Über Douglas Coupland

Douglas Coupland wurde 1961 auf einem NATO-Stützpunkt in Deutschland geboren, lebt heute in Vancouver, Kanada. In den späten Achtzigern begann er für lokale Magazine zu schreiben, woraus 1991 sein Roman »Generation X« hervorging, der ihn schlagartig berühmt machte und zum Sprachrohr einer Generation werden ließ. Seitdem hat er 14 Romane und zahlreiche Essaybände veröffentlicht und gilt als Vordenker des Digitalzeitalters.

Clara Drechsler, geboren 1961, und Harald Hellmann, geboren 1958, übersetzen gemeinsam aus dem Englischen, u. a. Werke von Bret Easton Ellis, Irvine Welsh, Miranda July, Patti Smith, Tillett Wright, Charlie Human, Kate Tempest.

Informationen zum Buch

»Wenn sich die Menschen in der Zukunft fragen, wie es war, zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu leben, dann sollten sie Douglas Coupland lesen.« Yann Martel

Der Begriff Bit Rot bezeichnet einen Vorgang aus dem Feld der digitalen Archivierung: Dateien können sich plötzlich und schnell auflösen. Douglas Coupland – seit Jahrzehnte einer der großen Analytiker unserer digitalen Ära – hat in den letzten Jahren die Erkenntnis gewonnen, dass Bit Rot auch sehr exakt beschreibt » wie sich mein Gehirn seit dem Jahr 2000 angefühlt hat, während ich ältere und schwächere Neuronen und Synapsenverbindungen abbaute und verbesserte, unerwartete neu erschuf.«

In seinem Buch mixt Coupland, wie das Internet selbst, verschiedene Textgattungen und stellt sie gleichberechtigt nebeneinander. Auf diese Weise gelingt ihm eine Kritik unserer Vorstellung von einer konsistenten Zukunft und dadurch eine Analyse unserer Gegenwart, die ihresgleichen sucht. Ein Must-Read für die Hypermoderne.

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Douglas Coupland

Bit Rot

Berichte aus der sich auflösenden Welt

Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann

Inhaltsübersicht

Über Douglas Coupland

Informationen zum Buch

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Einleitung

Das kurze Leben und brutale Ende des Nachrichtenteams vom dritten Programm

Neun Leser

Stärke neun Komma null

Glänzend

Über Beziehungen im 21. Jahrhundert

Furcht vor Fenstern

Creep

Future Blip

Bulk Memory

Die Antigeister

Das kleine schwarze Gespenst

Drogen

Fleischklops

Funfaktor Globalisierung

Unklasse

Politfrk

Ertrag: Eine Geschichte über Maisfelder

Die 2½. Dimension

Leben XXL

Das Ende des Goldenen Zeitalters der Münztelefone

Verpasste Chancen

666!

Die Pässe, bitte!

George Washington: Extreme Makeover

Mehr vom Leben

IF-IW eerF

Sachen

Superman und die Kryptonit-Martinis

McWage

Zoë erfährt die Wahrheit

IQ

Mein Fernseher

Der Prediger und seine heimliche Fickschlampe

3,1415926535

Die große Bargeldbereinigung

World War $

Der Mann, der seine Geschichte verlor

Das Valley

3 ½ Finger

Bit Rot

Bartholomew erlebt das Morgengrauen der Sprache

Temp

361

Mein Name

Vietnam

Mrs. McCarthy und Mrs. Brown

Eine App namens Yoo

Impressum

Einleitung

Als die Pioniere Nordamerika in ihren Prärieschonern von Ost nach West durchquerten, ging als Erstes das Klavier über Bord, irgendwo in Ohio. Etwas später folgten dann die Bücher … und in Wyoming der gesamte Rest. Als die Pioniere das Gelobte Land erreichten, hatten sie kaum mehr als die Kleidung, die sie am Leib trugen. Vielleicht vermissten sie ihre Klaviere, aber die Euphorie darüber, endlich in der Neuen Welt zu sein, wog den Verlust mehr als auf.

In diesem Buch befinden sich kürzere Texte, die sich in fünf Kategorien aufteilen lassen und alle nach 2005 entstanden, jeder davon aus irgendeinem Anlass, der mir damals zufällig und einmalig erschienen war – aber in der Zusammenschau erkenne ich darin plötzlich all die Dinge, die ich im letzten Jahrzehnt nach und nach aus meinem Wagen geschmissen habe. Wenn man in der Satellitenansicht von Google Maps auf diesen abgeworfenen Ballast hinunterschauen würde, könnte man daran genau den Weg meines Gehirns vom zwanzigsten ins einundzwanzigste Jahrhundert verfolgen. Ich vermisse einige der Klaviere, die ich vom Planwagen geschubst habe, aber hätte ich es nicht getan, wäre ich jetzt irgendwo dort hinten gestrandet, eine unerträgliche Vorstellung.

Ich habe dieser Sammlung den Titel Bit Rot gegeben – ein Begriff aus der digitalen Archivierung, der die spontane Zersetzung jeder Art von digitalem Datenmaterial bezeichnet. Außerdem beschreibt er sehr treffend, wie sich mein Gehirn angefühlt hat, seit ich ab dem Jahr 2000 obsolete, schwächelnde Neuronen und Synapsenverbindungen abbaute und verbesserte, unerwartete Neue bildete.

Viele der Kurzgeschichten in diesem Band stammen aus meinem Roman Generation A von 2007, und damals machte ich mir tatsächlich selbst Angst beim Schreiben. Sie sind das direkte Ergebnis von zwei Jahren intensiver Beschäftigung mit den Schriften Marshall McLuhans, die sich damit befassen, wie Sprache, Lese- und Schreibfähigkeit und Zahlenverständnis die Technologien prägen, die wir erfinden, und wie diese Technologien dann wiederum auf die Sprache zurückwirken. Im Roman sind die hier abgedruckten Geschichten in die Gesamterzählung eingebettet und haben dort durchaus ihren Sinn, aber herausgelöst (und minimal getweakt) und für sich genommen haben sie eine viel stärkere Wirkung, und ich wünschte, ich hätte sie vom Roman getrennt gehalten. Diese Geschichten geben das Gefühl wieder, in einem fremden Land deinen Pass, deine Kreditkarten und dein ganzes Geld zu verlieren – und das einzige, was dir bleibt, ist der Internetzugang in einem kleinen Café, das selten öffnet und eine sehr lahme Verbindung hat. Der Lokalbevölkerung bist du egal, und sie reden, als entstammten sie Finnegans Wake, und dazu kommt das Wissen, dass dein Zuhause, sofern du es jemals wiedersiehst, ganz, ganz anders sein wird als das Zuhause, von dem du aufgebrochen bist. Zugleich bekunden diese Geschichten, wie ich nach und nach sämtliche Vorstellungen, die man sich von der Zukunft macht, über Bord werfe. Etwa um diese Zeit wurde mir klar, dass die Zukunft, die früher einmal weit entfernt am Horizont gelegen hatte, jetzt rapide näherrückte, und irgendwann zwischen 2011 und 2012 wurden Zukunft und Gegenwart identisch – und so wird es von jetzt an bleiben, ab jetzt werden wir ständig in der Zukunft leben.

