Herausgegeben vom Kirchenamt der EKD
Band 19
Dietrich Sagert
Versteckt
Homiletische Miniaturen
Im Auftrag des
Zentrums für evangelische Predigtkultur
Dietrich Sagert, Dr. phil., Jahrgang 1963, studierte Theologie, Philosophie, Musik und Theater. Er wurde im Bereich Kulturwissenschaft über Andrej Tarkowskij (HU Berlin) promoviert und arbeitete als Theaterregisseur u. a. in Paris und Luxemburg. Derzeit ist er Referent für Redekunst/Rhetorik am Zentrum für evangelische Predigtkultur der EKD in Wittenberg. Sagert lebt in Berlin.
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© 2016 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
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Gesamtgestaltung: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Coverfoto: „Versteckt“ © Christian Melms
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-374-04612-6
www.eva-leipzig.de
Für Lil und Leonard
Cover
Titel
Der Autor
Impressum
Widmung
Zitat
Versteckspiel
I. Versteckt
Beobachtung
Kommentare
Lesung
Halleluja
Gebet
Stille
Credo
II. Verschwunden
Thesen
III. Homiletische Hardware
IV. Familiale Verwechselungen
V. Binäre Gefangenschaft
VI. Die Abgeschlossenheit der theologischen Fakultäten
VII. Aufschließung/Öffnung
VIII. Abel. Die Sprache Gottes nach Hugo Ball
IX. Grundworte einer biblischen Homiletik
X. Fragmente einer experimentellen Homiletik
Cicero und die intelligible Kugel
Elachistos
Or movi – Jetzt geh
Lacrymae Christi
XI. Inventions fidèles – Bibellektüren
Er ist nicht hier
Psalms
Passio
Noli me tangere
Auferstehung
Ecce homo
Jakobusbrief
P.S.
Weitere Bücher
Fußnoten
Gedanken und Themen wandern. Sie wandern aus, je mehr ihre angestammten Gehäuse verknöchern. Sie verstecken sich oder kehren in anderen Zusammenhängen, an anderen Orten, in anderer Form wieder. So wandern auch theologische Gedanken und nehmen Zuflucht bei Philosophie, Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaft. Theologische Gedanken wandern aus und nehmen Zuflucht in anderen Zusammenhängen. Sie verstecken sich dort, verändern sich und können gefunden werden, aufgestöbert.
Auf diese Weise locken sie in Grenzbereiche herkömmlicher Theologie und Predigt. Sie spielen Versteck und nehmen dabei in Kauf, dass Grenzsteine und Zäune umgerissen werden. Werden diese Gedanken gefunden in ihren Verstecken, können sie ihrerseits inspirierend und neuschöpfend auf kirchliche und theologische Diskurse zurückwirken. Sie können ihr Spiel weitertreiben.
Als der niederländische Kulturanthropologe Johan Huizinga im Jahr 1939 sein Buch „Homo ludens“1 veröffentlichte, hat er nicht nur eine große Resonanz von verschiedenen Seiten gefunden, er hat zugleich eine alte Tradition aufgegriffen, deren Spuren sich auch in den Weisheitsschriften des Alten Testamentes finden. Gemeint ist hier das Spiel nicht als elementare Kulturtechnik, als solche ist sie von Anfang an wirksam, sondern als der Kultur vorhergehend, „phylogenetisch, denn das Tier spielt, ontogenetisch, denn im Kinde verwirklicht sich die Kategorie Spiel immer wieder in ihrer lebendigsten Vollheit“2. Wenngleich als Ausgangspunkt einer genaueren Beschreibung dessen, was Spiel ist, die Negation von Ernst („Nicht-Ernst“) gelten kann, so schwebt die Kategorie des Spiels nicht nur im Gegensatz Spiel – Ernst. Spiel und Ernst schlagen ineinander um. Sie begrenzen einander, wenn das Spiel auch immer die Tendenz hat, seinen Geltungsbereich zu erweitern.
