Alexandra Morgan, die von ihren Freunden nur »Alex« genannt wird, studiert an einem kleinen amerikanischen College und ist eine eher unauffällige Studentin. Was niemand ahnt: Sie hat außergewöhnliche Fähigkeiten und ein seltsames Hobby – in ihrer Freizeit löst sie zusammen mit dem geheimnisvollen Fremden c0nundrum und ihrem besten Freund Rusty paranormale Fälle in der Zwischenwelt…
Alex bemerkt, dass sich ihre Mitschüler plötzlich sehr merkwürdig verhalten. Jeder, der in einen Spiegel schaut, wird paranoid und ist davon überzeugt, dass sein Spiegelbild versucht, ihn umzubringen. Bald schon zieht sich eine Spur der Verwüstung durch die gesamte Stadt – überall schlagen die Menschen Fensterscheiben ein und zerstören alle Spiegel. Als auch ihre Mutter infiziert wird, ist Alex überzeugt, dass die Ursache für das Chaos im Hochsicherheitszentrum zu suchen ist. Mit Hilfe von c0nundrum brechen Alex und ihre Freunde dort ein und entdecken ein schreckliches Geheimnis …
Jay Mason ist das Pseudonym von Caroline Dunford, die als Psychotherapeutin und Journalistin arbeitete, bevor sie ihre Liebe zum Romanschreiben entdeckte. Zurzeit ist sie Writer in Residence am Siege Perilous Theater in Edinburgh. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in einem Cottage an der schottischen Küste.
Gefährliches
Spiegelbild
Folge 3
beBEYOND
Deutsche Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment | Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titel der Originalausgabe: Paranormal Investigator, STRANGE REFLECTIONS
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Übersetzer: Bert Schröder
Textredaktion: Birthe Schreiber
Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer
Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: margo_black; © thinkstock: hxdbzxy | den-belitsky | ahunjet | akvlv | Sirichoke | RobertoDavid
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3606-1
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Der Raum ist weiß und sie ist nicht allein. Die grelle Intensität der Wände und der beißende Geruch von Desinfektionsmitteln deuten darauf hin, dass sie sich in einem Krankenhaus befindet. Ihre Augen weigern sich, die Umgebung zu fokussieren. Sie fühlen sich trocken und gereizt an. Hatte sie einen Unfall? Sie weiß es nicht. Als sie in ihrem Gedächtnis wühlt, merkt sie, dass sie sich nicht mal an ihren eigenen Namen erinnert.
Aber an seinen Namen erinnert sie sich. Ein Mann beugt sich über ihr Bett. Er ist mittleren Alters und lächelt charmant, aber seine Augen lächeln nicht mit. Er trägt einen Arztkittel. In der Hand hält er eine Spritze.
»Das letzte Mal, Alex«, sagt er. Sie schreit.
Alex wacht auf und sitzt kerzengerade im Bett, mit ausgestreckten Armen, um ihren Angreifer abzuwehren. Schweiß läuft ihr den Rücken herunter. Ihr Herz rast, als wäre sie kilometerweit gerannt, und ihre Kehle ist rau vom Schreien.
Alex presste unwillkürlich eine Hand an die Brust, als würde ein Teil von ihr befürchten, ihr Herz könne aus dem Brustkorb hervorbrechen. Die Muskeln zwischen ihren Rippen schmerzten. Sie fühlte sich so, als wäre sie in eine schlimme Schlägerei geraten. Sie warf einen Blick unter ihr Nachthemd, schien aber keine Prellungen zu haben. Nach und nach wurde sie wacher und aufnahmefähiger. Der Traum versank langsam in den Tiefen ihres Verstands, doch die Gefühle blieben haften. Als sie aus dem Bett aufstand, löste sich der Traum endgültig auf – wie Morgentau.
Die Uhr auf ihrem Nachttisch verriet Alex, dass sie alarmierend lange geschlafen hatte. Sie warf die Bettdecke beiseite und raste unter die Dusche. Ihre Eltern hatten angeboten, sie heute zum College zu fahren, und sie wollte nicht schon wieder mit einem Streit in die neue Woche starten.
Während sie unter dem heißen Wasserstrahl der Dusche stand, überlegte sie, was sie noch tun könnte, um ihre Eltern zu besänftigen. Oder musste die Frage lauten: Was sie noch tun »würde«? Shampoo rann ihr in die Augen und brachte sie zum Brennen. Sie wischte den Schaum weg, doch weil ihre Hand ebenfalls mit Shampoo bedeckt war, machte sie die Sache nur noch schlimmer – so lief es in ihrem derzeitigen Leben oft.
