Gottfried Keller

Züricher Novellen

Gottfried Keller

Züricher Novellen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-54-6

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Inhaltsverzeichnis

Ein­lei­tung

Had­laub

Der Narr auf Ma­negg

Der Land­vogt von Grei­fen­see

Dis­tel­fink

Hans­wurs­tel

Ka­pi­tän

Gras­mücke und Am­sel

Das Fähn­lein der sie­ben Auf­rech­ten

Ur­su­la

I.

II.

III.

IV.

V.

Dan­ke

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Einleitung

Ge­gen das Ende der acht­zehn­hun­dert­und­zwan­zi­ger Jah­re, als die Stadt Zü­rich noch mit weit­läu­fi­gen Fes­tungs­wer­ken um­ge­ben war, er­hob sich an ei­nem hel­len Som­mer­mor­gen mit­ten in der­sel­ben ein jun­ger Mensch von sei­nem La­ger, der we­gen sei­nes Heran­wach­sens von den Dienst­bo­ten des Hau­ses be­reits Herr Jac­ques ge­nannt und von den Haus­freun­den einst­wei­len geih­rzt wur­de, da er für das Du sich als zu groß und für das Sie noch als zu un­be­trächt­lich dar­stell­te.

Herrn Jac­ques’ Mor­gen­ge­müt war nicht so la­chend wie der Him­mel, denn er hat­te eine un­ru­hi­ge Nacht zu­ge­bracht, voll schwie­ri­ger Ge­dan­ken und Zwei­fel über sei­ne ei­ge­ne Per­son, und die­se Un­ru­he war ge­weckt wor­den durch den am Abend vor­her in ir­gend­ei­nem vor­lau­ten Bu­che ge­le­se­nen Satz, dass es heut­zu­ta­ge kei­ne ur­sprüng­li­chen Men­schen, kei­ne Ori­gi­na­le mehr gebe, son­dern nur noch Dut­zend­leu­te und gleich­mä­ßig ab­ge­dreh­te Tau­sends­per­so­nen. Mit Le­sung die­ses Sat­zes hat­te er aber gleich­zei­tig ent­deckt, dass die sanft auf­re­gen­den Ge­füh­le, die er seit ei­ni­ger Zeit in Schu­le und Haus und auf Spa­zier­gän­gen ver­spürt, gar nichts an­de­res ge­we­sen, als der un­be­wuss­te Trieb, ein Ori­gi­nal zu sein oder ei­nes zu wer­den, das heißt, sich über die run­den Köp­fe sei­ner gu­ten Mit­schü­ler zu er­he­ben. Schon hat­te sich in sei­nen Schulauf­sät­zen die kur­ze, dürf­ti­ge Schreib­wei­se ganz or­dent­lich zu be­we­gen und zu fär­ben an­ge­fan­gen; schon brach­te er hier und da, wo es an­ge­zeigt schi­en, ein kräf­ti­ges sic an und wur­de des­halb von den Ka­me­ra­den der Si­kam­ber ge­hei­ßen. Schon brauch­te er Wen­dun­gen wie: »ob­gleich es schei­nen möch­te«, oder »nach mei­ner un­maß­geb­li­chen Mei­nung«, oder »die Au­ro­ra die­ser neu­en Ära«, oder »ge­sagt, ge­tan« und der­glei­chen. Ein his­to­ri­sches Auf­sätz­chen, in wel­chem er zwei ent­schie­den ein­an­der ent­ge­gen­wir­ken­de Tat­sa­chen rasch auf­ge­zählt hat­te, ver­sah er so­gar mit dem pomp­haf­ten Schlus­se: »Man sieht, die Din­ge stan­den so ein­fach nicht, wie es den An­schein ha­ben moch­te!«

Auch gab es un­ter sei­nen Sa­chen ein Heft im­mer weiß blei­ben­den Pa­piers, über­schrie­ben: »Der neue Ovid«, in wel­ches eine neue Fol­ge von Ver­wand­lun­gen ein­ge­tra­gen wer­den soll­te, näm­lich Ver­wand­lun­gen von Nym­phen und Men­schen­kin­dern in Pflan­zen der Neu­zeit, wel­che die Säu­len des Ko­lo­ni­al­han­dels wa­ren, dem das el­ter­li­che Haus sich wid­me­te. Statt des an­ti­ken Lor­beers, der Son­nen­blu­me, der Nar­zis­se und des Schil­fes soll­te es sich um das Zucker­rohr, die Pfef­fer­stau­de, Baum­woll- und Kaf­fee­pflan­ze, um das Süß­holz han­deln, des­sen schwärz­li­chen Saft sie in je­ner Stadt Bä­ren­dreck nen­nen. Na­ment­lich von den ver­schie­de­nen Farb­höl­zern, dann vom In­di­go, Krapp usw. ver­sprach er sich die wir­kungs­reichs­ten Er­fin­dun­gen, und al­les in al­lem ge­nom­men schi­en es ihm ein zeit­ge­mä­ßer und zu­tref­fen­der Ge­dan­ke zu sein.

Frei­lich bo­ten die Er­fin­dun­gen selbst nir­gends eine Hand­ha­be dar, bei wel­cher er sie an­pa­cken konn­te; sie wa­ren sämt­lich wie schwe­re, große run­de Töp­fe ohne Hen­kel, und aus die­sem Grun­de blieb je­nes Heft bis auf die statt­li­che Über­schrift durch­aus rein und weiß. Aber das Da­sein des­sel­ben, so­wie noch ei­ni­ge an­de­re Er­schei­nun­gen un­ge­wöhn­li­cher Art, de­ren Auf­zäh­lung hier un­ter­blei­ben kann, bil­de­ten eben das­je­ni­ge, was er nun­mehr als Trieb zur Ori­gi­na­li­tät ent­deck­te in dem glei­chen Au­gen­bli­cke, da die­se Tu­gend dem da­ma­li­gen Ge­schlech­te rund­weg ab­ge­spro­chen wur­de.

Ängst­lich und fast trau­rig be­trach­te­te Herr Jac­ques den schö­nen Tag, fass­te dann aber sei­ner Ju­gend ge­mäß einen ra­schen Ent­schluss, nahm sein Ta­schen­buch, das für man­nig­fa­che Auf­zeich­nun­gen sinn­reich ein­ge­rich­tet war, zu sich und be­gab sich auf einen Spa­zier­gang für den gan­zen Tag, um sei­ne Sa­che, die er mein­te, zu er­wä­gen, zu er­pro­ben und in Si­cher­heit zu brin­gen.

Erst­lich be­stieg er eine hohe Bas­ti­on, die so­ge­nann­te Kat­ze, an wel­cher jetzt der Bo­ta­ni­sche Gar­ten liegt, und ar­bei­te­te sich so über sei­ne Mit­bür­ger em­por, in­dem er über die Stadt hin­blick­te.

Al­les war in täg­li­cher Ar­beit und Tä­tig­keit be­grif­fen; nur ein klei­ner, schul­schwän­zen­der Jun­ge schlich um Herrn Jac­ques her­um und schi­en eben­falls ein Ori­gi­nal wer­den zu wol­len, ja ihn an Be­ga­bung be­reits zu über­tref­fen; denn man konn­te be­ob­ach­ten, wie der Klei­ne in ein Ka­se­mat­ten­ge­mäu­er schlich, dort einen künst­lich an­ge­leg­ten Be­häl­ter öff­ne­te, Spiel­sa­chen und Ess­wa­ren her­vor­hol­te und sich mut­ter­see­len­al­lein, aber eif­rig zu un­ter­hal­ten be­gann.

So war al­les be­tä­tigt, selbst der blaue See fern­hin von den Se­geln der Last- und Markt­schif­fe be­deckt, mü­ßig al­lein die stil­le wei­ße Al­pen­ket­te und Herr Jac­ques.

Da sich nun auf die­ser Kat­ze kei­ne er­freu­li­che Er­fah­rung oder Aus­zeich­nung dar­bie­ten woll­te, so stieg er wie­der hin­un­ter und ging aus dem nächs­ten Tore, sich bald an den ein­sa­men Ufern des Sihl­flus­ses ver­lie­rend, der wie her­kömm­lich durch die Ge­höl­ze und um die aus dem Ge­bir­ge her­ab­ge­wälz­ten Stein­blö­cke schäu­mend da­hin­eil­te. Seit hun­dert Jah­ren war die­se dicht vor der Stadt lie­gen­de ro­man­ti­sche Wild­nis von den zür­che­ri­schen Ge­nies, Phi­lo­so­phen und Dich­tern mit De­gen und Haar­beu­tel be­gan­gen wor­den; hier hat­ten die jun­gen Gra­fen Stol­berg als Durch­rei­sen­de ge­nia­lisch und pu­del­nackt ge­ba­det und da­für die Stein­wür­fe der sitt­sa­men Land­leu­te ein­ge­ern­tet. Die Fel­strüm­mer im Flus­se hat­ten schon hun­dert­mal zu den Ro­bin­son­schen Nie­der­las­sun­gen jun­ger Schul­schwän­zer ge­dient; sie wa­ren ge­heim­nis­voll von dem Feu­er ge­schwärzt, in wel­chem ge­raub­te Kar­tof­feln oder un­glück­se­li­ge Fisch­chen ge­bra­ten wor­den, die den Ro­bin­sons in die Hän­de ge­fal­len. Herr Jac­ques sel­ber hat­te meh­re­re der­glei­chen Pro­jek­te her­vor­ge­bracht. Al­lein, ein bes­se­rer Kauf­mann als Ro­bin­son, hat­te er die­sel­ben, das heißt die Wahl des Plat­zes und das Ein­zel­ne der Aus­füh­rung, je­des Mal für ba­res Geld an an­de­re Kna­ben ab­ge­tre­ten, wor­auf die Käu­fer dann eben­so re­gel­mä­ßig in­fol­ge die­ser Wahl und Aus­füh­rung von den Bau­ern als Holz­frev­ler und Feld­die­be über­fal­len und ge­prü­gelt wor­den wa­ren.

