WARUM WIR EIN BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN BRAUCHEN
WARUM EIN GRUNDEINKOMMEN – UND WARUM JETZT?
1VON SARAH, MÄNNERN UND VÖGELN
WIE BEMISST SICH DER WERT DES MENSCHEN?
Sarah aus Berlin wählt Grün. Neben Umwelt und Klima ist ihr soziale Gerechtigkeit ein Anliegen. Damit ist Sarah mit ihren Eltern auf einer Wellenlänge. Nur ein Thema führt immer wieder zu Streit: das bedingungslose Grundeinkommen.
2VOM ARBEITSZWANG ZUR YANG-GANG
EINE IDEE MIT GESCHICHTE
Einst war Jeffrey glühender Trump-Fan. Doch dann kam der demokratische Präsidentschaftskandidat Andrew Yang, der ein Grundeinkommen von 1.000 Dollar pro Monat forderte. Seitdem hängt der Texaner dieser neuen Idee an. Aber ist die tatsächlich so neu?
3UNIVERSELL ODER BEDINGUNGSLOS?
DER FEINE UNTERSCHIED
Tatjana lebt schon lange in Österreich. Die Russin hat hier studiert, zahlt hier Steuern und möchte bleiben. Als sie von einem Volksbegehren zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens liest, ist sie zuerst Feuer und Flamme – doch unterschreiben würde sie dennoch nicht.
4SPAGHETTI ODER GEMÜSEGARTEN?
WAS UNSER MENSCHENBILD BEEINFLUSST
Micks Haus im australischen Canberra ist gerade noch von den Buschfeuern verschont geblieben. Doch als das Schlimmste vorbei war, traf die Corona-Pandemie das Land. In dieser Zeit des Ausnahmezustands wurden die Rufe nach einem Grundeinkommen immer lauter. Doch dagegen regte sich Widerstand.
5MENSCH ODER KOSTENFAKTOR?
DER WERT DER ARBEIT
Ayse ist Architektin und lebt mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern in Amsterdam. Beide sind berufstätig. Ayse liebt ihre Kinder, dennoch empfindet sie die Arbeit im Haushalt ungleich anstrengender als ihren Job. Sie fragt sich seit Längerem, warum sie Geld und soziale Anerkennung nur für ihre Arbeit im Büro erhält.
6GELD FÜR ALLE
VON TAMPERE NACH WINNIPEG
Riikka gehörte zu jenen arbeitslosen Menschen in Finnland, die während eines Experiment ein Grundeinkommen erhalten haben. Das Projekt endete nach kurzer Zeit, für die Regierung waren die Resultate enttäuschend. Doch die Musiklehrerin sieht das anders.
7KASSASTURZ
WER SOLL DAS BEZAHLEN?
Für die meisten Menschen, die sich für das G-Wort interessieren, steht und fällt die Idee mit einer einzigen Frage: Ist ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle überhaupt finanzierbar? Eine Modell-Rechnung.
8CASH ODER COW?
HEISST GRUNDEINKOMMEN IMMER GELD?
Gemma und David kommen aus dem englischen Blackpool. Seit der Zeit ihrer Kindheit hat sich die Stadt verändert, das Zentrum verwahrlost, viele Geschäfte stehen leer. Geld für eine Sanierung gibt es keines – aber eine schlaue Idee von Forschern aus London.
9MEHR ALS EINE UTOPIE
WIE ES GELINGEN KANN
Matthias ist Unternehmer in einem Tiroler Skiort. Wenn in Zukunft alle einfach Geld vom Staat erhalten, meint er, würde das die wirtschaftliche Situation weiter verschärfen. Ließe sich ein Grundeinkommen dennoch realisieren? Die Utopie im Realitäts-Check.
ANMERKUNGEN
DANK
DIE AUTORIN
Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine Schwester der Krise, ließe sich sagen. Immer, wenn es um die Zukunft der Menschheit schlecht bestellt ist, wenn im Schatten von Wirtschafts- und Finanzkrisen tausende Jobs verloren gehen, wenn Feuerstürme über ein Land hinwegfegen oder eine Pandemie die Welt in Atem hält, taucht dieser etwas sperrige Begriff auf. In Debatten in der Familie, in Internet-Foren, in den Medien und in der politischen Diskussion. Irgendwo zwischen Sehnsucht und Utopie angesiedelt, klingt dieses Wort wie ein Allheilmittel, versehen mit den dazu passenden plakativen Slogans: Geld für alle. Ein Leben lang. Einfach so.
