Torsten Fink

DER PRINZ

DER SCHATTEN

Roman

Originalausgabe

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Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © 2012 by Torsten Fink
Umschlaggestaltung: HildenDesign München
Lektorat: Simone Heller
Karte: © Jürgen Speh
HK · Herstellung: sam
ISBN: 978-3-641-07365-7
V002
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Apei Ludgar hatte seinen Hut vergessen. Er stand auf der Mitte der Herzogsbrücke, blickte mit verkniffener Miene in den Regen, der schon während der halben Nacht über der Stadt niederging, und Wasser rann ihm kalt aus den Haaren in den Kragen. Die Huren … er hatte den Hut im Hurenhaus vergessen, weil der Regen, gerade als er das Rote Haus so beschwingt verlassen hatte, einen Moment lang ausgesetzt hatte. Der Vollmond war sogar für eine Weile hinter den Wolken hervorgekommen und hatte die Stadt in bleiches Licht getaucht. Aber dann hatten sich die Wolken wieder geschlossen, und jetzt stand Apei sich in Regen und tiefer Finsternis die Beine in den Bauch und wartete. Vielleicht sollte er zurückgehen, wenn das Geschäft erledigt war, nicht nur wegen des Hutes. Aber die Frage war, ob im Roten Haus dann noch jemand wach sein würde. Andererseits – seine Frau würde nach dem Hut fragen. Sie fragte ihn schon gar nicht mehr, wo er die Abende verbrachte, vermutlich, weil es ihr gleich war, aber nach dem Hut, nach dem würde sie fragen.

Apei Ludgar spuckte missmutig in den Bach, der, angeschwollen vom tagelangen Herbstregen, unter der Steinbrücke hindurchtoste. Wenn das Geschäft heute zum Abschluss kam, konnte er sich jede Menge neue und bessere Hüte kaufen. Natürlich würde er die Stadt verlassen müssen, denn man würde bald viele Fragen stellen. Er würde im Süden ein neues Leben anfangen, auf Inseln ohne Regen, und ohne seine Frau – ein Gedanke, der ihm gefiel. Er ging ein paar Schritte auf und ab. Warum nur hatten sie als Treffpunkt die Mitte der Brücke vereinbart? Hier gab es nichts, wo man sich hätte unterstellen können, außerdem schützte nur die Nacht vor neugierigen Blicken. Auf der Neustadtseite der Brücke gab es einen Verschlag. Für gewöhnlich saß dort eine Wache, aber in dieser Nacht nicht, dafür hatte er selbst gesorgt. Apei Ludgar zog es zum wiederholten Male in Erwägung, hinüberzugehen und in diesem Unterstand zu warten, aber er hatte einfach zu viel Angst, seine Verabredung zu verpassen. Er hatte seinen Teil erfüllt, und nun wollte er der Gegenseite unter keinen Umständen einen Vorwand liefern, ihn nicht zu bezahlen. Er nieste. Wasser war durch die Nähte seiner alten Stiefel eingedrungen, und jetzt hatte er nasse Füße. Das Gehalt eines Verwalters in einer so armen Stadt wie Atgath war bescheiden. Neue Stiefel würde er sich ebenfalls machen lassen, wenn er endlich, endlich bekommen hatte, was er sich so mühsam verdient hatte.

Er drehte sich um und zuckte erschrocken zurück. Wie aus dem Boden gewachsen stand eine große, dunkle Gestalt vor ihm, keinen Meter entfernt: ein Mann, ein wahrer Hüne. Apeis Herz setzte einen Schlag aus, und dann pochte es schnell und furchtsam. Der andere überragte ihn um mehr als einen Kopf, und der Regen schlug Apei ins Gesicht, als er zu ihm aufblickte. Er kniff die Augen zusammen, aber er konnte nicht mehr sehen als einen dunklen Umriss in der Nacht.

»Wer …? Ich meine, Ihr seid nicht … Wo ist Ensgar, der Einäugige?«, stotterte Apei.

