Schäre (schwedisch): kleine Felsinsel, Küstenklippe an den skandinavischen Küsten.
der Tag vor der Sommersonnenwende
schwedisches Geld: 1 Krone = 100 Öre
Psalm 139,9. Der Luthertext lautet: »Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer …« Da im Folgenden immer wieder Bezug auf die schwedische Bibelübersetzung genommen wird, musste diese wörtlich übernommen werden. Anm. d. Übers.
Geh an einem Sommermorgen in Stockholm zum Kai am Strandväg hinunter und schau nach, ob dort ein kleiner weißer Schärendampfer mit dem Namen »Saltkrokan I« liegt. Wenn es so ist, dann ist es der richtige Dampfer, und man braucht nur an Bord zu gehen. Punkt zehn Uhr wird er zur Abfahrt läuten und rückwärts von der Pier ablegen; denn jetzt geht er hinaus auf seine gewohnte Fahrt, die bei den Inseln weit draußen endet, dort, wo das Meer beginnt. Die »Saltkrokan I« ist ein zielbewusster und energischer kleiner Dampfer; seit mehr als dreißig Jahren macht sie dreimal in der Woche diese Fahrt. Wahrscheinlich weiß sie nicht, dass sie Gewässer durchpflügt, denen nichts sonst auf dieser Erde gleicht. Über weite Fjorde und durch schmale Sunde, an Hunderten von grünen Inselchen und Tausenden von grauen Schären[1] vorbei steuert sie unverdrossen vorwärts. Schnell geht es nicht, und die Sonne steht schon tief, wenn sie bei ihrer letzten Anlegestelle ankommt, der auf Saltkrokan, jener Insel, die ihr den Namen gab. Weiter hinaus braucht sie nicht zu fahren. Hinter Saltkrokan fängt das offene Meer an mit kahlen Felsinseln und nackten Klippen, wo niemand wohnt als die Eidergans und die Möwe und andere Meeresvögel.
Aber auf Saltkrokan wohnen Menschen. Nicht viele. Höchstens zwanzig. Das heißt: im Winter. Im Sommer kommen noch Sommergäste hinzu.
Genau so eine Familie von Sommergästen fuhr eines Tages im Juni auf der »Saltkrokan I« hinaus. Es war ein Vater mit seinen vier Kindern. Melcherson hießen sie, Stockholmer waren sie, keiner von ihnen war jemals auf Saltkrokan gewesen. Deshalb waren sie jetzt sehr erwartungsvoll, vor allem Melcher, der Papa.
»Saltkrokan«, sagte er. »Der Name gefällt mir. Deswegen habe ich auch dort gemietet.«
Malin, seine Neunzehnjährige, warf ihm einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Oh, was für ein leichtsinniger Vater! Er wurde bald fünfzig, war aber impulsiv wie ein Kind und jungenhafter und unbekümmerter als seine eigenen Jungen. Jetzt stand er da, aufgeregt wie ein Kind am Heiligabend, und erwartete, dass alle sich über seinen Einfall, ein Sommerhaus auf Saltkrokan zu mieten, freuten.
»Das sieht dir ähnlich«, sagte Malin, »das sieht dir so richtig ähnlich, ein Sommerhaus auf einer Insel zu mieten, die du nie gesehen hast, nur weil du findest, dass der Name so gut klingt.«
»Ich dachte, alle Leute machten das so«, verteidigte sich Melcher, doch dann verstummte er und dachte nach. »Aber vielleicht muss man Schriftsteller und mehr oder weniger verrückt sein, um so etwas zu tun? Nur ein Name – Saltkrokan, haha! Andere Leute fahren vielleicht vorher hin und gucken erst mal nach!«
»Einige tun das, ja! Nur du nicht!«
»Na ja, jetzt bin ich unterwegs«, sagte Melcher leichthin.
»Jetzt fahre ich hin und gucke.«
Und er schaute sich mit fröhlichen blauen Augen um. Er sah alles, was ihm so lieb war, dieses fahle Wasser, diese Inseln und Holme, diese grauen Schären aus ehrwürdigem schwedischem Urgestein, die Ufer mit ihren alten Häusern und Anlegern und Bootshäusern. Er hatte das Gefühl, er müsste die Hand ausstrecken und alles streicheln. Stattdessen fasste er Johann und Niklas ums Genick.
»Begreift ihr, dass es schön ist? Begreift ihr, wie glücklich ihr sein könnt, dass ihr den ganzen Sommer hier mittendrin wohnen dürft?« Johann und Niklas sagten, sie begriffen es. Pelle sagte, er begreife es auch.
»Na, aber warum jubelt ihr dann nicht?«, fragte Melcher. »Darf ich um ein bisschen Jubel bitten!«
»Wie macht man das?«, erkundigte sich Pelle. Er war erst sieben Jahre alt und konnte nicht auf Befehl jubeln.
»Man brüllt«, sagte Melcher und lachte ausgelassen. Dann versuchte er selbst ein wenig zu brüllen, und seine Kinder kicherten dankbar.
»Du hörst dich an wie eine Kuh«, sagte Johann, und Malin wandte ein:
»Ob wir nicht sicherheitshalber mit dem Brüllen warten, bis wir das Haus gesehen haben, das du gemietet hast?«
Das fand Melcher nicht.
»Das Haus ist wunderbar, hat der Makler gesagt. Und man sollte sich doch wohl darauf verlassen können, was die Leute einem sagen. So ein richtig gemütliches altes Sommerhaus, das hat er mir versichert.«
»Ach, wären wir doch bald da«, sagte Pelle. »Ich möchte dieses Sommerhaus jetzt sofort sehen.«
Melcher guckte auf seine Uhr.
»Noch eine Stunde, mein Junge. Bis dahin haben wir allesamt mächtigen Hunger. Und könnt ihr raten, was wir dann tun?«
»Essen«, schlug Niklas vor.
»Richtig. Wir setzen uns vors Haus in die Sonne und verspeisen das wunderbar gute kleine Mahl, das Malin für uns bereitet hat. Im grünen Gras, versteht ihr? Wir sitzen nur da und fühlen, dass Sommer ist!«
»Oh«, sagte Pelle, »jetzt brülle ich gleich.«
Doch dann beschloss er, etwas anderes zu unternehmen. Es sei noch eine Stunde bis zur Ankunft, hatte sein Vater gesagt, und es gab wohl auch auf diesem Dampfer noch allerlei zu tun. Das meiste hatte er bereits erledigt. Er war alle Treppen hinauf- und hinuntergeklettert und hatte in alle aufregenden Winkel und Ecken geguckt. Er hatte die Nase in die Steuermannskajüte gesteckt und war weggejagt worden. Er hatte einen kleinen Besuch im Ess-Salon gemacht und war weggejagt worden. Er hatte versucht, zum Kapitän auf die Kommandobrücke zu kommen, und war weggejagt worden. Er hatte von oben in den Maschinenraum geschaut und sich alle Räder und Pleuelstangen angesehen, die da stampften und sich drehten. Er hatte sich über die Reling gebeugt und in den gischtenden weißen Schaum gespuckt, den der Dampfer aufriss. Er hatte Brause getrunken und auf dem Achterdeck Zimtwecken gegessen. Er hatte kleine Brocken davon den hungrigen Möwen zugeworfen. Er hatte sich mit fast allen Menschen an Bord unterhalten. Er hatte ausprobiert, wie schnell er von vorn nach hinten rennen konnte, und er war jedes Mal der Schiffsbesatzung in den Weg gelaufen, wenn der Dampfer an einem Bootssteg anlegte und Frachtgüter und Gepäck ausgeladen wurden. Ja, er hatte alles getan, was ein siebenjähriger Junge an Bord eines Schärendampfers gewöhnlich tut.