Verbunden ist diese Forderung zumeist mit dem Wunsch, den unmittelbaren Druck nach einem Job-Verlust zu mildern, sich die Freiheit zu eröffnen, nicht bloß von einer Erwerbsarbeit abhängig zu sein, sondern sich auch den eigenen Interessen hinzugeben. Zudem ließe sich, so das Versprechen, die unmittelbare Not in Ländern mildern, die nicht über ein (noch relativ) dichtes Netz an Sozialleistungen verfügen, wie das etwa in Deutschland, Österreich oder der Schweiz der Fall ist.
Auch in diesen Ländern wurde während der Corona-Krise der Ruf nach einem bedingungslosen Grundeinkommen lauter. Schluss mit dem entwürdigenden Anstellen um Förderungen und Beihilfen, dem langen Warten auf finanzielle Unterstützung und dem Stigma, das mit Erwerbslosigkeit verbunden ist. Her mit einer Grundsicherung, die Menschen nicht nach bestimmten Parametern vermisst, sondern einfach allen gewährt wird. Es geht also nicht zuletzt um Gleichheit, Gerechtigkeit, ja, auch: Solidarität. Große, gewichtige Worte, die diesen Begriff mit einer Art Verheißung aufladen. Doch so einfach es klingen mag, jedem Menschen jeden Monat eine bestimmte Summe aufs Konto zu überweisen: Damit allein wäre es nicht getan. Auch davon wird dieses Buch handeln. Es wird um die Bedingungen gehen, die erfüllt sein müssen, damit ein solidarisches bedingungsloses Grundeinkommen seinen Zweck erfüllen kann. Wir werden Mythen entlarven und Vorurteile auflösen, die dieser Idee entgegengebracht werden. Und wir werden ein Anliegen in den Mittelpunkt rücken, dem wir uns alle widmen sollten, um auch in Zukunft eine funktionierende Gesellschaft zu garantieren: den Wert des Menschen.
Wenn es in politischen und wirtschaftlichen Debatten darum geht, wie man alle Aspekte unseres Lebens am besten vermisst, prognostiziert und bewertet, wird oft außer Acht gelassen, worum es tatsächlich geht: Die Frage danach, was uns wichtig ist. Und welchem Ziel all diese Quantifizierungen dienen. Wenn wir hören, dass der demographische Wandel unsere Pensions- und Sozialsysteme gefährdet, wird der Blick darauf verstellt, dass viele ältere Menschen wertvolle Arbeit leisten – auch wenn sie keiner Erwerbsarbeit (mehr) nachgehen: Sie kümmern sich um ihre Enkel, pflegen ihre erkrankten Ehepartner oder sind in gemeinnützigen Vereinen tätig.
Und wenn wir lesen, dass uns Roboter bald schon die Arbeit wegnehmen, dass die voranschreitende, unaufhaltsame Digitalisierung und Automatisierung in den nächsten Jahren über ein Drittel aller heute existierenden Jobs in der industrialisierten Welt verschwinden lassen werden, dann sollten wir angesichts dieser „vierten industriellen Revolution“ nicht in Angststarre verfallen. Vielmehr sollten wir die tieferen Ursachen für diese Entwicklung fokussieren und uns fragen: Wie sind wir in dieses Schlamassel eigentlich hineingeraten?
Wir haben in der Tat ein Problem – aber schuld daran sind nicht die Roboter. Eine viel bedeutendere Ursache ist die Unfähigkeit der Politik der letzten Jahrzehnte sicherzustellen, dass Menschen von ihrer Arbeit tatsächlich leben können – und jene, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen, ein würdiges Auskommen haben. Löhne stagnieren, immer mehr Menschen sind atypisch oder prekär beschäftigt, selbst unter den sogenannten Systemerhaltern. Viele Rentner leben in Armut, eine Familie lässt sich selbst mit zwei Einkommen oft nicht mehr erhalten, während eine kleine Minderheit immer mehr Vermögen akkumulieren kann. Die wachsende Ungleichverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen, das Nebeneinander von extremem Reichtum und enormer Armut, ein Phänomen, das lange Zeit mit einem verächtlichen Naserümpfen Autokratien und Feudal-Staaten außerhalb der sogenannten westlichen Welt zugeschrieben wurde, ist zunehmend ein Kennzeichen unserer Gesellschaften.