Die­ses er­in­ne­rungs­rei­che Ufer ent­lang wan­del­te Herr Jac­ques, die of­fe­ne Schreib­ta­fel in der einen, den Stift in der an­de­ren Hand und ganz ge­wär­tig, die Zeug­nis­se sei­ner Ori­gi­na­li­tät zu be­glau­bi­gen, wel­che die rau­schen­den Was­ser ihm brin­gen soll­ten. Al­lein der flei­ßi­ge Strom hat­te an­de­res zu tun, er muss­te den Bür­gern von Zü­rich das gute Bu­chen­holz zu­tra­gen, wel­ches sie aus dem schö­nen Wal­de be­zo­gen, den ih­nen nach der Über­lie­fe­rung zur al­ten Reichs­zeit die Kin­der Kö­nig Al­brechts von Ös­ter­reich aus dem Gute ei­nes sei­ner Mör­der für loya­les Ver­hal­ten ge­schenkt, oder aus je­nem Fors­te, den Lud­wig der Deut­sche der Ab­tei Zü­rich ge­wid­met. Zu vie­len Tau­sen­den ka­men, den Fluss be­de­ckend, die bra­ven Holz­schei­te aus den mäch­ti­gen Wäl­dern stun­den­weit her­ge­schwom­men, und der Fluss, von frü­he­rem Re­gen­wet­ter an­ge­schwol­len, mit weg­ge­schwemm­tem Erd­reich ge­sät­tigt und schmut­zig ge­färbt, warf die Last mit wil­der Kraft vor sich her, als der un­ge­schlach­te Holz­knecht der gu­ten Stadt, dass das Holz gar ei­lig in de­ren Be­reich sich spu­te­te.

An die­sem An­bli­cke hät­te nun Herr Jac­ques sich zu ei­nem frucht­brin­gen­den Ge­dan­ken er­he­ben und, den Lauf der Zei­ten ver­fol­gend, das Auge in die graue Vor­zeit ver­sen­kend, den Be­stand der mensch­li­chen Din­ge er­wä­gen, oder er hät­te das Lob je­nes grü­nen Wal­des sin­gen kön­nen, der in der Hand aus­dau­ern­der Bür­ger­kraft al­lein noch leb­te von all der Herr­lich­keit ver­schol­le­ner Rit­ter und Ab­tei­en, noch so frisch und grün, wie vor ei­nem hal­b­en oder bald gan­zen Jahr­tau­send.

Doch konn­te er nicht auf sol­che Ab­schwei­fun­gen ge­ra­ten, weil er so­fort be­gann, die Holz­schei­te, so schnell er konn­te, in­ner­halb ei­nes un­ge­fäh­ren qua­dra­ti­schen Be­zir­kes zu zäh­len, die mut­maß­li­che Flä­che, wel­che zu ei­nem Klaf­ter wohl­ge­mes­se­nen Bu­chen­hol­zes ge­hö­ren moch­te, zu über­schla­gen, dann sol­che Flä­chen ab­zu­gren­zen und zu zäh­len, und end­lich den Wert des vor­über­schwim­men­den Hol­zes aus­zu­rech­nen, so­dass er, nach­dem er, kein Auge ver­wen­dend und die Uhr in der Hand, eine hal­be Stun­de fluss­auf­wärts ge­gan­gen war, auf sei­ner Schreib­ta­fel die ziem­lich wahr­schein­li­che Sum­me trug, für wel­che die Stadt wäh­rend zwei­er Tage Brenn­holz ein­führ­te. Denn er kann­te die ge­gen­wär­ti­gen Holz­prei­se ge­nau und freu­te sich, die heu­ti­ge Mis­si­on ganz ver­ges­send, sei­nes Flei­ßes und sei­ner Ge­schick­lich­keit.

Plötz­lich er­wach­te er aus sei­nen Be­rech­nun­gen, als die Fluss­ge­gend sich er­wei­ter­te und er eine von Hü­geln und Ber­gen ein­ge­schlos­se­ne Ebe­ne be­trat, die Wol­lis­ho­fer All­men­de ge­nannt, auf wel­cher sich ihm ein neu­es Schau­spiel dar­bot.

Auf die­ser All­men­de sah er näm­lich ein Häuf­lein meis­tens äl­te­rer Her­ren sich rüs­tig und doch ge­mäch­lich durch­ein­an­der be­we­gen und alle Vor­be­rei­tun­gen zu ei­nem er­kleck­li­chen Bom­ben­wer­fen aus­füh­ren. Es wa­ren die Her­ren der löb­li­chen al­ten Ge­sell­schaft der Kon­staff­le­ren und Feu­er­wer­ker, wel­che die­ses krie­ge­ri­sche We­sen zu ih­rem Pri­vat­ver­gnü­gen so­wohl als zu ge­mei­nem Nut­zen be­trie­ben und heu­te ihr jähr­li­ches Mör­ser­schie­ßen fei­er­ten.

Da wa­ren also meh­re­re sol­cher Ge­schüt­ze, in der Son­ne glän­zend, auf­ge­pflanzt; da­ne­ben stand ein großes of­fe­nes Zelt; der Tisch dar­un­ter trug Pa­pie­re, In­stru­men­te so­wie Fla­schen und Glä­ser und eine blan­ke Zinn­schüs­sel mit Ta­bak nebst lan­gen ir­de­nen Pfei­fen. Eine der letz­te­ren trug bei­na­he je­der der Her­ren in der Hand, fei­ne Räuch­lein aus­bla­send in Er­war­tung des Pul­ver­damp­fes. Zwei oder drei von den äl­tes­ten tru­gen noch Haar­zöpf­chen und meh­re­re an­de­re ge­pu­der­te Haa­re. Im üb­ri­gen gin­gen sie in blau­en oder grü­nen Frä­cken ein­her, in wei­ßen Wes­ten und Hals­bin­den.

Sie säu­ber­ten auf­merk­sam die Bet­tun­gen der Ge­schüt­ze und brach­ten al­les wohl in sei­ne Lage; denn wie es schon in dem »ei­ner ehr- und tu­gend­lie­ben­den Ju­gend« ge­wid­me­ten Neu­jahrs­blat­te der Ge­sell­schaft vom Jah­re 1697 hieß:


Was die Wer­let ist und he­get,
Auf ein Pfim­met ist ge­le­get.

End­lich aber be­gann


Das schleu­ni­ge Schie­ßen,
Des Fein­des Ver­drie­ßen!

Bald wälz­ten sich die Rauch­wol­ken über die Flä­che, wäh­rend die Bom­ben in ho­hem Bo­gen am blau­en Him­mel nach der Schei­be hin­fuh­ren und die wei­ßen Her­ren in stil­ler Fröh­lich­keit han­tier­ten wie die ba­ren Teu­fel. Hier setz­te ei­ner die Bom­be in den Mör­ser, dort senk­te ein an­de­rer das Ge­schütz und rich­te­te es kunst­ge­recht, ein drit­ter zün­de­te an und


Der vier­te den Mör­sel schon wie­der aus­butzt,
Vul­ka­nens Ge­sin­de hier die­net und trut­zt!

wie es in ei­nem an­de­ren Neu­jahr­s­stücke von 1709 heißt.

Bei al­ler Fu­ria leuch­te­te aber doch eine alt­vä­te­rische Fröm­mig­keit aus den Au­gen die­ser Vul­kans­die­ner, ab­ge­se­hen da­von, dass auch ein Chor­herr vom Stift un­ter ih­nen ar­bei­te­te, und man konn­te sich an je­nes an­de­re Frag­ment ih­rer ar­til­le­ris­ti­schen Poe­sie er­in­nern, wel­ches lau­tet:


Wann der Sa­tan mit Hau­bit­zen
Sei­ne Pla­gen auf dich spielt,
Dann so wis­se dich zu schüt­zen
Mit Ge­bet als ei­nem Schild,
Sein Ge­schütz, ge­pflanzt zu haglen,
Wird dein’ An­dacht bald ver­naglen!

Herr Jac­ques, der nichts zu tun hat­te, schau­te die­sem Spie­le weh­mü­tig und be­schei­den im Schat­ten ei­nes Bau­mes zu, bis ihn ei­ner der Bom­ben­schüt­zen, der sein Pate war, er­kann­te, her­an­rief und ihm die lan­ge Ton­pfei­fe zu hal­ten gab, wäh­rend er mit dem Pul­ver­sa­cke zu schaf­fen hat­te. Die­se Be­quem­lich­keit merk­ten sich die an­de­ren Her­ren auch, und so stand der jun­ge Ori­gi­nal­mensch bis zum Mit­tag, stets eine oder zwei Pfei­fen in der Hand vor sich hin­stre­ckend. Nur der Chor­herr, wel­cher statt der Pfei­fe eine läng­li­che, mit ei­nem Fe­der­kiel ver­se­he­ne Zi­gar­re rauch­te, leg­te die­se nicht weg, son­dern brann­te kühn sei­nen Mör­ser mit ih­rem Feu­er los.

