Jeden Morgen um acht tranken der Lehrer und der Philosoph in Pyrgi Kaffee, dann machten sie sich getrennt auf den Weg. Um halb zehn kamen sie in Emporios wieder zusammen. Jannis, der Philosoph, saß dann an einem Tavernentisch und trank seine zweite Tasse Kaffee an diesem Tag, und wenn er den Lehrer um die Ecke des Nachbarhauses biegen sah, bestellte er noch einen für ihn.
In diesem Sommer saß immer die Freundin des Lehrers bei dem Philosophen und hatte ein Glas Mineralwasser vor sich stehen. Sie hieß Beate, war fünfzehn Jahre jünger als er und Ergotherapeutin. Im Unterschied zum Lehrer, der eigentlich ein Studienrat war und Uwe hieß, verstand und sprach sie nur wenige Worte Griechisch. Sie hatte ein Appartement in Emporios bezogen, weil sie am Strand wohnen wollte, während der Lehrer ein Zimmer in Pyrgi gemietet hatte, da ihn das Dorfleben interessierte. In diesem Ort hatten die Leute vierhundert Jahre lang nur untereinander geheiratet, was viele bemerkenswerte Menschen hervorbrachte.
Die unterschiedlichen Ankunftszeiten des Philosophen Jannis und des Lehrers Uwe in Emporios erklärten sich daraus, dass der Philosoph alle Wege mit seinem alten Auto zurücklegte und deshalb die sieben Kilometer lange Asphaltstraße von Pyrgi nach Emporios benützte, während der Lehrer fand, es sei sinnvoll, an diesen wunderbaren Frühsommermorgen eineinhalb Stunden auf der eisenoxidroten Erdstraße durch die prächtige Landschaft von Pyrgi nach Emporios zu wandern.
„Die Olivenbäume“, sagte der Lehrer. „Die Mastixbüsche. Der Salbei. Die Blumen. Lerchen. Rebhühner. Greifvögel. Manchmal liegen Schlangen auf der Straße. Der leichte Wind kühlt, wenn die Sonne schon am Morgen zu brennen beginnt.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie ist es möglich, Janni, dass du lieber in deinem stinkenden alten Klapperkübel die Asphaltstraße entlangfährst, die zwar durch eine fast ebenso schöne Landschaft führt wie mein Erdweg, auf der du aber auf den Verkehr achten musst?“
„Das kommt daher, dass ich ein Philosoph bin“, sagte Jannis. Er trank das Glas Wasser zu seinem Kaffee aus. „Und außerdem achte ich nicht auf den Verkehr.“
„Sagte nicht Nietzsche, er wolle keinem Gedanken trauen, der nicht unter freiem Himmel geboren wurde, und dass nur die ergangenen Gedanken Wert hätten?“, fragte Uwe.
„Das sagte er, weil er zu früh starb, um ein Cabrio fahren zu können“, erwiderte Jannis.
„Ich gehe zum Strand“, sagte die Freundin des Lehrers. „Wer kommt mit?“
„Ich komme mit“, sagte Jannis. „Wenn mir die Sonne auf den kahlen Schädel brennt, kommen mir die besten Gedanken.“
„Ich werde noch eine Weile hier sitzenbleiben, dann besteige ich den Profitis Ilias“, sagte Uwe und zeigte auf den Burgberg von Emporios, auf dessen Gipfel 240 Meter über ihnen eine kleine weiße Kirche für den Propheten Elias stand. Sie war immer abgeschlossen und äußerlich schmucklos, und der zweieinhalb Kilometer lange Bergweg zu ihr lag in der prallen Sonne. Außerdem begann der Weg im Nachbardorf.
Der Lehrer blickte seiner Freundin und dem Philosophen hinterher, die zum Strand hinuntergingen. Es schien ihm, als sähen seine Freundin von hinten wie Claudia Schiffer und der Philosoph von hinten wie Pablo Picasso aus. Während sein Blick sich in Einzelheiten vertiefte, kam ihm der Gedanke, er selbst sähe von hinten aus wie ein deutscher Studienrat auf Griechenlandurlaub.
Aber bei der Besteigung des Profitis Ilias würde er ja auf den Weg vor sich achten müssen.