Die massiven Einkommensverluste und den rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit, die die Corona-Krise mit sich gebracht hat, hat diese Prozesse beschleunigt und damit sichtbar gemacht. Und die Dringlichkeit der Frage weiter zugespitzt: Warum lassen wir es zu, dass in reichen Ländern wie Deutschland, Österreich und der Schweiz Menschen um ihren Lebensunterhalt fürchten müssen? Wenn Corona und Lockdown eines gezeigt haben, dann das: Es kann jeden treffen – völlig unverschuldet. Und selbst wenn die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Pandemie überwunden sein sollten, ist eines gewiss: Dieses Problem verschwindet nicht von allein.
Die COVID-19-Krise hat uns die Verwundbarkeit von Gesellschaften deutlich vor Augen geführt. Rekordarbeitslosigkeit und Kurzarbeit haben erstmals ein breiteres Verständnis dafür geschaffen, wie weit die Schere zwischen gesellschaftlicher Bedeutung einer Tätigkeit und deren finanzieller Anerkennung auseinanderklafft.
Während der Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr 2020 wurde die Versorgung der Bevölkerung in vielen Ländern von Krankenpflegepersonal, Supermarktangestellten und anderen Menschen mit niedrigen Einkommen aufrechterhalten, während viele der Besserverdienenden von zu Hause aus in relativem Komfort arbeiteten – oder sich auf ihren Zweitwohnsitz am Land zurückzogen. Und noch eine Erkenntnis: Wenn vor COVID die Mittelschicht hierzulande Arbeitslosigkeit als etwas sah, das „die anderen“ betrifft – die schlecht Ausgebildeten oder die vermeintlich Faulen –, wurde sie während und nach der Krise eines Besseren belehrt.
Kann ein bedingungsloses Grundeinkommen diese Probleme lösen? Und: können wir es uns überhaupt leisten? Auf all diese Fragen wird dieses Buch eine Antwort geben – auch wenn die Antworten oft nicht ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ sein werden. Wir werden einen Blick auf die Geschichte dieser Idee werfen und sehen, wie sich die jeweiligen Modelle mit den unterschiedlichen Vorstellungen einer idealen Gesellschaft gewandelt haben. Wir werden lernen, dass bedingungsloses Geld nicht faul macht – und warum sich diese Vorstellung trotzdem so hartnäckig hält. Es werden Menschen zu Wort kommen, die dafür eintreten, dass die Grundbedürfnisse der Menschen auch mit kostenlosen Sach- und Dienstleistungen befriedigt werden. Wir werden andere Vorschläge hören, die aktuell als Alternativen zum bedingungslosen Grundeinkommen diskutiert werden – wie eine staatliche Job-Garantie. Und ich werde versuchen, Sie zu überzeugen, dass diese Ansätze ohne ein bedingungsloses Grundeinkommen die falsche Lösung für das richtige Problem sind.
Natürlich ist die Schaffung einer Gesellschaft, in der der Lebensunterhalt für alle gesichert und Ungerechtigkeit gemildert wird, eine Aufgabe, die nicht allein durch eine monatliche Zahlung an alle Bürger gelöst werden kann (obwohl eine solche zu einer Gesamtlösung dazugehört). Ein solches Projekt berührt nahezu alle Bereiche unseres Lebens: unser Wirtschaftssystem, Fragen der politischen und sozialen Teilhabe, unseren Arbeitsbegriff und unser Menschenbild. Es handelt sich also nicht bloß um eine politische und ökonomische, sondern um eine moralische Frage.
Dieses Buch ist nicht ein Plädoyer für das Grundeinkommen. Es versucht vielmehr, die Weltbilder, Werte und Argumente zu beleuchten, die hinter den einzelnen Positionen und Vorschlägen stehen – und zu zeigen, dass ein Grundeinkommen die gesamte Gesellschaft verändern kann.