Für sei­ne Mü­he­wal­tung wur­de Jac­ques dann aber zu dem Mit­ta­ges­sen ge­zo­gen, wel­ches die heu­ti­ge Tat­hand­lung der Feu­er­wer­ker krön­te und auf ei­nem na­hen Bü­hel un­ter den Bäu­men be­rei­tet war. Wenn die­se wa­cke­ren Geis­ter schon durch den Pul­ver­ge­ruch ver­jüngt wor­den, so fühl­ten sie sich nun durch den blau­en Him­mel, die grü­nen Wäl­der rings­um­her und durch den gol­de­nen Wein noch mehr er­hei­tert, und nach­dem in vol­lem Chor ein Kriegs­lied er­schol­len, ver­such­ten sie sich in ei­nem Rund­ge­san­ge, in wel­chem auch nicht ei­ner sei­nen Bei­trag ver­wei­ger­te. Da ka­men al­ler­lei schnur­ren­haf­te Lied­chen zum Vor­schein, von de­ren Da­sein Herr Jac­ques kei­ne Ah­nung ge­habt. Er lausch­te laut­los und sah einen der Sin­gen­den nach dem an­de­ren an, und sei­ne weit­hin ra­gen­de blei­che Nase dreh­te sich da­bei lang­sam in die Run­de gleich dem La­fet­ten­schwanz ei­ner Ka­no­ne, wie ei­ner der Feu­er­wer­ker mein­te.

Als nun die Rei­he an ihn kam und die Män­ner dar­auf hiel­ten, dass er auch sei­nen Vers sin­ge, wuss­te er kei­nen, und es fiel ihm nicht der ge­rings­te sang­ba­re Ge­gen­stand ein. Dar­über wur­de er ganz be­tre­ten und nie­der­ge­schla­gen.

Die Feu­er­män­ner aber ach­te­ten nicht dar­auf, son­dern be­gan­nen den Rund­ge­sang: »Las­set die feu­ri­gen Bom­ben er­schal­len«, in wel­chem an je­den die Fra­ge ge­rich­tet wur­de:

»Herr Bru­der, dei­ne Schö­ne heißt?«

wel­che Schö­ne je­wei­lig nach ih­rer Nam­haft­ma­chung hoch­le­ben muss­te. Da rie­fen nun die einen, mit Scho­nung der wür­di­gen Haus­frau, den ver­stell­ten Na­men ir­gend­ei­ner Ju­gend­freun­din, wie Do­ris, Phil­lis oder Chloe. An­de­re nann­ten Dia­na, Mi­ner­va, Ve­nus oder Con­stan­tia, Abun­dan­tia und der­glei­chen. Das wa­ren aber kei­ne Da­men, son­dern Lieb­lings­ge­schüt­ze, die ehr­bar im Zeug­hau­se stan­den. Die­se Ge­schütz­na­men wur­den je­des Mal wie Ka­no­nen­schüs­se mit furcht­ba­rer Don­ner­stim­me aus­ge­sto­ßen, so­dass es fast tön­te, wie wenn die Roh­re ei­ner Zwölf­pfün­der­bat­te­rie ei­nes nach dem an­de­ren ab­ge­feu­ert wür­den. Als nun auch hier wie­der die Rei­he an Herrn Jac­ques kam, ge­dach­te er sich end­lich her­vor­zu­tun, und be­zeich­ne­te, so laut er konn­te, sei­ne Ge­lieb­te als »Sa­pi­en­tia!« Da aber sei­ne Stim­me zu je­ner Zeit eben im Bre­chen war, er­dröhn­ten nur die ers­ten Sil­ben des Wor­tes in tiefer Ton­la­ge, wäh­rend das Ende über­schlug und ganz in die Höhe schnapp­te, was bei sei­nem tie­fen Erns­te sich so lus­tig aus­nahm, dass alle Her­ren in ein fröh­li­ches Ge­läch­ter aus­bra­chen.

Da wur­de er noch stil­ler und blick­te lan­ge nicht mehr auf.

Dies be­mer­kend, klopf­te ihm der Herr Pate auf den Rücken und sag­te: »Was ist’s mit Euch, Meis­ter Jac­ques? Wa­rum so mau­se­rig?«

Der klei­ne Mann schwieg aber noch eine Wei­le un­be­hol­fen fort, bis ihm ei­ni­ge Schlücke bes­se­ren Wei­nes plötz­lich die Zun­ge lös­ten und er un­ver­se­hens sein Herz aus­zu­schüt­ten be­gann. So er­öff­ne­te er denn dem al­ten Herrn sei­ne Kla­ge: Jene hät­ten gut la­chen; er da­ge­gen sei in ei­ner Zeit ge­bo­ren, in der man un­be­dingt kein Ori­gi­nal­mensch mehr wer­den kön­ne und am Ge­wöhn­li­chen haf­ten­blei­ben müs­se, was um so schmerz­li­cher sei, wenn man die letz­ten Über­bleib­sel schö­ne­rer Tage noch vor sich sehe. Die­se al­ten Bom­ben­wer­fer mit ih­ren ge­pu­der­ten Köp­fen und Ton­pfei­fen sei­en ja die ori­gi­nells­ten Käu­ze von der Welt, und ein jun­ger Schü­ler von heu­te zer­bre­che sich ganz ver­geb­lich den Kopf, aus­fin­dig zu ma­chen, was et­was dem Ähn­li­ches dar­stel­len wür­de. Die­ses sei der be­seuf­zens­wer­te Nach­teil des Jahr­hun­derts, in dem man le­ben müs­se, und kein Kraut sei für sol­ches Übel ge­wach­sen.

Der Alte be­schau­te den Spre­cher von der Sei­te, ohne et­was zu sa­gen. Die Nächst­sit­zen­den je­doch sa­hen sich un­ter­ein­an­der an und murr­ten ver­nehm­lich über ein Zeit­al­ter, in wel­chem Kin­der sich her­aus­neh­men dürf­ten, über die Al­ten na­se­wei­se Be­mer­kun­gen zu ma­chen und ih­nen Spitz­na­men zu ge­ben, wie ori­gi­nel­le Käu­ze und der­glei­chen.

Da wur­de der Ärms­te ganz ein­ge­schüch­tert und be­schämt und ließ feu­er­rot sei­nen Blick her­u­mir­ren, nach wel­cher Sei­te hin er ent­wi­schen kön­ne. Der Herr Pate nahm ihn aber un­ter den Arm und sprach: »Kommt, Meis­ter Ja­ko­bus! Ich will Euch den Über­bleib­sel die­ses hei­te­ren Ta­ges wid­men, da wir bei­de wohl nicht mehr viel zur Ar­beit tau­gen wer­den! Wir wol­len einen Gang auf die Ma­negg ma­chen und bis da­hin des lieb­li­chen Wal­des ge­nie­ßen.«

Sie spa­zier­ten also über die wei­te All­men­de und über den Sihl­fluss, stie­gen durch schö­nes jun­ges Bu­chen­ge­hölz die jen­sei­ti­gen Hö­hen em­por und ge­lang­ten auf einen ebe­nen Ab­satz, von zwei mäch­ti­gen, breitäs­ti­gen Bu­chen be­schat­tet, wo aber schon ein neu­es Aben­teu­er auf den jun­gen Ver­eh­rer der Sa­pi­en­tia her­an­stürm­te.

Die Ter­ras­se war be­völ­kert und be­lebt von ei­ner Schar jun­ger Schul­mäd­chen, wel­che zur Be­ge­hung des jähr­li­chen so­ge­nann­ten Lustig­ma­chens aus der en­gen Stadt ins Freie ge­führt wor­den wa­ren und hier un­ter der Ob­hut ei­ni­ger Her­ren Vor­ste­her und Leh­re­rin­nen ih­ren un­schul­di­gen Rin­gel­tän­zen und Fang­spie­len ob­la­gen. Sie wa­ren alle weiß oder ro­sen­rot ge­klei­det; ei­ni­ge tru­gen zur Er­hö­hung der Lust bun­te Trach­ten als Bäue­rin­nen oder Hir­tin­nen, wie zu sol­chem Be­hu­fe die ge­eig­ne­ten Ge­wän­der da und dort in den Fa­mi­li­en auf­be­wahrt und im Stan­de ge­hal­ten wur­den. Das al­les ver­ur­sach­te eine hei­te­re und glän­zen­de Er­schei­nung in der grün­schat­ti­gen Um­ge­bung, und gern hielt der Herr Pate einen Au­gen­blick an, um sich an dem lieb­li­chen An­blick zu er­fri­schen. Er be­grüß­te die ihm be­kann­ten Vor­ste­her und scherz­te mit den ver­klei­de­ten klei­nen Schön­hei­ten, sie nach Stand und Her­kom­men be­fra­gend, ob sie hier in Dienst zu tre­ten oder wei­ter­zu­rei­sen ge­däch­ten und so wei­ter.

