EVA DEMSKI
Eva Demski arbeitete als Dramaturgin, Lektorin, Übersetzerin und Rundfunkautorin, bevor sie sich als freie Schriftstellerin in Frankfurt am Main niederließ. Sie schrieb unter anderem den Roman Das siamesische Dorf und veröffentlichte zuletzt Gartengeschichten. Die Schriftstellerin wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, wie beispielsweise dem Preis der Frankfurter Anthologie. Ihre Großmutter kam aus dem Rheingau, und schon als Kind erschien ihr dieser Landstrich als ein golden leuchtendes Paradies, durchaus mit dunklen Ecken.
Baden von Karl Heinz Ott
Bayern von Klaus Reichold
Berlin von Annett Gröschner
Bodensee von Christof Hamann
Dresden von Jens Wonneberger
Franken von Thomas Kraft
Frankfurt von Michael Herl
Leipzig von Claudius Nießen
Mark Brandenburg von Beatrix Langner
Mosel von Tom Goeller
Ostfriesland von Detlef Hartlap
Ostwestfalen von Jörg Sundermeier
Rügen und Hiddensee von Holger Teschke
Schwaben von Bernd Kohlhepp
Schwarzwald von Ingeborg Gleichauf
Von Bingen am Rhein hatte es meine Großmutter durch Heirat an die Donau verschlagen, und wenn sie nicht mindestens zweimal im Jahr an ihren Vaterstrom zurückfahren konnte, war sie nicht glücklich. Für den Rest des Jahres wurden zum Trost viele Holzkisten vom Rhein an die Donau geschickt, die Flaschen darin waren in Seidenpapier gewickelt und steckten in Strohhüllen. Das Seidenpapier wurde glattgestrichen und aufgehoben. Jede Weinlage hatte ihre eigene Seidenpapierfarbe. Binger Rochuskapelle war hellgrün.
Mit dem Wein vergoldeten sich die Erwachsenen das Leben. Gold war die Farbe des Rheingaus, goldene Reben, goldner Wein, goldige Mädchen. Meine Großmutter war in Sichtweite all dieses Goldes aufgewachsen, auf der anderen Stromseite, in Rheinhessen. Sie sprach von ihrem Zuhause am Rhein wie von einem gelobten Land, gegen das alle anderen grob und finster erschienen. Als hätte der Wein mit seinen goldenen Fluten dort alles Böse weggespült, den Krieg und den Tod. Das Leben: endlich wieder ein Winzerfest.
Mir gefiel es gut dort, als ich noch ein Kind war, ich freute mich auf die halbjährlichen Reisen. Die Leute benahmen sich anders als die daheim, all die Tanten und Onkel, so überschwänglich, immer machte jemand ein Fläschchen auf und alle schienen einander zu beglückwünschen, dass man lebte und zusammen war, grade jetzt. Sie sprachen auch hübsch, ganz anders als in der Oberpfalz, weich und singend, mit bunten französischen Wörterstreuseln auf den Sätzen. »Woi« hieß der Wein, das Lebensmittel, das Gottesgeschenk. Manchmal gab es raue, kalte Jahre: Aus was macht ihr denn dies Jahr den Wein?
Aus Erbsen, sagte mein Onkel Hansheinz.
Auf dem Hof des Weinguts lebten die kapitolinischen Gänse. Sie hatten Fliegerangriffe lang vor den Luftwarnungen vorausgeschnattert, deswegen waren sie tabu, auch an Weihnachten. Nach dem Krieg legten sie Eier, obwohl sie dafür eigentlich viel zu alt waren. Es gab einen Hund namens Bussi, der auf die Katzenjungen aufpasste. Für mich als Regensburger Stadtkind lag am Rhein ein Paradies voll freundlicher Erwachsener, die immer in einer leichten goldenen Wolke zu schweben schienen. Wein sei kein Alkohol, soll mein Urgroßvater, der Patriarch, gesagt haben. Aber eine verlässliche Währung muss er gewesen sein, für die man viel Lebensnotwendiges hatte bekommen können. Das gab Legenden für Kinder und Kindeskinder. Die Kriegsgefangenen hießen »unsere Franzosen«, und nicht selten wurde, als der sogenannte Spuk 1945 endlich vorbei war, von Weißwein nach vin rouge geheiratet.
Aber auch meine weggeheirateten Tanten kamen immer wieder an den Rhein zurück, in das beharrlich geliebte goldene Land, vom Mittelmeer und von der Seine kamen sie mit ihren immer größer werdenden Familien.
Man machte Ausflüge, zum Niederwalddenkmal, zur Loreley, nach Rüdesheim und Eltville, überall lebten Verwandte, überall wurde man mit Küssen begrüßt: Was bist du groß geworden! Die Küsse rochen nach Tosca von 4711, nach Tabak, Anisplätzchen und Wein.