»Habt Ihr getan, was vereinbart war, Apei Ludgar?«, fragte der Fremde.

»Natürlich, natürlich«, beeilte sich Apei zu versichern. Er wagte nicht noch einmal zu fragen, wo der andere war, der, der ihm sonst immer die geheimnisvollen Befehle überbracht hatte. Der finstere Einäugige erschien ihm jetzt bedeutend harmloser als dieser Hüne. »Seht Ihr hier eine Wache, Herr? Nein, denn ich habe dafür gesorgt, dass sie andernorts ihren Dienst verrichtet.«

»Und in der Burg?«

»Ebenso, Herr, ebenso. Die Mauern sind nicht besetzt, nur die Tore, und mehr könnt Ihr nicht verlangen, Herr, denn wenn niemand an den Toren wäre, das würde doch auffallen.«

»Wir haben auch nicht mehr verlangt.«

»Natürlich nicht, Herr. Ich wollte nur sagen, dass ich mich an unsere Abmachung gehalten habe, Herr, mehr nicht, mehr nicht«, sagte Apei und bemerkte, dass er plapperte. Er versuchte seine Furcht zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht.

»Das war klug von Euch, Verwalter.«

Apei Ludgar fand, dass dieses Lob nicht so beruhigend klang, wie er es erwartet hätte. Er wünschte, die Wolken würden aufreißen, den Mond hindurchscheinen lassen und ihm endlich einen Blick in das Gesicht seines Gegenübers erlauben. »Ich habe eine Menge auf mich genommen, Herr«, stieß er hervor.

»Ihr seid gut bezahlt worden«, kam es kalt zurück.

»Und doch habe ich nichts von dem schönen Silber, wenn man mich in den Kerker wirft, Herr.«

»Das wird nicht geschehen«, sagte die dunkle Stimme gelassen, und Apei fand, dass auch das nicht beruhigend klang.

»Genau, denn ich werde die Stadt verlassen. Sobald Ihr mir gebt, was wir vereinbart hatten, Herr. Schon morgen Nacht, nein, gleich in der Früh bin ich fort. Gebt mir einfach, was mir zusteht. Und nie wird jemand erfahren, was ich für Euch getan habe.«

»Da bin ich sicher«, sagte der Hüne. Er bewegte sich schnell, eine kurze, elegante Geste, beinahe wie eine Verbeugung. Apei spürte einen Schlag gegen die Brust. Dann hörte er ein ersticktes Keuchen und wunderte sich, weil es so fremd klang, obwohl es doch aus seinem eigenen Mund kam. Er spürte, dass es unter seinem durchnässten Wams plötzlich ganz warm wurde. Sein Herz schien nicht mehr zu schlagen. Das war seltsam. Er fasste sich an die Brust, um sich zu vergewissern, und verstand dann endlich, dass es sein Blut war, das dort heiß aus einer tiefen Wunde strömte. Seine Beine wurden schwach, aber er fiel nicht, ganz im Gegenteil, er fühlte sich plötzlich angenehm leicht. Dann begriff er, dass der Hüne ihn hochgehoben hatte. Das Letzte, was er sah, war das weiß schäumende Wasser des Gebirgsbaches, in den sein Mörder ihn warf.

ERSTER TAG

Morgengrauen

Der Schatten kam von Süden. Er schlich über die Straße den Hügel hinauf nach Atgath. Der Wind hatte gedreht, hatte die Wolken auseinandergetrieben und den Regen versiegen lassen. Die Sichel des Mondes kämpfte sich an der einen oder anderen Stelle durch die Wolkendecke und ließ die nassen Dächer von Atgath in unstetem Licht schimmern. Die Stadt lag auf einer Anhöhe über dem schmalen Tal, und dahinter ragten die Berge in die Wolken hinein. Sie war bewacht, schon von weitem konnte der Schatten Fackeln sehen, unruhige Lichtpunkte, jedoch nur in den hohen Türmen, die die steinernen Mauern krönten. Vor der Stadt saßen ein paar Männer an Feuern, die zwischen einigen Zelten und großen, gefällten Baumstämmen brannten. Sie unterhielten sich halblaut und arglos, als der Schatten an ihnen vorüberglitt und lautlos die Mauer erklomm. Der Schatten überwand die Zinnen, keine zehn Schritte von einer ahnungslosen Wache entfernt, die frierend aus einem Turm in die Nacht schaute, überquerte den Wehrgang und verschwand mit einem Sprung in der Dunkelheit. Nur ein dumpfer Laut verriet, dass er sicher auf einem Hausdach gelandet war.

