücklich verheiratet und dreifacher Familienvater, und die Erinnerung an meine Zeit in Navy Pier war längst verblasst. Das Buch wurde heiß diskutiert, es bekam viel Lob, aber auch Kritik, und führte zu einer Vielzahl von Briefen. Einer davon, sorgfältig maschinengeschrieben, war von einem Professor der University of Illinois namens Bernard Kogan, der sich mir als erst kürzlich in den Professorenstand berufener Englischdozent der University of Chicago vorstellte. Im Herbst 1954 habe er Moderne Literatur in Navy Pier unterrichtet. »Sehr geehrter Mr Hersh«, begann er, »ich bin mir sicher, dass Sie sich nicht an mich erinnern.« Das entsprach der Wahrheit, und auch im weiteren Verlauf des Briefes regte sich in mir keinerlei Erinnerung. »Nur zweimal in meiner Karriere habe ich mich in das Leben junger Menschen eingemischt. In einem Fall ging es um einen jungen Mann, der später Arzt wurde und viele Menschenleben gerettet hat. Der andere Mensch waren Sie. Ich bin sehr stolz auf Sie beide.« Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Ich las den Brief noch einmal, und plötzlich kam die Erinnerung jäh zurück, und mir kamen die Tränen. Es war dreißig Jahre zuvor, und ein Seminar ging gerade zu Ende. Ich hatte mich wie immer in der letzten Reihe versteckt und versuchte, mich unauffällig aus dem Raum zu stehlen, als Kogan mich aufrief und um ein Gespräch bat. Völlige Panik. Was hatte ich verbrochen? Eine Woche zuvor hatte ich einen Aufsatz eingereicht, vielleicht ein paar Tage zu spät, in dem ich zwei Romane miteinander verglichen hatte, die mir zugeteilt worden waren. Ich ging zu ihm, und er sagte gleich zu Beginn: »Was machen Sie eigentlich hier?«

Ich weiß noch, dass ich genau verstand, was er damit meinte. Ich hatte mich dasselbe schon seit Wochen gefragt. Ich murmelte etwas davon, dass mein Vater gestorben war und ich keine andere Wahl hatte, als den Familienbetrieb weiterzuführen. Bis ich diese Memoiren fertig geschrieben hatte, fiel mir zu jener Situation nichts weiter ein. Beim Lektorieren erinnerte ich mich dann daran, dass es sich bei dem Aufsatz, den ich eine Woche zuvor abgegeben hatte, um einen Vergleich eines Romans des britischen Schriftstellers Somerset Maugham mit einem zeitgenössischen amerikanischen Werk, vielleicht von F. Scott Fitzgerald, gehandelt hatte. Ich hatte ihn von Kogan mit der Höchstnote und vielen lobenden Anmerkungen zurückbekommen. Nun versetzte mich Kogan in Erstaunen, als er mich darum bat, mich so bald wie möglich mit ihm bei der Zulassungsstelle der University of Chicago zu treffen. Das tat ich, schrieb den Aufnahmetest, den an jenem Tag alle Bewerber ablegen mussten, bestand ihn und konnte sofort anfangen, weil das Wintersemester gerade begonnen hatte.

Ich fühlte mich dort sehr wohl. Es wurde viel Wert auf kritisches Denken gelegt, und der Seminarplan basierte nicht auf Lehrbüchern, sondern Originalquellen von Akademikern und Theoretikern. Am wichtigsten für mich war es, dass die Abschlussnoten für viele Kurse aus den Ergebnissen von vier- oder sechsstündigen Klausuren bestanden. Ich konnte schon immer gut schreiben, konnte alles, was ich zu sagen hatte, mit einem Mal ausdrücken, und diese Fähigkeit hat mir einen Universitätsabschluss ermöglicht, vielleicht sogar mit besseren Noten, als ich sie verdient hatte.