Jetzt sah er sich nach etwas Neuem um, und da entdeckte er zwei Fahrgäste, die er bisher noch nicht bemerkt hatte. Ganz hinten auf dem Achterdeck saß ein alter Mann mit einem kleinen Mädchen. Und neben dem Mädchen auf der Bank stand ein Vogelbauer mit einem Raben darin. Einem lebendigen Raben. Das brachte Pelle in Bewegung. Er liebte nämlich alle Arten Tiere, alles, was lebendig war und sich bewegte, was unterm Firmament des Himmels flog oder kroch, alle Vögel und Fische und Vierfüßer. »Kleine liebe Tierlein«, nannte er sie alle miteinander, und dazu zählte er auch Frösche und Wespen, Heuschrecken und Käfer und anderes Gewürm.
Aber im Augenblick war da also ein Rabe, ein lebendiger Rabe!
Das kleine Mädchen lächelte ihn mit einem freundlichen zahnlosen Lächeln an, als er vor dem Käfig stehen blieb.
»Ist das dein Rabe?«, fragte er und steckte einen Zeigefinger zwischen die Gitterstäbe, um den Raben womöglich ein bisschen zu streicheln. Das hätte er lieber nicht tun sollen. Der Rabe hackte nach ihm, und er zog die Hand schnell wieder zurück.
»Nimm dich vor Kalle Hüpfanland in Acht«, sagte das Mädchen. »Ja, es ist mein Rabe. Nicht wahr, Großvater?«
Der Alte neben ihr nickte.
»Sicher! Sicher ist es Stinas Rabe«, erklärte er Pelle. »Jedenfalls, wenn sie bei mir auf Saltkrokan ist.«
»Ihr wohnt auf Saltkrokan?«, fragte Pelle begeistert. »Da wohne ich diesen Sommer auch. Ich meine, wir wohnen auf Saltkrokan, Papa und wir alle.«
Der Alte betrachtete ihn mit Interesse.
»Soso, sieh mal einer an. Dann seid ihr wohl die Leute, die das alte Schreinerhaus gemietet haben?«
Pelle nickte eifrig. »Ja, die sind wir. Ist es da schön?«
Der alte Mann legte den Kopf schief und sah aus, als ob er nachdächte. Dann brach er in ein komisches glucksendes Lachen aus.
»Sicher! Sicher ist es schön! Kommt bloß drauf an, was man mag.«
»Wieso?«, fragte Pelle.
Der Alte gluckste von Neuem.
»Ja, entweder mag man es, wenn’s durchs Dach regnet, oder man mag es nicht.«
»Oder man mag es nicht«, echote das kleine Mädchen. »Ich mag es nicht.«
Pelle wurde ein wenig nachdenklich. Das musste er Papa erzählen. Doch nicht gerade jetzt. Jetzt musste er sich zuerst den Raben ansehen, das war unbedingt nötig. Stina zeigte ihn gern, das merkte man. Es machte bestimmt Spaß, wenn man einen Raben hatte, den sich die Leute ansehen wollten und am liebsten ein großer Junge wie er. Stina war zwar nur ein kleines Mädchen, höchstens fünf Jahre alt, aber um des Rabens willen war Pelle bereit, sie für diesen Sommer, oder jedenfalls so lange, bis er etwas Besseres gefunden hatte, zu seiner Spielkameradin zu machen.
»Ich komm dich mal besuchen«, sagte er gnädig. »In welchem Haus wohnt ihr denn?«
»In einem roten«, sagte Stina, und das war ja immerhin ein Anhaltspunkt, viel mehr aber auch nicht.
»Du kannst fragen, wo der alte Söderman wohnt«, sagte ihr Großvater. »Das weiß nämlich jeder, verstehst du.«
Der Rabe krächzte heiser in seinem Käfig und schien unruhig zu sein. Pelle versuchte wieder, den Finger zu ihm hineinzustecken, und wieder hackte der Rabe nach ihm.
»Der ist klug, du«, sagte Stina. »Der Klügste in der ganzen Welt, sagt Großvater.«
Das hielt Pelle für Aufschneiderei. Schließlich konnten weder Stina noch ihr Großvater wissen, welcher Vogel der klügste in der ganzen Welt war.
»Mein Großvater hat einen Papagei«, sagte Pelle. »Und der kann sagen: ›Zum Kuckuck mit dir!‹«
»Was ist denn dabei«, sagte Stina. »Das kann mein Großvater auch.«
Da lachte Pelle schallend.
»Das sagt doch nicht mein Großvater. Das sagt der Papagei!«
Stina mochte es nicht, wenn man über sie lachte. Jetzt war sie beleidigt.
»Dann rede doch so, dass man es versteht«, sagte sie mürrisch. Sie wandte den Kopf ab und schaute unentwegt über die Reling. Mit diesem blöden Jungen da wollte sie nicht mehr sprechen.
»Na, dann tschüs«, sagte Pelle und ging weg, um sich nach seiner eigenen weitverstreuten Familie umzusehen. Er fand Johann und Niklas oben auf dem Oberdeck, und sobald er sie sah, wusste er, dass irgendetwas nicht stimmte. Die beiden wirkten so grimmig, dass Pelle ängstlich wurde. Hatte er etwas angestellt, weshalb er ein schlechtes Gewissen haben müsste?
»Was ist denn?«, fragte er besorgt.
»Guck mal da«, sagte Niklas und zeigte mit dem Daumen. Und nun sah Pelle es. Ein Stück entfernt stand Malin, an die Reling gelehnt, und neben ihr ein lang aufgeschossener junger Mann in hellblauem Sporthemd. Sie redeten und lachten, und der im Sporthemd sah Malin an, ihre Malin, als hätte er ganz plötzlich einen hübschen kleinen Goldklumpen gefunden, dort, wo er ihn am wenigsten erwartet hatte.
»Es ist also mal wieder so weit«, sagte Niklas. »Ich dachte, es würde besser werden, wenn wir aus der Stadt wegkämen.«
Johann schüttelte den Kopf.
»Bild dir das doch nicht ein! Du kannst Malin auf einer kleinen Felsinsel mitten in der Ostsee absetzen, und innerhalb von fünf Minuten kommt ein Junge angeschwommen und muss unbedingt ausgerechnet auf diesen Felsen rauf.«
Niklas starrte den im Sporthemd böse an.