Zehn Minuten später präsentierte sie sich mit nassen Haaren und geröteten Augen unten im Flur. Irene und Lewis – ihre Eltern – warteten bereits auf sie. Ihr Vater klimperte mit den Autoschlüsseln.
»Bin ich zu spät?«, fragte Alex und spähte auf die Standuhr.
»Nein«, antwortete Lewis. »Wir sind etwas zu früh.«
»Generell sollte man immer etwas früher als zur vereinbarten Zeit eintreffen«, sagte Irene. Alex biss sich auf die Lippe. Lass dich nicht provozieren, dachte sie. Als sie nichts erwiderte, murmelte ihre Mutter etwas wie »ein nasses Fiasko« und wandte sich dann dem Spiegel zu, um ihr makelloses Make-up zu überprüfen. Danach öffnete sie die Haustür, aber Lewis machte keine Anstalten, aufzubrechen. Er stand nur da und bedachte Alex mit einem sentimentalen Lächeln.
»Worauf wartest du?”, fragte Irene.
Lewis streckte die Hand mit den Autoschlüsseln aus. »Überraschung!« Irene wollte nach den Schlüsseln greifen, doch Lewis zog sie weg. »Äh-äh«, sagte er. »Die sind nicht für dich.« Er blickte seine Tochter an. »Alex?«
»Du gibst ihr die Schlüssel unseres Autos?«, erkundigte sich Irene erbost.
»Nein«, erwiderte Lewis. »Ich gebe ihr die Schlüssel ihres Autos.«
Einen Moment lang verspürte Alex pures Glück. »Wirklich?«, fragte sie und war unschlüssig, ob sie die Schlüssel tatsächlich entgegennehmen sollte. »Wirklich«, sagte Lewis.
Ihre Blicke trafen sich und Alex war sofort ernüchtert. Das war Bestechung. Ihr Vater nickte bedächtig, als würde er ihre Gedanken lesen. Mit dem Auto wollte er sich lediglich dafür bedanken, dass sie ihrer Mutter nichts von dem geheimen Militärprojekt erzählt hatte, das er am Zentrum für Wissenschaftliche Kompetenz leitete. Jahrelang hatte er sich als liebenswerten, leicht schrulligen Biologen ausgegeben, aber Alex hatte eine Seite von ihm kennengelernt, von der ihre Mutter nichts ahnte. Ihr Vater fixierte sie mit seinem Blick. Mit der Entgegennahme der Schlüssel würde sie sich dazu bereit erklären, ihre Mutter auch weiterhin im Unklaren zu lassen.
Sie zögerte. Dann hörte sie, wie Irene anfing, sich zu beschweren. Alex versuchte, ihre Stimme auszublenden, aber die Wörter »unverantwortlich«, »kindisch« und »unverdient« drangen nur allzu deutlich durch. Sie nahm die Schlüssel. Das Grinsen ihres Vaters wurde so breit, dass sie kurz befürchtete, sein Kopf würde auseinanderklappen.
»Er steht auf der Auffahrt«, sagte Lewis. »Du musst ihn wegfahren, damit wir rauskönnen. Es ist ein Automatikwagen«, fügte er hinzu. »Wie hier in den USA üblich. Leichter zu bedienen als ein Autoscooter.«
Alex nickte, rang sich aber nicht zu einem Lächeln durch. Sie hoffte, er würde begreifen, dass ihr die Situation gegen den Strich ging.
»Nicht mal ein verdammtes Dankeschön!«, schimpfte ihre Mutter.
Alex drängte sich an ihr vorbei und öffnete die Haustür. Sie hörte, wie ihre Mutter ihren Vater anschrie: »Was hast du dir dabei gedacht?« Irene brüllte so laut, dass ihre Stimme sich überschlug. Alex zog die Tür zu und eilte die Auffahrt hinunter.
Im Auto roch es nach neuem Leder und Reinigungsmitteln. Alex registrierte kaum, dass der Wagen vier Türen hatte und rot war. Der Innenraum kam ihr riesig vor. Trotz ihrer langen Beine musste sie den Fahrersitz nach vorne schieben, um an die Pedale zu kommen. Als sie den Motor startete und losfuhr, dröhnte ihr noch immer der Streit ihrer Eltern in den Ohren.