Neben diesen Kurzgeschichten stehen einige nicht-fiktionale Texte, die ich zwischen 2013 und 2015 für die Wochenendbeilage der Financial Times geschrieben habe. Die Kolumne wurde für mich schnell zum Experimentierfeld, auf dem ich ansonsten diffuse, flüchtige Emotionen, Stimmungen und Beobachtungen konkretisieren konnte, und ich komme immer wieder auf sie zurück, wenn ich Muster erkennen und Sinn in auf den ersten Blick zusammenhanglose Dinge bringen will.

Außerdem gibt es in diesem Buch noch ein erzählerisches Bonbon – eine Erzählung, die in zwanzig Fortsetzungen in Metro erschien, einer Gratiszeitschrift, die früher kostenlos an Bahnhöfen und S-Bahn-Stationen verteilt wurde. Das war im November 2013, und sie erschien gleichzeitig auf der ganzen Welt, in fünfzehn verschiedenen Sprachen. Temp handelt von den »heiteren Aspekten« der Implosion des amerikanischen Traums in den 2000ern und soll durchaus zum Schmunzeln provozieren, aber auch die Nase darauf stoßen, wie weit uns das letzte Jahrzehnt vom Weg abgebracht hat.

Und schließlich sind in diesem Buch einige Kurzgeschichten aus den Jahren 2014 und 2015 vertreten, die für mich den Abschied vom Schreiben als Solo-Kunstform markieren. Mittlerweile drücke ich meine Ideen hauptsächlich visuell aus, und diese Texte entstanden als Reflexion über oder Ergänzung zu diversen künstlerischen Arbeiten, von denen einige 2015 in der Ausstellung Bit Rot im Witte de With Center for Contemporary Art gezeigt wurden. Meine Bücher haben immer auch Ideen für Installationen und Kunstwerke enthalten, besonders die Tech-Romane wie Mikrosklaven (1996) und jPod (2011). Die Stücke in der Bit-Rot-Ausstellung sind Material gewordene Worte, und einige der Worte in diesem Buch sind entmaterialisierte Objekte aus dieser Ausstellung.

Ich danke Defne Ayas vom Witte de With Center for Contemporary Art für die vielen Ideen, die Energie und die harte Arbeit, mit denen sie viele scheinbar zusammengewürfelte Ideen genommen und so miteinander verwoben hat, dass sich ein Muster und eine innere Logik herausbilden – Kuratieren im wahrsten Sinn.

Außerdem danke ich Samuel Saelemakers von Witte de With für die Zeit, Energie und harte Arbeit, die er in die Ausstellung und in dieses Buch investiert hat.

Douglas Coupland

Paris 2015

Das kurze Leben und brutale Ende des Nachrichtenteams vom dritten Programm

Sandra saß an ihrem Küchentisch und schaute hinaus auf den sonnigen Tag draußen, als sie die Türklingel hörte. Es war die Polizei, die gekommen war, um ihr mitzuteilen, dass man ihre Mutter wegen mehrfachen Mordes festgenommen hatte. Die Opfer waren das gesamte Nachrichtenteam eines Lokalsenders – zwei Anchorleute, der Wettermann und vier Studiotechniker. Ihre Mutter, die als Einzeltäterin gehandelt hatte, war mit einer großen Korbtasche am Fernsehstudio erschienen und hatte sich als herzensgutes Tantchen präsentiert, das in der Hoffnung kam, die Moderatorin einer Kochshow kennenzulernen. Sobald sie nahe genug am Nachrichtenstudio war, fragte sie nach den Toiletten, verschwand darin, holte mehrere Schusswaffen aus ihrer Korbtasche und kam feuernd wieder heraus. Ein Kameramann, der überlebt hatte, hatte sie zu Boden gerungen, und dabei hatte sie sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Sie war im Krankenhaus, und ihr Gesundheitszustand war stabil. Im Internet kursierte bereits ein Video von dem Vorfall. Sandra sah sich, von Polizisten flankiert, die Neununddreißig-Sekunden-Sequenz an. Die Brutalität der Bilder war so jenseits aller Vorstellungskraft, dass es Sandra wie ein Traum erschien. Die Polizisten fragten, ob sie mit ihnen ins Krankenhaus fahren wolle, und sie sagte: »Natürlich.« Und schon ging es los, mit blitzendem Rotlicht.

Der Haupteingang war abgesperrt, aber der Streifenwagen durfte am Wachpersonal und den Medienleuten im Storyfieber vorbei. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den obersten Stock, wo ein Quartett von Polizisten das Zimmer ihrer Mutter bewachte. Sandra hatte immer damit gerechnet, eines Tages ihre Mutter zu besuchen, wenn sie mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus lag, nur nicht unter den gegenwärtigen Umständen.

»Mom?«

»Hallo, Schatz.«

»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«

»Das kann ich dir gerne verraten.«

»Warte – wo ist Dad?«

»Er ist zurzeit nicht verfügbar.«

»O mein Gott, er läuft nicht draußen rum, um irgendwen zu erschießen, oder?

»Ziehst du nicht etwas vorschnelle Schlüsse?«

»Mom, du hast sieben Leute umgebracht.«

»Gut so.«

Sandra versuchte sich zu beruhigen, und ihre Mutter lächelte seelenruhig dazu. »Und warum hast du es getan?«, gelang es ihr schließlich zu fragen.

»Unsere New-Vision-Kirchengruppe hat letztes Wochenende ein ›Erleuchtungsfasten‹ oben in den Bergen abgehalten. Es war herrlich. Und während des Gebets in der Gruppe hob es mich hoch über die Erde, und als ich auf diesen Planeten herabblickte, war er schwarz wie ein Kohlebrikett. In diesem Moment erkannte ich, dass es mit der Erde vorbei ist und dass New Vision mich zu einem neuen Planeten tragen wird.«

»Du machst Witze.«

»Nein, ich mache keine Witze, Sandra. Dein Vater und ich möchten, dass du mit uns kommst.«

»Mom. Das ist entsetzlich. Wach auf – wach auf

Sandras Mutter sah sie mit demselben leeren Gesichtsausdruck an, mit dem sie höflichen Männern dankte, dass sie ihr die Tür aufgehalten hatten. »Du solltest dich für mich freuen, Schatz. Ich glaube, du warst diejenige, die so versessen auf diesen Comicstrip aus den 1970ern war, wie hieß er noch mal – die Yamato? Gerade du müsstest es doch nachfühlen können, wenn man einen zerstörten Planeten hinter sich lassen will, um das Universum zu durchstreifen und die allumfassende Dunkelheit zu bekämpfen.«