Einige Merkmale dieses Spiels lassen sich beschreiben als Modi von Erweiterung. Spiel enthält „fast immer ein wesentliches Element von Bindung und Lösung“3 in den Wechselbeziehungen zwischen den Spielenden in der Welt, die das Spiel herstellt und auch wieder auflöst. Ein Spiel stellt etwas dar, es verwirklicht etwas, „gibt dem Formlosen eine Form. Das Spiel ist eine Handlung, dromenon, drama“.4 Spiel ist Streit, Wettkampf, Disput. Im Spiel „verbinden sich die zwei Elemente der Chance und des Einsatzes“5. Beim Spiel geht es um etwas. Und
„Spiel erzeugt Stil. Die einfachste Form des Kinderspieles, ein Reigen mit Gesang, besitzt oft diese hohe Qualität des Stilvollen, nach welcher eine ganze Kunstepoche vielleicht vergebens hungert. Die Hauptattribute des Stiles, Rhythmus, Wiederholung, Kadenz, Refrain, geschlossene Form, es sind alle zugleich solche des Spieles. Was aber im Ästhetischen Stil heißt, heißt im Ethischen Ordnung und Treue. Diese Früchte reifen im Garten des Spieles, das ja Assoziation zur Voraussetzung hat.“6
In diesem Sinne spielt das vorliegende Buch sein Spiel mit Formen – Kommentare, Glossen, Montagen, Thesen – und mit Gedanken, Zitaten und Autoren. Es folgt gedanklichen Wanderungen, Abbrüchen, Wiederholungen und Verwandlungen. Es stellt Wechselbeziehungen her zwischen Autoren, zwischen denen keine Beziehungen bestehen. Es schafft Gegenüberstellungen und löst sie wieder auf. Es ignoriert Grenzen. Es spielt und experimentiert. Dabei gibt es nicht vor, schon zu wissen, sondern es gibt dem Leser teil an Suchbewegungen, die auch irritieren können. Es lädt dazu ein, auch dann noch zu lesen, also weiter zu fragen, wenn es mehr Fragen aufwirft, als es Antworten geben kann. Manches wird man mehrfach lesen müssen. Im Zweifel empfiehlt es sich, einfach weiterzublättern und an einer anderen Stelle wieder einzusetzen, dort vielleicht zu finden.
Dies Buch teilt mit seinen Lesern sein eigenes Vergnügen bei der Suche nach Verstecken von homiletisch inspirierenden Gedanken und gibt Fundstücke zu lesen, häufig im Originalton als Zitat, in der Freude darüber, sie gefunden zu haben. Auf diese Weise teilt es die Suche nach Denkspielräumen. Vielleicht liegt sein Sinn vor allem darin, Gedanken als für Predigt und Predigtlehre relevant zu lesen, die es von sich aus nicht sind.
Wie in jedem Spiel will das Buch seine Spielräume erweitern und riskiert es, sich im Spiel zu verlieren. Es vertraut der Intuition, dass in den beständigen Grenzerweiterungen des Spiels Kultur wächst, auch Predigtkultur.
Das vorliegende Buch ist während der konkreten Arbeit an Theorie und Praxis der Predigt am Zentrum für evangelische Predigtkultur entstanden.7 Bei dieser Arbeit höre, sehe und erlebe ich ein großes Vergnügen, an der Praxis der Predigt zu arbeiten auch dann, wenn es in Theorie und Praxis schwierig wird. Und es wird immer schwierig. Ich beobachte aber auch eine erschreckende Befangenheit in Gewohnheiten, die von sogenannten theologischen oder homiletischen Grundentscheidungen herrühren, von schulmeisterlichen Deutekompetenzen für das Christliche, die ihrerseits eine lebendige Praxis von Predigt unnötig verstellen. Die Schwerkraft solcher Gewohnheiten gleicht Verstecken, die alle kennen, die aber keiner sucht. Mit ihnen wird nicht gespielt. Sie fordern auch kein Spiel heraus, sondern Gefolgschaft. Die einzige Möglichkeit, derartige Verstecke ins Spiel zu bringen, ist ihre Entdeckung. Die mag rücksichtslos erscheinen, ihre Wirkung aber befreit.