Gib dem Kind auch ein Schlückchen!
Im Sommer ging man zum Badeschiff, die Frauen trugen wollene Badeanzüge. Sonntags trafen sich die Männer zum ganztägigen Frühschoppen. Natürlich lauerte manches Dunkle unter dieser entschlossenen Fröhlichkeit, wie ja auch die gottgesegnete Landschaft nicht ohne Traurigkeit ist. Bald lacht sie, bald schreckt sie, lässt Christa Wolf ihren Kleist sagen.
Mir schien als Kind, als könnte an diesem Abschnitt des Stroms jeder jeden andauernd sehen. Sie schauten einander in die Keller, in die Läden, in die Kassen und in die Schlafzimmer. Der Wein löste die Zungen, es wurde den ganzen Tag über Menschen geredet, die ich nie gesehen hatte und von denen ich bald alles wusste.
Kistenweise Spätlese gegen Morphium, stell dir vor! Man siehts ihr aber auch schon an.
Der Henns muss verkaufen.
Da lag er noch auf dem Sterbebett und sie haben schon die Wäsche aus den Schränken geräumt und sich gegenseitig aus den Händen gerissen!
Sein Hund ist ihm hinterhergestorben, ist ihm ja nichts anderes übrig geblieben.
Nach Genf muss man fahren, um es wegmachen zu lassen.
Sie tut so, als wüsste sie es nicht, dabei war er mit der anderen ganz frech beim Rochusfest!
Kinder haben einen untrüglichen Sinn für solche Gesprächsfetzen und sie verstehen sie immer richtig, auch wenn sie nicht wissen, was gemeint ist.
Ich entwickelte eine Begabung, unpassende Bemerkungen zu machen. Aber das störte sie nicht, die heiteren Erwachsenen. Hat sie nicht eine blühende Phantasie!
Im unterirdischen Reich der Keller, an deren Wänden gelbe, schleimige Pilze wuchsen und deren feuchtatmendes Mauerwerk nach Moder, Korken, Säure und Alter so wunderbar roch wie nichts anderes auf der Welt, in dieser kühlen Unterwelt mit dem glitschigen Felsenboden hatte ich echte Freunde, Kellermeister und Arbeiter.
Na, kleine Krott? Willst ein Schlückchen probieren?
Auf Tabletts standen Puppengläschen und ein Korb mit angetrockneten Brotstücken. Wenn man dann aus der Kellerluft wieder in die heiße Sommersonne kam, wurde einem ganz komisch. Das Weingut am Rhein war wunderschön, mit einem alten Herrenhaus, in dessen Treppenhaus gerahmte Schwarzweißfotos der Vorfahren hingen. Es gab einen großen Garten, in dem die heiligen Gänse herumwatschelten und einen, wenn man nicht aufpasste, in die Beine zwickten. Immer waren junge Katzen da, die ich nie groß werden sah. Wenn ich beim nächsten Besuch nach ihnen schauen wollte, fand ich nur neue Junge.
Jedes Mal lernte ich etwas kennen, es gab ja genug, worauf sie immer noch stolz sein konnten. »Immer noch« war eine Wendung, die ich damals oft hörte. Es gab ja »immer noch« Klöster und Villen, Kirchen und große Tote. Hildegard und der heilige Rochus, oder die Romantiker. Goethe war auch da gewesen. Bei Stefan George aus der Nachbarschaft allerdings, diesem dürren Spinner, der alles kleinschrieb, da wusste man nicht, da war man lieber vorsichtig. Er soll mit dem Urgroßvater, dem Patriarchen, befreundet gewesen sein.
Aber nicht so!
Was mit dem »so« gemeint war, fand ich trotz aller Mühe nicht raus. Auch dem Niederwalddenkmal gegenüber stellte ich eine gewisse Unsicherheit der Erwachsenen fest. Meine Großmutter fand es scheußlich und hielt damit nicht hinterm Berg. Es war ihr wichtig festzustellen, sie habe es immer schon scheußlich gefunden. Nicht erst jetzt, wo es plötzlich jeder scheußlich findet! Aber die Amerikaner sind ganz verrückt nach dem Ding, wie soll sich da noch einer auskennen.
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.