»Es ist nicht zu glauben, dass man seine eigene Schwester nicht für sich allein haben kann! Man müsste so ein Schild neben ihr aufstellen: ›Ankern verboten‹.«
Dann guckte er Johann an, und die beiden lachten leise. Sie protestierten ja nicht richtig im Ernst, wenn einer anfing, Malin den Hof zu machen, und das geschah, wie Johann behauptete, etwa alle Viertelstunde einmal. Nicht ganz ernst – und trotzdem war eine kleine, geheime Angst in ihnen: Wenn Malin sich nun eines schönen Tages so verliebte, dass es mit Verlobung und Heirat und so weiter endete?
»Wie sollen wir ohne Malin fertig werden?«, sagte Pelle immer, und so dachten und fühlten sie alle. Denn Malin war Anker und Stütze der Familie. Nachdem ihre Mutter gestorben war, als Pelle geboren wurde, war sie allen Melcherson'schen Jungen wie eine Mama geworden, einschließlich Melcher. In den ersten Jahren eine zarte und kindliche und ziemlich unglückliche kleine Mama, aber ganz allmählich immer besser imstande, »Nasen zu putzen und zu waschen und zu schimpfen und Zimtwecken zu backen« – so beschrieb sie selbst, was sie machte.
»Du schimpfst aber nur, wenn es wirklich nötig ist«, versicherte Pelle immer. »Meistens bist du sanft und lieb wie ein Kaninchen.«
Früher konnte Pelle nie begreifen, weshalb Johann und Niklas Malins Verehrer ablehnten. Er war ganz sicher und überzeugt, dass Malin bis in alle Ewigkeit der Familie Melcherson gehörte, und wenn noch so viele Sporthemden sie umkreisten. Malin selbst war es, die, ohne sich dessen bewusst zu sein, seiner Sicherheit ein Ende machte. Und es passierte an einem Abend, als Pelle in seinem Bett lag und einzuschlafen versuchte. Es gelang ihm nicht, denn Malin sang im Badezimmer nebenan aus voller Kehle. Sie sang ein Lied, das Pelle nie zuvor gehört hatte, und einige Worte aus dem Lied trafen ihn dort in seinem Bett wie ein Keulenschlag.
»Kaum war sie mit der Schule fertig, hielt sie Hochzeit und bekam ein Kind«, sang Malin, ohne zu ahnen, was sie da anrichtete.
»Kaum war sie mit der Schule fertig …« Aber das war ja genau das, was Malin getan hatte! Und natürlich brauchte man dann nur auf den Rest zu warten. Pelle in seinem Bett fing an zu schwitzen! Jetzt wurde ihm klar, wie es kommen musste! Dass er das bis jetzt noch nicht begriffen hatte! Malin würde heiraten und verschwinden; sie würden einsam zurückbleiben und niemanden haben als Frau Nilsson, die täglich vier Stunden kam und dann wegging.
Das war ein unerträglicher Gedanke, und Pelle rannte verzweifelt zu seinem Vater.
»Papa, wann heiratet Malin und kriegt Kinder?«, fragte er mit zitternder Stimme.
Melcher hob erstaunt die Augenbrauen. Er hatte nichts davon gehört, dass Malin derlei Pläne hätte, und er verstand nicht, dass es für Pelle eine Frage auf Leben und Tod war.
»Wann wird das sein?«, fragte Pelle eindringlich.
»Über den Tag und die Stunde wissen wir nichts«, antwortete Melcher. »Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen, mein Kleiner.«
Aber seitdem hatte Pelle sich den Kopf darüber zerbrochen, nicht jeden Augenblick, nicht mal jeden Tag, aber in regelmäßigen Abständen, wenn ein besonderer Anlass war. Wie zum Beispiel jetzt eben. Pelle starrte zu Malin und dem Sporthemd hinüber. Sie schienen sich zum Glück gerade voneinander verabschieden zu wollen, denn das Sporthemd wollte offenbar an der nächsten Anlegestelle aussteigen.
»Auf Wiedersehen, Krister!«, rief Malin, und das Sporthemd rief zurück: »Ich komm mal mit dem Motorboot vorbei und schau, ob ich dich finde.«
»Das solltest du lieber bleiben lassen, finde ich«, murmelte Pelle böse. Und er beschloss, Papa zu bitten, er sollte so ein Schild aufstellen, von dem Niklas gesprochen hatte. »Ankern verboten« sollte auf dem Bootssteg des Schreinerhauses stehen, dafür wollte Pelle sorgen.
Es wäre sicher leichter gewesen, Malin für sich allein zu haben, wenn sie nicht so hübsch wäre, das war Pelle klar. Er hatte zwar nie so genau hingeguckt, aber er wusste, dass sie hübsch war. Das sagten alle Leute. Sie fanden es schön, wenn jemand blondes Haar und grüne Augen hatte, so wie Malin. Das fand der mit dem Sporthemd sicher auch.
»Was war denn das für ein Ekel?«, fragte Johann, als Malin zu ihnen herüberkam.
Malin lachte.
»Gar kein Ekel. Einer, den ich auf Bosses Abiturfest kennengelernt hab. Wirklich nett.«
»Ein Quadratekel«, sagte Johann beharrlich. »Vor dem nimm dich lieber in Acht, schreib dir das in dein Tagebuch.«
Malin war nicht umsonst die Tochter eines Schriftstellers. Sie schrieb ebenfalls, aber nur in ihr geheimes Tagebuch. Hier schrieb sie die Gedanken und Träume ihres Herzens auf und außerdem alle Streiche der Melcherson-Jungen, auch Melchers. Sie pflegte ihnen damit zu drohen:
»Wartet nur, bis ich mein geheimes Tagebuch drucken lasse. Dann werdet ihr so bloßgestellt, dass ihr splitternackt dasteht.«
»Haha, dann bist du wohl selber am schlimmsten bloßgestellt«, versicherte Johann ihr. »Hoffentlich führst du alle deine Scheiche genau der Reihe nach auf.«
»Leg dir eine Liste an, damit du in der Eile keinen überspringst«, schlug Niklas vor. »Per-Olaf XIV., Karl Karlsson XV., Lennart XVII. und Ake XVIII. Das gibt allmählich eine ganz hübsche Regentenreihe, wenn du so weitermachst.«
Und in diesem Augenblick waren Johann und Niklas überzeugt, dass der im Sporthemd Krister XIX. werden würde.
»Ich möchte zu gern wissen, wie sie den in ihrem Tagebuch beschreibt«, sagte Niklas.
»Quadratekel mit kurz geschorenem Haar und eingebildeter Miene«, schlug Johann vor. »Im Übrigen schlaksig und unangenehm.«
»Ja, das red dir nur ein, dass Malin so über den denkt!«, sagte Niklas.