„Der Name Jannis ist für griechische Philosophen besonders geeignet“, sagte der griechische Philosoph Jannis.
„Und warum sollte das so sein?“, erkundigte sich der Lehrer.
„Weil es ein altes griechisches Sprichwort gibt, das besagt, dass fünfundvierzig Jannis zusammen so viel Verstand haben wie ein Hahn.“
„Das soll eine günstige Voraussetzung sein?“
„Natürlich. Mit einem großen Verstand geht man gern verschwenderisch um, während ein kleiner Verstand intensivstes Nachdenken erzwingt. Es ist aber immer die Intensität des Nachdenkens, die zu brauchbaren Ergebnissen führt. Und ein besonders kleiner Verstand wird schließlich die Ergebnisse auch mehr zu schätzen wissen als ein großer, dem sie beiläufig vorkommen. Der kleine Verstand wird deshalb diese Erkenntnisse lieben, und Philosophie ist ja nichts anderes als die Liebe zur Weisheit.“
„An unseren Universitäten würde man diese Definition erheiternd finden“, meinte der Lehrer.
„Das griechische Fernsehen hat übrigens einmal die Probe aufs Exempel gemacht“, sagte der Philosoph.
„Ob der kleine Verstand eine größere Liebe zur Weisheit hat?“
„Nein, ob ein Hahn so viel Verstand hat wie fünfundvierzig Jannis. Weil man ein Patt vermeiden wollte, nahm man nur vierundvierzig. Sie traten in einem Quiz gegen den Hahn an.“
„Was ist dabei herausgekommen?“
„Ja, was wohl? Sie haben verloren.“
„Worum ging es? Wie man eine Henne herumkriegt?“
Der Philosoph schüttelte den Kopf. „Die Frage lautete: An welchem Tag langweilen sich die Kinder am meisten? Die vierundvierzig Jannis dachten derart intensiv nach, dass der Hahn, vom Druck ihrer mentalen Emissionen gereizt, zu krähen begann. Und da hatte er auch schon gewonnen.“
„Ich verstehe nicht.“
„Die Antwort lautete natürlich Sonntag, und Sonntag heißt auf Griechisch Kiriaki.“
„Und die Jury behauptete, der Hahn hätte Kiriaki gerufen?“
„Das hat er auch, mein Lieber, das hat er.“
Jeden Abend aß der Philosoph Bohnen.
„Scheint dein Lieblingsessen zu sein“, sagte der Lehrer.
„Es ist ein Protest gegen die Neo-Pythagoreer. Esoterik statt Philosophie, dagegen muss man auftreten.“
Der Lehrer dachte eine Weile nach. „Ich wollte dich schon immer mal fragen, welchen philosophischen Standpunkt du eigentlich an der Uni vertreten hast.“
Der Philosoph betrachtete eine einzelne weiße Bohne. Für den Lehrer sah sie gleich aus wie alle anderen.
Plötzlich war die Luft von einem Dröhnen erfüllt.
„Was ist das?“, fragte der Lehrer.
„Es gibt mehrere Möglichkeiten“, sagte der Philosoph. „Vielleicht bricht der Vulkan wieder aus. Nachdem schon Sedimentgestein über der Lava vom letzten Mal liegt, ist das eher unwahrscheinlich. Oder die Lesbenstampede auf der Nachbarinsel hat heuer ein ungewöhnliches Ausmaß angenommen. Die dritte Möglichkeit –“
Drei Militärhubschrauber dröhnten im Niedrigflug über die Taverne hinweg.
„Ich war Pragmatiker“, sagte der Philosoph Jannis, als man am Tisch wieder menschliche Rede verstehen konnte. „Weißt du, was William James über Bohnen gesagt hat?“
„Dass sie Blähungen hervorrufen?“
Ohne diesen Einwurf einer Antwort zu würdigen, griff der Philosoph in seine Saubohnen und warf eine Handvoll auf den Boden. „Siehst du das Muster, das mein Wurf ergeben hat? Du siehst die Bohnen und glaubst in ihrer beliebigen Anordnung ein Muster zu erkennen. Die Wahrnehmung dieses Musters ist das, was William James als Wahrheit bezeichnet. Solange du erkennst, dass es von Bohnen gebildet wird, ist deine Erkenntnis weder falsch noch irrelevant. Warum soll man sie dann nicht Wahrheit nennen?“
Der Hund der Wirtin kam gelaufen und begann, die am Boden liegenden Bohnen aufzufressen.