»Wow! Ein Prius der ersten Generation”, schwärmte Rusty, als er neben ihr stand und den Wagen bewunderte. »Schon etwas älter, aber angeblich sind die unverwüstlich.« Er öffnete die Tür und nahm auf dem Fahrersitz Platz. »Wie fühlt er sich an? Fährt er sich so sanft, wie man sagt? Merkt man’s, wenn er in den Elektromodus wechselt und so still wird wie ein Ninja?«
»Ja«, antwortete Alex. »Dann leuchtet am Armaturenbrett ein Licht.«
Rusty sah sie mit schräg gelegtem Kopf an. »Du wirkst nicht besonders begeistert. Ich wäre völlig aus dem Häuschen, wenn mir jemand ein Auto schenken würde – und dann noch so eins.« Er strich liebevoll über das Lenkrad.
»Du kannst es fahren, wenn du möchtest«, sagte Alex.
Rusty blieb der Mund offen stehen. »Echt? Ich darf sie fahren?«
»Es ist ein Er«, sagte Alex. »Mit Frauen kann ich nicht gut umgehen.«
»Hat deine Mutter dir mal wieder die Laune verdorben?«, erkundigte sich Rusty.
»Noch mehr als sonst. Sie hat meinen Vater angebrüllt. Es war nicht ihr erster Streit, aber sie hat so laut geschrien, dass ihre Stimme sich überschlagen hat. Es war völliger Wahnsinn.«
»Hat sie zufällig bald Geburtstag?«, fragte Rusty. »Meine Mom und Cat werden immer etwas biestig, wenn sie merken, dass ich Geld für mich selbst ausgebe, anstatt es zu sparen, um ihnen davon ein Geschenk zu kaufen.«
Alex blickte sich im Wageninneren um. »Ich glaube nicht, dass meine Eltern Geldsorgen haben«, sagte sie und lief rot an.
»Nein, vermutlich nicht. Die Glücklichen!«, sagte Rusty und stieg aus dem Wagen. »Danke für das Angebot, die Karre zu fahren, aber ich bezweifele, dass deine Versicherung auch mich mit einschließt. Deine Mutter würde explodieren, wenn du jemanden, der nicht versichert ist, eine Beule in den Wagen fahren lässt.«
»Wäre gar nicht so schlecht, wenn Mom explodieren würde«, murmelte Alex vor sich hin. Dann sagte sie laut: »Du bist zwar ein sehr guter Fahrer, aber ich vermute, du hast recht.«
»Danke.« Rusty lehnte sich an den Wagen. »Hast du eigentlich noch mal darüber nachgedacht, was im Maisfeld passiert ist? Ich krieg’s noch immer nicht ganz zusammen.«
»Du meinst, unser Howardsfield-Monster?«, fragte Alex. »Ich hab’s dir doch gesagt: Wir haben zu viel Zeit mit der Filmcrew verbracht. Wir haben Fiktion und Realität verwechselt.« Sie zuckte die Achseln. »Gruppenhysterie. Ich bin nicht stolz darauf, aber so was kommt vor.”
Rusty ging drei Schritte auf sie zu und blickte ihr direkt in die Augen. »Du weißt, dass es mehr war«, sagte er mit ernster Stimme.
Alex wich seinem Blick aus und zuckte erneut die Achseln. »Was soll ich sagen? Es tut mir leid, dass Cat immer noch aufgewühlt ist, aber es war nichts.«
»Und was ist mit Joe?«
»Ach, komm! Joe ist wirklich alles andere als sachlich«, erwiderte Alex. »Er ist Schauspieler, um Himmels willen!«
Rusty trat einen Schritt zurück. »Ich fasse es nicht«, sagte er. »Nach allem, was wir erlebt haben, gibst du dich plötzlich ganz nüchtern.«
»Ich werde weiterhin Ermittlungen durchführen«, sagte Alex. »Allerdings bin ich zu dem Schluss gekommen, dass an dieser Sache nichts Paranormales dran ist. Fall abgeschlossen. Wir können uns dem nächsten zuwenden. Wer weiß, auf was wir noch stoßen. Das ist doch das Spannende.«
Sie versuchte, möglichst enthusiastisch zu klingen.
»Als Nächstes erzählst du mir noch, das Zentrum widmet sich ausschließlich der Erforschung von Erbkrankheiten.«
»Könnte doch sein«, sagte Alex. »Jedenfalls hauptsächlich.«
»Und c0nundrum und Straker?«
Alex zuckte die Achseln.