Was den wunderbaren Dr. Kogan angeht, so flog ich einige Wochen nach Erhalt seines Briefes nach Chicago, um ihn zu treffen und auf seine Bitte hin eine Rede vor dem dortigen Ableger der akademischen Ehrengesellschaft Phi Beta Kappa zu halten, die er Ende der 1970er-Jahre gegründet hatte. Ich begann außerdem, meine Dienste als Redner all jenen Highschool- oder Collegelehrern in der Gegend um Washington anzubieten, die Fragen zur amerikanischen Außenpolitik diskutieren wollten. Bernard Kogan und ich blieben bis 1998 in Briefkontakt. Dann schrieb er mir, dass er krank sei. Ende 1997 hatte er, offensichtlich zufrieden, Folgendes geschrieben: »Es ist glasklar, Seymour, dass du längst nicht mehr der zurückhaltende junge Mann bist, den ich an einem Nachmittag in den 1950er-Jahren nach der Stunde beiseitenahm.« Vielen Dank, Dr. Kogan.

Meine Studentenzeit an der University of Chicago war spannend und unterhaltsam. Es gab eine Menge komischer Käuze unter den Studenten, und viele von ihnen waren brillante Freidenker. Ich wurde nicht zum Maoisten, Platoniker oder Sokratiker, aber auch ich war natürlich ein Sonderling, denn ich führte nebenbei die Reinigung weiter und lebte bei meiner Mutter. Trotzdem schaffte ich es zu studieren, ein oder zwei Jahre lang in der Unimannschaft Baseball zu spielen, einer Studentenverbindung beizutreten, mich für Mädchen zu interessieren und erwachsen zu werden. Man muss meiner Mutter zugestehen, dass sie sich nun mehr um den Laden kümmerte, der jetzt schlechter lief, uns aber noch immer über Wasser hielt. Mit Journalismus hatte ich nichts am Hut, ich machte lediglich das Kreuzworträtsel in der New York Times, las mir die Überschriften durch und machte mir Gedanken um Eisenhower, Chruschtschow und den Kalten Krieg. 1958 standen Alan und ich kurz vor dem Abschluss, und die Freiheit winkte. Al, der sich treu seiner Versprechen erinnerte, nahm einen Ingenieursposten in San Diego an, zog mit seiner Frau dorthin und mietete für unsere Mutter eine Wohnung in der Nähe. Die Reinigung wurde für wenig Geld an einen Angestellten verkauft. Ich zog in eine Ein-Raum-Kellerwohnung in Hyde Park, der Universitätsgegend in der South Side, und bezahlte fortan zwölf Dollar die Woche Miete. Das Bad lag auf dem Flur. Es war fantastisch.

Mit einem Englischabschluss ohne Auszeichnungen fand ich lange keine Arbeit. Ich hatte Interesse an der Xerox Corporation, die damals ein knappes Jahr vor dem Vertrieb des ersten Kopiergeräts stand. Ich weiß nicht mehr, wer mir von der Firma erzählt hatte, aber gegen Ende des Sommers stand fest, dass sie kein Interesse an mir hatte. Ich war befreundet mit David Currie, einem Mannschaftskollegen vom Baseball, dessen Vater Brainerd ein führender Rechtsgelehrter und Professor an der juristischen Fakultät der University of Chicago war. Auch er liebte Baseball und gab seinem Sohn und mir oft Trainingsstunden. David war im Jahr zuvor zur Harvard Law School gegangen; er arbeitete später für den Obersten Richter Felix Frankfurter und sollte über vier Jahrzehnte an der Chicago Law School unterrichten. Als ich mit seinem Vater sprach und ihn fragte, ob ich mich an der juristischen Fakultät in Chicago einschreiben lassen konnte, obwohl der Sommer schon fast vorbei war, erledigte Professor Currie das innerhalb weniger Tage. Wie Bernard Kogan sah auch er in mir ein Potenzial, das mir damals selbst nicht bewusst war.

Ich bekam anständige Noten, fand Jura aber langweilig, genau wie die gesamte juristische Fakultät und ihr Beharren auf sturem Auswendiglernen. Gegen Ende des Jahres war ich so gut wie nie an der Uni und wurde schließlich vom Dekan Edward H. Levi hinausgeworfen. (Er sollte ein Jahrzehnt später noch einmal eine Rolle in meinem Leben spielen.) Mir machte das nichts aus, denn ich wusste, dass der Dekan recht hatte. Ich war lediglich traurig, dass Brainerd 1965 starb, ohne meine Karriere weiterverfolgen zu können.