„Ich kann solche Demonstrationen nicht oft durchführen“, sagte der Philosoph, „sonst glaubt der Hund, es handle sich dabei um regelmäßig wiederkehrende Erscheinungen in der Gesamtheit seiner Sinneswahrnehmungen. Ich ziehe es vor, ihn sich mit Hans Reichenbach sagen zu lassen, dass dann, wenn er unablässig agiert und die Umweltdinge trotzdem stets in sturer Opposition zu seinen Wünschen und Anstrengungen bleiben, die Externalität der Umgebung im Verhältnis zum Selbst eine direkte Bedingung der Erfahrung ist. So verhindere ich, dass dieser ekelhafte Malteser den ungesunden Standpunkt des Solipsismus einnimmt.“
Der Hund umschlang das Bein des Lehrers und rieb sich heftig daran.
„Nebenbei bemerkt, sprach sich Pythagoras nicht wegen Blähungen gegen Bohnen aus, sondern weil er glaubte, dass sie geil machen“, sagte der Philosoph, „obwohl ich weiß, dass auch Blähungen zu den üblen Charakterzügen dieses Hundes hier gehören.“
Während der Lehrer den Malteser von seinem Bein zu lösen versuchte, aß der Philosoph die restlichen Bohnen in seinem Teller auf und sagte: „Ja, ich war also Pragmatiker, aber die Obristen waren hintendran und vertraten eine Art Nominalismus, obwohl sie von den Amerikanern unterstützt wurden, dem Volk, das praktisch alle wichtigen Pragmatiker hervorgebracht hat.“
Er versetzte dem Malteser, der neuerlich sein Glück auf dem Bein des Lehrers versuchen wollte, einen Tritt.
„Ich wusste gar nicht, dass die Obristen philosophisch gebildet waren“, sagte der Lehrer.
„Waren sie auch nicht. Ich bekam keine Probleme wegen meiner Vorlesungen. Erstens fanden sie nicht mehr statt und zweitens hätte sie ohnehin niemand verstanden. Meine Entlassung war auf ein persönliches, aber durchaus philosophisches Gespräch mit einem Oberst zurückzuführen, das sich in einem Kafenion ergab. Der Oberst vertrat die Meinung, wenn niemand mehr da wäre, der ihn wahrnehmen könnte – weil er zum Beispiel alle anderen umgebracht hätte –, dann besäße er keinerlei Eigenschaften mehr. Das war natürlich der typische Esse-percipi-Quatsch des alten Berkeley, der ja auch ein irischer Anglikaner war, statt der griechisch-orthodoxen Kirche anzugehören, die keinerlei Philosophen hervorbringt. Ich hielt dem entgegen, dass meiner Auffassung nach der Oberst selbst dann, wenn er das einzige Objekt in einem sonst vollkommen leeren Kosmos wäre, immer noch die Eigenschaft hätte, ein entsetzlich dummes Arschloch zu sein, gleichgültig ob diese Eigenschaft von einem Bewusstsein wahrgenommen würde oder nicht. Das war Mitte Juli 1974, und glücklicherweise drohte die Türkei fünf Tage später mit Krieg – nicht meinetwegen, sondern wegen des versuchten Staatsstreichs auf Zypern – und die Obristen mussten am 23. Juli einpacken, weshalb die für jenen Monatsletzten angesetzten Folterungen ausfielen.“
„Was ist aus dem Oberst geworden?“
„Er hat sich in eines der Metéora-Klöster zurückgezogen und denkt dort darüber nach, ob die Welt hinter ihm tatsächlich da ist oder verschwindet, sobald er ihr den Rücken kehrt.“
„Dann kann er ja nicht ein ganz so entsetzlich dummes Arschloch sein wie angenommen“, meinte der Lehrer.
„Ich hatte jenes Urteil auch nicht ex cathedra verkündet“, sagte der Philosoph.