So­gleich kam aber die gan­ze Mäd­chen­schar her­bei­ge­lau­fen und um­ring­te den al­ten Herrn samt sei­nem jun­gen Schütz­ling, wel­cher jetzt in noch grö­ße­re Be­dräng­nis ge­riet, als er heu­te je er­lebt. Wo er hin­sah, er­blick­te er in dich­ter Nähe nichts als blü­hen­de und la­chen­de Ge­sich­ter, die an der Gren­ze der Kind­heit noch alle frisch und lieb­lich wa­ren und das ih­rer war­ten­de Reich der Un­schön­heit noch nicht ge­se­hen hat­ten. Hier das schön­äu­gi­ge Ge­sicht­chen mit den et­was star­ken, fa­mi­li­en­mä­ßi­gen Vor­der­zähn­chen ahn­te nicht, dass es in we­ni­ger als zehn Jah­ren ein so­ge­nann­ter To­ten­kopf sein wür­de; dort das re­gel­mä­ßi­ge ru­hi­ge En­gel­sant­litz schi­en un­mög­lich Raum zu bie­ten für die Züge an­e­rerb­ter Hab­sucht und Heu­che­lei, wel­che in kur­z­er Zeit es durch­fur­chen und ver­wüs­ten soll­ten; wer glaub­te von je­nem ro­si­gen Stumpf­näs­chen, dass es zu ei­nem Thron und Sitz un­er­träg­li­cher Neu­gier­de und Späh­sucht be­stimmt war und die bei­den Ster­n­äu­ge­lein links und rechts in falsche Irr­lich­ter ver­wan­deln wür­de? Wer hät­te von dem küß­li­chen Breit­mäul­chen da den­ken kön­nen, dass sei­ne jet­zo so an­mu­ti­gen Lip­pen der­einst, von ewi­ger Be­we­gung klei­ner Lei­den­schaf­ten und Mü­ßig­kei­ten aus­ge­dehnt und form­los ge­wor­den, sich bald ge­gen das rech­te, bald ge­gen das lin­ke Ohr hin ver­zie­hen, bald die un­te­re die obe­re, bald die obe­re die un­te­re be­de­cken, dann plötz­lich wie­der bei­de ver­eint sich ver­län­gern und als En­ten­schna­bel schnat­tern wür­den? Ei, und dort das an­ge­hen­de Spitz­näs­chen, das die er­ha­be­ne Bea­trix für einen kom­men­den Dan­te zu ver­kün­den scheint und sich zu ei­nem Gei­er­schna­bel aus­wach­sen wird, der ei­nem ehe­li­chen Dul­der täg­lich die Le­ber auf­hacket, un­ver­sehrt von sei­nem schwei­gen­den Has­se! Und wie­der­um die­se in gleich­mü­ti­ger Un­schuld und zar­ter Hei­ter­keit la­chen­de jun­ge Rose, die vor der Zeit ent­blät­tert sein wird von tau­send Sor­gen und un­ge­ahn­ten Er­fah­run­gen, ge­bleicht von Kum­mer und zu schwach auch nur für den Wi­der­stand der Ver­ach­tung!

Nichts von al­le­dem war hier zu ah­nen; wie eine le­ben­di­ge Ro­sen­he­cke um­dräng­te das Mäd­chen­volk den hoch­ra­gen­den Herrn Pa­ten und den et­was kür­ze­ren Herrn Ja­ko­bus, wel­chen die lo­sen Kin­der so oft auf dem Schul­we­ge als ernst­haf­ten, pe­dan­ti­schen Groß­schü­ler tra­fen, schwe­re Bü­cher un­ter dem Arm. Neu­gie­rig be­trach­te­ten sie ihn jetzt nach Her­zens­lust und so recht in der Nähe, und er­forsch­ten un­ver­zagt sein tief­sin­ni­ges Ge­sicht, sei­ne ver­le­ge­ne Hal­tung, sei­ne et­was lan­gen Hän­de und Füße, und ki­cher­ten da­bei fort­wäh­rend, so­dass es ihm un­an­ge­nehm zu­mu­te wur­de. Wäh­rend der Alte fort­fuhr, mit ih­nen zu scher­zen, und das eine oder an­de­re Köpf­chen strei­chel­te, dräng­ten sie sich im­mer nä­her und scho­ben da­bei die­se oder jene im Hin­ter­tref­fen Ste­hen­de mut­wil­lig in den Vor­der­grund. Plötz­lich stieß auf die­se Wei­se ein lan­ges, stär­ke­res Mäd­chen, das all­ge­mein der Holz­bock ge­nannt wur­de, eine zar­te Ge­stalt so ge­walt­sam her­vor und ge­gen den Herrn Jac­ques, dass sie er­rö­tend und auf­schrei­end die Hän­de wi­der sei­ne Brust stem­men muss­te, um nicht an die­sel­be hin­zu­fal­len, wäh­rend er über­rascht und er­schro­cken glei­cher­wei­se die Ärms­te von sich stieß, wie ein un­vor­her­ge­se­he­nes großes Übel.

Und doch war es sei­ne von ihm selbst er­wähl­te und fest­ge­setz­te ers­te Lie­be, sei­ne Ju­gend­flam­me, wel­che, ohne zu bren­nen, still auf al­len sei­nen Pfa­den leuch­te­te, ein schma­les Jung­fräu­lein mit sie­ben oder acht lang­ge­dreh­ten, auf den Rücken fal­len­den blon­den Lo­cken, an­ge­tan mit ei­nem blen­dend wei­ßen Klei­de und him­melblau­en Schu­hen mit kreuz­wei­se um die Knö­chel ge­wun­de­nen Bän­dern.

Die­se äu­ße­re Er­schei­nung war der Wil­le und das Werk der Mut­ter, wel­che die ver­meint­lich ver­scherz­te ei­ge­ne Be­deu­tung auf sol­che Wei­se an dem Kin­de nach­ho­len woll­te, ihm mit Sorg­falt alle Tage ei­gen­hän­dig die Lo­cken wi­ckel­te und es so her­um­lau­fen ließ, dass es sich von al­len an­de­ren Kin­dern un­ter­schied, ob­gleich es ein ganz ge­wöhn­li­ches We­sen war.

Eben­die­se Aus­zeich­nung aber hat­te den wäh­le­ri­schen jun­gen Schol­a­ren be­stimmt, bei Grün­dung der ers­ten Lie­be sein Auge auf das Mäd­chen zu wer­fen. Im üb­ri­gen be­gnüg­te er sich da­mit, das­sel­be von fer­ne an­zu­se­hen und die Wege zu wan­deln, auf de­nen es zur Kir­che oder Schu­le ging, in der Nähe aber im­mer das Ge­sicht ab­zu­wen­den, so­dass ihm die Ge­sichts­zü­ge der Ge­lieb­ten ei­gent­lich fast un­be­kannt wa­ren und er nur ein un­ge­fäh­res Bild im Kop­fe trug, an wel­chem die Lo­cken und das Kleid die Haupt­sa­che bil­de­ten. Auch war sein Ge­fühl noch kühl und schwach und mit kei­ner­lei Schla­gen des Her­zens ver­bun­den. Die­ses klopf­te ihm jetzt nicht ein­mal, als er die Ju­gend­ge­lieb­te so un­ver­hofft nahe sah und sie von sich sto­ßen muss­te, wo­bei er einen Au­gen­blick lang zum ers­ten Mal die Ge­sichts­zü­ge der Teu­ren deut­lich er­kann­te, und zwar nicht ohne ein ra­sches, kur­z­es Be­frem­den; denn die Züge ent­spra­chen gar nicht der Vor­stel­lung, die er da­von hat­te. Über­dies wa­ren sie et­was ent­stellt von Scham und Un­wil­len über den emp­fan­ge­nen Stoß und Ge­gen­stoß. Trotz die­ser schein­bar ge­fähr­li­chen Sach­la­ge kann jetzt schon er­zählt wer­den, dass Herr Jac­ques pe­dan­tisch ge­nug war, an sei­ner Ju­gend­nei­gung fest­zu­hal­ten, die­sel­be im­mer mehr aus­zu­bil­den und um das Mäd­chen spä­ter­hin zu wer­ben mit der Ruhe und Ge­mes­sen­heit ei­ner gu­ten Wand­uhr, ohne je den Schlaf zu ver­lie­ren oder, wenn er schlief, von der Sa­che zu träu­men.

Für jetzt aber nahm der Auf­tritt eine aber­ma­li­ge plötz­li­che Wen­dung; denn von dem na­hen Mei­er­ho­fe her, des­sen Päch­ter eine Wirt­schaft be­trieb, wur­den große Kör­be voll ei­nes gold­brau­nen, duf­ten­den Ge­bäckes ge­bracht, wel­ches nur hier ver­fer­tigt wur­de und den Na­men des Ho­fes trug. Die Halb­kin­der rausch­ten wie ein Flug Tau­ben auf und da­von und flo­gen, ohne zu­rück­zu­bli­cken, nach dem lo­cken­den Spei­se­platz, al­so­dass Jac­ques mit sei­nem Pa­ten un­ver­se­hens al­lein da­stand und jetzt mit ihm wei­ter­zie­hen muss­te. Und doch drang auch ihm der süße Duft der Ku­chen in die Nase; er hat­te zu­dem aus Blö­dig­keit nicht ge­nug ge­ges­sen bei den Vul­kans­die­nern und ver­spür­te star­ke Ess­lust. Da­her be­drück­te es wie eine große Un­bil­lig­keit sein Herz, dass es klopf­te, als er ver­geb­lich nach den glück­se­li­gen Kör­ben zu­rück­schau­te, wäh­rend der alte Herr ihn ent­führ­te. Un­mut und Be­küm­mer­nis wur­den jetzt so stark, dass sie ihm das Was­ser in die Au­gen trie­ben, die er ver­stoh­len ab­wisch­te. Der alte Herr be­merk­te es aber wohl und sah ihn kopf­schüt­telnd wie­der von der Sei­te an; er hielt je­doch da­für, dass nicht die Ku­chen, son­dern sei­ne ju­gend­li­chen Ori­gi­na­li­täts­sor­gen ihm noch zu schaf­fen mach­ten und das Herz be­dräng­ten, und führ­te den trau­ern­den Heran­wüchs­ling schwei­gend den stei­ler wer­den­den Pfad em­por, bis sie auf dem Vor­sprung des Ber­ges an­lang­ten, auf wel­chem noch die letz­ten Stein­trüm­mer der ehe­ma­li­gen Burg Ma­negg zu se­hen wa­ren.