Ich weiß nicht mehr, was in den darauffolgenden Monaten geschah. Ich probierte es mit Wirtschaftswissenschaften. Nichts für mich. Während meiner Zeit an der juristischen Fakultät hatte ich nebenbei in einem Walgreens-Drogeriemarkt im südöstlichen Vorort Evergreen Park Whiskey und Bier verkauft, und nun machte ich dasselbe in Vollzeit in einem Walgreens in Hyde Park. Eines Abends kamen Saul Bellow und Richard Stern, zwei Schriftsteller aus Chicago, die ich sehr bewunderte, in den Laden. Stern, bei dem ich ein Seminar über literarisches Schreiben belegt hatte, für das er die Studenten persönlich auswählte, beschämte mich, indem er mehr oder weniger dasselbe fragte wie Kogan: Was machte ich hier eigentlich?

Eines Abends in einer Bar, in Gedanken über meine ungewisse Zukunft, traf ich einen Mann, den ich kannte, aber erst einmal nicht zuordnen konnte. Er hieß Peter Lacey und erzählte mir, dass er ein Jahr zuvor versucht hatte, auf einer Party mein Mädel auszuspannen. Wir lachten darüber und setzten uns auf ein paar Bier zusammen. Was ich so machte? Whiskey verkaufen. Peter hingegen erzählte mir, dass er inzwischen für die Zeitschrift Time arbeitete, seine journalistische Laufbahn aber als Nachwuchsreporter bei der Nachrichtenredaktion City News Bureau (CNB) in Chicago begonnen hatte. City News, so erfuhr ich dann, war zur Jahrhundertwende von den Zeitungsunternehmen in Chicago gegründet worden, um Reporter zu den städtischen Gerichten und Polizeirevieren zu schicken und so Zeit und Geld für die renommierten Kollegen zu sparen. City News beschäftigte sich vor allem mit Straßenkriminalität – wovon es in Chicago nun wirklich genug gab –, und seine Berichte wiesen die großen Zeitungen auf interessante Fälle hin. Es wimmelte dort nur so von ambitionierten jungen Reportern. Die Agentur hatte außerdem mit der Veröffentlichung von The Front Page, einem beliebten Theaterstück von Ben Hecht und Charles MacArthur, das später auch verfilmt wurde, kurze Berühmtheit erlangt.

Es klang nach einem spannenden Job, vor allem weil Lacey mir erzählt hatte, dass City News seine ständig wechselnde Belegschaft auf zwei Arten rekrutierte: Die eine Hälfte kam von der berühmten Medill Journalistenschule der Northwestern University, und die andere waren Bewerber mit Universitätsabschluss. Ich weiß nicht, ob das stimmte, aber damals war ich davon überzeugt, dass dem so war. Also ging ich zum Büro des City News Bureau in der Stadt und füllte ein Bewerbungsformular aus. Man musste keine Referenzen angeben, also tat ich es auch nicht. Ein Bürobote sagte mir, dass man mich anrufen würde, wenn meine Bewerbung Erfolg haben sollte. Ein paar Monate später zog ich um und verschwendete keinen Gedanken daran, dass City News nun keine aktuelle Telefonnummer mehr von mir hatte. Einige Monate vergingen, ich verkaufte weiter beschämt Whiskey und genoss ohne jede Scham meine Freiheit – eine Freiheit, wie ich sie seit dem Tod meines Vaters nicht gekannt hatte. Ich las die modernen und auch die nicht so modernen Schriftsteller – William Styron, Norman Mailer, Philip Roth, Nelson Algren, James T. Farrell – und hielt mir bis dato unbekannte Wörter wie »Amanuensis« oder »Sobriquet« in einem Notizbuch fest. Lange Zeit war mein Lieblingsbuch Saul Bellows Die Abenteuer des Augie March, das von einem Jungen aus Chicago wie mir handelte, der erfolglos blieb.