Als der Lehrer am nächsten Morgen von Pyrgi nach Emporios wanderte, sann er über Solipsismus nach.
Diese Landschaft bringt mich dazu, dachte er. Man ist allein und es ist ganz still. Das gibt es bei uns gar nicht mehr, man hört immer irgendwo eine Autobahn rauschen oder sieht ein Flugzeug oder trifft jemanden. Aber hier gehe ich eineinhalb Stunden, ohne etwas anderes zu hören als den Wind und die Vögel und etwas anderes zu sehen als Felsen, Pflanzen und Tiere. Das bringt mich zum Nachdenken darüber, ob ich derjenige sein könnte, der alles hervorbringt.
Zwei Rebhühner flatterten aus einem Gebüsch neben dem Lehrer auf, was ihn so erschreckte, dass er einen Luftsprung machte.
Darüber musste er lachen. Er verfolgte die Tiere mit seinen Blicken, bis sie sich wieder niedergelassen hatten, dann sagte er zu sich: Was würde es bedeuten, wenn ich der Meinung wäre, ich hätte diese zwei Vögel hervorgebracht? Sollte ich dann nicht in der Lage sein, gleich noch einmal zwei auffliegen zu lassen? Ich weiß, dass ich das nicht kann. Aber warum soll das Kontinuum meiner Sinneswahrnehmungen eigentlich wie ein Traum funktionieren? Das Modell könnte ja auch die Paranoia sein. Dann müsste alles kontingent bleiben und es wäre möglich, dass ich derjenige bin, der es hervorbringt. Aber wenn ich es in keiner Weise kontrollieren kann und alles unbeeinflussbar zu sein scheint, ist der Solipsismus eine Annahme, die zu keiner Änderung des Handelns führt. Ich glaube, das ist es, warum Jannis sich als Pragmatiker bezeichnet. Auch wenn ich ein Solipsist wäre, könnte ich mich immer nur wie ein naiver Realist verhalten.
Der Lehrer wäre vor Geistesabwesenheit beinahe auf eine Schlange getreten, die sich mitten auf der Straße sonnte. Die Schlange regte sich darüber mächtig auf, obwohl sie ja selbst auch nicht aufgepasst hatte. Sie hob drohend den Kopf, zischte und schlängelte sich davon.
Würde ich Schlangen erfinden, wenn ich ein Solipsist wäre, fragte sich der Lehrer. Aber ich würde dann ja sogar Hitler erfunden haben – den es freilich nie gegeben hätte, weil er in meiner Welt nur in Geschichtsbüchern vorkäme, die ebenfalls von mir erfunden wären. Was für ein Blödsinn dieser Solipsismus doch ist!
Könnte ich die Erfindung eines anderen sein? Vielleicht wird unsere ganze Welt von den australischen Schnabeltieren geträumt, und wenn wir sie erst ausgerottet haben, verschwinden wir mit ihnen im Nichts. Oder bin ich eine Figur im Computerspiel des Demiurgen oder eine Gestalt in der Erzählung eines halbblinden Schriftstellers aus dem Erzgebirge oder die Masturbationsphantasie eines homosexuellen Engels? Das letzte wohl nicht, dachte Uwe, als ihm einfiel, dass er von hinten wahrscheinlich aussah wie ein deutscher Studienrat auf Griechenlandurlaub.
Das brachte seine Gedanken von der Philosophie weg hin zu Beate. Irgendwie hatte er sich den Urlaub mit ihr anders vorgestellt, obwohl er nicht erwartet hatte, dass sie seine Wanderlust teilen würde. Aber vielleicht sollten sie doch mehr zusammensein? Beinahe wäre der Lehrer an der Stelle vorbeigelaufen, wo der Weg nach Emporios von der Straße nach Pyrgos Dotion abzweigte.
Da der Lehrer und der Philosoph immer ins Gespräch vertieft waren, wenn sie zusammensaßen, setzte sich nur selten jemand zu ihnen, aber an einem Abend war die Taverne so voll, dass ein großer dünner Mann in einem schillernden Anzug sich zwischen den besetzten Tischen bis zu ihnen durchschlängelte und fragte, ob ein Platz frei sei. Da Beate wegen Kopfschmerzen im Zimmer geblieben war, sagte Uwe, der Fremde könne sich gern dazusetzen.
