Uwe Berger
Nebelmeer und Wermutsteppe
Begegnungen
978-3-86394-055-3 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien erstmals 1977 im Aufbau-Berlag Berlin und Weimar.
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Wir aber sollen durch unser Wort
das Unten in der Welt beseitigen helfen
und die Lust, außer sich zu sein,
das Gemeinsame im Andersartigen zu finden,
unter den Menschen verbreiten.
Zwischen Konin und Kleczew verkehrte im Sommer 1943 eine Kleinbahn mit Wagen für Personen und Wagen für Güter oder Vieh. Die ersten waren für Deutsche, die zweiten für Polen bestimmt. Ich bin auf dieser Bahn gefahren und habe Frauen mit Kopftüchern in die Viehwagen steigen sehen. Wir waren Schüler im Alter von zehn bis vierzehn Jahren, die aus dem von Luftangriffen bedrohten Berlin nach Kleczew evakuiert wurden. Die Evakuierung geschah in der Absicht, den Soldatennachwuchs zu schonen, bis er eingesetzt werden könnte.
Kleczew, von den faschistischen Okkupanten in Lehmstädt umbenannt, war ein weit auseinandergezogener ländlicher Ort. Eines seiner stattlichsten Gebäude, die Schule, diente uns als Unterkunft. Wo waren die polnischen Kinder? Wer gab ihnen Unterricht? Über mein furchtbares Gefühl, Teil einer Unterdrückungsmaschinerie zu sein, das kindlich sensible Empfinden der Schuld, schrieb ich später Gedichte. Sie sind von Jerzy Danielewicz und Alfred Kowalkowski ins Polnische übersetzt und im heutigen Polen mehrfach gedruckt worden. Sich leise ins Haus zu stehlen und die Schuhe abzustauben:
Cicho zakradly sie do nas przez próg,
pyl otrzepaly z bucików u nóg.
Wenn wir aus der klösterlich-militaristischen Ordnung des Lagers ausbrechen konnten, taten wir es. Bei einem Streifzug geriet ich mit zwei anderen Jungen an die Kirche. Sie war verrammelt. Von der Friedhofsmauer aus kletterten wir neugierig durch ein zerschlagenes Fenster ins Kircheninnere. Es sah wüst aus dort. Der Altar zerstört, das Gestühl zerbrochen und übereinandergetürmt. An verschiedenen Stellen lagen rote Zettel mit der Aufschrift: BESCHLAGNAHMT. GESTAPO. Übrigens war uns eingeschärft worden, vor der einheimischen Bevölkerung auf der Hut zu sein. Aber ich hatte vor jenen Menschen keine Angst; meist sahen sie einfach durch uns hindurch. Angst machte mir etwas anderes.
Eigenartige Stimmungen verbreiteten sich unter uns. Einige von uns ließen einen faschistischen Wappenadler aus Pappe wie einen Bierdeckel durch unseren Strohsackschlafraum segeln und schrien dazu: „Der Pleitegeier geht um!“ Die Schlacht bei Stalingrad war geschlagen. Einem kleinen Kollaborateur, der in der Schule sauber machte, von den Faschisten „Leistungspole“ geheißen, gaben wir den Spitznamen „Leistungsidiot“. Hinter geförderter Überheblichkeit verbarg sich Ablehnung.
Wir wurden denunziert. Der Lagerleiter, ein perverser Lehrer, holte sich Hilfe. Nazigrößen erschienen, wiesen uns zurecht und warnten uns, freundlich lächelnd. Ich wusste, was das bedeutete.
Tischglatte Ebene mit einzelnen Bauernhäusern, Bäumen und kleinen Wäldern. Vorbei an diesen Häusern zog ich mit anderen, und unser Singen sollte die innere Stimme übertönen. Die Fenster und Tore blieben geschlossen. Keiner sah heraus. Waren die Häuser leer? Was verbarg sich hinter ihrer Blindheit? Ich war sicher, dass sich dort etwas verbarg, von dem wir nichts ahnten, ein anderes Leben, das unseres übersteigen und überdauern würde.
War unser Gegröl das Heulen der Angst vor dem, was dort wuchs? Es wuchs auch in mir.
Ich sang nicht mehr. Ich lauschte auf die Stille. In der Kleinbahn saß ich und verließ dieses Land, in dem ich als Schulkind seiner Feinde erschienen, in dem ich ungebeten war. Ich hatte unter Umgehung der Lagerzensur einen Brief an meinen Vater geschrieben, der mithilfe eines Arztes meine Entlassung erwirkte.