Die prägende Form dieses Buches ist klein. Es vertritt denn auch keine strukturelle oder normative Macht. Es verweigert sich der Gefolgschaft. Die Lesenden sind eingeladen, das zu finden, was ihnen entspricht. Für sie wird es interessanter sein, darauf zu achten, was sie finden, und nicht so sehr darauf, wie sie etwas finden. Sie werden ihren eigenen Lesemodus erfinden müssen. Der wird sich nicht so sehr an einem vermeintlichen Verstehen des Gelesenen orientieren (man versteht sowieso weniger, als man denkt), sondern eher an einem in unterschiedlichen Verständnis-Graden variierenden Umgehen mit dem Gelesenen, eben spielen, weitergehen, auf etwas zurückkommen, verwerfen, vielleicht erst verwerfen und dann doch entdecken oder umgekehrt. Die Lesenden werden sich aneignen, was sie finden, vielleicht nur zum Teil, und sie werden es auch wieder abstoßen und in ihrem Sinne weiterspielen. Sie werden ihr eigenes Spiel spielen.
Wir werden übermannt von großen Reden,
Polemiken, dem Ansturm des Virtuellen,
die heute eine Art undurchsichtiges Feld schaffen.
Die Güte liegt tiefer als das tief gehendste Böse.
Diese Gewissheit müssen wir freilegen und ihr eine Sprache geben.
Die Sprache, die ihr in Taizé verliehen wird, ist nicht die der Philosophie,
nicht einmal die der Theologie, sondern die der Liturgie.
Liturgie ist nicht einfach ein Tun, sie ist ein Gedanke.
In der Liturgie liegt eine verborgene, verschwiegene Theologie,
die sich in der Vorstellung zusammenfassen lässt,
dass ‚das Gesetz des Betens das Gesetz des Glaubens‘ ist.
Paul Ricœur
Auf einem der burgundischen Hügel des Grosne-Tales findet sich unweit einer alten romanischen Kirche eines der bekanntesten Laboratorien der heutigen Christenheit: die Communauté de Taizé. Zeichenhaft experimentiert diese ökumenische Gemeinschaft von Brüdern die kommende Kirche. Auf den Spuren alter monastischer Traditionen leben sie eine création commune. Jeder bleibt Mitglied seiner Herkunftskirche und entdeckt im gemeinsamen Leben die Gaben der anderen. Ein entscheidendes Stichwort dieser Praxis ist die „Dynamik des Vorläufigen“ (Frère Roger). Sie betrifft nicht nur gemeinschaftliche Lebens- und Organisationsformen, sondern auch die gemeinsame spirituelle Praxis. So experimentierte die Gemeinschaft, als sie noch unbekannt war, mit neuen liturgischen Formen in der Tradition der Stundengebete. Als mehr und mehr Gäste aus aller Welt auf den Hügel des kleinen Dorfes in Burgund kamen, suchten die Brüder beharrlich nach Formen, die möglichst viele Menschen verschiedenster Herkünfte, Sprachen und Kulturen bei einem Gebet nicht nur zuschauen, sondern teilnehmen lassen konnten. Es entstanden u. a. die heute weltweit bekannten Gesänge von Taizé. Sie finden sich inzwischen in vielen Gesangbüchern verschiedener Kirchen in vielen Ländern der Erde. Doch jenseits dessen, was die Brüder in Taizé und anderen Ortes praktizieren, lohnt es sich, ihre Praxis unter dem Aspekt eines Labors zu betrachten und zu reflektieren. Ein interessanter Punkt in diesem Zusammenhang ist die Predigt. Im praktischen Leben dieser Gemeinschaft ist die Predigt umhergewandert. Real findet sie sich an mehreren Orten zugleich, selten, aber doch gelegentlich im Gottesdienst, täglich in biblischen Einführungen, die auch in Büchern theologisch fundiert veröffentlich werden. Theoretisch ist die Predigt eher versteckt.8 Doch schon der internationale Kontext der Gemeinschaft von Taizé und ihrer Besucher nimmt eine alte, unterschätzte Erfahrung homiletisch wieder auf: „scriptura cum legente crescit, die Bibel wächst mit“9. Was dort praktisch einfach geschieht, korrespondiert auf überraschende Weise zeitgenössischen Reflexionen, lässt zumindest unbeabsichtigt Platz für sie und fordert diese indirekt heraus.