Sarah ist Anfang zwanzig, wohnt noch bei ihren Eltern – und das gerne. Sie ist in Berlin im Bezirk Tiergarten aufgewachsen und möchte bis zum Ende ihres Studiums bleiben. Obwohl sie sich ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft oder sogar eine kleine Unterkunft in einem günstigeren Stadtteil leisten könnte, gibt sie das Geld, das sie sich so spart, fürs Ausgehen oder für Urlaube mit ihren zwei besten Freundinnen aus. Jeden Sommer reisen sie gemeinsam für drei Wochen in ein anderes europäisches Land. Sie fahren immer mit dem Zug. Sarah und ihre Freundinnen halten die Klimakatastrophe für eine der wichtigsten politischen Herausforderungen der Gegenwart. Also leisten auch sie ihren Beitrag: Sie fliegen nicht, essen kein Fleisch und verwenden kein Einwegplastik. Sie gehen regelmäßig auf Klima-Demonstrationen und verbringen an den langen Abenden am Wochenende, wenn sie gemeinsam ausgehen, viel Zeit damit, andere junge Menschen von der Dringlichkeit des Problems der Erderwärmung zu überzeugen. „Wir haben keine Wahl“, sagt Sarah, „die Uhr tickt.“
Sarahs Eltern empfinden genauso. Sie waren schon immer im Herzen Grüne, auch wenn sie immer wieder sozialdemokratisch gewählt haben. In ihrer Jugend haben sie gegen Atomkraft demonstriert, ihre Sorgen angesichts des Waldsterbens waren groß. Obwohl beide Karriere gemacht haben und heute gut situiert sind – Sarahs Mutter ist Direktorin eines Gymnasiums, ihr Vater Rechtsanwalt –, haben sie kein eigenes Auto, sondern sind Mitglied eines Carsharing-Klubs. Sie essen höchstens ein Mal pro Woche Fleisch, auch vor der Corona-Krise waren Fernreisen die Ausnahme: „Sarah macht uns die Hölle heiß, wenn wir fliegen“, erklärt ihre Mutter. „Vom Engagement und der Leidenschaft der Jungen können wir noch was lernen.“
Nur ein einziges Thema führt immer wieder zu Konflikten: Sarah unterstützt seit Kurzem einen Verein, der sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzt. Eigentlich macht er sogar mehr: Der Verein zahlt sogar ein Grundeinkommen aus. Finanziert wird das über Spenden, und jedes Mal, wenn 12.000 Euro zusammengekommen sind, wird eine Person per Los ausgewählt, der ein Jahr lang monatlich 1.000 Euro aufs Konto überwiesen wird. Bisher haben über 400 Menschen davon profitiert. Gleichzeitig erhebt der Verein, wie sich das regelmäßige Fixum auf das Leben der Begünstigten auswirkt.
Sarah wurde auf den Verein „Mein Grundeinkommen“ über eine Studienkollegin aufmerksam, mit der sie eine Seminararbeit über Strategien zur Verringerung des CO2-Ausstoßes in urbanen Ballungsräumen verfasst hat. Ihre Kommilitonin war davon überzeugt, dass ein Grundeinkommen dabei helfen könnte, die Folgen des Klimawandels abzumildern. „Zuerst hab ich es für eine abstruse Idee gehalten“, sagt Sarah, „aber eigentlich ist es total logisch. Wenn alle, die jetzt mit dem Auto in die Stadt zur Arbeit fahren, nicht mehr unterwegs sind, dann bringt das schon was.“ Zudem gebe es mittlerweile Studien, die nachweisen, dass eine verkürzte Wochenarbeitszeit zu einem reduzierten CO2-Austoß führt. Gleichzeitig würde ein Grundeinkommen unnötigen Konsum drosseln und so ebenfalls dem Klimaschutz dienen, meint Sarah. Und das nicht nur, weil jene, die ausschließlich vom Grundeinkommen leben und kein zusätzliches Einkommen haben, weniger Geld für Konsumgüter übrighätten, sondern „weil sich Leute, die in der Arbeit frustriert sind, oft mit Konsum belohnen“, sagt sie.