»Du hast dich verändert, Alex. Und zwar nicht zum Besseren. Du magst aufgegeben haben, aber ich nicht. Ich erwarte Besuch von einem echten Freund, der alles verändern wird.« Er drehte sich ruckartig um und stürmte ins Haus. Die halb verfallene Veranda erbebte, als er die Tür hinter sich zuknallte.
Alex wartete und hoffte darauf, dass er zurückkehren würde. Am Fenster tauchte Cats Gesicht auf. Alex winkte. Cat lächelte nicht und war im nächsten Moment auch schon wieder verschwunden. Alex legte die Hände auf das Dach ihres neuen Wagens und atmete ein paar Mal tief durch. Als klar war, dass weder Rusty noch Cat aus dem Haus kommen würden, stieg sie ein und startete den Motor.
Da sie kein anderes Ziel wusste, fuhr sie nach Hause. Nachdem sie ordentlich geparkt hatte, fiel ihr auf, dass sie die ganze Zeit über automatisch auf der rechten Straßenseite gefahren war – nicht auf der linken, wie sie es in Großbritannien gelernt hatte. Vielleicht lag das an all den Fahrten, die sie mit Rusty in dessen Rostlaube unternommen hatte.
Als sie ihr Haus betrat, legte sich die Stille wie eine Decke über sie. Aus Gewohnheit schloss sie ihre Zimmertür ab und setzte sich dann an den Schreibtisch.
Hi c0nundrum,
unser letzter E-Mail-Kontakt ist schon ewig her. Ich hoffe, das bedeutet nicht, dass bei dir irgendetwas schiefläuft. Hat deine Mom deinen Laptop eingesackt?
Alex lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Der Witz hatte sich abgenutzt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war c0nundrum ein angesehener Wissenschaftler mittleren Alters. Dennoch klammerte sie sich an die Vorstellung, es könne sich um den jungen Mann handeln, der in ihrem Traum vom Krankenhaus im Bett neben ihr lag. Er hatte versprochen, ihr mehr zu erzählen, aber sie hatte ihn nie darauf festgenagelt.
Mein Dad hat mir heute ein Auto geschenkt.
Alex hielt inne. War sie so verzweifelt, dass sie c0nundrum davon erzählen musste? Warum sollte ihn ihr Auto interessieren?
Das heißt, ich bin künftig deutlich mobiler. Wusstest du, dass ich mich auf Rusty verlassen musste, um weitere Strecken zurückzulegen? Das hat ab sofort ein Ende. Ich bin jetzt eine unabhängige Frau. Zum Glück, denn Rusty verzeiht mir nicht, dass ich die Ermittlung im Fall »Schrecken von Howardsfield« nicht weiter vorangetrieben habe. Aber wie hätte ich das tun sollen? Ich spreche nicht von der Verschwiegenheitserklärung, die ich auf Anweisung meines Dads unterschrieben habe. Ich spreche von dem, was ich gesehen habe: einen organisch-kybernetischen Hybriden. Laut Dad sollte er Such- und Rettungstrupps unterstützen, aber schon bevor du mir gesagt hast, um was es sich in Wirklichkeit handelte, wusste ich, dass es ein militärisches Projekt war. Das Teil ist furchterregend. Man könnte es auf keinen Fall losschicken, um Opfer zu bergen. Sie würden vor Angst sterben.
Jedenfalls kann ich in dieser Hinsicht nicht viel unternehmen. Am College läuft es gut. Meine durchschnittlichen Noten könnte ich auch mit geschlossenen Augen bekommen. Leider stehe ich jetzt vor der Aufgabe, das Zentrum und Straker völlig allein zu erforschen. Mir fehlt die Motivation. Keine Ahnung, ob es daran liegt, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll, oder daran, dass ich befürchte, noch mehr unangenehme Wahrheiten über meinen Dad zu erfahren. Oder über meine Mom. Weiß der Himmel, was sie so treibt. Fest steht nur, dass sie sich gegenseitig nichts über ihre jeweiligen Projekte erzählen. Uneins sind sie sich auch, was meine Erziehung angeht. Keine Ahnung, warum sie immer noch zusammen sind. Vielleicht wollen sie mich damit bestrafen.
Tut mir leid, dass ich so wehleidig klinge. Ich hasse es, bestimmte Dinge verschweigen zu müssen, um andere zu schützen und infolgedessen isoliert zu sein. Ich könnte ein paar Tipps gebrauchen. Hast du welche?