Am Fuße des Ge­mäu­ers floss ein Brünn­lein mit fri­schem Berg­was­ser, ge­ziert mit ei­ner In­schrift zum An­den­ken des ehe­ma­li­gen Eig­ners der Burg, des Rit­ters und Freun­des der Min­ne­sin­ger, Herrn Rü­di­ger Ma­nes­se. Die bei­den Wan­de­rer er­quick­ten sich an dem küh­len Was­ser, und da über­dies von Bur­gen und Rit­tern die Rede war, so leb­te der Jüng­lings­kna­be wie­der auf und er­klomm mit dem Al­ten be­ru­hig­ter vollends die Burg­stät­te. Hier setz­ten sie sich auf eine Bank und be­trach­te­ten die rei­che Fern­sicht; über ih­nen rag­ten schlan­ke Föh­ren­bäu­me, wäh­rend hun­dert­jäh­ri­ge Stäm­me glei­cher Art aus der Tie­fe em­por­stie­gen und ihre schö­nen Kro­nen mit ge­wal­ti­gen, im Abend­lich­te röt­lich glü­hen­den Ar­men zu ih­ren Fü­ßen aus­brei­te­ten. Von Sü­den her leuch­te­te der wol­ken­lo­se Berg Glär­nisch über grü­ne Wald­tä­ler, und im Nord­os­ten über dem See la­ger­te die alte Stadt im Son­nenglanze.

»Also ein Ori­gi­nal möch­tet Ihr ger­ne sein, Meis­ter Jac­ques?« sag­te nun­mehr der Pate und strich sei­nem Schütz­lin­ge das Haar aus der er­hitz­ten Stir­ne. »Ei, das kommt nur dar­auf an, was für ei­nes! Ein gu­tes Ori­gi­nal ist nur, wer Nach­ah­mung ver­dient! Nach­ge­ahmt zu wer­den ist aber nur wür­dig, wer das, was er un­ter­nimmt, recht be­treibt und im­mer an sei­nem Orte et­was Tüch­ti­ges leis­tet, und wenn die­ses auch nichts Un­er­hör­tes und Er­zur­sprüng­li­ches ist! Je­nes ist aber im gan­zen so we­nig häu­fig oder recht be­trach­tet so sel­ten, dass, wer es kann und tut, im­mer den Ha­bi­tus ei­nes Selbst­stän­di­gen und Ori­gi­na­len ha­ben und sich im Ge­dächt­nis der Men­schen er­hal­ten wird, gan­ze Stäm­me so­wohl wie ein­zel­ne.

»Da ha­ben wir die­ses längst ver­schwun­de­ne Ge­schlecht der Ma­nes­se, die in ih­rer Blü­te­zeit al­les, was sie un­ter­nah­men, aus­führ­ten und, ohne sich durch selt­sa­me Ma­nie­ren be­merk­lich zu ma­chen, mus­ter­gül­tig ih­ren Platz aus­füll­ten, auch wenn es nicht der obers­te war. Hier sit­zen wir auf ei­nem ih­rer Burg­stäl­le, dort drü­ben in der Stadt kön­nen wir noch das hohe Dach ih­res Rit­ter­tur­mes er­bli­cken. Lass se­hen! Zwi­schen dem Frau­müns­ter und dem Groß­müns­ter muss er ste­hen! Da sind frei­lich noch an­de­re sol­che Spitz­dä­cher von ehe­ma­li­gen Ge­schlech­ter­tür­men. Zu äu­ßerst links der Glent­ner­turm, dicht über ihm der Wel­len­berg, mehr rechts der Grim­men­turm, gleich da­ne­ben, schein­bar, der Escher­turm, un­ten, hin­ter der Was­ser­kir­che, ragt der Turm der Her­ren von Hot­tin­gen; wo ist denn nun der große Er­ker, der ehe­ma­li­ge Turm der Ma­nes­sen? Halt, wenn du mit dem Fin­ger dort vom Wet­tin­ger­hau­se, das am Was­ser steht, über das Ge­wir­re der Dä­cher auf­wärts fährst, so tupfst du auf das so­ge­nann­te grü­ne Schloss, dann ziehst du nur eine ge­ra­de Li­nie nach links bis zu dem ra­gen­den di­cken Turm­kor­pus, dort haus­ten sie zu ei­ner Zeit und zu ei­nem Tei­le!«

Der Jun­ge folg­te mit Auf­merk­sam­keit und ei­ni­ger Mühe dem Fin­ger des Al­ten; denn in­ner­halb der Wäl­le und Tore der Stadt stand noch eine Zahl grau­er Tür­me der frü­he­ren Ring­mau­er und al­ter Tore, zwi­schen wel­chen jene ho­hen Rit­ter­be­da­chun­gen zu su­chen wa­ren.

»Jetzt«, fuhr der Alte fort, »hau­sen die Spin­nen und Fle­der­mäu­se auf den dunklen Estri­chen; der Metz­ger trock­net sei­ne Fel­le dort, oder es häm­mert ein ein­sa­mer Schus­ter im ho­hen Ge­mach! Aber einst war es lus­ti­ger; dort und hier, wo wir sit­zen, brach­te Rü­di­ger Ma­nes­se von Ma­negg ei­nes der schöns­ten Bü­cher der Welt zu­sam­men, die Lie­der der Min­ne­sän­ger, die so­ge­nann­te Ma­nes­si­sche Hand­schrift, die jetzt in Pa­ris liegt auf der Biblio­thek des Kö­nigs. Wenn du hin­kommst zu dei­ner Zeit, so musst du das alte Buch se­hen; es ist in ro­tes Le­der ge­bun­den, und der schnö­de Name Lud­wigs XV. ist ihm auf den Rücken ge­stem­pelt. Der Name des Samm­lers aber, un­se­res Rü­di­ger, ist in al­ler Welt ver­brei­tet, eben weil er die lie­be- und freu­den­vol­le und doch so be­schei­de­ne Un­ter­neh­mung be­harr­lich durch­ge­führt hat; sein Name lebt, ob­gleich ein Schul­fuchs neu­lich den Ton an­gab, ihm sein Ver­dienst strei­tig zu ma­chen, ein Ba­kel, wel­chem das Werk selbst doch nach fünf­hun­dert Jah­ren noch Quel­le und Werk­zeug sei­ner Ta­ges­ar­beit wur­de.

»Die Ent­ste­hung der Hand­schrift aber be­wirk­te, dass wie­der­um an­de­re Ori­gi­na­le sich zeig­ten und ent­wi­ckel­ten; das er­eig­ne­te sich al­les gar hei­ter und er­götz­lich und hat mich in jün­ge­ren Jah­ren ge­reizt, mir die Ge­schich­te et­was zu­sam­men­zu­den­ken und aus­zu­ma­len, al­so­dass ich die­sel­be fast so er­zäh­len kann, als ob ich sie auf­ge­schrie­ben hät­te, und ich will dir sie jetzt er­zäh­len. Es wird eine schö­ne Mond­nacht wer­den, und bis wir zu Hau­se sind, bin ich fer­tig. Es han­delt sich da­bei haupt­säch­lich um den Meis­ter Had­laub, der das Buch ge­schrie­ben, wie ich an­neh­me, die vie­len Bil­der dar­in zum Teil ge­malt hat und dar­über selbst zum Dich­ter ge­wor­den ist durch das Min­ne­we­sen und den Scherz, den die Her­ren mit ihm trei­ben woll­ten. Von an­stän­di­gen Min­ne­sa­chen aber darfst du al­len­falls schon et­was ver­neh­men.«

Hier schau­te der Alte den Herrn Jac­ques wie­der schalk­haft seit­wärts an und ge­dach­te, den höl­zer­nen und ein­bil­di­schen Ernst des­sel­ben ein we­nig zu ver­wir­ren. Er er­zähl­te ihm, in­dem sie die Heim­kehr nach der Stadt an­tra­ten, die nach­fol­gen­de Ge­schich­te von der Ent­ste­hung des Ma­nes­se­schen Ko­dex zu Pa­ris.

Hadlaub

Gleich un­ter­halb des aar­gaui­schen Städt­chens Kai­ser­stuhl ste­hen die bei­den Sch­lös­ser Schwarz- und Weiß-Was­ser­stelz, je­nes mit­ten im Rhein, das heißt nä­her dem lin­ken Ufer und jetzt noch von al­ler­lei Leu­ten be­wohnt, die es kau­fen mö­gen, die­ses zer­fal­len auf dem rech­ten Ufer. Zu den Zei­ten Ru­dolfs von Habs­burg aber sa­ßen zwei Schwes­tern auf den bei­den Bur­gen als Er­bin­nen ei­nes mä­ßi­gen Land­we­sens, das nach sei­ner Tei­lung kei­ner großes Gut üb­rigließ. Da­rum such­te die äl­te­re der­sel­ben, Mecht­hil­dis, wel­che auf Weiß-Was­ser­stelz haus­te und des­sen­un­ge­ach­tet eine fast ru­hi­ge, fins­te­re und ge­walt­tä­ti­ge Per­son war, un­abläs­sig ihre jün­ge­re Schwes­ter, Ku­ni­gun­de auf Schwarz-Was­ser­stelz, von ih­rem Erbe zu ver­drän­gen und mit al­len mög­li­chen Rän­ken in ein Klos­ter zu trei­ben. Denn die­se Ku­ni­gun­de war von schö­ner und lieb­li­cher Ge­stalt, von der wei­ßes­ten Haut­far­be und an­mu­tig-hei­te­ren We­sens und be­saß viel bes­se­re Aus­sich­ten für eine güns­ti­ge Hei­rat, als jene bös­ar­ti­ge.