Malin schrieb kein Wort über Krister XIX. in ihr Tagebuch. Er sprang an seiner Anlegestelle ab, ohne auch nur eine Spur in ihrem Gemüt zu hinterlassen. Und keine Viertelstunde später hatte Malin eine Begegnung, die sie viel stärker erschütterte und über der sie alles andere vergaß. Das war, als der Dampfer auf die nächste Anlegestelle zusteuerte und sie Saltkrokan zum ersten Mal sah. Über diese Begegnung schrieb sie in ihr Tagebuch:
Malin, Malin, wo bist du so lange gewesen? Diese Insel hat hier gelegen und auf dich gewartet, ruhig und still hat sie hier draußen am Rande des Meeres gelegen mit ihren rührenden kleinen Bootshäusern, ihrer alten Dorfstraße, ihren alten Bootsstegen und Fischerbooten und mit all ihrer herzzerreißenden Schönheit, und du hast es nicht einmal gewusst. Ist das nicht furchtbar? Ich möchte wissen, was Gott sich gedacht hat, als er diese Insel machte. Ich will es ein bisschen gemischt haben, hat er sicher gedacht. Karg soll es sein, raue, graue Felsen möchte ich haben. Lieblich soll es sein, grüne Bäume, Eichen und Birken, blühende Wiesen und blühende Sträucher, oh doch, denn ich möchte, dass die ganze Insel von rosa Heckenrosen und duftendem Weißdorn überquillt an jenem fernen Junitag in tausend Millionen Jahren, wenn Malin Melcherson dorthin kommt. Ja, lieber Johann und lieber Niklas, ich weiß, was ihr denkt, falls ihr hier schnüffelt, aber das lasst gefälligst sein! Ist es erlaubt, so eingebildet zu sein? Nein, ich bin nicht eingebildet, ich freu mich nur, seht ihr, weil der Herrgott auf den Gedanken kam, Saltkrokan so zu machen und nicht anders, und weil er dann auf die Idee kam, es wie ein Juwel weit draußen am Rand des Meeres hinzulegen, wo es in Frieden gelassen wurde und ungefähr so bleiben durfte, wie er es sich gedacht hatte, und weil ich hierherkommen durfte.
Melcher hatte gesagt: »Ihr sollt mal sehen, das ganze Dorf ist unten auf dem Anleger, um uns zu begucken. Wir sind bestimmt eine Sensation.«
Ganz so wurde es doch nicht. Es goss in Strömen, als der Dampfer anlegte, und auf dem Steg standen ein einziger kleiner Mensch und ein Hund. Der Mensch war weiblichen Geschlechts und etwa sieben Jahre alt. Sie stand ganz still, wie aus dem Bootssteg herausgewachsen, der Regen strömte auf sie nieder, aber sie rührte sich nicht. Man könnte meinen, Gott habe sie zugleich mit der Insel geschaffen, dachte Malin, und sie dahin gestellt, als Herrscherin und Hüterin der Insel bis in alle Ewigkeit.
So klein habe ich mich noch nie gefühlt, schrieb Malin ins Tagebuch, wie in dem Augenblick, als ich vor den Augen dieses Kindes in strömendem Regen und bepackt mit Krempel über die Gangway gehen musste. Sie hatte einen Blick, der gleichsam alles sah. Ich dachte, das da muss Saltkrokan selbst sein, und wenn dieses Kind uns nicht akzeptiert, dann werden wir nie akzeptiert hier auf der Insel. Darum sagte ich so einschmeichelnd, wie man mit kleinen Kindern spricht: »Wie heißt du?«
»Tjorven«, sagte sie. Allein so etwas! Kann man wirklich Tjorven heißen und so majestätisch aussehen?
»Und dein Hund?«, fragte ich.
Da sah sie mir fest in die Augen und fragte ruhig: »Willst du wissen, ob es mein Hund ist, oder willst du wissen, wie er heißt?«
»Alles beides«, antwortete ich.
»Es ist mein Hund und er heißt Bootsmann«, sagte sie, und es war, als ob eine Königin sich herabließe, ihr Lieblingstier vorzustellen. Was für ein Tier übrigens! Es war ein Bernhardiner, der größte, den ich je in meinem Leben gesehen habe. Er war ebenso majestätisch wie sein Frauchen, und ich fing an zu glauben, alle Lebewesen auf dieser Insel seien von der gleichen Art und uns armen Tröpfen aus der Stadt himmelhoch überlegen. Aber da kam eine freundliche Seele angedampft, es war, wie sich herausstellte, der Kaufmann der Insel, und er war offenbar nach gewöhnlichem menschlichem Maß gemacht, denn er begrüßte uns sehr freundlich und hieß uns auf Saltkrokan willkommen und teilte uns mit, er heiße Nisse Grankvist, ohne dass wir zu fragen brauchten. Aber dann sagte er etwas Erstaunliches.
»Geh nach Hause, Tjorven«, sagte er zu dem majestätischen Kind. Unfassbar, dass er sich traute, und ebenso unfassbar, dass er Vater von so einem Kind war! Es nützte jedoch nicht viel.
»Wer hat das gesagt?«, fragte das Kind streng. »Hat Mama das gesagt?«
»Nein, ich sag es«, antwortete ihr Vater.
»Dann tu ich es nicht«, sagte das Mädchen. »Denn jetzt muss ich den Dampfer in Empfang nehmen.«
Und der Kaufmann sollte Waren aus der Stadt entgegennehmen und hatte wohl keine Zeit, sich mit seiner aufmüpfigen Tochter abzugeben, denn die stand noch immer dort im Regen, während wir all unser Sack und Pack zusammensammelten. Wir waren sicherlich in diesem Augenblick ein jämmerlicher Anblick, und Tjorven entging nichts. Ich spürte ihre Augen im Rücken, als wir lostrotteten zum Schreinerhaus.
Und es gab hier noch mehr Augen als die von Tjorven. Hinter den Gardinen an den Fenstern in allen Häusern an der Dorfstraße gab es überall Augen, die unserer durchweichten Karawane folgten – vielleicht waren wir dennoch eine Sensation, wie Papa gesagt hatte. Er begann, etwas bedenklich dreinzuschauen, stellte ich fest. Und wie wir so dahingingen und der Regen am allerheftigsten niederrauschte, fragte Pelle: »Papa, weißt du, dass es im Schreinerhaus durchs Dach regnet?«
Da blieb Papa mitten in einer Regenpfütze stehen.
»Wer sagt das?«, fragte er.
»Der alte Söderman«, sagte Pelle, und es hörte sich an, als redete er von einem alten Bekannten.
Papa versuchte, so auszusehen, als wäre ihm das ganz egal.
»Soso, das sagt der alte Söderman oder wie dieser vortreffliche Unglücksrabe auch heißen mag. Und der alte Söderman weiß das natürlich – stell dir vor, davon hat der Makler neulich kein Wort gesagt!«
»Wirklich nicht?«, sagte ich. »Hat er nicht gesagt, es wäre ein behagliches altes Sommerhaus, vor allem bei Regen, weil man dann nämlich so einen wonnigen kleinen Swimmingpool in der großen Stube hat?«
Papa warf mir einen langen Blick zu und gab keine Antwort.
Und dann waren wir da.