„Erich Thöny, HNO, Athen“, stellte der sich in einer Gesprächspause vor, nachdem er etwas zu trinken bekommen hatte.
„HNO?“, fragte der Lehrer.
„Hals-Nasen-Ohren. Meine Profession. Ich bin Schweizer, praktiziere aber schon seit Jahren in der griechischen Hauptstadt. Mit der größten Luftverschmutzung aller europäischen Hauptstädte ist sie ein Dorado für HNO-Ärzte.“
„Hören Sie“, sagte Uwe. „Ich weiß, dass es nichts Ungehörigeres gibt, als einen Arzt in seiner Freizeit um eine Diagnose zu bitten. Aber die medizinische Versorgung hier ist gleich Null und der seit zwei Tagen andauernde Juckreiz in meinem rechten Ohr macht mich beinahe wahnsinnig.“
Erich Thöny leckte sich rasch zweimal über die Oberlippe. Er betrachtete das rechte Ohr des Lehrers aus der Entfernung.
„Steckt Ihnen jemand gelegentlich die Zunge ins Ohr?“, erkundigte er sich.
„Meine Freundin“, sagte der Lehrer und fühlte, dass er errötete.
„Dann ist es ein Pilz“, sagte Erich Thöny. „Wir werden ihm den Garaus machen.“
„In Pyrgi gibt es eine Apotheke“, erwiderte der Lehrer. „Ich kann morgen das Medikament besorgen.“
„Wir brauchen kein Medikament“, sagte Erich Thöny. „Es gibt eine mechanische Therapie. Wenn Sie gestatten.“
Er fasste mit seinen dünnen, aber kräftigen Fingern Uwes rechtes Ohr, klappte es horizontal zusammen, wie man ein Omelett zusammenlegt, und drehte es zweimal wie einen Drehschalter hin und her. Dem Lehrer trat das Wasser in die Augen.
„Sind Sie wirklich Hals-Nasen-Ohren-Spezialist?“, erkundigte sich der Philosoph.
„Juckt es noch?“, fragte Erich Thöny den Lehrer, ohne auf die Zwischenfrage zu achten.
„Nein“, sagte Uwe. „Mir scheint, es hat tatsächlich aufgehört.“
„Ich verrechne nichts dafür“, sagte der Arzt, „obwohl es einen Tarif für mechanische Behandlungen gibt. Aber Sie haben recht, es war eine Angelegenheit in meiner Freizeit. Heben wir lieber die Gläser auf die Stadt der Athene!“
Das taten sie, und es wurde noch ein vergnüglicher Abend, vor allem für den Lehrer, der feststellen konnte, dass der Juckreiz auch verschwunden war, nachdem der Schmerz nachgelassen hatte.
Einmal kam Uwe zur Taverne und fand weder den Philosophen noch seine Freundin bei Kaffee und Mineralwasser vor. Die Wirtin schickte ihn zum Strand, wo die beiden neben einem Felsen standen und der Philosoph einen toten Kraken gegen den Stein schlug.
„Davon soll er weich werden“, sagte die Ergotherapeutin, als der Lehrer hinzutrat.
„Hundert Mal“, verkündete der Philosoph. „Hundert Mal muss man ihn hinschlagen, damit er die richtige Konsistenz bekommt. Es gibt nichts Widerlicheres als Salat aus einem zu harten oder zu weichen Kraken.“
„Sehr interessant“, sagte der Lehrer. „Ich nehme an, dass dadurch die Zellwände aufplatzen?“
„Keine Ahnung“, sagte der Philosoph. „Ich bin Philosoph und kein Biologe. Die Einzelheiten der realen Welt haben mich nie interessiert.“
„Darf ich auch mal?“, fragte der Lehrer.
„Den nächsten kannst du erledigen, aber den hier mache ich fertig, sonst komme ich draus“, sagte der Philosoph und zählte laut zu Ende: „Sechsundneunzig, siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, hundert!“
„Falsch“, sagte der tote Oktopus. „Hunderteins!“
„Hundert!“, schrie der Philosoph.