Trotz­dem war sie den Be­wer­bun­gen nicht zu­gäng­lich und ver­wahr­te sich ge­gen sol­che bei­nah eben­so sorg­fäl­tig, wie ge­gen die Lis­ten und Über­fäl­le ih­rer Schwes­ter, wel­che die­se in Ver­bin­dung mit an­de­ren Übel­tä­tern ins Werk zu set­zen such­te. Die schö­ne Ku­ni­gun­de ver­schloss sich zu­letzt ganz in ihr fes­tes Was­ser­haus, das rings von den tie­fen grü­nen Wel­len des Rhei­nes um­flos­sen war. Am Ufer be­saß sie eine Müh­le, be­trie­ben von ei­nem treu­en wehr­ba­ren Dienst­mann, der Zu­fahrt und Ein­gang des Schlos­ses be­wach­te mit sei­nen be­stäub­ten Knech­ten. Im üb­ri­gen war rings­um Stil­le der Wäl­der, und man hör­te nichts als das Zie­hen des Flus­ses, bis ein­mal je­mand sag­te, er habe in der Nacht durch ein of­fe­nes Fens­ter des Schlos­ses ein klei­nes Kind schrei­en hö­ren, und ein an­de­res Mal ein an­de­rer, er habe es auch ge­hört, und zwar bei hel­lem Tage. Bald aber ging das Gerücht im Land, die Dame auf Schwarz-Was­ser­stelz wer­de von ei­nem ge­wal­ti­gen Man­ne be­sucht, der nie­mand an­ders sei als des Kai­sers Kanz­ler, Hein­rich von Klin­gen­berg, mit dem nicht gut Kir­schen es­sen wäre. Ihm sei die schö­ne Frau in Lie­be er­ge­ben, und als star­ker Ne­kro­mant wand­le er, wenn er in die Ge­gend kom­me, nächt­lich über das Rhein­was­ser tro­ckenen Fu­ßes, um sie un­ge­se­hen zu be­su­chen; er glei­te auf ei­ner wie Gold leuch­ten­den Strick­lei­ter oder, wie an­de­re mein­ten, von Dä­mo­nen ge­tra­gen an der Turm­mau­er em­por bis zum of­fe­nen Fens­ter der Dame; denn er hielt sich als­dann im na­hen Schloss Rö­teln oder im Städt­chen zu Kai­ser­stuhl auf, das er spä­ter als Bi­schof von Kon­stanz von ei­nem der letz­ten Re­gens­ber­ger auch käuf­lich er­warb.

Tat­sa­che war, dass nach etwa sie­ben oder acht Jah­ren die Frau von Schwarz-Was­ser­stelz ein gar an­mu­ti­ges Mäd­chen nach Zü­rich brin­gen ließ, dass sie bald dar­auf sel­ber, und zwar frei­wil­lig, als Klos­ter­frau in die Ab­tei Zü­rich ging und dass sie nach Ablauf ei­ner wei­te­ren Zeit durch den Ein­fluss eben des­sel­ben Bi­schofs Hein­rich zur Für­stäb­tis­sin ge­wählt wur­de.

Ob die­se Geist­lich­wer­dung aus Reue ge­sch­ah und um die Jah­re der Lei­den­schaft ab­zu­bü­ßen oder ob es sich für das vor­neh­me Lie­bes­paar dar­um han­del­te, als kir­chen­fürst­li­che Per­so­nen in frei­er Ge­sell­schaft­lich­keit sich öf­ter zu se­hen und ei­ner be­ru­hig­ten Zu­nei­gung froh zu wer­den, ist jetzt nicht mehr zu er­mit­teln; doch spricht da­ma­li­ge Sit­te und das wei­ter sich Be­ge­ben­de eher für den letz­te­ren Fall.

Denn es gab in un­se­rer Stadt Zü­rich eine man­nig­fa­che und an­sehn­li­che Ge­sell­schaft. Ne­ben den Präla­ten und ih­ren Amt­leu­ten wa­ren da an­ge­ses­se­ne, schon meh­re­re hun­dert Jah­re alte Ge­schlech­ter, die Nach­kom­men kö­nig­li­cher Ver­wal­ter mit selt­sam ab­ge­dreh­ten alt­deut­schen Na­men, die, meis­tens ein- oder zwei­sil­big, aus ehe­ma­li­gen Per­so­nen- oder Spitz­na­men zu rät­sel­haf­ten Fa­mi­li­enna­men ge­wor­den, man­cher ver­hal­len­de Na­t­ur­laut aus dem Rau­schen der Völ­ker­wan­de­rung dar­un­ter; klei­ne­re Edel­leu­te der um­lie­gen­den Land­schaf­ten mit den Na­men ih­rer Wohn­sit­ze zu Berg und Tal dräng­ten sich her­bei, und eine Rei­he wich­ti­ger Dy­nas­ten der ober­deut­schen Lan­de wa­ren in Zü­rich ver­bür­gert und gin­gen ab und zu. Un­ter al­lem dem wal­te­te eine nicht un­zier­li­che freie Ge­sel­lig­keit, und wie einst in sol­chen Klein­ge­bie­ten der ro­ma­ni­sche Bau­stil noch ge­pflegt wur­de, nach­dem er in den of­fe­nen Groß­län­dern längst dem Go­ti­schen ge­wi­chen, so er­freu­te man sich ei­nes ver­spä­te­ten Min­ne- und Lie­der­we­sens rit­ter­li­cher Art, nach­dem des­sen Blü­te­zeit schon vor­über war.

Jetzt müs­sen wir uns aber nach dem Kin­de Fi­des um­se­hen, wel­ches eben das na­tür­li­che Töch­ter­lein der Für­stäb­tis­sin war. Das tun wir am bes­ten, wenn wir auf der an­de­ren Sei­te der Stadt am Zü­rich­berg hin­auf­ge­hen, wo wir das Kind als­bald an­tref­fen wer­den, und zwar auf ei­nem Spa­zier­gang an der Hand des al­ten Meis­ter Kon­rad von Mure, des rühm­li­chen Vor­ste­hers der Sing­schu­le am Groß­müns­ter­stift. Der sehr be­tag­te Mann hat das leb­haf­te Mäd­chen, das durch den Ein­fluss des Kanz­lers im Hau­se des Herrn Rü­di­ger Ma­nes­se er­zo­gen wur­de, un­ter die Fit­ti­che sei­ner be­son­de­ren Freund­schaft ge­nom­men und, da er häu­fig in der na­hen Rit­ter­woh­nung ver­kehrt, aus wel­cher auch sein Vor­ste­her, der Pr­obst Hein­rich Ma­nes­se, stammt, sei­ne klei­ne Freun­din zu dem Gan­ge ab­ge­holt.

Je wei­ter es aber in die Höhe ging, de­sto we­ni­ger ver­moch­te er das ra­sche und et­was hef­ti­ge Kind an der Hand zu be­hal­ten we­gen über­hand­neh­men­der Schwä­che und Eng­brüs­tig­keit, wie der treff­li­che Mann denn auch da­zu­mal nicht man­ches Jahr mehr leb­te. Er ließ also das Mägd­lein lau­fen, wie es moch­te, und half sich an sei­nem Sta­be in den schat­ti­gen We­gen wei­ter, die zwi­schen den vie­len zer­streu­ten Bau­ern­hö­fen auf die Höhe des Ber­ges führ­ten.

Als er eine ge­nü­gen­de Um­sicht er­reicht, ruh­te er eine Wei­le auf ei­nem Stei­ne sit­zend aus und ließ mit Be­ha­gen sei­nen Blick über die wei­te Land­schaft ge­hen oder viel­mehr über die Ver­samm­lung von Land­schaf­ten, wel­che eben­so wi­der­spruchs­voll sich auf­rei­h­te, wie un­ser Zü­rich, sei­ne Leu­te und sei­ne Ge­schich­te über­haupt. Das Ge­birgs­land ge­gen Sü­den war ur­hel­ve­ti­schen Cha­rak­ters, in un­ru­hi­gem und un­ge­fü­gem Zick­zack, eine wil­de Welt, die nur durch das Blau der Som­mer­luft und den Glanz von Schnee und See ei­ni­ger­ma­ßen zu­sam­men­ge­hal­ten war. Wen­de­te der Kan­tor aber den Blick rechts, ge­gen Abend, so sah er in das ru­hi­ge Tal der Lim­mat hin­aus, durch wel­ches der Fluss, an we­ni­gen Punk­ten auf­leuch­tend, hin­zog und in den sanft ge­run­de­ten und ge­schmieg­ten Hö­hen­li­ni­en sich ver­lor. Von ei­nem mas­si­gen Nuß­baum und ein paar jun­gen Eschen ein­ge­fasst, glich das Tal, wenn es im Abend­gol­de schwamm, in sei­ner maß­vol­len Ein­fach­heit ei­nem Bil­de des Loth­rin­gers, der vier­hun­dert Jah­re spä­ter mal­te. Nach die­ser Rich­tung hin schau­te der alte Herr Kon­rad am liebs­ten, wenn er hier oben aus­ruh­te; denn der Frie­den die­ses An­blickes er­götz­te und be­ru­hig­te sein trotz der Jah­re im­mer er­reg­tes Ge­müt.

Als er sich nun zum Wei­ter­ge­hen wen­de­te und die Höhe vollends ge­wann, zeig­te sich auf dem Rücken des Ber­ges aber­mals ein neu­es Land­schafts­bild. Jen­seits wal­di­ger Grün­de und Hän­ge dehn­te sich ge­gen Nor­den und Os­ten fla­che­res Land, am wei­ten Ho­ri­zon­te von tief­blau­en schma­len Hö­hen­zü­gen be­grenzt. Im vor­ders­ten Pla­ne aber stan­den Grup­pen ho­her Eich­bäu­me, zwi­schen de­ren Kro­nen­dun­kel die wei­ßen Wol­ken glänz­ten. Die­se Ge­gend konn­te eben­so gut im Spess­art oder im Oden­wal­de lie­gen, wenn man das Auge nicht rück­wärts wand­te.