»Das war nur ein Comic, Mom.«

»Dafür, dass es ›nur ein Comic‹ war, hat es deine Phantasie ganz schön beschäftigt. Ich glaube, du bist neidisch auf mich, Schatz.«

»Was?«

»Du bist neidisch, weil ich jetzt in diesem Comic bin – auf der anderen Seite des Spiegels – und du nicht. Aber du könntest es sein. Komm mit uns.«

»Mom, hör auf damit. Warum hast du diese Menschen umgebracht?«

»Ich habe sie umgebracht, weil sie berühmt waren.«

»Was?«

»Das Einzige, woran unsere kranke Zivilgesellschaft glaubt, ist das Berühmtsein. Es existiert keine andere Art von Unsterblichkeit mehr. Bring die Berühmten um, dann triffst du ins Herz der kranken Zivilisation.«

»Und warum hast du das Nachrichtenteam des dritten Programms umgelegt. Die sind doch selbst hier in der Stadt kaum bekannt.«

»Wenn du ungefähr jetzt die Nachrichten anmachst, wirst du sehen, dass New-Vision-Anhänger überall auf der Welt Menschen von unterschiedlicher Berühmtheit angeschossen oder getötet haben. Die Leute nach Berühmtheitsgrad zu sortieren würde nur bedeuten, diesem Bekenntnis zum Ruhm aufzusitzen. Also haben wir keine Unterschiede gemacht.«

Sandra graute es zunehmend. »Wen wird Dad umbringen?«

»Wie spät ist es?«

Sandra sah auf die Uhr auf ihrem Handydisplay. »Beinahe fünf.«

»Dann hat er ungefähr jetzt …«, Sandras Mutter schaute für eine Sekunde an die Decke, und gleich darauf hörte man leises Tack-Tack von der Krankenhausauffahrt kommen, »… ungefähr jetzt hat er die Reporter erschossen, die über meinen Amoklauf berichten.«

»O Gott, o Gott, o Gott …« Sandra rannte ans Fenster: das Pandämonium. Sie drehte sich zu ihrer Mutter um. »Heilige Scheiße! Bist du noch zu retten?«

»Ist dein Vater tot?«

»Was?« Sandra schaut wieder aus dem Fenster und sah den Körper ihres Vaters auf einem mit Blaugras bewachsenen Bankett liegen. »Ja. Heilige Mutter Gottes. Er ist tot!«

»Gut. Er wird mich auf der anderen Seite erwarten, zusammen mit all denen von uns, die heute ihre Mission erfüllt haben.«

Sandra taumelte nach Atem ringend auf den Flur, aber Polizei und Klinikpersonal schenkten ihr wenig Beachtung, weil sie sich auf die nächste Welle von Verwundeten, Sterbenden und Toten einstellten. Sie rief: »Lieber Gott, es tut mir so leid!«, und wurde ignoriert.

In dem Fernseher eines Schwesternzimmers liefen die neuesten Nachrichten, und es wurden immer neue Gesichter von ermordeten Celebritys aus aller Welt gezeigt.

Sandra rannte zurück ins Zimmer, wo ihre Mutter übers ganze Gesicht strahlte.

»Mom, du bist verrückt. Eure Sekte ist verrückt.«

»Ich will, dass alle aus deiner Generation kommen und sich mir anschließen, sich zusammenrotten, um die Schaufensterscheiben aller Boutiquen im ganzen Land einzuschlagen, um die Catwalks in Brand zu setzen, Beverly Hills mit Raketen zu beschießen. Es wird schön sein – wie moderne Kunst –, und die Leute werden endlich kuriert vom Glauben an die falsche Zukunft, die die Prominenz ihnen vorgaukelt.«

Sandra hätte sich erbrechen können. Mit Leichen beladene Bahren wurden hastig an der Zimmertür vorbeigeschoben, und ihre Mutter redete weiter: »In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs befahl der Tenno den Japanern, sich selbst zu opfern, zu sterben wie zerschlagene Juwelen. Und genauso sage ich zu dir, Sandra, stirb wie ein zerschlagenes Juwel. Zerstöre, damit wir das Neue aufbauen können.«

Draußen war es dunkel geworden – es war nicht die übliche Dunkelheit, sondern eine chemische, die direkt auf das Urböse zurückzugehen schien. Sandra und ihre Mutter ertappten sich dabei, wie sie gleichzeitig hinstarrten. Ihre Mutter sagte: »Ich wünschte, die Apollo-Astronauten wären auf dem Mond umgekommen.«

»Was?«

»Dann wäre er ein einziger großen Grabstein des Planeten Erde.«

Ihre Mutter warf sich etwas in den Mund.

»Mom, was war das?«

»Zyanid, Schatz. Ich haue auf deinem Schlachtschiff Yamato ab. Warum kommst du nicht mit?«

Sandra rannte Hilfe holen, doch die gesamte Belegschaft war mit den Verwundeten beschäftigt, also sah sie ihrer Mutter beim Sterben zu, sah, wie sie auf dem Bett zuckte, dann still lag.

Wie vor den Kopf geschlagen wanderte Sandra wieder hinaus auf den Flur. Überall war Blut. Der Boden war damit besudelt, das ganze Gebäude roch nach heißen, feuchten Kupfermünzen. Sie hörte Schüsse aus Richtung der Aufzüge, und Krankenhausangestellte kamen ihr kreischend entgegengerannt. Sie sah einen Pfleger in grüner OP-Kleidung auf sich zukommen, der eine abgesägte Schrotflinte trug, der Blick in seinen Augen sagte Sandra, dass er ein New-Vision-Anhänger war.

Er pfiff vor sich hin und sagte im Näherkommen ganz lässig: »Sieht so aus, als wärst du jetzt eine verdammt berühmte kleine Lady, oder?«

Sandra rannte zu ihrer Mutter ins Zimmer zurück, dann küsste sie gierig deren Mund und lutschte die Reste des Zyanids heraus. Sie schmeckte die Chemikalie, als sie in ihren Blutkreislauf überging, und wusste, dass der Tod schnell kommen würde.

Das Pfeifen verstummte, als der Pfleger drohend in der Tür erschien. Sandra sagte: »Weißt du was? Ich verlasse den Planeten zu meinen eigenen Bedingungen, du Freak.« Sie war tot, bevor die Schrotkugeln ihren Brustkorb durchschlugen.

Neun Leser

Als ich letzten Sommer in Reykjavík war, erfuhr ich, dass einer von zehn Isländern in seinem Leben einen Roman schreiben wird. Das ist beeindruckend, hat aber den Nachteil, dass jeder dieser Romane nur neun Leser finden wird. Und auf eine seltsame Weise wird unsere ganze Welt immer mehr zu einer Welt isländischer Schriftsteller. Einfach Roman durch blog, vlog oder website ersetzen – und schon sind wir in Reykjavík.