Der sonntägliche Gottesdienst der Communauté de Taizé folgt der schlichten Messform. Diese alte Form ist umwoben von Gesang, mehrsprachig, mehrstimmig, antiphonisch respondierend. Alle sitzen auf dem Boden. Keiner steht vor.10 Der Gesang hat eine spürbare emotionale Kraft. Zu den Lesungen gehen zwei Brüder in ihren weißen Gebetsgewändern zum Lesepult in der Mitte der Kirche. Brüder und Gemeinde erheben sich – man sitzt oder kniet auf dem Boden –, drehen sich zum Lesepult und setzen sich wieder; ein kleiner Tanz. Die Lesung des Evangeliums geschieht in englischer und in französischer Sprache. Ihr folgt ein mehrstimmiger österlicher Halleluja-Ruf mit solistisch dazwischen gesungenen Psalmversen. Währenddessen erheben sich Gemeinde und Brüder wieder und drehen sich zurück in die Position mit Blick in Richtung Altarraum. Weitere Lesungen eines ausgewählten Verses des Evangeliums in vielen weiteren Sprachen folgen, je nachdem, aus welchen Gegenden der Welt Besucher am Gottesdienst teilnehmen. Nach je zwei oder drei dieser Kurzlesungen folgen wiederum einige Psalmverse mit einem Halleluja als Antwort. Schließlich spricht der Prior der Communauté de Taizé, Frère Alois, mit zurückhaltender und zugleich großzügiger Stimme ein kurzes Gebet in mehreren Sprachen hintereinander. Er bleibt dazu wie alle anderen (außer den beiden Lektoren für die Lesung) an seinem Platz inmitten der Gemeinde.
„Heiliger Geist,
Du kennst unsere Zerbrechlichkeit,
Du kommst und verklärst unsere Herzen,
so werden selbst unsere Dunkelheiten
zu innerem Licht.“11
Dann ist Stille. Ungefähr zehn Minuten entspannte, dichte Stille. Wenn schließlich eine Solostimme „credo“ zu singen beginnt, „ich glaube“, summt die Gemeinde mit und stimmt immer wieder mit einem österlichen Halleluja ein in die in mehreren Sprachen solistisch ein-, zwei- und dreistimmig gesungenen Passagen des alten Credos.
In diesem einfachen liturgischen Vollzug halten sich Homiletik und Predigt beharrlich versteckt: Lesung (Evangelium) – Halleluja – Gebet – Stille – mehrstimmiges Credo. Einen Vollzug kann man nicht erklären. Erklärt man ihn, hindert man sein Vollziehen. Man vollzieht ihn und hat eine Erfahrung gemacht. Diese kann man reflektieren. Wenn sich Homiletik und Predigt in einem Vollzug verstecken, kann man sie zwar dort vermuten, doch nicht vom Vollzug lösen. Als versteckte verändern sich beide nur im Vollzug. Man kann gespannt sein, wie sie sich verändert haben werden, wenn sie wieder hervorkommen oder gefunden werden. Kommentare können Vollzüge aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, ihre Erfahrungen ins Denken heben und dann wieder freilassen. Kommentare entdecken keine Intentionen, sie reglementieren keine Erfahrung. Sie spielen denkend mit. Und Erfahrungen gehen ihren Gang.
Die folgenden Kommentare eröffnen Denkräume für die einzelnen Teile des Vollzuges und überdenken seine Erfahrungen. Sie bieten dabei homiletische Anknüpfungspunkte und Angebote, Homiletik aus dem gottesdienstlichen Vollzug heraus experimentell zu denken.
Das laute Lesen ist eine meistens unterschätzte spirituelle Praxis in den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen. Das verwundert umso mehr, als sich im lauten Lesen mehrere Praxisebenen finden lassen: Lautes Lesen übt die Stimme, lautes Lesen übt die Sprechwerkzeuge wie Muskeln etc., lautes Lesen trainiert das Gedächtnis. Zudem verbindet die Praxis des lauten Lesens als spirituelle Praxis die persönliche Schriftlektüre mit der öffentlichen Lesung im Gottesdienst.
In der gottesdienstlichen Realität kann man allerdings landauf, landab den Eindruck gewinnen, als ertöne von den Lesepulten der Kirchen immer dasselbe. Es wird also nicht gelesen, sondern nur wiederholt. Trotz einer protestantischen Skepsis gegenüber wiederholenden Ausdrucksformen des Glaubens hätte sich ausgerechnet bei den Schriftlesungen in Tonfall, Wort und Geste viel Wiederholen eingeschlichen. Allzu oft wird durchs bloße Wiederholen die schöpferische Kraft der Wiederholung verpasst.