Da und dort zwi­schen den Bäu­men war die Hof­s­tät­te ei­nes der Berg­ge­nos­sen zu er­bli­cken, die bis hier hin­auf ihre Woh­nun­gen zer­streut hat­ten, mehr als ei­ner noch von den ur­sprüng­li­chen frei­en Män­nern der Berg­ge­mein­de ab­stam­mend und den Hof in al­ter Frei­heit fort­füh­rend. Un­be­zwei­felt war ein sol­cher der Bau­er Ruoff oder Ru­dolf am Ha­de­laub, des­sen Haus am Ran­de ei­nes die­sen Na­men tra­gen­den Laub­ge­höl­zes stand. Der Name deu­tet auf einen Streit, der einst in dem Holz oder um das Holz ge­sche­hen sein mag; er kommt aber un­ter den jet­zi­gen Flur­na­men nicht mehr vor, weil das gan­ze Grund­stück in ei­nem grö­ße­ren Be­sitz auf­ge­gan­gen und auch der Hof längst ver­schwun­den ist; in­des­sen heißt heu­ti­gen Ta­ges noch eine kaum fünf­hun­dert Schrit­te wei­ter nörd­lich ge­le­ge­ne Wald­par­zel­le das Streit­holz. Da­mals aber lag das Haus, aus grö­ße­ren und klei­ne­ren Bach- und Feld­stei­nen ge­baut und mit ei­nem nied­ri­gen Schin­del­da­che ver­se­hen, samt dem höl­zer­nen Vieh­stal­le dicht an ei­ner der Schluch­ten, in wel­chen der Wolf­bach her­nie­der­fließt.

Hier­her lenk­te aber jetzt Herr Kon­rad, das Mäd­chen an sich ru­fend, sei­nen Schritt und sprach bei dem Hof­be­sit­zer vor. Der lan­ge kno­chi­ge Mann war eben von ei­nem Gerüs­te auf­ge­stan­den, an wel­chem er in Mu­ße­stun­den lan­ge Speer­schäf­te her­zu­rich­ten pfleg­te. Das Holz hier­zu ga­ben ihm die schlan­ken Eschen, die reich­lich am Ba­che und auf den Hö­hen wuch­sen. Er prüf­te den Schaft, an dem er eben schnitz­te, nach sei­ner Län­ge und Grä­de, in­dem er ihn waa­ge­recht vor das Ge­sicht hielt und dar­über hin­blin­zel­te. Da­bei ent­deck­te er die An­kunft des Kir­chen­man­nes und leg­te lang­sam sei­nen Schaft auf den Hau­fen der be­reits glatt ge­schnit­te­nen Stan­gen, um je­nen zu be­grü­ßen.

»Ruoff, du ver­dienst den Na­men dei­nes Wohn­sit­zes!« rief der von Mure ihm ent­ge­gen, »wo in al­ler Welt ist denn schon wie­der Streit und Mann­schlacht, dass du dei­ne Spieß­ma­che­rei so eif­rig be­treibst!«

»Es geht im­mer et­was«, er­wi­der­te der an­de­re, »bald hie, bald da! Üb­ri­gens muss ich die Schäf­te ma­chen, wenn ich Zeit habe und das Holz tro­cken ist, so gib­t’s etwa einen Pfen­nig Geld! Seid will­kom­men, Herr Kon­rad, was bringt Ihr Gu­tes?«

»Du bleibst halt im­mer ein ge­werb­sa­mer Zü­ri­cher, ihr seid alle gleich und habt nie ge­nug, un­ten am Was­ser und hie oben auf dem Berg!«

»Ja, wir ha­ben’s wie die Wild­heu­er dort drü­ben am Hoch­ge­bir­ge, wir müs­sen trach­ten, da und dort ein her­ren­lo­ses Gras zu raf­fen; statt der ho­hen Fels­wän­de ha­ben wir die Kir­chen­mau­ern, drum her­um­zu­klet­tern! Hofft man ein be­quem ge­le­ge­nes Wies­lein oder Äcker­lein für sein hart er­spar­tes Geld zu er­wer­ben, so ist schon ein Got­tes­haus da, un­ten, oben, hin­ten, vorn am Ber­ge, das es nimmt, und man muss es sich noch zur Ehre an­rech­nen, wenn der be­schei­de­ne Mann als Zeu­ge zu­ge­las­sen wird!«

»Ruf dei­ne Wir­tin her­bei«, sag­te der Ma­gis­ter la­chend, »dass sie dem Kin­de hier et­was Milch gibt! Es ist er­hitzt und durs­tig. Oder eher wol­len wir einen Au­gen­blick ins Haus ge­hen, denn ihr Land­be­bau­er kennt ja nicht die hö­fi­sche Freu­de, im grü­nen Klee und un­ter Blu­men zu sit­zen, wenn ihr ta­felt!«

Der Mann vom Ha­de­laub schüt­tel­te die Spä­ne von sei­nem star­ken Le­der­schurz, in­dem er leicht die Stir­ne run­zel­te; er lieb­te nicht, sich ge­le­gent­lich, im Ge­gen­sat­ze zu den Her­ren­sit­ten, ge­wis­ser­ma­ßen als bäue­risch hin­ge­stellt zu se­hen. Schon sein sorg­fäl­tig ra­sier­tes Ge­sicht, das nur von ei­nem Kranz­bart ein­ge­rahmt war, und das halb­lan­ge Haupt­haar be­wie­sen, dass er als Frei­er sich zur gu­ten Ge­sell­schaft zähl­te und nicht mit ei­nem un­ge­scho­re­nen Hö­ri­gen oder Leib­ei­ge­nen ver­wech­selt wer­den woll­te. Denn die Sit­te hat­te in die­sem Stücke, wie noch in man­chem, sich ge­än­dert. Ge­scho­ren wa­ren jetzt die Her­ren und lang­haa­rig die Knech­te, und nur die Apos­tel und Kö­ni­ge dach­te man sich lang­bär­tig.

»Wenn es hö­fisch ist, im Frei­en zu spei­sen«, sag­te er, »so le­ben wir hier bei Hofe, da wir in Som­mer­ta­gen hin­ter dem Hau­se am Schat­ten es­sen. Dort mag auch Euer Mägd­lein die Milch trin­ken, Ihr selbst aber einen Schluck dau­er­haf­ten al­ten Mos­tes von Holz­bir­nen, den Ihr kennt.«

»Er ist küh­lend und nicht ohne Wür­ze«, er­wi­der­te der Kan­tor; »kommst du mit dei­nem Weib nächs­tens ein­mal zum Müns­ter, so wer­de ich euch da­für ein Be­cher­lein wel­schen Wei­nes vor­set­zen, den mir ein san­glie­ben­der Herr ge­bracht hat.«

Sie be­ga­ben sich dem­nach auf die Rück­sei­te des Ho­fes, wo in der Tat ein ur­al­ter Stein­tisch un­ter den Bäu­men stand, wel­che vom tie­fen Bach­to­bel her­auf­stie­gen und küh­len Schat­ten ver­brei­te­ten. Ne­ben­ein­an­der ge­leg­te und mit Kies und Ra­sen be­deck­te Baum­stäm­me bil­de­ten eine fahr­ba­re Brücke in den Wald hin­über. An ei­nem lau­fen­den Brun­nen wirt­schaf­te­te Ru­dolfs Ehe­weib, Frau Ri­chen­za. Sie war kaum zwei Zoll kür­zer als ihr Mann, so­dass man erst jetzt, als das Paar bei­ein­an­der stand, den ho­hen Wuchs der­sel­ben recht ge­wahr­te. Ihr Haar war an Stir­ne und Schlä­fen straff zu­rück­ge­stri­chen und hin­ten in einen star­ken Zopf ge­bun­den, wie es ar­bei­ten­de Frau­en nö­tig ha­ben. Auch das Kleid war et­was kür­zer, als es bei Leu­ten frei­en Stan­des da­mals zu sein pfleg­te, was ihr, mit ih­ren ra­schen Be­we­gun­gen ver­bun­den, ein rüs­ti­ges An­se­hen ver­lieh, das wie­der­um durch einen ge­wis­sen ale­man­ni­schen Lieb­reiz des hel­len Ge­sich­tes ge­mil­dert wur­de.

Ri­chen­za schüt­tel­te dem Geist­li­chen und dem Kin­de treu­her­zig die Hand und brach­te bald die Milch so­wohl als den gel­ben kla­ren Most her­bei, nebst kräf­ti­gem Rog­gen­brot, wäh­rend der Mann selbst eben­falls ins Haus ging und von den ge­räu­cher­ten Vor­rä­ten über dem Her­de, wor­über die Ver­fü­gung ihm vor­be­hal­ten war, lang­sam und be­däch­tig eine Wurst her­un­ter­schnitt. Denn ihm stand zu, zu er­mes­sen, wie auf dem Heer­zu­ge des Le­bens die köst­li­che­re Spei­se ab­zu­tei­len war, dass der Vor­rat lang­te und nie­mals Man­gel, Schuld­be­dräng­nis und Ver­pflich­tun­gen ein­tra­ten, die von al­len Sei­ten feind­lich lau­er­ten.

Nicht lan­ge saß nun die klei­ne Ge­sell­schaft an dem stei­ner­nen Ti­sche, als aus dem Wal­de drü­ben hel­ler Ge­sang ei­nes Kin­des schall­te und bald eine klei­ne Her­de von Kü­hen er­schi­en, wel­che von dem zehn­jäh­ri­gen Kna­ben des Bau­ern von der Wei­de heim und über die Brücke ge­lei­tet wur­de. Nur mit ei­nem lan­gen blau­en Lei­nen­ro­cke be­klei­det, bar­fuß, von rei­chem, blon­dem Gold­haar Ge­sicht und Schul­tern um­wallt, ein ho­hes Schilf­rohr in Hän­den tra­gend, gab das Kind mit den Tie­ren ein un­ge­wöhn­lich an­mu­ti­ges Bild, wel­ches zu­dem samt dem Wal­des­grün vom Lich­te der Abend­son­ne ge­streift war, so­weit sie durch die Be­lau­bung drin­gen moch­te. Mit Wohl­ge­fal­len folg­ten Kon­rads Au­gen der Er­schei­nung, bis der un­be­küm­mert wei­ter sin­gen­de und sich kaum um­se­hen­de Kna­be die Kühe in den Stall ge­bracht hat­te und nun zum Ti­sche kam, um sein Abend­brot zu emp­fan­gen. Er gab dem al­ten Herrn un­ge­hei­ßen die Hand; dann aber leg­te er er­staunt die Hän­de auf den Rücken und be­trach­te­te un­ver­wandt das Mägd­lein Fi­des, wel­ches eben sein Milch­be­cken am Mun­de hielt und dar­über hin­weg sei­ne Äug­lein ge­hen ließ. Ei­nen Au­gen­blick setz­te es ab und sag­te: »Du dum­mer Bub!« wor­auf es fer­tig trank und den Mund wisch­te.