Eines Freitags nach Feierabend war ich in meine alte Wohnung zum Pokerspielen eingeladen worden. Dort wohnten nun ein paar Absolventen, die im Gegensatz zu mir recht gut Poker spielten. Gegen zwei oder drei Uhr war ich aus dem Spiel und beschloss, im mir vertrauten Wohnzimmer auf der Couch zu schlafen. Am nächsten Morgen gegen neun weckte mich das Telefon aus dem Tiefschlaf. Ich ging ran. Ein Redakteur namens Ryberg von City News wollte mit Hersh sprechen. Ich gab mich zu erkennen. Er fragte, ob ich noch Interesse an einem Job als Nachwuchsreporter hätte, für 35 Dollar die Woche, und ob ich sofort anfangen könnte. Das konnte ich. Einige Wochen später, als ich mich immer mehr für das Zeitungswesen zu interessieren begann, sah ich, wie Walter Ryberg, der fünf Jahrzehnte lang Lokalredakteur bei City News war, sich nach einem neuen Reporter umsah. Er nahm sich die Bewerbungsunterlagen vor und begann anzurufen. Wenn niemand abnahm, oder der Bewerber verzogen war, wanderte die Bewerbung zurück unter den Stapel. Meine Zeitungskarriere hatte begonnen, weil ich bei einem Pokerspiel all mein Geld verloren hatte.

KAPITEL ZWEI

CITY NEWS

Mein erster Job bei City News war ziemlich ernüchternd. Als Bürobote wurde mir die Spätschicht zugeteilt, von fünf Uhr nachmittags, und ich war für die blödsinnigsten Aufgaben zuständig. Die wichtigste davon bestand darin, hereinkommende Meldungen so schnell wie möglich unzählige Male zu vervielfältigen. Sobald sie redigiert waren, wurden die Texte auf Wachspapiermatrizen getippt, die ich anschließend um die Trommel der büroeigenen Vervielfältigungsmaschine wickelte. Dann begann ich, wie wild zu kurbeln. Die Kopien, die so entstanden, wurden per Drucklufttechnik durch Röhren zu den Kollegen von der Zeitung, dem Radio und dem Fernsehen geschickt. Wenn es viel zu berichten gab – wie beispielsweise bei einem Doppelmord oder einem lang erwarteten Gerichtsurteil in einem Kriminalfall –, ging es zu wie im Irrenhaus, und ich war nach Schichtende unweigerlich völlig verdreckt von der blauen Tinte, mit der ich die Maschine befüllten musste.

Meine zweitwichtigste Aufgabe war noch sinnloser. Ich durfte meine Schicht nicht beenden, bevor ich mit einer besonderen Seife den Schreibtisch von Larry Mulay geschrubbt hatte. Mulay war der Frühredakteur und schon seit den Zeiten John Dillingers und der Mob-Schießereien auf offener Straße bei City News. Ich hätte am Vortag drei Pulitzerpreise gewinnen können und wäre trotzdem am nächsten Morgen rausgeflogen, wenn der Schreibtisch nicht den peniblen Test mit Mulays weißen Handschuhen bestanden hätte. Er streifte die Handschuhe über und wischte sorgfältig über den gesamten Schreibtisch, immer auf der Suche nach Anzeichen dafür, dass wieder einmal ein Bürobote am Ende seiner Karriere angelangt war. Am schlimmsten aber waren Freitagabende, denn City News fiel die Aufgabe zu, die Ergebnisse der Chicagoer Highschool-Basketballspiele an all seine Kunden weiterzuleiten. Ich brachte Stunden damit zu, die Ergebnisse abzufragen und an die Ein-Mann-Sportredaktion weiterzugeben, deren verdrießlicher Redakteur seinen langweiligen Job viel zu ernst nahm, wie sich später noch herausstellen sollte.