Allein bestieg ich den D-Zug Warschau - Berlin. Allein, doch mit dem Gefühl einer Augenblicksfreiheit. Damals lernte ich es, mich des schönen Augenblicks zu freuen und nicht an das Danach zu denken. Damals wusste ich nicht, dass auf derselben Strecke Käthe Niederkirchner im Zug verhaftet werden würde.
Sie dachte an das Danach aller, sprang mit dem Fallschirm ab und fuhr in den Tod.
In der Nähe von Saßnitz sind die Genossenschaftsbauern mit ihren Autos zur Feldarbeit gefahren. Die bunten Wagen vom Typ Wartburg und Trabant stehen am Straßenrand, als wären Urlauber gekommen. Die Kluft zwischen Urlaubern und Einheimischen, die vor allem eine soziale war, ist geschwunden oder schwindet. Niemand starrt einen Urlauber neugierig an; niemand wundert sich über einen Bauern mit Wartburg.
Saßnitz ist nur eine kleine Stadt. Die Fischer und die Arbeiter des Fischkombinats geben in ihr den Ton an. So fehlt ihr weitgehend kleinbürgerliche Enge und Idyllik. Wohltuend spürt man das in den nüchtern sauberen Straßen und Gassen. Wir sehen Paare mit kleinen Kindern und tatendurstige Jugendliche, die nicht herumlungern, sondern eilig irgendwohin steuern. Schaulustige aus der Ferne werden vom modernen Hochhaushotel und vom Fahrbahnhof angezogen.
Unten am Hafen befindet sich das Fischkombinat, zu dem eine Eisfabrik, Räuchereien und Konservenfabriken gehören. Graue steinerne Hallen. Ein Werktor mit Transparent. Es sind keine hölzernen Lager- und Räucherhäuser wie einst in Emden. Den Brand jener Baracken erlebte ich als Kind mit. Wir wohnten gegenüber dem Brandort, nur durch den Delft, einen Hafenarm, von ihm getrennt. Orangerote Flammen schlugen in die Nacht empor, und ein widerlicher Geruch von verbranntem Fischfleisch und Tran verbreitete sich in der Stadt.
Der Saßnitzer Hafen ist vor allem Liegeplatz für Fischkutter und Logger, deren Zahl sich auf über zweihundert belaufen soll. Wir gehen auf die lange Mole hinaus, eine Mühe, der sich bei dem leicht stürmischen Wetter kaum einer der anderen Touristen unterzieht.
Hafenatmosphäre ist mir von früh an lieb und vertraut. Manches hier erinnert mich an den freilich sehr viel größeren Hafen von Emden. Magisch zogen mich als Sieben- oder Achtjährigen die Logger und Schlepper an. Mit meinem Freund, dem Sohn eines Hafenarbeiters, bettelte ich bei den Matrosen um Schiffszwieback. Unsere Mütter durften freilich nicht wissen, dass wir am Kai herumstrolchten. Deutlich habe ich das Bild der Arbeitslosen vor mir, die an einer bestimmten Stelle standen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Delftspucker wurden sie genannt. Einer trank aus der Flasche und zerschlug diese dann an der Hauswand. Die Nase schnäuzten sie mit Daumen und Zeigefinger, was uns ungeheuer imponierte. Es gab auch Rote, der Vater meines Freundes gehörte zu ihnen. Dieser Junge, der den Spitznamen „Sonne“ hatte, war nach unseren Rangkämpfen der Stärkste in der Klasse. Als ich den Zweitstärksten, seinen besten Freund, im Boxkampf überwand, um ihm, „Sonne“, näher zu sein, schlug er mich. Das konnte ich ihm lange nicht verzeihen. Meine Eltern zogen bald gezwungenerweise fort. In Emden grölte die SA.
Nun bin ich auf der Mole von Saßnitz. Draußen gleitet ein dickes, weißes Fährschiff nach Schweden. Ein anderes kommt. An der Innenseite liegen Fischkutter verschiedener Große. Einer legt gerade ab. Am Heck steht nicht ganz richtig, aber in familiärer Vertrautheit: JONNY SCHEER, STRALSUND. Gemeint sein kann nur John Schehr. Ein Fischer lässt die Trossen bei laufendem Motor locker und zieht wieder an, um den Bug hinauszudrehen. Zwei etwa zehnjährige Jungen lassen sich durch seinen warnenden Zuruf nicht beirren, nehmen die letzte Schlinge von der Dalbe und werfen sie ihm zu. Offenbar sind sie darauf spezialisiert.
Manches Detail hier erinnert mich an damals. Aber die Zeit hat sich verändert, und alles hat eine andere Bedeutung gewonnen. Anders verläuft das Leben.