Es ist ein Charakteristikum unserer neuen Zeit, dass es noch nie so leicht war, Individualität zu versenden, und Individualität zugleich immer unerreichbarer zu werden scheint. Vor dem einundzwanzigsten Jahrhundert betrachteten wir uns als Krone der Schöpfung, als souveräne Individuen oder Einzelwesen mit einer Lebensspanne von plus minus sieben Jahrzehnten. Heute leben wir mit dem ständig nagenden Gefühl, dass das eigene Ich nur eine weitere Fleischeinheit unter Milliarden anderen Fleischeinheiten ist.

Diese Krise der Individualität im einundzwanzigsten Jahrhundert treibt die vielfältigsten Blüten. In Japan kennt man das Phänomen des Hikikomori. Dein Kind wird erwachsen und zieht von zu Hause aus, nur um einige Jahre später zurückzukommen und nie wieder das alte Kinderzimmer zu verlassen. Nie wieder. Vereinzelte Hikikomoris wagen sich im Schutz der Nacht gelegentlich nach draußen in den nächsten Mini-Mart, aber das ist auch alles. 2010 schätzten die japanischen Behörden die Zahl der Hikikomoris im Land auf 700 000, Durchschnittsalter einunddreißig. Ja, richtig gelesen: Beinahe eine Dreiviertelmillion moderne Eremiten ziehen aus freien Stücken zurück zu Mama und Papa und schaffen es aufgrund psychischer Widerstände nie wieder, auszuziehen.

Nie wieder.

Ich vermute, diese jungen Leute leiden sozusagen an »Atomisierungsangst«, der Angst, als Individuum funktionieren zu müssen. Nachdem in den Achtzigern die Konjunkturblase geplatzt war, verwandelte sich Japan von einer monolithisch homogenen Gesellschaft mit Arbeitsplatzgarantie auf Lebenszeit in das genaue Gegenteil: ein im Konsum-Hyperspace gefangenes Land der Hyper-Individualität, in dem gar nichts sicher ist, am allerwenigsten der Arbeitsplatz. Die verrückten Kostüme, in denen man sich früher nur sonntags in Harajuku zeigte, sind heute japanische Alltagsgarderobe, über die keiner ein Wort verliert. Man könnte glauben, eine Kultur, in der Durchschnittsbürger Tag für Tag in irren Halloweenkostümen herumlaufen, sei eine Kultur unbeugsamer Individualisten, tatsächlich aber hadert diese Gesellschaft zutiefst mit der dunklen Seite einer aufgezwungenen Einzigartigkeit. »Je mehr wir wir selbst werden, desto befremdlicher werden wir auch«, schrieb die australische Publizistin Louise Adler. »Am auffälligsten zeigt sich das bei den Menschen, die keiner gesellschaftlichen Kontrolle mehr unterliegen, in der Exzentrizität der sehr Reichen und der Marginalisierten.«

In Nordamerika und England haben wir einen Trend, der sich Normcore nennt (die Normaloversion von Hardcore) – ein so blöder Trend, dass er für seine Blödheit berühmter ist als für seine Trendigkeit. Aber Normcore ist etwas durchaus Reales, ein Unisex-Trend, der tatsächlich existiert. Das englische Magazin Heat schreibt dazu: »Mit seinem Bekenntnis zu unverschämt fader Massenware wie Stonewashed Jeans, No-name-T-Shirts und Badeschlappen, die abscheulich an Crocs erinnern, huldigt der Normcore dem Gewöhnlichen. Er ist nicht nur der ultimative Antireflex auf die ausgesuchte Monotonie des Hipster-Looks, sondern auf modische Ansprüche schlechthin.« Normcore heißt, sich zu kleiden, um unsichtbar zu werden. Man erzielt damit modisch denselben Effekt wie durch das Anmieten eines amerikanischen Mittelklassewagens in einer amerikanischen Großstadt: totale Anonymität, die einen davon entlastet, als Individuum in Echtzeit in der echten Welt zu interagieren. Normcore sagt: »Scheiß drauf. Macht doch: Nehmt mich mit Überwachungskameras auf. Durchkämmt das Internet mit Gesichtserkennungs-Algorithmen. Soll doch die NSA in meinen E-Mails lesen wie im Kaffeesatz. Ich mache mich absichtlich un-unverwechselbar. Ich strafe die Welt mit meiner Farblosigkeit, und wenn ihr meine Metadaten scannt, werdet ihr einschlafen, bevor ihr irgendwas Interessantes findet

Im Herbst 2014 fuhr ich in einem Taxi durch die Clerkenwell Road in London. Auf einem riesigen Gap-Plakat las ich: »BE NORMAL.«

Hallo?

Ich frage mich, ob das Bedürfnis nach Individualität nicht vielleicht eine Mutation des Gehirns und in jeder Population relativ sparsam verbreitet ist. Ich frage mich, ob die meisten Menschen überhaupt dafür geschaffen sind, mit dem geistigen Vakuum zurechtzukommen, das durch Freiheit entstehen kann. Aus den Nachrichten gewinne ich eher den Eindruck, dass da draußen viele, womöglich gar die Mehrheit, Fortschritt – beziehungsweise die Freiheit, die der Fortschritt bringt – gar nicht möchten. Die meisten Menschen sind offenbar zufrieden damit, zu einer – irgendeiner – Gruppe zu gehören und misstrauen jedem, dem es nicht genauso geht. Mein zweiter Eindruck ist, dass mindestens ebenso viele herumlaufen, die Freiheit als Anlass zum Chaos nehmen – was ein bisschen peinlich ist. Und manchmal frage ich mich, ob das Gefühl, einzigartig zu sein, zuverlässig anzeigt, dass man tatsächlich einzigartig ist – auch wenn es das Gefühl von Einzigartigkeit ist, das uns überzeugt, dass wir eine Seele haben und Individuen sind.

Du hast einen Blog. Sie postet dreimal am Tag auf Facebook. Die haben eine Website. Sigrid hat eine Saga geschrieben.

Der Roman hat uns zu Individuen gemacht. Das Internet macht uns zu Einheiten. Schreib, so schnell du kannst. Blogge wie verrückt. Vlogge dir das Gehirn weg. Sei einzigartig. Hol das Beste aus dir heraus. Vor tausend Jahren hast du geglaubt, das Leben deiner Enkel würde genauso wie dein eigenes verlaufen. 2016 wissen wir, dass es 2020, in nicht mal einem Jahrzehnt, im Vergleich dazu, wie es jetzt ist, sehr viel anders und vermutlich ziemlich beängstigend sein wird. Was sollen wir zu diesem Anlass bloß anziehen?