Sarahs Eltern können ihr Engagement zwar bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen – ein bedingungsloses Grundeinkommen halten sie dennoch für falsch. „Die Nachteile überwiegen die Vorteile“, sagt der Vater. Für ihn würde dieses Konzept nichts weniger als die Aushöhlung des Sozialstaats bedeuten. „Jahrzehntelang wurde für Arbeitnehmerrechte gekämpft. Und jetzt wollen wir die Arbeit abschaffen. Das macht keinen Sinn.“
Diese Ansicht teilt Sarahs Vater mit einem großen Teil der Sozialdemokratie. „Deutschland ist und bleibt eine Arbeitsgesellschaft“, heißt es in einem Konzept des SPD-Parteivorstandes, in dem Reformvorschläge für einen „Sozialstaat für eine neue Zeit“ versammelt sind. Der technologische Wandel werde die menschliche Arbeitskraft nicht verschwinden lassen, sondern nur verändern. Folglich werde es immer wichtiger, auf einem „Recht auf Arbeit“ zu bestehen, heißt es in dem Papier aus dem Jahr 2019. „Das bedeutet, dass sich die Solidargemeinschaft dazu verpflichtet, sich um jeden Einzelnen zu kümmern und Jedem Arbeit und Teilhabe zu ermöglichen – statt sich durch ein bedingungsloses Grundeinkommen von dieser Verantwortung freizukaufen.“
Allerdings teilen nicht alle in der SPD diesen Standpunkt. Es sei falsch, Arbeit mit Lohn- und Erwerbsarbeit gleichzusetzen, sagen die Kritiker des Konzepts.1 Außerdem bestehe kein Widerspruch zwischen bezahlter Arbeit und dem Grundeinkommen; es wäre zu erwarten – und sogar wünschenswert –, dass Menschen auch mit Grundeinkommen weiterhin einer Erwerbsarbeit nachgehen, wenn sie dafür gerecht bezahlt werden. Es gehe dabei nicht darum, die Arbeit abzuschaffen, sondern jene, die schlecht bezahlte oder unentgeltliche Tätigkeiten verrichten, besser abzusichern. Der Wert des Menschen dürfe nicht von seinem Einkommen abhängen.
Um Argumenten wie diesen mehr Gehör zu verleihen, veröffentlichte das Forum Demokratische Linke – eine Gruppierung innerhalb der SPD – ein Dokument, das als Gegenentwurf zur offiziellen Position der Partei verstanden werden kann. Es fordert die schrittweise Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, und das im Sinne einer solidarischen Basissicherung.2 Einen wichtigen Schritt am Weg zu diesem Ziel stellt die Einführung einer Kindergrundsicherung dar, so die Autoren. Diese sollte in der Höhe des verfassungsrechtlichen Existenzminimums von 619 Euro ausgezahlt werden, und zwar ohne Vorbedingungen. „Damit endlich jene die meiste Unterstützung bekommen, die am wenigsten haben.“3
Auch innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie wird über das brisante Thema diskutiert. Viele sind dagegen, viele dafür, offizielle Positionspapiere fehlen weitgehend. Vielleicht auch deshalb, weil die österreichische Bevölkerung nicht gerade für das Thema zu brennen scheint: Nicht einmal während der Corona-Krise, als die Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau lag, sprach sich eine Mehrheit in der Bevölkerung für ein Grundeinkommen aus. In einer repräsentativen Umfrage der Universität Wien im Frühling 2020 waren etwa gleich viele Befragte dafür wie dagegen und ein knappes Fünftel hatte keine konkrete Meinung oder verweigerte die Antwort.4
Aber nicht nur in Österreich, in ganz Europa scheint sich die Partei, die den Begriff „Sozial“ im Namen trägt, mit dem G-Wort schwerzutun scheint. Die Schweizer Sozialdemokratische Partei hatte auf das Scheitern der Volksabstimmung zur Einführung eines Grundeinkommens im Jahr 2016 gar mit unverhohlener Erleichterung reagiert: Das Ergebnis sei ein „Vertrauensbeweis für unseren Sozialstaat“ und ein „Auftrag, Löhne und Arbeitsbedingungen weiter zu verbessern“, hieß es auf der Website der Partei.5
Schon vor der Volksabstimmung hatten die eidgenössischen Sozialdemokraten den Bürgern geraten, mit „Nein“ zu stimmen. Und das nicht nur, weil es ihrer Meinung nach unklar sei, wie es finanziert werden solle. Wenn das Grundeinkommen nicht zum Leben ausreicht, so hielten sie den Befürwortern vor, wären jene, die zuvor durch Sozial- und Versicherungsleistungen einigermaßen abgesichert waren, auf ein zusätzliches Einkommen angewiesen. Und das steigende Angebot an Arbeitskraft würde zwangsläufig die Löhne drücken. Aber auch für jene, die neben dieser Grundsicherung keiner Erwerbsarbeit nachgehen müssten, wäre das keine Lösung: Menschen, die nicht arbeiten, würden depressiv werden und vereinsamen, argumentierten die Gegner.6 Genau so sieht es auch Sarahs Mutter: Diese Idee, sagt sie, produziere noch mehr soziale Verlierer – und untergrabe das höchste Gut in einem Sozialstaat: die Würde des Menschen.