Worin besteht die schöpferische Kraft der Wiederholung? Wiederholung bildet eine Grundkategorie der Philosophie des französischen Philosophen Gilles Deleuze. An den Anfang seiner grundlegenden Untersuchung „Differenz und Wiederholung“ stellt er ein „Triptychon aus Pastor, Antichrist und Katholik“12, gebildet von Sören Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und Charles Péguy.
Anhand von Charles Péguys Philosophie der Geschichte arbeitet Deleuze ein besonderes Verhältnis von Wiederholung und Ereignis heraus. Dabei löst er „die Wiederholung von der Vorstellung eines immer gleich ausfallenden Rückgangs in die Vergangenheit“ und bestimmt sie „als nach vorne gerichtet[n], offene[n] Prozess“, der sich nach vorne, „vorlings“ (Kierkegaard) erinnert.„Nicht vom jeweiligen Endpunkt einer Serie von Geschehnissen her fasst Péguy demzufolge die historische Überlieferung auf, sondern ausgehend von jenem singulären Ereignis, das den Tradierungsprozess als solchen begründet, in Gang bringt und fortführt.“13 Zur Veranschaulichung dient Deleuze insbesondere eine Passage aus Péguys Buch „Clio“. Sie bezieht sich auf die berühmten Seerosengemälde von Claude Monet: „Welche dieser siebenundzwanzig und dieser fünfunddreißig Seerosen ist am besten gemalt worden? Die logische Begründung wäre zu sagen: die letzte, weil er es am besten konnte. Und ich sage: im Gegenteil, im Grunde die erste, weil er es am wenigsten konnte.“14
Die Wiederholung wird hier
„als Verhältnis und Verhalten zu einem Ereignis bestimmt, das mit nichts anderem ähnlich oder äquivalent ist. Die Singularität des ersten Seerosengemäldes bringt bei Monet einen repetitiven und zugleich differenzierenden Schaffensprozess in Gang, der über weitere Seerosengemälde verläuft und fortgeführt wird.“15
Péguy hat sein Prinzip der Wiederholung nicht nur als eine Theorie der seriellen Kunst verstanden, sondern sie direkt in eine „neue Praxis des Schreibens“ überführt, mit der „die Metaphysik in Bewegung, in Gang gesetzt“ wird. „Die Wiederholung ist bei Péguy damit nicht nur Thema, sie schlägt sich sozusagen auch performativ nieder.“ Péguy hat einen eigenen Schreibstil entwickelt, der beständig wiederholt. Er schreibt also nicht nur über Wiederholung, sondern wiederholt schreibend selbst, und der Leser kann nur verstehen, wenn er sich der Wiederholung des Geschriebenen selbst aussetzt.
Damit sind wir beim Thema des Lesens angelangt bzw. bei den Konsequenzen für das Lesen, die der französische Soziologe Bruno Latour aus Theorie und Praxis der Wiederholung bei Charles Péguy zieht. Latour fragt: „Ist Péguy unlesbar?“16
Péguy setzt schreibend die „gewöhnlichen Kategorien der Lesbarkeit“ außer Kraft, indem er „gegen die Modi der zerstreuten, der historischen oder der klerikalen Lektüre […] eine Weise des ‚entwöhnten‘ Lesens [setzt], welche die Ursprünglichkeit eines Textes von Neuem erscheinen läss[t]“.
„Diese Art des Lesens bring[t] einen Text dazu, wieder anzufangen, und macht […] aus ihm ein Ereignis, das von ferne her im gegenwärtigen Augenblick auf den Leser zu kommt.“
Diese Veränderung der Lektüre geschieht durch die Änderung der „gewohnten Richtung der Lektüre“.
„Es geht nicht länger um die äußerliche Aufeinanderfolge von Wörtern in Zeilen, auch nicht um die laterale Verbindung eines Textes zu anderen Texten, sondern um einen Rückbezug des Gelesenen in die Tiefe der Zeit, einen Rekurs der präsenten Lektüre auf das vergangene Ereignis der Schrift.“17
Diese Ereignisse nennt Latour „Inskriptionen“. In ihnen drücken Erfahrungen sich in die Schrift ein, hinterlassen einen Abdruck ihrer Intensität in der Schrift. Die Erfahrung selbst aber ist von nun an abwesend, wenngleich ihre Spur das Versprechen einer Wiederkunft enthält. In der Wiederholung kann sich die entsprechende Erfahrung lesend einstellen. Sie wird dann eine neue Erfahrung des Ereignisses, das sich in die Schrift gedrückt hat.