Stärke neun Komma null

Der König schwebte in seinem Heißluftballon über seinem mächtigen Königreich, stolz, zu dessen Herrscher geboren zu sein, und still erfreut über das Los, das ihm zuteil geworden war. Es war mitten an einem sonnigen Wochentag, und das Leben im Königreich nahm seinen üblichen Gang: die Straßen waren voll, die Kinder in der Schule, und die letzten Lunchesser waren auf dem Weg zurück an ihren Arbeitsplatz. Da schlug das Erdbeben zu.

Es war eins der Stärke neun Komma null. Binnen fünfzehn Sekunden zerstörte es die älteren, weniger erdbebensicheren Gebäude im Land. Danach stürzten die neueren Gebäude ein. Im ganzen Königreich vollführten die, die es überlebt hatten, draußen auf den wackelnden Straßen einen unbeholfenen Tanz. Um herabfallenden Trümmern auszuweichen, Glasscherben und Mauerwerk.

Es war ohrenbetäubend laut. Was für ein Donnern und Krachen! Der Planet selbst schüttelte sich und entspannte sich wieder; die Menschen auf den Straßen konnten nicht mal hören, was die anderen schrien.

Der König oben in seinem Heißluftballon war der Einzige unter den Menschen, der nichts von der Heftigkeit des Erdbebens zu spüren bekam, das weiterhin donnerte und krachte und zerstörte – ein Beben, das einfach nicht aufhören wollte. Als die Erde fünf Minuten gewankt hatte, waren die meisten Häuser im Königreich nicht mehr da, und alle Dämme waren gebrochen. Die Stauseen hatten ganze Vororte verschlungen. Bürotürme waren auf die Seite gekracht und wurden, während das Beben sich immer wieder aufbäumte, geschüttelt, bis nur noch verbogene Stahlarmierungen übrig waren.

Dem König hatte es das Herz gebrochen, und immer noch ging das Erdbeben weiter! Überlebende wurden seekrank von dem Schaukeln des Bodens – sie lagen sich erbrechend auf dem gesprungenen Pflaster von Parkplätzen und Gehwegen. Bäume fielen um. Vögel konnten auf den bewegten Oberflächen nicht landen und waren froh, sich auf den Rand des Korbs vom Heißluftballon setzen zu können. Feuer brachen aus, und der Schutt brannte. Der König konnte nur tatenlos zusehen, mit Tränen in den Augen und in Gesellschaft von Schwärmen orientierungsloser Vögel, die den Korb seines Ballons umflatterten.

Nach zehn Minuten begannen sich die Überlebenden zu fragen, ob sie in einem Traum gefangen waren; die alles zermalmende Erde war beinahe langweilig geworden, wie eine Karussellfahrt, die schon viel zu lange dauerte.

Nach fünfzehn Minuten war nichts mehr zu zerstören übrig. Es stand kein einziges Gebäude mehr. Alle Statuen, alle Fernseh- und Kommunikationstürme, alle Laboratorien, alle Kinos, alle Fitnessstudios – weg.

Und dann war das Erdbeben vorbei.

Der König, dessen Nerven in Fetzen hingen, der keine Tränen mehr hatte, landete seinen Ballon auf den Resten eines ehemals stolzen Supermarkts. Das Beben hatte ihn so schwer erschüttert, dass das, was von ihm übrig war, sich als Schicht grauen Puders gesetzt hatte, unter der die größeren Brocken schlummerten, fein säuberlich nach Korngröße sortiert. Als er aus seinem Korb auf diesen Feinstaub trat, erinnerte er sich an ein Foto des ersten Fußabdrucks auf dem Mond, das er einmal gesehen hatte.

Straßen und Parkplätze waren aufgeplatzt, und die Gehwegfragmente darüber waren zerbrochen wie Cracker, dann zerkrümelt, dann zu Staub zerfallen. Vorgärten hatten sich aufgetan und ganze Häuser und Bäume verschluckt, die nun tief im Inneren des Planeten lagen.

Der König suchte nach Überlebenden und fand sie auch bald: versprengte, von Dreck und Erbrochenem starrende Gestalten, die, noch seekrank und irr nach dem fünfzehnminütigen Erdbeben, meinten zu halluzinieren, als sie ihren unversehrten, gepflegt gekleideten König vor sich sahen.

Sie machten sich auf die Suche nach Nahrung, Wasser, Medikamenten und Schnaps, aber in den staubbedeckten Trümmern war nicht viel zu finden.

Der König half einer Frau im mittleren Alter, die dort herumstocherte, wo sich einmal ein Minimarkt befunden hatte. Sie hielt eine durchsichtige Flasche mit etwas Flüssigem hoch und fragte den König, was sie enthielte.

»Na, Wellness-Fruchtsaft mit Omega 3. Aber warum fragen Sie mich? Es steht doch alles auf dem Etikett.«

Die Frau riss die Verschlusskappe auf und goss sich den halben Inhalt der Flasche ins Gesicht, um ihre Augen auszuwaschen. Dann trank sie den Rest und wühlte im Staub nach weiteren gleichartigen Flaschen.

Eine vierspurige Ausfallstraße mit Discountern und anderen Einkaufsmöglichkeiten war so gründlich zerstört, dass sie nicht einmal mehr als Pfad bezeichnet werden konnte. Dort traf der König einige hippe junge Männer in Cargohosen und original Soundgarden-Shirts aus den frühen 1990ern. Sie hatten Getränkedosen in der Hand und fragten den König, was darin wäre: »›Komm zu Daddy – Energydrink mit Koffein, Taurin und Vitamin-B-Komplex‹ … Aber warum fragt ihr mich? Es steht doch auf dem Etikett.« Sie rissen schnell ihre Dosen auf und kippten den Inhalt hinunter, ohne den König weiter zu beachten.

Der König ging weiter und traf einen seiner alten Lehrer von der High-School, der nur am Leben geblieben war, weil er sich an diesem Tag krankgemeldet hatte, um seinen Jack-Russel-Terrier zum Tierarzt zu bringen. Er war im Stau steckengeblieben, wo er die fünfzehn Minuten im gepolsterten Komfortinnenraum seines Nissan Sentra 2010 ausgesessen hatte. Der Lehrer sagte: »Oh König, Sie sind’s. Was für ein Glück, dass ich Sie treffe. Sagen Sie mir doch bitte, bitte, was diese Dose hier enthält.«

Der König sah sie sich an. »Chlorbleiche. Aber warum fragen Sie mich das? Es steht doch hier auf dem Etikett.«

»Das ist eine komische Sache«, sagte der Lehrer, »aber ich kann nicht mehr lesen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Genau, wie ich es gesagt habe – ich betrachte diese Formen auf dem Etikett, und für mich sehen sie aus wie auf dem Kopf stehendes Hebräisch, gemischt mit auf die Seite gekipptem Koreanisch. Keine Ahnung, was nur eins dieser Zeichen besagt. Ach übrigens, ich sehe da einen Tsunami kommen. Hoffen wir, dass wir hier weit genug von der Küste entfernt sind.«

Der König hatte keine Zeit, sich lange darüber Gedanken zu machen, warum das Erdbeben die Überlebenden ihrer Fähigkeit zu lesen beraubt hatte. Ein gigantischer Tsunami kotzte und schwappte von der Küste landeinwärts und machte aus der gerade erst eingestaubten Stadt einen sattbraunen Kuchenteig, der genau vor den Fußspitzen des Königs zum Stehen kam. Ein kleines Nachbeben ließ Blasen aus dem Teig blubbern. Die Welt des Königs schwieg.