Eigenartig: Sowohl Gegner als auch Befürworter einer bedingungslosen Grundsicherung argumentieren mit der Menschenwürde. Wer hat Recht? Und was ist das eigentlich: Menschenwürde? Ein kurzer Ausflug in die Ideengeschichte zeigt, wie Philosophen und Ökonomen in unterschiedlichen Epochen den Wert des Menschen definiert haben und was wir daraus für die aktuelle Debatte lernen können.
Wenn wir einen Blick auf die Geschichte des Begriffs der Menschenwürde werfen, fällt vor allem auf, dass er in den politischen und gesellschaftlichen Debatten ziemlich spät aufgetaucht ist. Erst mit seiner Kodifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg ist er in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Das ist insofern bemerkenswert, als Fragen nach dem Wert und der Würde des Menschen Philosophie und Politik seit jeher beschäftigt haben. Ein Beispiel aus jener Zeit, in der die europäische Ideengeschichte für gewöhnlich ihren Anfang nimmt, der griechischen Antike: Der Philosoph Platon beurteilte den Wert des Menschen nach seiner Vernunft und moralischen Stärke. Diese Eigenschaften waren für ihn eng miteinander verknüpft: Die Vernunft mache moralisches, tugendhaftes Verhalten erst möglich. Und es sei unmöglich, ein guter Mensch zu sein, wenn die Vernunft nicht genutzt werde. Platon spricht von einer „Vernunftseele“, die in jedem angelegt sei.
Männer befanden sich in der Vernunft-Hierarchie übrigens ganz oben, weil sie, so Platon, den größten Intellekt besaßen. Allerdings konnten sie ihre Stellung an der Spitze der Rangordnung der Geschöpfe auch verlieren, wenn sie ihre geistigen Fähigkeiten nicht ausschöpften. Ein Mann, der kein geistig aktives, tugendhaftes Leben führt, laufe Gefahr, zu einem niedrigen Lebewesen zu verkommen – zum Beispiel zu einer Frau oder einem Vogel. In seinem Werk Timaios, in dem Platon ein fiktives Gespräch zwischen seinem Lehrer Sokrates und einigen Gelehrten wiedergibt, entwirft er eine Art Anti-Evolutionstheorie: Die Entwicklung verlaufe nicht vom Einzeller über Tiere bis hin zum Menschen, sondern umgekehrt: Niedere Lebewesen stammen von Menschen – und genau genommen: von Männern – ab. So seien Vögel aus schwachen und einfältigen Männern entstanden, indem ihre Haare zu Federn wurden, und
die Landtiere entstanden aus denen, die gar keine Liebe zur Wissenschaft hatten und nie über die Natur des Weltalls Beobachtungen anstellten, weil sie nicht von den Umläufen in ihrem Haupte Gebrauch machten, sondern den in der Brust wohnenden Teilen der Seele als Führern folgten.