Es gab auf engem Raum viele unsichtbare Sehenswürdigkeiten, ich glaube, das ist bis heute so geblieben. Zum Beispiel der Mäuseturm, der war eine reine Behauptung. Sie konnten einem viel über Mäuse erzählen, die schön grausame Geschichte vom aufgefressenen geizigen Bischof Hatto. Aber man schaute vom Ufer, vom rechten oder linken, auf das Türmchen, und keine einzige Maus war zu sehen. Es bewegte sich überhaupt nichts. Und das Binger Loch: Angeblich saß im Mäuseturm einer, der aufpasste, dass kein Schiff in die Stromenge geriet, aber den sah man nie. Und das Loch auch nicht. Auch von der Loreley nicht die geringste Spur! Die Schwäger und Onkel, mit denen wir hingefahren waren, schauten auf einen hohen Felsen, der aussah, wie Felsen nun einmal aussehen, sangen ein paar Brocken von dem Lied, das bei den Nazis als deutsches Volkslied geführt wurde, und stellten sich wahrscheinlich eine Frau vor, die sich kämmte und ganz anders aussah als ihre eigene.
Dennoch war ich nie enttäuscht, sondern glaubte fest, dass ich irgendwann alles begreifen würde, was mir dieses großmütterliche Universum zu bieten hatte: die Sache mit dem Wein und dem Rheingold (das sah man ja auch nicht) und all die unbegreiflichen Erwachsenensätze.
Denn das Faß vom Vater Rhein wird niemals leer.
Ich kann mich nicht daran erinnern, als Kind jemals im Winter am Rhein gewesen zu sein. In meiner Erinnerung ist es dort entweder hellgrün und gelb, die Weinberge unter dem Schleier der jungen Triebe über einem dicken Teppich aus Löwenzahnblüten, oder orange und rot im Herbst. Im Herbst hatte ich die totale Freiheit, konnte mich bei meinen Freunden in den Kellern herumtreiben und mit einem neuen Wurf Kätzchen spielen, die unsterblichen Gänse ärgern, die Erwachsenen belauschen oder in alten Fotos herumschnüffeln – es interessierte niemanden, und nicht einmal Waschen und Zähneputzen wurde beaufsichtigt. Es war Weinlese und hundert Feste wurden gefeiert, traditionelle, auf die man sich das ganze Jahr freute, oder spontane, weil man sich traf, weil man so viel überstanden hatte, weil man so jung nicht mehr zusammenkam. Oder weil der sensationelle 54er Riesling ein weiteres Mal probiert werden musste.
Gebt doch dem Kind ein Schlückchen. So einen gibt’s nicht alle Tage, der ist was für Kenner! Engelspisse.
Der 59er wurde dann viel berühmter, aber da lebte meine Großmutter schon nicht mehr. Man wurde nicht alt in dieser Familie, dabei waren sie alle so leidenschaftliche Lebenskünstler.
Ich war knapp vierzehn, als sie starb. Meine Eltern waren mit mir vier Jahre zuvor nach Wiesbaden gezogen, danach war es die Donau, an die ich zu Besuch fuhr. Erst als ich erwachsen war, fiel mir auf, dass ich an zwei Strömen daheim war, die sich zwar das Quellenwasser im Schwarzwald teilen, aber unterschiedlicher nicht sein konnten. Viele Jahre lang war mir die Donau wichtiger als das verblassende Rheingold meiner Großmutter. Wenn man jung ist, liebt man das Dunkle, Rätselhafte, Heiterkeit in jeder Form ist einem verdächtig.
Aber eines Tages wurde ich zu einer Schiffsreise auf dem Rhein eingeladen, mit lauter Dichtern, von Basel nach Rotterdam. Als wir durch das obere Mittelrheintal fuhren und ich all den unsichtbaren Sehenswürdigkeiten wiederbegegnete, dem Binger Loch, dem Mäuseturm, dem Rheingold, und als ich an den Ufern die Namen der Weingüter an den Wingertmauern und die Villen der großen Winzer sah, war plötzlich alles wieder da. Ich wollte die Gegend von neuem erkunden, das Wispertal und den Rosengarten in Eltville, die kleinen Gassen von Assmannshausen und die frösteligen Konzerte im Kloster Eberbach, die Kirche von Kiedrich und die völlig losgelösten Rentner in Rüdesheim. Es gibt viele Begleiter für diesen kleinen, vollgepackten Landstrich am Rhein, tote und lebendige, klassische, romantische und völlig verrückte. Manche konnten dichten oder machten Musik, schwiegen und tranken oder redeten und tranken, andere streunten einfach mit ihren Gruppen ein paar Stunden herum, fuhren dann wieder nach Hause und trugen fürderhin ein haltbares Bild von Gemütlichkeit im Herzen.
Aber was war mit mir? Würde ich nur freundliche Gespenster finden, wohlfeile Nostalgie, rheinisches Katzengold – oder ein besonderes Stückchen Europa, grade bei mir um die Ecke und gleichzeitig weit weg? Ab Wiesbaden wird die Welt anders, das wusste ich schon früher. Aber wieso eigentlich – und auf welche Weise anders?
Ich sah nach. Es sollten Reisen in eine vertraute Fremde werden.