Hinter ihm stürzte ein Kamin ein, der das letzte Senkrechte gewesen war, das man in kilometerweitem Umkreis sah. Die hippen Jungs, die Frau in mittlerem Alter und sein alter Highschool-Lehrer standen um den König herum. Die Frau sagte: »Ich bin froh, dass wenigstens einer noch lesen kann. Andernfalls würde es uns nie gelingen, wieder bei null anzufangen und alles, was wir besaßen, neu aufzubauen, so glänzend und brandneu, als wäre nie etwas passiert!«

Ein weiterer Tsunami schwemmte über den ersten hinweg, aus irgendeinem Grund war er leuchtend rot. Industrieller Farbstoff? Eine Zugladung Hustensaft? Kam es denn darauf an? Der König stolperte hinüber zu dem zerstörten Sentra des Lehrers, der halb unter den Trümmern einer Straßendecke begraben war; er lehnte sich dagegen und würgte. Er nahm seinen Zeigefinger und schrieb die Worte DER KÖNIG IST TOT auf das staubbedeckte Autofenster. Als er gefragt wurde, was er geschrieben habe, sagte er seinen Untertanen: »Eine Landkarte.«

Glänzend

Ein Freund von mir verkauft in Kalifornien Hotels. Ist die Nachfrage bei einer Immobilie schleppend, hilft er mit einem Drei-Punkte-Programm nach. Zuerst bepflanzt er das Grundstück mit einjährigen Pflanzen, weiße und farbige Blüten eins zu eins gemischt – am besten Petunien. Damit sieht die Immobilie gleich einladender aus. Zweitens lässt er vom Abschleppdienst ein, zwei tote Rolls Royce ankarren. Es sind ausgediente Leihwagen, die in Los Angeles für ein paar Tausend Dollar verscherbelt werden, ausgeweidete Wracks im Grunde, aber wenn man einen davon vor die Tür stellt, wird er eins mit der Immobilie und steigert sofort den Wert des Anwesens. Und schließlich erklärt er das Hotel zum Schauplatz einer imaginären Liebesaffäre zwischen zwei Filmstars. Ein Zimmer ist ein Zimmer ist ein Zimmer, aber nicht, wenn Grace Kelly und William Holden 1955 darin ein heimliches Wochenende verlebt haben. Wir haben eine seltsame Vorliebe dafür, uns die Geister von Hollywoodstars beim Sex vorzustellen.

Ich erinnere mich, dass ich am 21. Februar in einer Flughafen-Lounge CNN schaute und den vierundsiebzigstöckigen Wolkenkratzer The Torch in Dubai in Flammen aufgehen sah. Brennende Fassadenteile fielen vom fünfzigsten Stock herunter und setzten andere Stockwerke in Brand. Wie die meisten Brandkatastrophen sorgte auch das Feuer im Torch für packende Fernsehmomente, und ich weiß noch, wie der Typ am Tisch hinter mir sagte: »Ein Hochdruckreiniger wird wohl nicht reichen, um das Ding wieder auf Hochglanz zu bringen.«

Mein Lieblingsmusikvideo von 1983 war »Shiny Shiny«, von der längst aufgelösten Gruppe Haysi Fantayzee. Eine der Sängerinnen, Kate Garner, tanzt und singt darin in einem Barbarella-High-Tech-Outfit. Das Video gibt es bei YouTube; muss man gesehen haben. 1995 lebte ich in Palo Alto, wo mich eines Tages eine Fotografin besuchte, um ein paar Bilder zu schießen, und diese Fotografin war Kate Garner (!), für mich ein Fan-Moment, für sie allerdings weniger. Sie nahm ihre Fotografie sehr ernst und wollte eigentlich nicht mehr über ihr früheres Leben als New-Wave-Popstar reden. Sie trug eine Brille und war eher bequem als aufreizend gekleidet, wer wollte es ihr verdenken, dennoch wartete ich darauf, dass sie die Brille absetzte und ihr Haare ausschüttelte und dann plötzlich alle riefen: »Mein Gott, Kate Garner … du bist eine Schönheit!«

Ein Freund von mir gestaltet Schaufenster für Cartier in Nordamerika und hat mir von folgender interessanter Tatsache berichtet: Wenn man zwei oder mehr Objekte in einem Schaukasten arrangiert, halten die Leute automatisch das Stück ganz links für das wertvollste. Ich hätte gedacht, sie würden auf das Stück in der Mitte tippen, aber dem ist offenbar nicht so. Und wenn irgendwer die ungeschriebenen Gesetze von Luxus und Begehrlichkeit versteht, dann doch wohl Cartier.

Die Gemeinsamkeit zwischen all diesen Anekdoten ist, dass sie alle auf ihre Art zur Aufschlüsselung unserer Vorstellungen von Werthaltigkeit und Schönheit beitragen können, die wir offenbar schon mit der Muttermilch aufsaugen. Glänzendes Aussehen steht für Jugend, für Fruchtbarkeit. Was glänzt ist unberührt. Glänzen und Strahlen riecht wie der Innenraum eines neuen Autos. So richtig glanzvoll sind fünfundsechzig Golfplätze in Palm Springs mitten in der schlimmsten Dürreperiode des Jahrhunderts. Ich mag alles Glänzende, denn wenn man etwas Glänzendes sieht, erahnt man in nächster Nähe etwas Verkommenes und Abscheuliches – es verhält sich ähnlich wie bei dem japanischen Konzept von honne und tatemae, dem öffentlichen und dem privaten Gesicht. Ich mag es nicht, wenn mir Leute etwas Verkommenes zeigen, ohne mir erst etwas Glänzendes zu zeigen, dem Kontrast zuliebe. So geht es mir auch bei Menschen, die Musik dekonstruieren, ohne vorher spielen gelernt zu haben.

Mitte der 1980er besuchte ich ein japanisches Kulturinstitut auf der hawaiianischen Insel Oahu, wo die Durchschnittstemperatur bei 24 Grad Celsius liegt und so ungefähr an jedem Tag des Jahres ein milder Wind weht. Aber ich war in meiner gemäßigten Goth-Phase, und ich und ein paar gleichgesinnte Einheimische waren die einzigen auf ganz Hawaii, die schwarze Pullover trugen und auf die Sonne fluchten. Böse, böse Sonne.