Ein zweites Stralsunder Boot hat inzwischen losgemacht. Hintereinander durchfurchen beide Kutter das Hafenbecken. Bald nehmen sie jenseits der Mole Kurs auf die unruhige See.
Nebel liegt am Morgen auf der windstillen Ostsee. Man sieht nur wenige Meter weit. Das Meer verliert dadurch seine Endlosigkeit, wird eng wie ein Teich. Indem ich an der Küste entlanggehe, schneide ich einen immer neuen runden Raum aus dem Nebel. Möwen fliegen weiß blitzend in diesen Raum und verlassen ihn wieder. Die Wellen laufen auf den Strand und rascheln mehr, als dass sie rauschen. Aller Tang ist nach den Stürmen der letzten Tage aus dem Wasser verschwunden. Klar, graugrünlich schmeichelt das Meer um meine Füße.
Bald hebt sich der Nebel, und die Sonne wärmt mich. Ich finde den fingerlangen verkieselten Überrest eines Belemniten. So sah Leben vor hundertfünfzig Millionen Jahren aus. Mehrere Austernfischer lassen sich vor mir auf einer Buhne nieder. Die Vögel sind größer als Tauben und haben ein schwarz-weißes Kleid, grellrot leuchten ihre Schnäbel und Füße. Sie kommen an den Küsten aller Erdteile vor, aber östlich des Kaspischen Meeres, also in Mittelasien, auch an Binnengewässern. Ihr schriller, pfeifender Ruf klingt abenteuerlich in der Unendlichkeit von Himmel und Meer.
Abends schwebt wieder der Nebel heran.
Von einem Hügel bei Moritzdorf sehen wir auf die Having, eine Bucht des Rügenschen Boddens. Links erstreckt sich das Reddevitzer Höft, eine lange schmale Halbinsel, die aus einem grasbewachsenen Hügel besteht. Auf den Wiesen wachsen einzelne Büschel von leuchtend gelb blühendem Ginster. Zwei oder drei Häuser verbergen sich zwischen Bäumen. Die Landschaft zur Rechten sieht nicht anders aus. Wiesenhügel, Ginster, Baumgruppen. Der Himmel ist bedeckt, und es weht ein scharfer Westwind in der nach Westen offenen Bucht. Grau und krisselig liegt das Wasser des Boddens, der Horizont verschwimmt im Grauen.
So ähnlich mag schon das Bild ausgesehen haben, das sich den Jägern und Fischern bot, die in der mittleren Steinzeit hierherkamen.
Wir steigen den Hang hinunter, an dem ein paar Schafe angepflockt sind, und kehren im Bogen zu den wenigen Häusern von Moritzdorf und dem alten, freundlichen Fährmann zurück, der uns in seinem Kahn übersetzt. Auf der Herfahrt hatte er uns des Windes wegen getröstet: „Ein büschen laufen - da wird euch warm!“
Das Reddevitzer Höft ist nicht so unberührt, wie es von fern erscheint. Wir treffen auf ihm außer einigen Finnhütten auch den Rohbau für ein betriebseigenes Ferienkinderheim an. Einige Bauernhäuser sind im modernen Sinne „stilecht“ renoviert und präsentieren sich mit Strohdach und Terrasse. Unterm Steilufer entdecken wir im Sand ein heimliches oder, wohl besser gesagt, illegales Abwasserrohr, das in den Bodden führt.
An der Grenze zwischen Sandufer und Grasland finde ich zu meiner Freude einen paläolithischen Schaber aus Feuerstein, an dessen Echtheit nicht zu zweifeln ist. Dieses Werkzeug des Steinzeitmenschen ist siebeneinhalb Zentimeter lang und wie eine Messerklinge zurechtgehämmert.
Auf dem Rückweg kommen wir in tiefem Wald an das sogenannte Herzogsgrab, ein Großsteingrab der jüngeren Steinzeit. Die Inschrift auf einem Brett besagt, dass die Grabstätte etwa viertausend Jahre alt ist, von Ackerbauern und Viehzüchtern angelegt wurde und dreißig bis vierzig Tote mit Grabbeigaben - Tongefäßen, Steinbeilen, Pfeilspitzen und Bernsteinschmuck - enthielt.
Bei näherem Hinsehen erkenne ich in dem kyklopischen Steinhaufen eine Ordnung. Die Mehrzahl der Findlinge, vielleicht ein Dutzend, liegt in Form eines länglichen Ovals, das an einer Seite offen ist. Die Steine haben die Größe mittlerer Bierfässer. Eine große Deckplatte, halb auf andere Steine gestützt, hat einen Durchmesser von zweieinhalb Metern und ist auf ihrer Unterseite tischglatt.