Platons Schüler Aristoteles hingegen sah den Menschen – genau genommen: den freien Mann – als Zoon politikon, also Gemeinschaftswesen (wörtlich: als Lebewesen in der Polis-Gemeinschaft). Für Aristoteles braucht der Mensch, um sich entwickeln zu können, andere Menschen um sich herum sowie ein geordnetes Gemeinwesen. Letzteres wiederum erfordert soziale Normen, um Bestand zu haben. Menschen benötigen also nicht nur Regeln von außen, sondern sie haben auch einen inneren Antrieb, andere zu unterstützen. Der tugendhafte Mensch, so Aristoteles, sei nicht nur bereit, seine Freunde zu unterstützen, sondern er behandle sie wie ein zweites Ich, das er vor Unglück zu bewahren suche, wie sich selbst.7
Und genau diese Verbindung zu anderen Menschen sei es, die den Wert des Menschen begründet: Wie für Platon ist er auch für Aristoteles nicht bloß deshalb wertvoll, weil er ein Mensch ist. Sein Wert ergibt sich aus zwei Faktoren: Der erste ist seine Rolle in der Polis, also in der Gemeinschaft.8 Ein Mensch, der nicht in der Gemeinschaft lebt, kann seinen vollen Wert nicht entfalten.9 Der zweite Faktor ist – siehe Platon – sein Intellekt: Die Kraft des menschliche Geistes ist es, die Menschen von anderen Tieren unterscheidet und die soziales und politisches Leben möglich macht. Und obwohl Aristoteles Menschen mit niedrigem Intellekt nicht damit droht, sich gleich in einen Vogel zu verwandeln, verdienen auch für ihn die, die stärkeren Geistes sind, die Bewunderung jener, deren geistige Kapazitäten weniger stark ausgeprägt sind. Aristoteles begründete also nichts weniger als eine Theorie der Überlegenheit geistiger Eliten.
Tatsächlich aber stand hinter diesen Gedanken immer die Frage, welche Eigenschaften Menschen haben müssten, um sich in eine Gemeinschaft einfügen zu können. Kriege und Konflikte gehörten in der Antike zum Alltag, und viele Philosophen sahen es als Teil ihrer Aufgabe, eine Theorie eines guten Lebens auszuformulieren, die ein harmonisches Zusammenleben fördern würde. (Platons Zeitgenosse Diogenes sah das bekanntlich anders. Er lebte in einem Fass, schwor allen materiellen Gütern ab und hielt Einsamkeit für den Schlüssel zu Glück und Weisheit.)
Die Herausforderung eine Gesellschaft zu organisieren, dass sie in Ordnung und Frieden zu leben vermag, rückte erneut im Europa des 17. Jahrhunderts ins Zentrum der politischen Lehren. Die sogenannten Gesellschaftsvertragstheorien beschäftigen sich mit der Frage, wie man es rechtfertigen könne, die menschliche Freiheit zu beschneiden, um staatliche Macht zu begründen. Was auf den ersten Blick paradox klingt, war nichts anderes als der Versuch, das Tier im Menschen einzuhegen.
Denker wie Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau entwickelten Theorien, in denen von einem Naturzustand ausgegangen wurde, in dem Menschen ihre „natürliche“ Freiheit hatten: In dieser relativen Gesetzlosigkeit ist der Einzelne nur durch die Grenzen seines eigenen Körpers und seines Geistes beschränkt. Wenn nun alle anderen gleich frei sind, gilt nichts weniger als das Recht des Stärkeren. Ohne Normen, die verbieten, sich die Behausungen, Kleider und Werkzeuge des Nachbarn anzueignen, ohne Gesetze, die Gewalt, Vergewaltigung oder Mord ahnden, würden wir uns ständig unzähligen Gefahren ausgesetzt sehen – obwohl wir nominell frei wären. „Der Mensch ist des Menschen Wolf“, fasste Thomas Hobbes (1588–1676) dieses scheinbare Paradox zusammen. Und genau deshalb, so der englische Staatstheoretiker, brauche es staatliche Herrschaft, die Gesetze erlässt und sie gegenüber den Bürgern durchzusetzen vermag.
Auch wenn nicht alle politischen Denker diese negative Sicht der menschlichen Natur teilten – Hobbes’ Landsmann Thomas Locke (1663–1704) hatte ein viel positiveres Menschenbild –, beschäftigte sie alle die Frage, was genau staatliche Herrschaft ausmacht und wie man sie rechtfertigen kann. Aus heutiger Sicht scheint es eigenartig, dass man so etwas überhaupt begründen muss – wir alle wachsen damit auf, dass es Gesetze gibt, an die wir uns halten müssen. Die Frage, warum die Legitimierung von Macht so wichtig war, wird nur dann verständlich, wenn wir uns vor Augen halten, dass diese davor vor allem von Gott abgeleitet wurde.