Im Jahr 2000 besuchte ich ein Daiei-Kaufhaus in Tokio und hatte im Gang mit den Haushaltsreinigern eine Offenbarung. Fünfzig Sorten Waschmittel, Kloreiniger und Fensterputzspray wetteiferten um meine Aufmerksamkeit, aber natürlich neutralisierten sie sich gegenseitig und erzeugten den Effekt eines optischen Felds. Als ich mitten in diesem Gang stand und die knalligen Pink- und Rottöne, die schrillen Varianten von Türkis und Babyblau mit ihren schreienden Katakana-Logos auf mich einstürzten, dachte ich, genauso könnte es einem auch vor einer Arbeit von Olafur Eliasson ergehen – es überschritt die Grenze vom kulturellen zum Biologieprojekt. Ganz ähnlich erging es mir in Gang siebzehn des Hobby- und Handarbeitsladens in meiner Nachbarschaft, wo sich rechts und links Rollen von seidig glänzenden bunten Bändern in den Regalen stapeln. Der Boden ist weiß. In diesem Gang zu stehen, ist in etwa so, als würde man auf weiße und bunte Petunien im Verhältnis eins zu eins starren. Es gibt mir das Gefühl, Teil einer universalen Gesetzmäßigkeit wie Pi oder der Avogadro-Konstante zu sein.

Jedenfalls kaufte ich rund hundert Flaschen dieser japanischen Reinigungsmittel, schleppte sie in mein Hotel und kippte ihren Inhalt ins Klo, was die meisten Menschen mit Grausen hören werden, aber wenn man nüchtern überlegt, wäre das Zeug ja letztlich ohnehin dort gelandet. Ist es etwa besser, wenn man erst noch ein bisschen Händedreck oder Spaghettisoßenreste druntermischt? Wäre das dann ökologisch vertretbar? Die ganzen leeren Flaschen nahm ich mit nach Hause und stellte sie in einem Extra-Regal zu einer Installation zusammen, die ich Tokyo Harbour taufte. Wenn man Tokyo Harbour betrachtet, wird man zuerst von der fröhlichen Bonbonfarbigkeit bezaubert, aber wenn einem dann einfällt, was diese Flaschen enthalten haben, wird die Fröhlichkeit plötzlich toxisch.

2011 gab es in der japanischen Region Tōhoku ein Seebeben mit anschließendem Tsunami. Dabei wurden Millionen Tonnen von Trümmern von der Ostküste Honshus in den Pazifik gerissen und Jahre später an einem entlegenen Strand im nördlichen British Columbia wieder angespült: an der nördlichen Spitze der nördlichsten Insel der Queen Charlotte Islands, die in British Columbia heute als Haida Gwaii bekannt ist. Zufällig ist diese Landzunge genau das Fleckchen Erde, an das ich mich jedes Jahr flüchte, um aufzutanken, wenn ich genug von Technologie und homogenisierter Zeit habe, und nun war (und ist) es zu einem Friedhof für japanischen Plastikmüll geworden. In den letzten beiden Jahren geriet mein Rückzug von der Hektik des Alltags daher zur Müllsammel-Mission. An einem der ersten Nachmittage fand ich die türkis-pinke Flasche eines japanischen Reinigungsmittels und war völlig konsterniert. Ich fühlte mich wie der Bösewicht in einem ökologischen Volksmärchen, der ordentlich zu spüren bekommt, was passiert, wen man sich vom Glanz des Umweltschädlichen blenden lässt.

In der Kunst misstraut man dem allzu Gelackten, fürchtet es sogar ein bisschen. Aber da es doch ein Beweis von Kultiviertheit ist, ein Lächeln auf die eigene existenzielle Verzweiflung zaubern zu können, steht hinter der Furcht vor der schimmernden Oberfläche eigentlich die Befürchtung, die Oberfläche sei womöglich schon der Inhalt. Die Furcht vor Glanz ist die Furcht vor der Ununterscheidbarkeit von Oberfläche und Tiefe, Banalität und Schönheit, die Furcht davor, dass glänzende Objekte nur eine flüchtige Konkretisierung der Bildökonomie sind und damit Warhol recht geben – etwas, was überraschend viele immer noch auf die Palme zu bringen scheint.

Die Furcht vor Glanz erklärt, warum ein so großer Teil der Kunst von heute aussieht, wie sie aussieht. Da gibt es die gelackte Kunstmessen-Kunst, die abfällig als »Crapstraction« etikettiert wird und aussieht, als könnte sie samt und sonders von der Hand eines einzigen Menschen unter dem Einfluss einer überaus angenehmen Droge stammen. Gleich daneben haben wir die alternative Kunstmesse, auf der Glänzendes keinen Platz hat und die meiste Kunst so aussieht, als stamme sie ebenfalls von einer einzigen Person, die allerdings alle zwei Wochen mit einer neuen Selbstmedikation experimentiert. In gewisser Weise scheint sich bei Kunstmessen und ihren unabhängigen Pendants, den Anti-Messen, das frostige Stillhalteabkommen zwischen Künstlern, Galeristen und Institutionen niederzuschlagen. Misstrauen an allen Fronten. Jeder möchte auf der Party der anderen tanzen – und oft genug tun sie es auch –, aber ganz gleich, wer wo hingeht, es fühlt sich niemand ganz wohl dort. Alle sind irgendwann erschöpft und haben die Kunst herzlich satt und fühlen sich, als hätten sie kilometerweit durch blinkende und lärmende Kasinogänge marschieren müssen. Jeder will nur noch zurück ins Hotel, sich ins Bett hauen und sich den ganzen Glanz aus dem Gehirn waschen. Stattdessen machen sie sich alle frisch und ziehen los, Cocktails trinken. Und am nächsten Tag alles noch mal von vorn.