Und trotzdem war ich begeistert. Die meisten Redakteure und Reporter waren Zyniker und wussten genau, wie es in Chicago lief. Die Cops waren korrupt, und der Mob beherrschte die Stadt. Die Reporter von City News, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, ignorierten die Korruption und durften im Gegenzug Tatorte betreten und parken, wo sie wollten, solange sie ihre Presseausweise hinter die Windschutzscheibe legten. Der Outer Drive, der Nord-Süd-Highway von Chicago, wurde vom Komiker Mort Sahl als letzter Außenposten des kollektiven Feilschens bezeichnet. Die Kneipen waren noch lange nach den offiziellen Schließzeiten offen, und Cops bekamen sogar noch öfter Freigetränke als Reporter. Ein paar Straßen weiter, in der Rush Street, trat Komiker Lenny Bruce in Mister Kelly’s Nightclub auf, und in der Sutherland Lounge in der South Side konnte man über einem Bier Miles Davis, John Coltrane und Thelonious Monk lauschen. Die ambitionierten jungen Reporter, die aus den Gerichten und Polizeistationen berichteten, verstanden, dass es ihre Aufgabe war, sich dem bestehenden System anzupassen und die Stadt irgendwie am Laufen zu halten. Die Straßenreporter von City News, so dachte ich, waren die ultimativen Zyniker – witzelnde Schlauberger, die sich über alles und jeden lustig machten, vor allem einen neuen Büroboten. Sie lebten vollständig im Hier und Jetzt. Ich, der ich den größten Teil meines Lebens nicht das Gefühl gehabt hatte, über irgendetwas Kontrolle zu haben, war fasziniert.

Mein Eifer, mich hochzuarbeiten – dem Schreibtischputzen und Vervielfältigen zu entkommen und endlich als Reporter loszulegen –, nervte die Redakteure, vor allem Bob Billings, den Nachtredakteur, meinen Nachtredakteur bei City News. Die meisten Reporter arbeiteten nicht im Hauptbüro mit seinen abgenutzten Schreibtischen, schmutzigen Fußböden, alten Schreibmaschinen und schlechtem Licht. Es gab dort nur einen Büroboten, einen Redakteur und drei bis vier Männer zum Redigieren. Die wichtigen Nachrichten wurden von den über die Stadt verteilten Reportern über das Telefon durchgegeben und von den Redigierleuten zu Texten verfasst. Die oberste Regel lautete, immer erst die Fakten zu überprüfen, bevor man etwas durchgab. Einer der leitenden Redakteure, Arnold Dornfeld, der außerhalb wohnte und oft schmutzige Schuhe trug, die er zu meinem Entsetzen anbehielt, wenn er die Beine auf Larry Mulays Schreibtisch legte, hatte einmal zu einem Reporter gesagt: »Wenn Ihre Mutter Ihnen sagt, dass sie Sie liebt, überprüfen Sie auch das!« Diejenigen Straßenreporter, die keine klaren Fakten hereingaben oder öfter erst zu spät mit Nachrichten aufwarten konnten, behielten ihre Posten nicht lange. Zu meinen Aufgaben als Bürobote gehörte es auch, alle Tageszeitungen aus Chicago auf Nachrichten oder Details zu überprüfen, die unseren Reportern entgangen waren, und diese besseren Artikel an unsere Pinnwand im Büro zu hängen. Diese Aushänge wurden »verpasste Gelegenheiten« genannt, und ich muss zugeben, dass ich meine Aufgabe genoss. Reporter wurden ständig ausgewechselt, und ich wartete auf meine Chance.