Die Straßen lagen verlassen, und zum kalten Wind, der um die Hausecken strich, gesellte sich der Klang des Wassers, das aus übervollen Regenrinnen auf das Pflaster tropfte. Der Schatten ließ sich vom Dach fallen, zögerte kurz, als sei er sich über den Weg nicht sicher, und folgte der Straße dann ins Innere der Stadt. Er bewegte sich vorsichtig, doch schnell, unter Wolken, deren Säume schon eine erste Andeutung des Morgengrauens zeigten. Einmal überquerte er eine Straßenkreuzung, gerade als das Mondlicht darauf fiel, und für einen Augenblick wurde erkennbar, dass es sich bei dem Schatten um einen schlanken, dunkel gekleideten Mann handelte. Aber niemand war auf den Straßen, bis der Dunkle schließlich zum Marktplatz, dem Herzen der Stadt, gelangte. Auch dort brannten Wachfeuer und beleuchteten ein dichtes Gewirr von Bretterbuden und Zelten, kleinen Bühnen und Verkaufsständen. Der Schatten hielt inne. Ein anderes Geräusch kam aus der Dunkelheit, langsamer Hufschlag, begleitet vom misstönenden Knarren großer Räder. Der Schatten verschmolz mit der Wand. Kurz darauf tauchte ein Pferd auf, das in gemächlichem Schritt einen führerlosen Kohlenkarren hinter sich herzog. Der Gaul schnaubte, als er den im Dunkel verborgenen Mann passierte, blieb aber nicht stehen.

Der Schatten sah dem seltsamen Gespann eine Weile hinterher, dann verschwand er in einer schmalen Seitengasse, blieb einige Zeit unsichtbar und tauchte kurz als Umriss auf dem Dach eines stattlichen Hauses auf. Er legte sich auf die nassen Ziegel und spähte über den Markt. Dort waren Männer, Wachen, die sich mit einem Mann unterhielten, der einen Besen geschultert hatte. Die Morgendämmerung konnte nicht mehr fern sein, und von irgendwoher aus der Nähe mischte sich der Duft von frischem Brot in die kalte Herbstluft. Von der Burg, die die Stadt als abweisend schwarzer Umriss weit überragte, blinkten vereinzelte Lichtpunkte hinüber. Ein Meer von Dächern lag zu ihren Füßen.

Der Schatten nickte, als habe er nun gefunden, was er suchte, und schlich davon. Er überquerte das Dach, sprang leichtfüßig über eine schmale Gasse hinweg auf das nächste, und nicht mehr als ein leises Knirschen der Schindeln kündete von seiner sanften Landung. Er bewegte sich schnell und zielstrebig über das Gewirr von Häusern, die, eingeengt durch die Stadtmauern, dicht zusammen- und bis an die alte Burg herangewachsen waren, die die Stadt überragte. Ihre schwarzen Mauern lagen in der Dunkelheit, und nur in zweien der Türme und vor dem Tor deutete unruhiger Fackelschein auf die Anwesenheit eines Wachpostens hin. Der Schatten schlug einen Weg ein, der ihn fast auf die Rückseite der Burg führte, dorthin, wo sich die wohl schmalsten Häuser der Stadt noch zwischen Mauer und Festung gequetscht hatten, dorthin, wo dieser Wall gemeinsam mit dem Gebirgsbach die Verteidigung der Stadt bildete. Der junge Mann richtete sich auf, griff unter seinen Umhang und wickelte ein langes Seil von der Schulter. Mit einem kaum hörbaren metallischen Klicken entfaltete er die drei Arme eines Wurfankers, nahm ihn zur Hand, betrachtete ihn und murmelte eine leise Beschwörungsformel. Ein Schatten löste sich von seiner Hand, kroch über das Seil und legte sich schließlich über den Anker.