Kaufst du verbeulte Lebensmittelkonserven? Kaufst du von Vögeln angepicktes Obst oder Gemüse? Kaufst du verwachsene Gurken, die nicht wie gephotoshoppt aussehen? Und wie stehst du zu abgelaufenen Milchprodukten? Hättest du Bedenken, Kunst von einer Galerie zu kaufen, deren Räume nicht wenigstens ein Mindestmaß an New Yorker Minimalismus anstreben? Fremdelst du ein bisschen, wenn du eine Galerie betrittst, in der es so nichtssagend und weiß ist wie auf einer Raumstation? Hast du je ein neues Designerteil gekauft, das sich als Kopie entpuppte? Hast du mal versucht, jemandem ein Fake als echt unterzujubeln? Sammelst du Kunst? Machst du Kunst? Hältst du dich für einen schlagfertigen Außenseiter, der zu allem seine Meinung sagen darf? Wenn ja, deprimiert es dich, selbst nicht im Game zu sein? Bist du Minimalist? Bildest du dir etwas auf deinen reduktiven Lifestyle ein? Minimalisten sind in Wirklichkeit extrem sammelwütig: Sie hamstern Raum und sind genauso merkwürdig wie Leute mit sieben Zimmern voller Zeitungen, toter Katzen und Margarinepackungen. Begeisterst du dich für Mode? Mode und Kunst haben schon immer friedlich koexistiert. Mode-Memes gehen einfach schneller, man kann figurativ arbeiten, ohne sich ständig vor dem Kunstdozenten im eigenen Kopf rechtfertigen zu müssen, der so gemein ist, einem unaufhörlich alles mieszumachen. Wer ist dieser Kunstdozent in deinem Kopf? Woher kommt er? Ist sein Tonfall ausnahmslos schnippisch und höhnisch? Drängt er dir seine Vorurteile auf, bis du deinem eigenen Urteil nicht mehr traust? Warum klingt seine Stimme immer wütend? Warum vertritt sie ständig Standpunkte eines Menschen, der eine Generation älter ist als du, und mit dem du, ehrlich gesagt, nur selten einer Meinung bist? Kannst du ihn töten? Das würde dich befreien, aber vielleicht würde es dich auch aus dem Gleichgewicht bringen? Wüsstest du dann immer noch über Kunst zu diskutieren, ohne provinziell zu klingen? Andererseits würdest du, wenn du mit deiner eigenen Stimme statt mit der des internalisierten Dozenten sprächest, womöglich authentisch klingen, statt bloß wie irgendeine andere Kunstszeneperson, die den gleichen Dozenten internalisiert hat, der dir deine ästhetische Erlebnisfähigkeit vergiftet und vernebelt. Glaubst du, wenn man vorschnell urteilt und dem inneren Dozenten präventiv beipflichtet, läuft man Gefahr, Dinge zu ignorieren und abzutun, die eigentlich recht interessant sind? Ist es besser, auf der sicheren Seite zu sein, als sich zu irren? Siehst du manchmal Leute reden und weißt doch, dass diese Leute gar nicht selbst reden, sondern lediglich ihr innerer Dozent aus ihnen spricht? Aktiviert das deinen eigenen inneren Dozenten? Sprichst du diese Leute darauf an? Nein, das machst du nicht. Das macht nie jemand. Das ist der Grund, warum sich die Dinge kaum ändern. Es ist wirklich langweilig, zwei Menschen zuzuhören, deren inneren Dozenten sich unterhalten. Im Kopf kriegen sie beide eine 1+ für einen fiktiven Essay. Das ist so was von vorhersehbar. Und wer trägt währenddessen die Tabletts mit den Getränken und Amuse-Bouche herum? Wer belädt hinten die Lkw und schafft den Müll weg? Die Security-Menschen da drüben – die müssen sich ja zu Tode langweilen. Mein Gott, muss das ein öder Job sein. Aber zumindest haben sie keine Dozenten im Kopf. Das wäre das Schlimmste überhaupt: Acht Stunden am Tag von diesem Zeug umgeben zu sein, während im Kopf unablässig ein und derselbe Monolog abläuft. Müsste ich so meinen Lebensunterhalt verdienen, würde ich abhauen und mich dem IS anschließen. ISIS. Denn ISIS legt Wert auf Production Values. ISIS führt den ersten Krieg, den die Leute sich ansehen und sagen: »Wow, ich glaube, die arbeiten nicht bloß mit Final Cut, sondern mit Final Cut Pro.« Und man stelle sich einen zum Köpfen bestimmten Gefangenen vor, der vom Teleprompter abliest. Das nenne ich professionelle Post-Production Values. Dasselbe gilt für ihre Waffen und ihre Website. Extrem tight und clean. Wie gelackt.

Über Beziehungen im 21. Jahrhundert

Man kann sich schwer vorstellen, jemanden anzurufen und ihn einzuladen: »Komm doch rüber, ich stell dir noch einen Stuhl hin, und wir surfen zusammen im Internet.« Online zu gehen ist an sich eine einsame Beschäftigung, und dennoch fördert es die Gruppenbildung.

Bei einer Konferenz über Statdtentwicklung traf ich letztes Jahr einen Menschen von Google, der mich fragte, was ich über Fort Murray in Alberta wüsste. Ich sagte, Fort Murray sei ein Zentrum der Gas- und Ölsandförderung, eine Boomtown irgendwo inmitten der Prärie im nördlichen Kanada und hätte aufgrund dieser Tatsache von allen Städten in Nordamerika den höchsten Männeranteil. Ich fragte ihn, warum ihn das interessiere, und er sagte: »Weil die Videostreaming-Rate pro Kopf nirgendwo in Nordamerika höher ist.«

Ich denke, durch das Internet haben heterosexuelle Menschen heute genauso viel Sex, wie man es von homosexuellen Männern immer behauptet hat. Bei Menschen, die sich zu oft online zu schnellem, unkompliziertem Gelegenheitssex verabreden, fällt mir oft ein seltsamer Gesichtsausdruck auf: Wie – besser wird’s nicht?

In der alten Mary Tyler Moore Show stellte Lou Grant Mary die Frage, mit wie vielen Männern eine Frau sich treffen dürfe, bevor sie als »diese Sorte Mädchen« gälte, und Mary gab nach reiflicher Überlegung zur Antwort: »sechs«. Manche Psychologen behaupten, die meisten Menschen hätten nur fünf oder sechs Liebesbeziehungen in sich, und wenn sie die verbraucht haben, war’s das. Diese sechs sind im Digitalzeitalter verdammt schnell aufgebraucht.

Frage: Wie oft kann sich ein Mensch verlieben? Im Durchschnitt zwei Mal angeblich. Männer sind ein klein wenig mehr geneigt, an eine dritte Liebe zu glauben als Frauen.

Die Pornobranche hat herausgefunden, dass 29,95 Dollar die magische Preisgrenze sind, bis zu der Menschen bereit sind, sich bei einer Porno-Seite anzumelden. Sobald diese Grenze überschritten ist, streikt die potenzielle Kundschaft. Man spricht hier von der »Porno-Mauer«, und sie scheint unüberwindbar zu sein, eine feste naturgegebene Größe so wie der Instinkt zum Nestbau bei den Vögeln oder das Molekulargewicht von Zink.

Ich erinnere mich, dass ein dreißigjähriger Latino sich irgendwann in den 1990ern an einer High-School in Florida als heiße Latina ausgab und eineinhalb Jahre damit durchkam. Ich glaube, einmal ließ er sich sogar Bartstoppeln wachsen, um als sein eigener Vater zum Elternabend zu gehen. Manchmal denke ich, wir sind längst alle solche nicht mehr ganz jungen Latinos, die sich als heiße Cheerleader ausgeben … nur gibt man sich vielleicht nicht gerade als Cheerleader aus, sondern als viriler Cowboy, oder was auch immer du für die Person auf der anderen Seite darstellen möchtest, die keine Möglichkeit hat, dich zu widerlegen.