„Hunderteins. Du hast sechsundneunzig zweimal gezählt“, sagte der tote Tintenfisch.
„Verflucht! Immer diese Ablenkungen“, sagte der Philosoph und warf den toten Kraken ins Meer.
„Ist das nicht schade?“, fragte die Ergotherapeutin.
„Bei hunderteins ist er zu weich“, knurrte der Philosoph. „Hundert ist richtig, hundert! Und nicht hunderteins!“
Als sie zur Taverne zurückgingen, fragte der Lehrer nach längerem Schweigen: „Hat der Krake tatsächlich gesprochen?“
Der Philosoph erwiderte: „Es muss wohl der Kairos dafür gewesen sein.“
Manchmal stand die albanische Küchenhilfe dabei und hörte dem Lehrer und dem Philosophen bei ihren Unterhaltungen zu. Das kam aber selten vor, weil sie sehr viel Arbeit zu erledigen hatte. Es geschah nur, wenn kein anderer Gast gekommen und die Wirtin in den Hauptort der Insel gefahren war. Die beiden Männer beachteten sie kaum und die griechische Kellnerin hatte anderes zu tun, als die albanische Küchenhilfe zu schikanieren. Sie trank lieber Cola und rauchte an einem entfernten Tisch eine Zigarette nach der anderen.
„Es gab eine Zeitlang eine Heidegger-Manie an unserer Universität in Chios“, sagte Jannis. „Da ging es Heidegger hin, Heidegger her, man heideggerte in allen möglichen Seminaren und verbreitete sich vor allem über das, was Heidegger für das Wesen der altgriechischen Sprache gehalten hatte. Wir waren damals die Jungen und lachten darüber, aber die alten Herren waren ganz aufgekratzt von der Tatsache, dass die Deutschen nicht bloß in Kalávrita und Distomo die Zivilbevölkerung massakriert, sondern auch Philosophen hervorgebracht hatten, die mit dem verantwortlichen Regime sympathisierten und das Altgriechische hochhielten.“
„So kann man das doch wohl nicht sagen“, bemerkte die albanische Küchenhilfe, aber Jannis beachtete sie nicht.
„Jedenfalls gelang es, Heidegger zu einem Gastvortrag zu bewegen. Er spazierte davor wie du, Uwe, auf den Erdwegen umher, in kurzen Hosen, mit genagelten Schuhen und einer Mütze mit einem Bommel daran, und hielt schließlich im vollbesetzten Auditorium der Universität von Chios einen Vortrag über das Zeigzeug, wie Heidegger den mechanischen Richtungsanzeiger der damaligen Autos nannte. Es war natürlich sein altbekannter Riemen: Das griechische Wort pragmata sei ein angemessener Terminus für die Dinge, mit denen man im besorgenden Umgang zu tun habe. Die Griechen ließen aber ontologisch gerade den pragmatischen Charakter der pragmata im Dunkeln und bestimmten sie zunächst als bloße Dinge. Die Deutschen würden das im Besorgen begegnende Seiende das ‚Zeug‘ nennen. Zeichen seien zunächst Zeuge, deren spezifischer Zeugcharakter im Zeigen bestehe und so weiter. Ich beugte mich gerade zu meiner neben mir sitzenden Lieblingsschülerin Deftera Pote hinüber, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, als Heidegger hinter dem Stehpult hervortrat und wir sahen, dass er immer noch seine kurzen Hosen trug. Und ich erblickte ein Zeichen von ausgesprochenem Zeugcharakter. Da wisperte ich nun Deftera Pote einen Hinweis ins Ohr, und sie stand auf und rief: „Herr Heidegger, Ihre Ausführungen über das Zeigzeug haben mich tief beeindruckt, aber mir scheint, Ihnen hängt das Zeugzeug aus der Hose!“ Und so war es auch. Das Auditorium erdröhnte von einem Gelächter, das sogar ich in diesem einen Falle homerisch nennen würde, Heidegger blickte an sich herab und trat hinter das Stehpult zurück. Dieser Vorfall war das Ende der Heidegger-Manie an der Universität von Chios.“
„Ich wusste gar nicht, dass es in Chios eine Universität gegeben hat“, sagte die ohne Arbeitsbewilligung tätige albanische Küchenhilfe. Sie war vor ihrer Flucht Dozentin für Amerikanistik an der Universität von Tirana gewesen.