»Guten Tag, Schreinerhaus«, sagte Papa. »Darf ich die Familie Melcherson vorstellen: Melcher und seine armen Kinderlein.«
Es war ein rotes Haus mit einem Oberstock, und als man es sah, zweifelte man nicht daran, dass es hier durchs Dach regnete. Mir gefiel es aber trotzdem. Mir gefiel es vom ersten Augenblick an. Papa dagegen hatte jetzt die Angst gepackt, das merkte man – ich kenne niemanden, dessen Stimmung so schnell umschlagen kann. Er blieb stehen und starrte missmutig das Ferienhaus an, das er für sich und seine Kinder gemietet hatte.
»Worauf wartest du?«, fragte ich. »Es wird nicht anders.«
Darauf nahm er allen Mut zusammen und wir gingen hinein.
Keiner von der Familie sollte jemals diesen ersten Abend im Schreinerhaus vergessen.
»Fragt mich, wann ihr wollt«, sagte Melcher später, »und ich erzähle euch genau, wie es war. Muffige Luft in der Hütte, klamme Bettwäsche, Malin mit ihrer kleinen Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen, von der sie immer meint, ich bemerke sie nicht. Und ich mit einem Druck auf der Brust vor Beklommenheit! Wenn ich nun etwas ganz Dummes gemacht hatte! Aber die Bengels waren vergnügt wie die Eichhörnchen und rannten rein und raus, das weiß ich noch. Ja, und dann erinnere ich mich noch an die Amsel, die im Mehlbeerbaum vorm Hause saß und sang, und dieses leise Plätschern der Wellen gegen den Bootssteg und wie still es war und dass ich plötzlich ganz aus dem Häuschen geriet und dachte, nein, Melcher, du hast diesmal nichts Dummes gemacht, sondern etwas Gutes, etwas geradezu großartig, erstaunlich durch und durch Gescheites und Gutes. Aber da war natürlich dieser Geruch in der Hütte und …«
»Und dann hast du Feuer gemacht im Küchenherd«, sagte Malin. »Weißt du noch?«
Das wusste Melcher nicht mehr. Behauptete er.
»Dieser Herd sieht nicht so aus, als hätte er die Absicht, sich ohne Weiteres mit Essenkochen zu befassen«, sagte Malin und stellte die Koffer mitten in der Küche ab. Der Herd war das Erste, was sie sah, als sie hereinkam. Er war verrostet und machte den Eindruck, als wäre er zum letzten Mal um die Jahrhundertwende in Betrieb gewesen. Aber Melcher war voller Zuversicht.
»Oho, solche alten eisernen Herde, die sind fantastisch. Da ist nur ein bisschen Geschicklichkeit beim Feuermachen nötig, und das krieg ich hin. Aber zuerst wollen wir uns alles Übrige ansehen.«
Das ganze Schreinerhaus hatte etwas von Jahrhundertwende an sich, von übel zugerichteter Jahrhundertwende. Unachtsame Mieter waren viele Sommer hindurch mit etwas, was vor langer Zeit einmal ein gepflegtes und recht wohlhabendes Handwerkerhaus gewesen sein mochte, grob umgegangen. Selbst in seinem Verfall hatte das Haus jedoch etwas erstaunlich Behagliches an sich, was sie alle spürten.
»Das wird ein Spaß, in dieser Bude zu wohnen«, versicherte Pelle. Er musste Malin schnell einmal drücken, dann sauste er hinter Johann und Niklas her, um alles auszuforschen, was es hier bis unters Dach hinauf auszuforschen gab.
»Schreinerhaus«, sagte Malin. »Was meinst du, Papa, was das für ein Schreiner gewesen ist, der hier gelebt hat?«
»Ein junger, fröhlicher Schreiner, der etwa 1908 heiratete und mit seiner hübschen jungen Frau hier einzog und Schränke und Stühle und Tische und Bänke für sie schreinerte, ganz wie sie es haben wollte, und der ihr einen schmatzenden Kuss gab und sagte: ›Es soll Schreinerhaus heißen und hier auf Erden unser Zuhause sein.‹«
Malin starrte ihn an.
»Weißt du es oder spinnst du nur?«
Melcher lächelte ein bisschen verlegen.
»Hm, ja – ich spinne nur. Es hätte mir allerdings besser gefallen, wenn du gesagt hättest ›dichten‹.«
»Meinetwegen auch ›dichten‹«, sagte Malin. »Aber wie dem auch sei, vor langer Zeit müsste hier jedenfalls jemand gelebt haben, der über diese Möbel glücklich gewesen ist und sie abgestaubt und blank poliert und freitags das Haus geputzt hat. Wem gehört es eigentlich jetzt?«
Melcher überlegte.
»Irgendeiner Frau Sjöberg oder Frau Sjöblom oder so ähnlich. Eine alte Frau …«
»Da hast du vielleicht deine Schreinersfrau«, sagte Malin und lachte.
»Sie wohnt jetzt in Norrtälje«, sagte Melcher. »Ein Mann mit Namen Mattsson vermietet für sie den Besitz an Sommergäste – zumeist an Räuber mit abscheulichen kleinen Kindern, die Krallen an den Fingern haben, wie es scheint.«
Er sah sich in dem Raum um, der früher einmal die gute Stube der Schreinerfamilie gewesen sein mochte. Jetzt war es keine ganz so gute Stube mehr, doch Melcher war zufrieden.
»Hier«, sagte er, »hier soll unsere Wohnstube sein.«
Er streichelte begeistert den weiß getünchten offenen Kamin.
»Und hier sitzen wir dann abends vor dem Holzfeuer und hören das Meer draußen rauschen.«
»Während die Ohren im Luftzug flattern«, sagte Malin und zeigte auf das Fenster, in dem eine Scheibe kaputt war.
Sie hatte noch immer die kleine Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen, aber Melcher, der das Schreinerhaus schon in sein Herz geschlossen hatte, sorgte sich nicht um so etwas Bedeutungsloses wie eine zerbrochene Fensterscheibe.
»Keine Sorge, mein Kind. Dein tüchtiger Vater setzt morgen eine neue Scheibe ein. Nur keine Sorge!«
Malin war nicht ganz ohne Sorge, denn sie kannte Melcher, und sie dachte mit einer Mischung von Ungeduld und Zärtlichkeit: Er glaubt selber daran, der gute Kerl, tatsächlich, er vergisst es nämlich ein über das andere Mal. Wenn er aber eine neue Fensterscheibe einsetzt, so heißt das, dass er drei andere dabei kaputt macht. Ich muss diesen Nisse Grankvist fragen, ob es hier jemanden gibt, der mir helfen kann.
Laut sagte sie: »Ich glaube, nun müssen wir die Ärmel hochkrempeln. Wie war es doch, Papa, wolltest du nicht Feuer in der Küche machen?«
Melcher rieb sich die Hände vor Tatendrang.
»Ganz recht. Frauen und Kindern kann man so was nicht anvertrauen.«
»Sehr schön«, sagte Malin. »Dann gehen Frauen und Kinder hinaus und sehen nach, wo der Brunnen ist. Denn hier gibt es doch hoffentlich einen?« Sie hörte die Jungen im oberen Stock herumtrampeln und rief: »Kommt, alle meine Brüder! Wir wollen Wasser holen!«
Es hatte aufgehört zu regnen, jedenfalls im Augenblick. Die Abendsonne machte mehrmals einen tapferen, aber vergeblichen Versuch, durch die Wolken zu brechen, von der Amsel in dem alten Mehlbeerbaum lebhaft ermuntert. Der Vogel flötete unverdrossen, bis er die Melcherson'schen Kinder mit ihren Wassereimern durch das nasse Gras stapfen sah. Da verstummte er.