Der Dunkle nickte zufrieden, schätzte die Entfernung ab, schwang das Seil und ließ den Anker fliegen. Der Wurfanker verschwand in der Finsternis, und nur ein gedämpftes Klopfen verriet, dass er zu kurz ging. Der Schwarzgekleidete fluchte leise und rollte das Seil wieder auf. Er versuchte sein Glück erneut, und diesmal fand er sein Ziel. Er zog am Seil, und es straffte sich. Noch einmal spähte er die menschenleeren Straßen entlang, dann sprang er am Seil hinüber zur Mauer und kletterte schnell hinauf. Oben hielt er kurz inne und sah sich um, aber es war keine Wache zu sehen. Er rollte das Seil wieder auf, klappte den Wurfanker zusammen und verstaute ihn wieder in dem breiten Gürtel, den er unter dem Umhang trug. Ein kurzer Schauer ging nieder, und der Mond verschwand abermals hinter schnell ziehenden Wolken, aber der Mann schien seinen Weg auch im Dunkeln zu kennen. Er lief über den Wehrgang, bis dieser an der Mauer eines vielstöckigen Gebäudes endete. Dann kletterte er über die groben Steinquader der Hausecke hinauf bis zum Dach. Es gab keine Regenrinne, und er brauchte eine Weile, bis er einen Punkt fand, der ihm sicher genug schien, um sich daran hinaufzuziehen. Er duckte sich und sah sich vorsichtig um. Am anderen Ende des Daches entdeckte er das, was einst der höchste Turm, der Bergfried, gewesen war. Doch die Platznot in der Burg hatte die Häuser immer weiter in die Höhe wachsen und näher rücken lassen, so dass er inzwischen nur noch wie ein leicht erhöhter Dachgarten herausragte. Es war keine Wache zu sehen. Der Fremde spähte dennoch lange hinüber, weil er etwas Ungewöhnliches entdeckt hatte. Er wartete, bis der Mond wieder hervorkam und enthüllte, dass es sich bei den plumpen Schatten nicht etwa doch um Wachen, sondern um große Tontöpfe handelte, wie sie manchmal für Zierpflanzen verwendet wurden, nur dass sie keine Pflanzen enthielten. Das ließ ihn zögern. Schließlich tastete er sich aber doch vorsichtig über die moosbewachsenen Schindeln voran. Die alten Schieferziegel knirschten unter seinen Schritten. Der Fremde zögerte wieder, murmelte einige leise Worte, und ein schützender Schatten umhüllte seine Gestalt. Erst dann setzte er seinen Weg fort.

Rund um den Bergfried wurde das Moos plötzlich weniger, und der Schatten hielt inne. Er war nur noch drei Schritte von den Zinnen des alten Turms entfernt, und immer noch blieb alles still. Dann trat er auf den Draht. Eine Explosion zerriss die Dunkelheit mit einem dumpfen Knall und einem violetten Blitz. Dem Fremden blieb nicht einmal Zeit, sich zu ducken. Die Druckwelle traf ihn und schleuderte ihn über das Dach und auf den Abgrund zu. Er rollte über die Schindeln, suchte verzweifelt nach Halt und stürzte dann über die Traufe. Irgendwie schaffte er es noch, sich am äußersten Rand einer Schieferschindel festzukrallen. Er keuchte eine Beschwörungsformel hervor. Der Schiefer war alt: Er brach unter dem Gewicht, und der Fremde stürzte viele Klafter tief hinab in die Dunkelheit und in den wild schäumenden Gebirgsbach, der unterhalb der Burg entlangtoste.