Die Südostspitze von Rügen. Wir sind an der Steilküste bei Thiessow. Kaum ein Mensch. Uferschwalben, Steine, tote Fische. Es ist windstill. Vom Steilhang rieselt trotzdem der Sand in kleinen Bächen. Man kann das ewige Werk der Zerstörung alter und des Aufbaus neuer Formationen im alltäglichen Detail studieren. Die Schwalben umfliegen uns verwirrt. Wir sind in ihr Reich eingedrungen. Eine einzelne Silbermöwe rastet auf einem großen Stein am Ufer.
Wir gehen an der Radarstation auf dem Kleinen Zicker vorbei ins Dorf. Fischer sind zurückgekommen und laden ihre Beute an einer Betonrampe aus ihren kleinen, bauchigen, schwarzen Booten aus.
Um sie herum Meer und weite Boddenflächen, hügelige Halbinseln, Einsamkeit und Stille.
Das Jagdschloss Granitz ist ein Kuriosum. Allerdings eines, das von keinem Geringeren als Karl Friedrich Schinkel geschaffen wurde. Es ist kein klassizistischer, sondern ein romantischer Bau. Burgenstil mit Zinnen, romanischen Bogen und gotischem Maßwerk. Der Eklektizismus des Ganzen hat, das sei zugestanden, eine ruhige, maßvolle Struktur.
Besser als der äußere Anblick gefällt mir die Innenarchitektur. Da sind die Eingangshalle, die Wendeltreppe an der Turminnenwand, Deckenornamente und Holzvertäfelungen. Das Bild eines Grafen Malte Friedrich von Putbus erregt meine Aufmerksamkeit. Gemalt ist es von Madame Rosine Lisiewska, die am Hof Friedrichs II. tätig war. Und sie hat den Grafen mit breiten, weichen Weiberhüften gemalt, die in weißen Hosen über den langen schwarzen Stiefeln leuchten. Die Marmorbüste von Christian Daniel Rauch, die den Bauherrn, einen späteren Fürsten Malte von Putbus, darstellt, zeigt bei klassischer Glätte das Gesicht eines feinnervigen, eitlen und rücksichtslosen jungen Mannes. Ein Kunstwerk.
Unterhalb des Schlosses, in einem Waldstück inmitten Ackerland, gibt es Hügelgräber aus der Bronzezeit. Ich muss dichtes Brombeergestrüpp durchbrechen, um in den Hain zu gelangen. Die Gräber sind spitze grasbewachsene Hügel, die am Boden einen Durchmesser von etwa zehn Metern haben. Auf ihnen und um sie herum wachsen hohe Silberpappeln und Eichen. Sie bilden eine Art grünen Saal, in dem eine sakrale Stimmung herrscht.
Von einer späteren Periode der Besiedlung zeugt nicht weit von hier ein Burgwall. Die slawischen Bauern, die ihn errichteten, wurden zu einem wesentlichen ethnischen Bestandteil der heutigen Bevölkerung, und Ortsnamen wie Granitz erinnern an sie.
Solche Kleinstädte an der Küste sind mir gut bekannt. Meine Mutter stammt aus einer, und ich verbrachte sechs Jahre meiner Kindheit in einer anderen. In ihren Häusern verbindet sich immer der Geruch von Kramläden mit dem Duft von Tang und salzigem Wind aus der Weite.
Damgarten ist in seinem alten Teil, wo wir wohnen, eine Anhäufung von Häuschen, die so klein und schief und kümmerlich sind, dass sie eher Katen als Stadthäusern gleichen. In einer Seitengasse, durch die wir gehen, rinnt das Spülwasser aus den steinernen Hütten durch Röhren in die Gosse. Daneben erhebt sich die plumpe, wenig originelle Backsteinkirche aus dem 15. Jahrhundert. Natürlich gibt es auch in Damgarten Neubauten und eine große Kaufhalle. Dieser neue Teil der kleinen Stadt zieht sich an der anderen, der westlichen Seite der einzigen breiteren Straße hin und wirkt sehr sauber und freundlich.
Wir telefonieren im Postzimmerchen, wo ein Alter den zwei Postfrauen Döntjes erzählt, und plaudern mit unseren sympathischen Wirtsleuten, die den seemännischen Namen Dwars tragen. Der Mann ist Buchhalter im Agrotechnischen Zentrum, die Frau arbeitet beim Rat. Beide haben einen Stall hinter dem Haus mit viel Mühe und Liebe zu einer modernen Unterkunft für sogenannte Autotouristen umgebaut. Ihr kleiner blonder Junge spielt den ganzen Tag auf dem Hof.