Er schlug be­schämt die Au­gen nie­der und wen­de­te sich seit­wärts mit zu­cken­dem Mun­de; denn eine so un­höf­li­che An­re­de war ihm in sei­nem kur­z­en Le­ben noch nie zu­teil ge­wor­den. Als nun aber Frau Ri­chen­za den Kna­ben an sich zog und be­schwich­tig­te und der Kan­tor dem Mäd­chen sei­ne Un­art ver­wies, fing die­ses sei­ner­seits an zu wei­nen, so­dass die Frau auch hier ein­schrei­ten und be­sänf­ti­gen muss­te.

»Sieh, Jo­han­nes«, sag­te sie zum Kna­ben, »das Schäp­pe­lein des Däm­chens ist fast ver­welkt, geh mit ihm an den Bach hin­un­ter, wo die vie­len Blau­blü­mel ste­hen, und ho­let zu­sam­men zu ei­nem fri­schen Kran­ze, aber kommt bald wie­der, eh’ es zu kühl wird!«

Das Blu­men­kränz­chen, wo­mit das flie­gen­de Haar des Her­ren­kin­des ge­ziert war, be­fand sich wirk­lich nicht mehr in bes­tem Zu­stan­de, und es wur­de das Vor­neh­men auch von dem Kan­tor ge­bil­ligt. Die Kin­der gin­gen also, leid­lich ver­söhnt, den schma­len Pfad hin­un­ter, wo der Wolf­bach heu­te noch sich durch Stein­blö­cke von al­len Far­ben, un­ter­wa­sche­ne Baum­wur­zeln und an­de­re Ge­heim­nis­se drängt, klei­ne Was­ser­fäl­le und hun­dert klei­ne Thea­ter von Merk­wür­dig­kei­ten bil­det. Sie ge­lang­ten auch bald an eine Stel­le, wo das Bord län­ger von der Son­ne be­schie­nen und da­her fast im­mer mit blü­hen­den Pflan­zen be­deckt war. Be­son­ders von Ver­giss­mein­nicht er­schi­en al­les blau, aber auch wei­ße Stern­chen und rote Glöck­chen gab’s dar­un­ter, in je­nem blu­men­lie­ben­den Zeit­al­ter eine Au­gen­freu­de nicht nur für Kin­der.

Die klei­ne Fi­des mach­te sich auch gleich dar­über her und band mit Be­hän­dig­keit einen Kranz, zu wel­chem Jo­han­nes ihr kaum ge­nug Blu­men rei­chen konn­te, je nach Aus­wahl und Be­fehl. Ring und Fa­den hier­zu nahm sie vom al­ten Kranz und ließ die Über­res­te des­sel­ben den Bach hin­ab­schwim­men. Nach­dem sie die neue Zier­de auf­ge­setzt, sah sie sich im wei­te­ren um und fing an, auf den Stei­nen her­um­zu­sprin­gen, wel­che aus dem rin­nen­den Was­ser her­vor­rag­ten, bis sie auf einen kam, wo sie nicht mehr fort konn­te, ohne durch das Was­ser zu ge­hen. Das war aber we­gen der fei­nen Schu­he und des Klei­des un­tun­lich; nach kur­z­em Be­sin­nen be­fahl sie dem Kna­ben, der ihr nach­ge­sprun­gen war und rat­los bei ihr auf dem Stei­ne stand, sie ans Ufer zu tra­gen. Er glitt auch so­fort ins Was­ser und trug das an­ge­hen­de Frau­en­we­sen auf dem Arme und mit schwe­rer Mühe über die ecki­gen und run­den Bach­stei­ne, in­des­sen sie sich an sei­nem Hal­se hielt, aufs Tro­cke­ne.

In­zwi­schen rück­te Meis­ter Kon­rad von Mure dem Zie­le sei­nes heu­ti­gen Aus­gan­ges nä­her. Er hat­te, seit län­ge­rer Zeit mit den Leu­ten am Had­laub in gu­ter Freund­schaft le­bend, die zar­te, aber auch auf­ge­weck­te und ge­leh­ri­ge Be­schaf­fen­heit des Kna­ben Jo­han­nes be­merkt und wünsch­te den­sel­ben zu sich zu neh­men, um ihn zu­nächst zu ei­nem Schrei­ber­lein und Schü­ler her­an­zu­bil­den, des­sen er zu al­ler­lei Aus­hil­fe er­man­gel­te, dann aber auch ei­nem bes­se­ren Le­bens­lo­se ent­ge­gen­zu­füh­ren, als er ihm auf die­ser Berg­hö­he be­schie­den wähn­te. Er be­gann da­her von dem Sin­gen des Kna­ben zu spre­chen, wie er al­ler­hand Sing­spiel in Wor­ten und Wei­sen rich­tig auf­ge­fasst und, wenn auch nur stück­wei­se, in­ne­ha­be, ohne dass man wis­se, wie es zu­ge­he. Dann brach­te er all­mäh­lich sein An­lie­gen vor, fand aber kei­ne Zu­stim­mung beim Va­ter. Der un­ter­brach ihn, als er im bes­ten Zuge war, und sag­te: »Lie­ber Herr! Wir wol­len hier­in nicht wei­ter­ge­hen! Statt ei­nes ehr­li­chen Chris­ten­na­mens, wie sie auf die­sem Ber­ge und rings im Lan­de alt­her­kömm­lich sind, Heinz, Kunz, Götz, Siz, Frick, Gyr, Ruoff, Ruegg, hat man dem Bu­ben einen von den neu­mo­di­schen Pfaf­fen­na­men ver­schafft, Jo­han­nes, ohne dass ich weiß, wie es ei­gent­lich ge­kom­men ist. Aber wei­ter soll es nun mit dem Pfaff­wer­den nicht ge­hen. Es ist mein ein­zi­ges Kind. Seit un­vor­denk­li­cher Zeit ha­ben sich mei­ne Vä­ter auf der hie­si­gen Hof­statt ge­hal­ten; ich will mir nicht vor­stel­len, dass das durch mei­ne Schuld an­ders wer­den soll und kei­ner der Mei­ni­gen mehr sei­nen Pflug hier füh­re, sein Vieh hier wei­de und von hier aus mit Schild und Speer zum Heer­bann nie­der­stei­ge.«

»Ei, was die ehr­li­chen Chris­ten­na­men be­trifft«, ant­wor­te­te ihm der Alte lä­chelnd, »so seid Ihr nicht gut be­rich­tet! Ihr habt als sol­che lau­ter wil­de alte Hei­den­na­men ge­nannt, Eu­ren und mei­nen nicht aus­ge­schlos­sen. Wisst Ihr, wie Euer Name Ru­dolf sich ehe­mals ge­schrie­ben hat? Hruod­wolf, lu­pus glo­rio­sus, ein be­rühm­ter Wolf, ein Haupt­wolf, ein Wolf der Wöl­fe! Schö­nes Chris­ten­tum! Wie hei­lig klingt da­ge­gen das bib­li­sche Jo­han­nes, sei es nun der Täu­fer, oder der Lieb­lings­jün­ger des Hei­lands, oder der Evan­ge­list!«

So­eben ka­men nun die bei­den Kin­der an, und der Kan­tor zog gleich den Kna­ben her­bei, er­griff des­sen Hän­de und rief: »Seht, Ka­pi­tan al­ler Wöl­fe, sind die­se schma­len Händ­chen die­je­ni­gen ei­nes Pflug­füh­rers und Speer­trä­gers? Oder nicht viel­mehr die­je­ni­gen ei­nes Pfaf­fen oder Ma­gis­ters? Ei­nes sanf­ten ge­lehr­ten Jo­han­nes? Merkt Ihr denn nicht die Weis­heit der gu­ten Mut­ter Na­tur, die aus so rei­si­gem Volk von Zeit zu Zeit sel­ber ein zar­te­res Pflänz­lein schafft, aus dem ein Leh­rer oder Pries­ter wer­den mag, wo Ihr sonst bei al­ler Stär­ke in Un­wis­sen­heit und Sün­de ver­der­ben müss­tet? Üb­ri­gens ist gar nicht ge­sagt, dass er durch­aus geist­lich wer­den soll; ich bin zu­frie­den, wenn er nur vor­erst et­was lernt und die Zeit nicht ver­lo­ren­geht!«

»Willst du in die Schu­le ge­hen zu den Her­ren am Müns­ter?« sag­te nun die Mut­ter zu dem Kna­ben, wel­cher ver­wun­dert alle der Rei­he nach an­sah.

»Willst du schö­ne Bü­cher schrei­ben und ma­len ler­nen mit Gold und bun­ten Far­ben, Lie­der sin­gen und die Fie­del spie­len«, sag­te der Sing­meis­ter, »schö­ne Mai­lie­der, klu­ge Sprü­che und das Mi­chaels­lied: O he­ros in­vin­ci­bi­lis dux – oder wie hast du heut ge­sun­gen?«

»O Herr, o Vi­zi­bi­li­dux! heißt es«, rief Jo­han­nes eif­­­­­