Thomas Hobbes war der erste Staatstheoretiker der westlichen Welt, der die Gesellschaftsordnung nicht mehr aufgrund göttlicher Ordnung legitimierte, in der jeder Mensch jenen Platz einzunehmen hatte, den ihm der Schöpfer zuwies. Doch was, wenn da keine göttliche Autorität wäre, die Einschnitte in die menschliche Freiheit rechtfertigt? Wen oder was legitimiert dann Macht? Schlicht die Erkenntnis, dass ein Beschneiden der natürlichen Freiheit zum Schutz aller Menschen notwendig ist. Der Herrscher oder der Staat muss so mächtig sein, dass er dem Krieg aller gegen alle ein Ende setzen kann – auch um den Preis der individuellen Freiheit. Gewissermaßen der Lohn dafür sei die bürgerliche Freiheit. So formulierte es Jean-Jacques Rousseau. Und diese mache den Menschen faktisch viel freier, weil er so nicht ständig fürchten müsse, bestohlen oder gar ermordet zu werden. Thomas Hobbes formte das Bild vom Staat als „Leviathan“, eines quasi notwendigen Monsters, dessen Existenz den Schutz der Untertanen garantieren solle.
Dieser Ausflug in die europäische Ideengeschichte zeigt dreierlei: Erstens, dass der Wert des Menschen über lange Zeit immer im Zusammenhang mit Gemeinschaft gedacht wurde. Zweitens sehen wir, dass politische Herrschaft dem Schutz des Menschen in der Gemeinschaft – und zugleich auch vor der Gemeinschaft – dienen sollte. Selbst absolute Herrscher, die an keine Gesetze gebunden waren und damit mit ihren Untertanen verfahren konnten, wie sie wollten, waren zumindest für viele der großen politischen Denker jener Zeit eine bessere Lösung, als die Menschen in ihrer natürlichen Freiheit zu belassen. Thomas Hobbes ging sogar davon aus, dass nur ein Herrscher mit unbeschränkten Machtbefugnissen den Krieg aller gegen alle wirksam vermeiden konnte (auch wenn wir heute wissen, dass absolutistische Herrscher ihre Macht nicht nur zum Schutz des Gemeinwesens einsetzen).
Die dritte Einsicht ist, dass der Wert des Menschen von vielen Denkern von seiner geistigen Stärke abgeleitet wurde. Der menschliche (genau genommen: der männliche) Intellekt und die menschliche Vernunft waren jene Eigenschaften, die Tugend und damit geordnetes und friedliches menschliches Zusammenleben erst möglich machten. Und nachdem der Mensch als Gemeinschaftswesen gesehen wurde, entfaltete sich aus diesen Eigenschaften erst sein Wert.
Es gibt aber auch Ansätze, die den menschlichen Geist nicht als bestimmend für den Wert des Menschen sahen oder sehen. In der neueren Theorie zählen dazu etwa Konzepte, die aus der feministischen Philosophie und aus der Tradition der „Care-Ethik“ kommen. Das englische Wort „care“ wird häufig mit „Pflege“ oder auch „Sorge“ übersetzt, obwohl keiner dieser beiden Begriffe der Grundidee der Care-Ethik ganz gerecht werden. Schließlich umfasst sie einen viel größeren Bereich menschlichen Handelns. Der Begriff leitet sich von der Arbeit feministischer Theoretikerinnen wie der amerikanischen Psychologin Carol Gilligan ab, die die Bedeutung von Beziehungen und Abhängigkeiten nicht als Hemmschuh psychologischer Entwicklung und persönlicher Autonomie sieht, sondern als Bedingung dafür.10 Gleichzeitig kritisieren sie dominante Sichtweisen, etwa in der Entwicklungspsychologie, die „Individualisierung“ im Sinne einer völligen Loslösung des eigenen Ich von den anderen als Ideal sehen. Enge Beziehungen zu anderen Menschen werden als Bedrohung für Werte wie Unabhängigkeit und Freiheit erachtet.
Mit diesem Verständnis, den idealen Menschen als unabhängig von seiner sozialen und natürlichen Umwelt zu sehen, können Care-Ethiker nur wenig anfangen. Es widerspreche nicht nur den Lebenswelten der meisten Menschen, sondern sei sogar gefährlich. Schließlich liege in unserer Natur, sowohl Unterstützung von anderen zu benötigen als auch Unterstützung zu gewähren.11 Unsere Beziehungen zu anderen würden unsere Autonomie und Freiheit nicht einschränken, sondern diese erst gewährleisten. Eine Erkenntnis, die unter dem Schlagwort „relationale Autonomie“ oder „Autonomie durch Beziehungen“ zusammengefasst wird.12