Es blieb viel Zeit zum Schwatzen, was mir sehr gefiel, aber Billings behielt mich immer im Auge – zum Teil aus Langeweile und zum Teil, weil ich ein guter Gegenpart für ihn war. Anfangs hielt ich Bob, einen großen Mann mit ausgeprägter Kinnpartie, für ein lebendes Klischee. Er war an der University of Illinois Footballspieler gewesen, redete Klartext, und wir alle wussten, woher auch immer, dass er mit der entfremdeten Frau eines örtlichen Polizeichefs zusammen war. Letzteres war beachtenswert, denn wenn man den Gerüchten über die Polizei Glauben schenkte, brachte ihn das quasi in Lebensgefahr. Bob, damals Ende zwanzig, machte keinen Hehl daraus, dass er mit einem armseligen Juden von der University of Chicago, der die falschen Sandwiches anbrachte und fleckige Kopien aus dem Vervielfältiger zog, nichts anfangen konnte. Doch ich hatte angefangen, täglich alle vier Tageszeitungen von Chicago sowie die New York Times zu lesen, und wies manchmal auf Nachrichten hin, die unseren Reportern entgangen waren. Ich hatte ebenso immer ein Buch dabei, und Bob wollte jedes Mal wissen, was ich gerade las. Er erzählte mir dann immer lautstark, dass mir mein Buch, vor allem wenn es ein Roman war, kaum helfen würde, ein guter Reporter zu werden. Es war offensichtlich, dass Billings wesentlich belesener, schlauer und lockerer war, als er es anderen gegenüber zugeben wollte.

Das Interesse, das er mir entgegenbrachte, führte ebenso oft zu Qualen. In einer unglaublich unwirtlichen Nacht in Chicago – mit starkem Schneefall, schneidendem Wind vom Lake Michigan und Minustemperaturen – kam ein Polizeibericht von einem Brand in einem nahe gelegenen Kanalschacht herein. Als Bob mich fragte, ob ich gern als Reporter losgeschickt werden würde – zum ersten Mal –, war ich Feuer und Flamme. »Berichte vom Brand«, wies er mich an. Ich zog mich so warm wie möglich an, lief zum Tatort, zeigte dem Feuerwehrmeister meinen Presseausweis, zog mein Notizbuch hervor und fragte: »Was ist passiert?« Der Feuerwehrmann war irritiert. Es brannte in einem Kanalschacht. Niemand war verletzt worden. Es gab nichts zu berichten. »Verschwinde«, ließ er mich wissen. Ich lief zurück ins Büro und erstattete Billings den nicht existenten Bericht. Wie hieß der Feuerwehrbeamte? Das wusste ich nicht. »Dann geh zurück und finde den Namen heraus«, sagte Bob. Also ging ich ein zweites Mal hinaus, berichtete gewissenhaft vom Brand im Kanalschacht und zitierte den Feuerwehrmeister. Billings redigierte den Artikel, ließ ihn mich ein paarmal kopieren – und warf dann wie erwartet alles in den Papierkorb.

Ein paar Wochen später war meine Zeit als Bürobote endlich vorüber. Ich wurde als Nachtreporter der Polizeihauptwache südlich von Downtown zugewiesen, eine Stelle, die ich eindeutig Billings zu verdanken hatte. Innerhalb der darauffolgenden Monate lernte ich das Wesentliche in meiner neuen Karriere, sowohl in guter wie in schlechter Hinsicht, und war stets zuversichtlich.

Meine erste Lektion lernte ich schon nach ein paar Wochen. Der Polizeifunk meldete mitten in der Nacht niedergeschossene Beamte bei einem Schusswechsel in der Roosevelt Road, einer Hauptverkehrsstraße südlich von Downtown. Ich besaß einen zehn Jahre alten Studebaker, der im Winter schwer zu kämpfen hatte – nach vier Stunden in der Kälte fror unweigerlich die Batterie ein, und ich musste Nacht für Nacht alle vier Stunden das Auto anwerfen, ob ich nun zu Hause oder im Polizeirevier war –, aber glücklicherweise sprang er sofort an. Ich raste die knappe Meile zum Tatort.