»Ist es nicht hübsch, dass das alte Schreinerhaus seinen eigenen Schutzbaum hat?«, sagte Malin und streichelte im Vorübergehen den rissigen Stamm des Baumes.
»Wofür hat man einen Schutzbaum?«, fragte Pelle.
»Um ihn gernzuhaben«, entgegnete Malin.
»Um darauf herumzuklettern, wie du siehst«, sagte Johann.
»Und das wird so ungefähr das Erste sein, was wir morgen früh tun«, verkündete Niklas. »Ich möchte wissen, ob Papa was extra zahlen musste, weil es hier so einen feinen Kletterbaum gibt.«
Malin lachte, aber die Jungen dachten sich noch mehr Sachen aus, von denen sie meinten, Melcher habe dafür extra zahlen müssen. Den Steg und den alten Kahn, der daran festgemacht lag. Den roten Schuppen, den sie näher untersuchen wollten, sobald sie Zeit hätten. Den Boden, den sie bereits durchstöbert hatten und der voller aufregender Dinge war.
»Und den Brunnen, wenn er einigermaßen gutes Wasser hat«, schlug Malin vor.
Aber Johann und Niklas fanden nicht, dass man für den extra zahlen müsse.
»Dagegen könnten ein paar Groschen für den, der das Wasser reinschleppen muss, gar nicht schaden«, sagte Johann und hob den ersten Eimer an.
Pelle schrie vor Begeisterung auf.
»Guckt mal, ein kleiner Frosch, ganz unten drin!«
Malin stieß einen Schreckensschrei aus, und Pelle sah sie erstaunt an.
»Was ist denn mit dir? Magst du etwa keine süßen kleinen Frösche?«
»Nicht im Trinkwasser«, sagte Malin.
Pelle zappelte vor Eifer.
»Oh, darf ich den nicht haben?«
Dann wandte er sich an Johann.
»Glaubst du, Papa hat was extra zahlen müssen, weil im Brunnen Frösche sind?«
»Kommt darauf an, wie viele da sind«, sagte Johann. »Wenn größere Mengen drin sind, hat er sie bestimmt ganz billig gekriegt.«
Er warf Malin einen Blick zu, um zu sehen, wie viele Frösche sie ertragen konnte. Sie schien aber gar nicht zuzuhören.
Malins Gedanken waren in eine andere Richtung geflattert. Sie musste an den fröhlichen Schreiner und seine Frau denken. Ob sie in ihrem Schreinerhaus zusammen glücklich gewesen waren? Ob sie wohl Kinder bekommen hatten, die mit der Zeit auf dem Mehlbeerbaum herumgeklettert und vielleicht manchmal ins Wasser gefallen waren? Ob damals im Juni ebenso viele Heckenrosen im Garten geblüht hatten und ob der Pfad zum Brunnen ebenso weiß von heruntergefallenen Apfelblüten gewesen war wie jetzt?
Dann fiel ihr plötzlich ein, dass der fröhliche Schreiner und seine Frau Gestalten waren, die Melcher sich ausgedacht hatte. Aber sie beschloss, trotzdem an sie zu glauben. Sie beschloss noch etwas anderes. Mochten noch so viele Frösche im Brunnen sein und noch so viele Fensterscheiben zerbrochen, mochte das Schreinerhaus noch so verfallen sein – nichts sollte sie daran hindern, gerade hier und gerade jetzt mit dem Glücklichsein anzufangen. Denn jetzt war Sommer. Es müsste immer Juni sein und Abend. Verträumt und still wie dieser. Und ohne einen Laut.
Draußen vor dem Steg kreisten die Möwen, eine stieß ein paar schrille Schreie aus. Aber sonst nichts als dieses unfassbare Schweigen, das einem gleichsam in den Ohren sauste. Über dem Wasser lag ein weicher Regenschleier, alles war von so wehmütiger Schönheit. Von allen Büschen und Bäumen tropfte es, und die Luft roch nach noch mehr Regen und nach Erde und Salzwasser und nassem Gras.
»Im Sonnenschein vor dem Hause sitzen und essen und fühlen, dass Sommer ist« – so hatte Melcher sich ihren ersten Abend im Schreinerhaus vorgestellt. Zwar wurde es ein wenig anders, aber Sommer war es, das fühlte Malin so sehr, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Außerdem merkte sie, dass sie Hunger hatte, und sie fragte sich, wie weit Melcher wohl mit dem Herd gekommen sei.
Ziemlich weit war er gekommen.
»Malin, wo bist du?«, schrie er, weil er immer nach seiner Tochter rief, sobald etwas schiefging. Aber Malin war außer Hörweite, und er fand sich wohl oder übel damit ab, dass er allein war und sich selber helfen musste.
»Allein mit meinem Gott und einem eisernen Herd, der jetzt gleich zum Fenster rausfliegt«, murmelte er aufgebracht, aber dann musste er wieder husten und konnte nicht mehr sprechen. Er starrte den Herd an, der so bösartig Rauch über ihn hinwegblies, obwohl er ihm nichts Böses getan, nur Feuer darin angemacht hatte, behutsam und vorsichtig. Er stocherte mit dem Feuerhaken im Herdloch herum und schon paffte eine neue Rauchwolke über ihn hinweg. Heftig hustend rannte er los, um alle Fenster zu öffnen. Als er das getan hatte, ging die Tür auf, und es kam jemand herein. Es war das majestätische Kind, das vorhin auf der Landungsbrücke gestanden hatte. Das Kind mit dem erstaunlichen Namen – Korb oder Tjorv oder so ähnlich. Wie ein kleiner, prall gefüllter Korb sieht sie auch aus, dachte Melcher, rund und gut. Das Gesicht, das unter dem Südwester hervorsah, war, so-viel er durch den Rauch sehen konnte, ein seltsam reines und schönes Kindergesicht, breit, gutartig und mit klugen, forschenden Augen. Ihren riesigen Hund hatte sie auch mitgebracht, und er wirkte innerhalb des Hauses noch riesiger, er schien die ganze Küche auszufüllen.
Aber Tjorven war wohlerzogen auf der Schwelle stehen geblieben.
»Es qualmt«, sagte sie.
»Wahrhaftig?«, erwiderte Melcher mürrisch. »Das hab ich nicht bemerkt.«
Dann hustete er so sehr, dass ihm die Augen aus dem Kopf zu springen drohten.
»Doch, es qualmt«, versicherte Tjorven. »Weißt du was? Vielleicht liegt eine tote Eule im Schornstein. Das hatten wir mal bei uns zu Hause.« Dann schaute sie Melcher forschend an und lächelte breit. »Du bist schwarz im Gesicht, du siehst aus wie ein Schornsteinfeger.«
Melcher hustete.