Diesmal schenkte Jannis ihr seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich halb um und sah sie scharf an. In diesem Moment kam die Freundin des Lehrers in den Garten der Taverne. Sie sagte: „Ich gehe in die Disco. Wer geht mit?“
„Ich gehe mit“, sagte Jannis. „Wenn mir das Stroboskop in die geröteten Augen blitzt, kommen mir immer die besten Gedanken.“
„Ich komme nach“, sagte Uwe. „Ich möchte erst noch im Spiegel lesen, den ich mir heute in Chios besorgt habe.“
Als der Philosoph und die Ergotherapeutin gegangen waren, sagte Uwe zu der albanischen Küchenhilfe: „Wieso sagen Sie, dass es in Chios keine Universität gegeben habe?“
Aber bevor er eine Antwort bekam, stürzte die Wirtin in den Garten und schrie die albanische Küchenhilfe an: „Bist du denn schon fertig mit dem Wiedereinfrieren der Fleischbällchen?“
Die aufgetauten und nicht verkauften Fleischbällchen lagen aber noch in der Küche auf dem Tisch, deshalb erfuhr Uwe nicht, was die albanische Küchenhilfe mit ihrer Bemerkung gemeint hatte.
„Gestern bin ich mit dem Bus nach Chios gefahren“, sagte der Lehrer zu dem Philosophen. „Kennst du diese Busse? Ich meine, weil du immer Auto fährst.“
„Ich kann sie mir vorstellen“, sagte Jannis und schenkte sich Retsina nach.
Uwe sagte: „Sie sind alt, eng, desolat und die Rückenlehnen sind sehr hoch. Die Angaben für die Abfahrtszeiten am Busbahnhof sind zwar präzise, aber manchmal fährt der Bus später oder auch früher ab als angegeben. Davor steht er schon lange Zeit in der Sonne, und vorn und hinten sind die Türen geöffnet. Ich bin hinten eingestiegen und habe mich hinter zwei Frauen aus Pyrgi gesetzt, die mich nicht bemerkten. Sie unterhielten sich mit dem größten Vergnügen und der hier üblichen Lautstärke über einen Spinner, der von Pyrgi nach Emporios wandert, während ein Philosoph seine Freundin vögelt, und das anscheinend jeden Tag.“
Jannis trank von seinem Retsina. Beate war noch am Strand.
„Und?“, fragte der Philosoph.
„Es gibt ein kurioses Element an dieser Geschichte“, sagte der Lehrer.
„Nämlich?“
„Ich bin bei meinen Wanderungen von Pyrgi nach Emporios und zurück noch niemals einer anderen Person begegnet.“
„Das besagt nichts“, sagte Jannis. „Wir hatten einen Fall im Dorf, wo ein Arzt bei einem Mann Fleckfieber diagnostizierte, als dieser im Ehebett ständig den Eindruck der Anwesenheit eines Dritten hatte. Das Gefühl, es sei noch ein Körper mit einem im Bett, gilt als typisches Fleckfieber-Symptom.“
„Und?“
„Es war kein Fleckfieber; der Arzt war der Dritte.“
„Tolle Geschichte“, sagte der Studienrat.
Nach einer Gesprächspause fragte Jannis: „Sagten sie tatsächlich ‚Philosoph‘?“
„Ja, genau das sagten sie.“
„Das ist eigentümlich“, sagte Jannis. „Mir ist nämlich hier noch nie ein Philosoph begegnet.“
Beate kam vom Strand zurück.
„Ich werde duschen, dann will ich etwas Gutes essen gehen“, sagte sie. „Wer geht mit?“
Nach einer Pause sagte Uwe: „Fahren wir doch nach Mesta, dort soll ein wirklich gutes Restaurant sein.“ Der Wirt in Mesta trat an den Tisch des schweigsamen Touristenpaares und fragte leutselig in gebrochenem Englisch, wie den Herrschaften die Insel gefalle.