Und was für ein Tatort! Mit meiner polizeilichen Legitimation durfte ich hinter die Absperrung, und ich erfuhr, dass die Opfer Sicherheitspolizisten waren, Beamte der Postkontrollbehörde. Ein viertüriges Zivilfahrzeug war in einen Laternenpfahl gekracht. Die Türen und Fenster waren von Einschusslöchern übersät. Drin waren zwei Männer zu sehen, ihre Köpfe waren nach hinten geneigt, und überall war Blut. Ich hatte erst einmal einen Toten gesehen – meinen Vater bei der Aufbahrung –, aber mir war klar, dass die zwei nicht mehr zu retten waren. Ein äußerst wütender Polizeisergeant war für den Fall verantwortlich, also ging ich zu ihm und trällerte »City News«. Er blieb stumm. Ich fragte, ob die Opfer tot seien. Er griff nach meiner Jacke und drückte mich brutal gegen einen Streifenwagen. »Sind sie nicht, solange das nicht bestätigt ist«, sagte er und schickte ein »du Arschloch«, »du dummes Schwein« oder eine weitere Obszönität hinterher. Ein Gerichtsmediziner musste sie für tot erklären. Der war noch nicht da. Was sollte ich tun? Ich hatte hier so etwas wie eine Exklusivmeldung, weil noch kein anderer Reporter aufgetaucht war. Sollte ich also zum nächsten Münztelefon rennen und Bericht erstatten? Ich war mir sicher, dass meine Mutter mich liebte; musste ich das wirklich überprüfen?

Also wartete ich ab. Der Gerichtsmediziner traf ein und bestätigte das Offensichtliche. Dann lief ich zum Telefon und beschrieb einem der Redigierleute den Tatort. Die Namen der beiden Beamten – die offensichtlich undercover unterwegs gewesen waren, denn sie waren in Zivil – waren erst einmal nicht herauszubekommen. Ich hielt mich vom Polizeisergeanten fern, aber der Gerichtsmediziner war nett.

Die Moral von dieser Geschichte? Erster zu sein ist nicht halb so wichtig wie Fakten zu überprüfen und gründlich zu sein, selbst wenn das in dem Fall nicht zutraf. Das war Ende des Jahres 1959. Die Fehler, die ich in den folgenden fünf Jahrzehnten gemacht habe – und wir alle machen Fehler –, hätten sich vermeiden lassen können, wenn ich immer beherzigt hätte, was der Sergeant mir über das Warten auf offizielle Bestätigungen erzählt hatte.

Meine zweite wichtige Lektion kam ein paar Wochen später, als ich ein oder zwei Wochen lang nachts im Polizeirevier in Hyde Park in der Nähe der Universität im Einsatz war. Ich hatte mich schnell an die Abläufe gewöhnt: Man unterhielt sich mit den anderen Reportern, machte sich beim diensthabenden Beamten beliebt, brachte ihm einen Kaffee nach dem anderen, half ihm, wenn er das wollte, mit dem New York Times-Kreuzworträtsel und wartete darauf, dass etwas über den Polizeifunk kam. Spätnachts gab es eine Meldung über einen Brand im schwarzen Getto ein paar Meilen westlich, mit zahlreichen Todesopfern. Also machte ich mich auf den Weg.

Ein armseliges Holzhaus, ungefähr zwanzig Straßenzüge nördlich vom Laden meines Vaters, war bei meiner Ankunft bereits völlig abgebrannt. Auf dem kleinen Rasenstück davor lagen sorgsam aufgereiht mehrere in weiße Tücher gehüllte Leichen. Man hatte sie der Größe nach geordnet – Vater Bär, Mutter Bär und drei oder vier kleine Bärenbabys. Ich war schockiert. Ein erschütterter Feuerwehrmann, vielleicht war es auch ein Cop, erzählte mir, dass man wohl davon ausgehen könne, dass der Vater durchgedreht war und sein Haus angezündet hatte. Seine Frau und die Kinder, wenn es denn überhaupt seine Familie gewesen sei, wären dabei ums Leben gekommen. Ich stellte viele Fragen, bekam aber nichts Neues heraus, obwohl mir jemand, wahrscheinlich ein Nachbar, die Namen der vermutlichen Opfer nannte und ein paar Details über die Familie erzählte, wenn es denn diese Familie war, die dort eingehüllt lag.