Ich spreche den alten Strandwächter an, der uns neulich fünf Mark abgeknöpft hat, weil wir nicht den richtigen Weg durch die Dünen fanden. Er ist ein alter Fischer, der über vierzig Jahre zur See gefahren ist. Er erzählt, früher waren in Dierhagen zwanzig Boote, die im Bodden fischten, Jetzt sind es noch zwei. Nur Markgraf fischt noch, auch in der Ostsee. Die Küstenfischerei lohnt nicht mehr, da der Fisch auf hoher See weggefangen wird. Die Boddenfischerei leidet offenbar unter der Verseuchung der Binnengewässer. Und vor allem kann wohl auch die Arbeit mit der Hand den modernen industriemäßigen Methoden der Hochseefischerei nicht standhalten.
So ist es also um die Romantik des Fischlands bestellt.
Tags darauf beobachte ich einen Ruderkahn auf See, der ein Handtuch von Segel hat. In dem Kahn bewegen sich drei Männer in orangegelber Kleidung. Da der Wind ablandig weht und eine Art Ebbe erzeugt, frage ich den alten Strandwächter, ob er das Boot gesehen hat. Ich erfahre von ihm, dass es Fischer sind, Markgraph-Leute, und die kennen sich natürlich aus mit der See.
Der ablandige Wind lässt das Meer in Küstennähe ruhig sein, kräuselt nur ein wenig die Oberfläche. Weiter draußen, jenseits vom Windschutz der Wälder und Dünen, verursacht er mehr Bewegung. Eine eigenartig saugende Brandung entsteht nahe am Ufer. Die mäßig starken, langen Wellen wölben sich plötzlich, sozusagen aus dem Nichts, auf und laufen aus.
Über Nacht sind blauviolette Quallen auf den Strand gespült worden. Sie verenden zuckend. Unterm blauen Himmel schimmert das Meer blau. Geht man hinein, ist das Wasser durchsichtig, hellgrüngrau. Weit wate ich hinaus. Noch weiter draußen wird das Wasser wieder flacher. Eine Sandbank. Ich schwimme im leicht dünenden Meer. Schwäne fliegen in Linienformation über mich hinweg.
Später kommt Wind auf.
Am anderen Morgen rauschen hohe Wellen auf den Strand. Wir lassen sie uns auf den Rücken klatschen. Nachmittags besuchen wir die Steilküste im Norden. Endlos reihen sich oben die Sommerhäuschen. Unten am Wasser liegt eine Sandburg an der anderen, mit Treibholz besteckt. Leere Flaschen und Lumpen zieren die Holzstücke. SAISON 73 BELEGT, steht auf einem Brettchen. Müll liegt in einer Höhlung der Steilküste.
Aber kein Mensch ist zu sehen. Wir haben September.
Die Wellen rasseln mit den Steinen. Blutrot lässt sich die Sonne aufs Meer nieder. Silbermöwen und Strandläufer sind unsere Begleiter. Drollig die trippelnden Strandläufer. Sie stippen ihre langen dünnen Schnäbel in die auslaufenden Wellen. Sie lassen uns bis auf ein, zwei Meter heran, ehe sie im Schwarm auffliegen. An der Buhne schaukelnd eine tote Silbermöwe, groß wie eine Ente. Ich muss an den Frauenarm denken, der hier angespült wurde. Der Polizist, mit dem ich darüber sprach, meinte, der Mensch sei von einer Schiffsschraube zerstückelt worden.
Flüchtig ist das Leben, das unwahrscheinliche, wie es einmal ein Biologe nannte. Beständiger sind Gestein und Wasser.
Die Altmark bei Salzwedel ist eine flache, teilweise sumpfige Landschaft mit kleinen Wäldern. In den Dörfern sehen wir alte niedersächsische Fachwerkhäuser, unter deren Dach einst Wohnung und Stall vereint waren, rote Backsteingebäude, wie es sie in ländlichen Gegenden Mecklenburgs gibt, und vielgestaltige Neubauten, Die Straße ist zementiert und in tadellosem Zustand.
„Alle wichtigen Straßen hier wurden erneuert“, sagt mein Freund, neben dem ich im Wagen sitze. „Die alten Straßen taugten nicht für unsere schweren Baufahrzeuge. Die Menschen waren anfangs nicht sehr froh, dass bei ihren Dörfern nach Erdgas gebohrt wird. Aber dann kam der wirtschaftliche Aufschwung durch uns, und heute nennen sie uns: unsere Erdgasleute.“