»Schornsteinfeger? Keineswegs! Ich bin ein Bückling, mein Kind, ein ganz frisch geräucherter Bückling. Übrigens finde ich, du kannst nicht einfach Du zu mir sagen. Du musst Herr Melcherson sagen.«
»Heißt du denn so?«, fragte Tjorven.
Melcher brauchte nicht zu antworten, denn nun kamen zum Glück Malin und auch die Jungen.
»Papa, wir haben einen Frosch im Brunnen gefunden«, sagte Pelle eifrig. Aber dann vergaß er sämtliche Frösche über dem fantastischen Hund, den er vorhin auf dem Bootssteg gesehen hatte und der jetzt hier in ihrer Küche stand.
Melcher machte ein gekränktes Gesicht.
»Ein Frosch im Brunnen – ist das wahr? Angenehmes Sommerhaus, hat dieser Makler gesagt. Er hat nichts davon gesagt, dass es hier einen Tierpark gäbe mit Eulen im Schornstein, Fröschen im Brunnen und Riesenhunden in der Küche. Johann, geh und sieh nach, ob ein Elch im Schlafzimmer liegt.«
Seine Kinder lachten so, wie es von ihnen erwartet wurde. Melcher wäre sonst beleidigt gewesen. Aber Malin sagte:
»Uh, was für ein Rauch hier!«
»Kein Wunder«, sagte Melcher. Er zeigte vorwurfsvoll auf den Herd. »Es ist eine Schmach für den Lieferanten. Ich werde hinschreiben und mich beschweren: Sie haben im April 1908 einen eisernen Herd geliefert. Weshalb in aller Welt haben Sie das getan?«
Niemand hörte auf ihn außer Malin. Die anderen umdrängten Tjorven mit ihrem Hund und bestürmten sie mit Fragen.
Und Tjorven erzählte freundlich, dass sie in dem Haus wohne, das dem Schreinerhaus am nächsten lag. Dort hatte ihr Papa einen Kaufmannsladen, aber das Haus war groß, sodass sie allesamt Platz darin hatten, »ich und Bootsmann und Mama und Papa und Teddy und Freddy«, sagte Tjorven.
»Wie alt sind Teddy und Freddy?«, fragte Johann eifrig.
»Teddy ist dreizehn und Freddy ist zwölf und ich bin sechs Jahre alt und Bootsmann ist zwei. Ich weiß nicht mehr, wie alt Mama und Papa sind, aber ich kann nach Hause gehen und fragen«, sagte sie bereitwillig.
Johann versicherte ihr, das sei nicht nötig. Er und Niklas sahen sich zufrieden an. Zwei Jungen in ihrem eigenen Alter im Haus nebenan, das war fast zu schön, um wahr zu sein.
»Was sollen wir bloß machen, wenn wir diesen Herd nicht ankriegen?«, fragte Malin.
Melcher raufte sich das Haar.
»Ich muss wohl aufs Dach klettern und nachsehen, ob im Schornstein wirklich eine Eule liegt, wie dieses Kind da behauptet.«
»Oje«, sagte Malin. »Dann sei bitte vorsichtig. Denk daran, wir haben nur einen Vater.«
Melcher war jedoch schon zur Tür hinaus. Er hatte am Giebel eine Leiter stehen sehen, und für einen einigermaßen gelenkigen Kerl konnte es keine Kunst sein, aufs Dach hinaufzugelangen. Seine Jungen folgten ihm auf den Fersen, auch Pelle. Selbst der größte Hund der Welt konnte ihn nicht in der Küche zurückhalten, wenn Papa Eulen aus dem Schornstein holen wollte. Und Tjorven, die sich Pelle schon zum Freund und Begleiter auserkoren hatte, wenn Pelle auch nichts davon wusste, wanderte ebenfalls gemächlich nach draußen, um nachzusehen, ob hier etwas Lustiges passieren würde.
Es fing gut an, fand sie. Herr Melcher hatte den Feuerhaken mitgenommen, um die Eule damit herauszuangeln, und den musste er zwischen die Zähne nehmen, während er die Leiter hinaufkletterte. Genau wie Bootsmann, wenn er einen Knochen bringt, dachte Tjorven. Etwas noch Lustigeres begehrte sie nicht. Sie lachte still in sich hinein, dort unter dem Apfelbaum. Dann brach eine Leitersprosse durch, als Herr Melcher darauftrat, und er rutschte ein ganzes Stück wieder nach unten. Pelle bekam Angst und schrie auf, aber Tjorven lachte wieder still vor sich hin.
Dann lachte sie nicht mehr. Denn jetzt war Herr Melcher oben auf dem Dach, und das sah gefährlich aus.
Melcher fand das auch.
»Ein wirklich gutes Haus«, murmelte er. »Aber hoch.«
Er fragte sich, ob es nicht im Grunde ein bisschen zu hoch sei, um darauf herumzubalancieren, wenn man bald fünfzig war.
»Falls ich überhaupt so alt werde«, murmelte er und wankte auf dem Dachfirst entlang, die Augen starr auf den Schornstein geheftet. Aber dann warf er einen Blick zur Erde und wäre fast hinuntergefallen, als er die ängstlichen, nach oben gewandten Gesichter seiner Söhne so tief unter sich erblickte.
»Halt dich fest, Papa!«, schrie Johann.
Melcher schwankte und wurde fast böse. Über ihm war nichts als der weite Weltenraum – woran sollte er sich festhalten? Da hörte er Tjorvens durchdringende Stimme: »Weißt du was? Halt dich am Feuerhaken fest, Herr Melcher. Mach das!«
Aber jetzt war Melcher zum Glück in Sicherheit beim Schornstein.
Er schaute hinein. Da drinnen war nichts als schwarze Finsternis.
»Du, Tjorven, was redest du da von toten Eulen!«, rief er vorwurfsvoll. »Hier sind keine Eulen.«
»Ist es eine Waldeule?«, schrie Niklas.
Da donnerte Melcher in seinem Zorn: »Hier ist keine Eule, hab ich gesagt.«
Und wieder hörte er Tjorvens durchdringende Stimme: »Willst du eine haben? Ich weiß, wo eine ist. Es ist bloß keine tote.«
Hinterher in der Küche war die Stimmung ein wenig gedrückt. »Wir müssen eben solange kalt essen«, sagte Malin.
Sie starrten alle trübselig den Herd an, der sich nicht so benehmen wollte, wie er sollte. Eben jetzt hätten sie nichts lieber gehabt, als etwas Warmes zu essen.
»Das Leben ist schwer«, sagte Pelle, denn das sagte sein Vater manchmal.
Da klopfte es an die Tür, und herein trat ein wildfremder Mensch, eine Frau in rotem Regenmantel. Sie stellte schnell einen emaillierten Kochtopf auf die Herdplatte und sah sie alle mit einem freundlichen Lächeln an.