Ich hatte eine ziemlich starke Geschichte, wusste aber, dass vieles noch unklar war. Trotzdem musste ich ein Münztelefon finden und all das durchgeben, was ich wusste, damit es redigiert werden konnte. Ich war der Ansicht, dass die Nachricht es sogar auf die Titelseiten schaffen könnte. Während ich also alles erzählte, fiel mir plötzlich Mr Dornfeld, der Mann mit den schmutzigen Schuhen, ins Wort. Manche traumatische Erfahrung behalten wir für immer im Gedächtnis, und so weiß ich noch heute genau, was er damals sagte: »Ah, mein lieber, guter, eifriger Mr Hersh. Sind die durchaus bedauernswerten Opfer eventuell negroider Abstammung?« Ich bejahte. Er antwortete: »Machen Sie’s kurz.« Das bedeutete, dass mein Artikel bei City News letzten Endes ungefähr so aussehen würde: »Fünf Neger starben letzte Nacht bei einem Brand in der Southwest Side.« Vielleicht stand auch noch eine genauere Adresse dabei.

Ich hatte gedacht, durch meine langjährige Arbeit in einer hauptsächlich schwarzen Gegend der Stadt etwas über Rassismus zu wissen. Dornfeld zeigte mir, dass ich noch viel lernen musste.

Eine weitere Lektion stand mir noch bevor, dann würde ich nach nur knapp sieben Monaten bei City News zu meinem Armeegrunddienst eingezogen werden. Es handelte sich dabei um einen peinlichen, doch unvermeidbaren Fall von Selbstzensur, wie wir es heute nennen. Ich machte wieder meinen Nachtdienst in der Hauptwache, als zwei Polizisten durchgaben, dass ein des Überfalls Verdächtigter bei einem Fluchtversuch erschossen worden war. Die Cops, die die Schüsse abgefeuert hatten, waren auf dem Rückweg, um Bericht zu erstatten. Immer bemüht und immer neugierig rannte ich nach unten in die Tiefgarage, um vielleicht als Erster ein paar Fragen stellen zu können. Der Fahrer – weiß, kräftig und äußerst Irisch, wie viel zu viele Cops in Chicago es damals waren – hatte mich eindeutig nicht gesehen, als er einparkte. Als er ausstieg, rief ihm ein anderer Polizist, der die Meldung gehört hatte, so etwas wie »Na, wollte euch der Typ wegrennen?« zu. Der Fahrer antwortete: »Quatsch. Ich hab dem Nigger gesagt, er solle abhauen, und dann hab ich ihn erledigt.«

Ich rannte so schnell wie möglich unbemerkt wieder nach oben, rief City News an und ließ mich mit dem Redakteur verbinden. Es war nicht Billings. Wie weiter? Der Redakteur sagte, ich solle bloß nichts unternehmen. Es stünde mein Wort gegen das sämtlicher Cops, die mich des Lügens bezichtigen würden. Die Weisung war eindeutig: Es gab nichts zu berichten. Aber natürlich gab es das. Also wartete ich ein paar Tage und ließ mir dann den gerichtsmedizinischen Bericht geben. Dem Opfer war in den Rücken geschossen worden. Ich zeigte dem Redakteur den Bericht. Er wollte nichts davon wissen. Niemand wollte etwas damit zu tun haben. Ich hatte außer der Aussage des Mörders selbst keinerlei Beweise dafür, dass ein Mord geschehen war, und er selbst würde es natürlich abstreiten.

Also unternahm ich in dem Fall nichts. Ich versuchte nicht einmal, den Cop ausfindig zu machen und ihm Fragen zu stellen, und auch seinen Partner suchte ich nicht. Ich machte bei City News keinen Aufstand. Ich ging für sechs Monate zum Armeedienst und fühlte mich furchtbar, weil ich schwach gewesen war und mein gesamter Berufsstand so schwächlich Kompromisse einging und sich selbst zensierte. Ich verabscheue diese Schwächen bis heute, habe aber mehr als einmal selbst die Augen verschlossen. Ich hatte meine Berufung gefunden und schnell eingesehen, dass sie nicht fehlerfrei war. Und auch ich war es nicht.

KAPITEL DREI

ZWISCHENSPIELE