Eine „entwöhnte“ Lektüre lässt sie wieder neu anfangen, lässt „aus ihnen ein Ereignis werden, das im gegenwärtigen Augenblick auf [den Lesenden] zukommt. Nur die Richtung hat sich geändert: Die Ferne, aus der sich das Ereignis nähert, liegt nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft.“ Lektüre als Wiederholung ist
„nicht mehr als gleichbleibender Rückgang auf etwas gedacht, sondern als ein nach vorne offener Prozess, der durch ein Ereignis begründet, in Gang gebracht und fortgesetzt wird. Nur ist dieses Ereignis nichts, worauf verwiesen wird. Es ist selbst Verweis, ein Zeichen, eine Differenz.“18
Eine solche Differenz tritt konkret im lesenden Vollzug dann hervor, wenn man die biblischen Texte nicht als Historien, also Erzählungen liest, sondern als Szenen. Das bedeutet zuallererst zu fragen bzw. mitzudenken, wer etwas sagt und warum und zu wem; in welcher Situation gesprochen wird, welche Verhältnisse zwischen den Personen bestehen, welche Konflikte, aber auch welche Interessen verfolgt werden; wer der Gegner ist und wie eine geschlossene Situation ins Offene manövriert werden soll und kann oder wie dies gerade zu verhindern versucht wird.
Angesichts der hohen szenischen Anteile in den biblischen Texten, die manchmal indirekt durch Redaktionsschichtungen, Überarbeitungsstufen u. ä. entstanden sind, verwundert es, dass eine solche mehrstimmige Lesart der besonderen Erwähnung bedarf. Wie konnte es dazu kommen?
Aristoteles „unterschied zwei Wege der Mimesis: ‚dasselbe [Ereignis] nachzuahmen, entweder im Bericht – oder indem man alle Personen als Tätige, Wirkende auftreten lässt‘“.19 Das eine sei rückwärtsgewandt-berichtend, das andere präsentisch-vorführend. Plutarch unterschlug die scharfe Unterscheidung und vermengte beides zugunsten der Geschichtsschreibung. Dies hatte über verschiedene Stationen grundlegende Folgen für die malerische Darstellung biblischer Stoffe und lässt sich wie folgt zusammenfassen: „‚Büchern‘ entstammt die dargestellte Geschichte; Bücher bürgen mithin für die Wahrheit des Bildes. Seine ‚Geschichte‘ berichtet Vergangenes; der Vergangenheit steht es zu, die Gegenwart zu belehren.“20
Zur Zeit Gregors des Großen hatten Bilder in Kirchen kein anderes Bleiberecht, als die Analphabeten zu belehren. Erkennbar werden Bilder nur für den, der die Erzählung schon kennt.21 Die Pointe von „Plutarchs Plagiat“ (Ivan Nagel) entpuppt sich als Herrschaftsstrategie. Die Deutungshoheit eines Bildes in der Kirche oblag seinem Patron bzw. Auftraggeber und nicht dem Maler, wie zur Zeit der Renaissance. Der Auftraggeber fungierte als Zensor.22 Er war der Repräsentant der Lesart der Texte. Als solcher erlaubte oder verbot er das, was bildlich dargestellt werden durfte. Hinter der Machtstrategie gegenüber bildlichen Darstellungen verbarg sich also die Macht über die korrekte Lesart von Texten und damit ihre Reduktion auf den vergangenen Bericht.
Der Vorrang vergangener Texte gegenüber ihrer bildlichen Darstellung hatte direkte Auswirkungen auf die Lesart der Texte selbst. Wurden diese auf ihre Vergangenheit fixiert, so fixierte sich auch ihr Inhalt auf die Vergangenheit, ihre Wahrheit wurde zu einer vergangenen Wahrheit und damit codiert und verrechtlicht. Diese Lesart zensierte die Texte selbst.
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