»Guten Abend! Aha, hier ist also Tjorven, das hatte ich mir ja gedacht. Puh, was ist denn hier drinnen für ein Rauch?«, sagte sie dann, und ehe ihr noch jemand beipflichten konnte, fuhr sie fort: »Ach, richtig, ich muss wohl sagen, wer ich bin. Märta Grankvist. Wir sind Nachbarn. Willkommen bei uns!«
Sie sprach schnell und lächelte die ganze Zeit, und bevor einer von der Familie Melcherson noch ein Wort gesagt hatte, war sie schon am Herd und schaute in die Esse.
»Haben Sie die Klappe aufgemacht? Dann geht es nämlich besser!«
Malin lachte auf, aber Melcher machte ein beleidigtes Gesicht. »Doch, natürlich hab ich die Klappe aufgemacht. Das war das Erste, was ich getan habe«, versicherte er.
»Jetzt ist sie jedenfalls zu«, sagte Märta Grankvist. »Und jetzt ist sie offen«, fuhr sie fort und drehte den Griff halb herum. »Sie stand wahrscheinlich offen, als Sie kamen, und dann haben Sie sie zugemacht, Herr Melcherson.«
»Ordentlich, wie er ist«, sagte Malin.
Alle lachten, auch Melcher. Und am allermeisten Tjorven.
»Ich kenne diesen Herd«, sagte Märta Grankvist, »und der ist ganz ausgezeichnet.«
Malin guckte sie dankbar an. Alles schien so viel leichter geworden zu sein, seit diese wunderbare Frau in die Küche gekommen war. Sie war so heiter und strahlte Sicherheit und Freundlichkeit und Tatkraft aus. Welch ein Glück, dass wir gerade sie zur Nachbarin bekommen haben, dachte Malin.
»Ich bring Ihnen hier etwas Gulasch als Einstandsessen, wenn Sie damit vorliebnehmen wollen«, sagte Märta Grankvist und zeigte auf den Emailtopf.
Da traten Melcher die Tränen in die Augen. Das war immer so bei ihm, wenn Leute freundlich zu ihm und den Kindern waren. »Dass es so gute Menschen gibt«, stotterte er.
»Ja, so gut sind wir hier auf Saltkrokan«, sagte Märta Grankvist lachend. »Komm, Tjorven, wir wollen jetzt nach Hause.«
In der Tür wandte sie noch einmal den Kopf.
»Wenn Sie sonst noch Hilfe brauchen, dann sagen Sie Bescheid.«
»Ja, da drinnen ist ein Fenster kaputt«, sagte Malin schüchtern. »Aber wir können Sie doch schließlich nicht mit all solchen Dingen belästigen.«
»Ich schicke Nisse her, wenn Sie gegessen haben«, sagte Märta Grankvist.
»Ja, der setzt nämlich hier auf Saltkrokan alle Scheiben ein«, sagte Tjorven. »Und Stina und ich, wir machen sie kaputt.«
»Was höre ich da«, sagte ihre Mutter streng.
»Aber nicht mit Absicht«, beeilte sich Tjorven hinzuzufügen. »Es kommt nur so.«
»Stina, die kenn ich«, sagte Pelle.
»Soo?«, sagte Tjorven, und aus irgendeinem Grund klang ihre Stimme nicht richtig erfreut.
Pelle war eine ganze Weile seltsam stumm gewesen. Warum sollte man mit Leuten reden, wenn es einen Hund wie Bootsmann gab? Pelle hing an seinem Hals und flüsterte ihm ins Ohr: »Dich mag ich.«
Und Bootsmann ließ ihn gewähren. Er sah Pelle nur mit freundlich abwesenden, ein wenig traurigen Augen an, und dieser Blick offenbarte jedem, der Augen hatte zu sehen, seine ganze treue Hundeseele.
Aber jetzt musste Tjorven nach Hause gehen, und wo Tjorven hinging, da ging auch Bootsmann hin.
»Komm, Bootsmann«, sagte sie. Und dann waren sie weg.
Aber das Küchenfenster stand offen, und sie konnten alle Tjorvens Stimme hören, als sie draußen vorüberging.
»Mama, weißt du was? Als er oben auf dem Dach langging, der Herr da, hat er sich am Feuerhaken festgehalten.«
Sie hörten auch Märta Grankvists Antwort.
»Das sind Städter, Tjorven, weißt du, und die haben es sicher nötig, sich am Feuerhaken festzuhalten, glaube ich.«
Die Melchersöhne sahen sich an.
»Wir tun ihr leid«, sagte Johann. »Und das ist nun wirklich nicht nötig.«
Doch mit dem Herd, da hatte sie recht. Der war ausgezeichnet und brannte so gut, dass er glühte und in der ganzen Küche eine wunderbare Wärme verbreitete.
»Das heilige Feuer des Hauses«, sagte Melcher. »Der Mensch hatte kein Zuhause, bis er das Feuer entdeckte.«
»Und bis er das Gulasch erfand«, sagte Niklas und stopfte sich so viel auf einmal in den Mund, dass er nicht mehr reden konnte.
Sie saßen um den Küchentisch herum und aßen, und es war ein Augenblick tiefer und warmer Traulichkeit. Das Feuer prasselte im Herd, und draußen prasselte der Regen.
Als die Jungen zu Bett gehen wollten, regnete es noch schlimmer. Widerwillig verließen sie die Wärme der Küche und zogen sich in ihre Bodenkammer zurück, die kalt und feucht und richtig ungemütlich war, obwohl ein Feuer im Kachelofen brannte. Aber Pelle schlief schon, von Malin in Wolljacken eingemummelt und mit einer wollenen Mütze auf dem Kopf.
Johann stand fröstelnd am Fenster und versuchte zu Grankvists hinüberzuschauen, aber der Regen klatschte gegen die Scheiben, sodass man alles nur durch einen Vorhang rinnenden Wassers sah. Den Kaufmannsladen – Johann sah das Schild. Und das Haus – es war rot, genau wie das Schreinerhaus. Und den Garten – er fiel zum Wasser hin ab, und dort unten hatten Grankvists einen Bootssteg, der ähnlich war wie der vom Schreinerhaus.
»Morgen können wir mal sehen, ob wir diese Jungs finden, die …«, sagte Johann, stockte aber plötzlich. Denn drüben auf dem Nachbargrundstück ging etwas vor sich. Eine Tür wurde geöffnet und jemand rannte in den Regen hinaus. Es war ein Mädchen. Sie trug einen Badeanzug, und die hellen Haare flatterten um sie herum, als sie zum Bootssteg hinuntergaloppierte.
»Komm mal her, Niklas, da kannst du etwas Interess …«, begann Johann, stockte aber von Neuem. Denn die Tür drüben ging abermals auf, und in den Regen hinaus kam ein zweites Mädchen, auch sie im Badeanzug, auch ihr wehte das Haar um den Kopf, als sie zum Steg hinuntertrabte. Die Erste war schon unten angekommen. Jetzt sprang sie ins Wasser. Als sie mit der Nase wieder über Wasser war, rief sie: »Freddy, hast du die Seife?« Niklas und Johann schauten sich schweigend an.
»Da hast du die Jungs, die du morgen suchen wolltest«, sagte Niklas endlich.
»Oh«, sagte Johann.
Sie lagen an diesem Abend lange wach.