AM
Alex klickte schnell auf »Senden«, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Dann öffnete sie ein weiteres Browserfenster und recherchierte die jüngsten Forschungsergebnisse zum Thema »Zeitkristalle«. Sie interessierte insbesondere die Frage, ob sich durch deren Fähigkeit zur unaufhörlichen Bewegung irgendwann eine saubere Energiequelle erschließen lassen könnte. Eines Tages, so schwor sie sich, werde ich an einer Universität studieren, wo ich führenden Wissenschaftlern ernsthafte Fragen stellen kann.
In der Ecke ihres E-Mail-Fensters blinkte eine Eins. Alex klickte das Fach an und war überrascht, dass c0nundrum so schnell geantwortet hatte.
Alex,
vielleicht solltest du deine Freunde selbst entscheiden lassen, was sie wissen möchten und was nicht. Es ist weder deine Aufgabe noch dein Recht, sie zu beschützen.
Und außerdem: Wie oft hat sich Nichtwissen deiner Erfahrung nach als hilfreich erwiesen, wenn irgendetwas »schiefläuft«, wie du es ausdrückst?
Der strenge Ton seiner E-Mail und die Andeutung, dass demnächst etwas »schieflaufen« könnte, hielten Alex die ganze Nacht vom Schlaf ab. Sie hatte noch nicht entschieden, was sie tun würde, als sie auf dem Weg zum College an Rusty vorbeifuhr, der zu Fuß unterwegs war. Sie hielt an und wendete. Als sie auf seiner Höhe war, ließ sie per Knopfdruck das Fenster herunter. Es war ihr extrem unangenehm, funktionierende Automatikfenster zu haben, während sich an Rustys Auto eine Tür befand, die mit einer Schnur festgehalten werden musste. Einer Schnur, die heute Morgen möglicherweise gerissen war.
»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte sie.
Rusty beugte sich runter und blickte durch das offene Fenster. »Kennen wir uns, Miss Schickes-Auto-fahren-Sie-da?«
»Wir sind uns schon mal begegnet«, erwiderte Alex lächelnd und öffnete die Beifahrertür. Rusty stieg ein und Alex fuhr los, bevor er seine Meinung ändern konnte.
»Ich bin immer noch sauer auf dich«, sagte Rusty. »Allerdings kam mir gestern in den Sinn, dass du glauben könntest, ich sei eifersüchtig auf dein Auto.«
»Die Frage habe ich mir gestellt«, antwortete Alex.
»So armselig bin ich nicht«, sagte Rusty. »Ich bin durchaus in der Lage, mich über das Glück meiner Freunde zu freuen.«
Alex spürte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. »Wir sind also noch Freunde?«
»Natürlich sind wir Freunde«, sagte Rusty. »Du bist dumm und stur, aber wir sind Freunde.«
»Gut«, sagte Alex. Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Erst als sie auf den College-Parkplatz einbog, richtete Alex wieder das Wort an Rusty: »Ist es eigentlich normal, sich mit jemandem einzulassen, den man dumm und stur findet? Ich erkundige mich natürlich für einen Freund.«
»Normalerweise nicht, solange die entsprechende Person nicht zur Vernunft kommt«, erwiderte Rusty, »aber es ist etwas passiert.«
»Was denn?«
Rusty legte die Stirn in Falten. »Keine Ahnung. Irgendwas stimmt nicht. Ich kann es spüren.« Dann schmunzelte er. »Vor einem Jahr hätte ich mir nicht vorstellen können, mal so etwas zu sagen. Du hast einen schlechten Einfluss auf mich.«
Alex warf einen Blick auf ihre Uhr. »Treffen wir uns nachher?«, fragte sie. »Zum Mittagessen?«
»Klar«, sagte Rusty und griff nach der Klinke der Autotür. »Wie heißt er eigentlich?«
Alex starrte ihn verwirrt an.
»Der Wagen«, erklärte Rusty. »Wie nennst du den Wagen?«
»Ich dachte an … Fox.«
»Gefällt mir«, sagte Rusty und stieg aus. Dann beugte er sich runter und lehnte sich ins Wageninnere. »Gib nicht auf, nach der Wahrheit zu suchen, Alex. Sie ist irgendwo da draußen.« Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg zu seinem Seminar.
»Kitschig!«, rief sie ihm hinterher.