Am Ufer des Kunene verliebt sich der Häuptlingssohn Kondjoura in das Himbamädchen Tjizire. Um sie zu seiner Frau zu machen, braucht er die Zustimmung ihres Vaters. Dieser hat den alten Traditionen längst abgeschworen und will keine Rinder, sondern Geld. So verlässt Kondjoura die vertraute Welt der Himba, um für seine Liebe zu kämpfen.
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Giselher W. Hoffmann (1958–2016) lebte als freier Schriftsteller an der Atlantikküste Namibias. Mehrere Jahre arbeitete er als Jäger in der Kalahari. Sein Gefährte war lange Zeit ein Gwi, ein »Erstgeborener«, durch den er mit diesem Volk und seiner hohen Kunst der Anpassung an die Natur vertraut wurde.
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Schattenjäger
Roman
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Die Erstausgabe erschien 1998 im Verlag Hoffmann Twins, Swakopmund.
© by Giselher W. Hoffmann 1994
Vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: 2630ben
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30823-7
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Für alle, die an meinem Feuer saßen.
Kondjoura | Hauptperson und stolzer Rinderhirte. |
Ngaturipure | Kondjouras Vater. Oberhaupt des Clans. |
Ondjandje | Kondjouras Mutter. |
Rijamekee | Kondjouras Schwester. |
Uasuta | Kondjouras geschäftstüchtiger Schwiegervater. |
Tjizire | Kondjouras Gefährtin. |
Vejaruka | Ziegenhirte und stiller Bewunderer von Kondjouras Schwester Rijamekee. |
Paulus Natangwe | Gärtner im Dienst der Engelbrechts. Stammesmitglied der Mbalantu. |
Esme | Paulusʼ Frau. Hausmädchen der Engelbrechts. Stammesmitglied der Kwanyama. |
Sinna | Paulusʼ Schwiegermutter. Hausmädchen der Hillmanns. |
Josef | Paulusʼ Schwiegervater. Bauaufseher. |
Philemon | Paulusʼ Bruder. Widerstandskämpfer in Angola. |
Ismael | Paulusʼ Bruder. Widerstandskämpfer in Angola. |
Johannes | Paulusʼ Bruder. Widerstandskämpfer in Angola. |
Usumane | Der »Blinde«. Ladenbesitzer in Ombalantu. |
Timon | Usumanes Bruder. Taxifahrer. |
Patrick Hillmann | Hauptperson. Soldat und Naturschutzbeamter im Kaokoland. |
Arthur | Patricks Vater. Bauunternehmer. |
Martha | Patricks Mutter. |
Erich | Patricks Bruder. Elitesoldat. |
Louis Engelbrecht | Offizier der südafrikanischen Armee und Arthur Hillmanns Verbündeter. |
Elsie | Louisʼ Frau. |
Sarah | Louisʼ Tochter und Patrick Hillmanns Geliebte. |
Jessica | Sarah Engelbrechts und Patrick Hillmanns Tochter. |
Frederick Souter | Arthur Hillmanns größter Widersacher. |
Denise | Fredericks Frau. |
Melissa | Fredericks Tochter. |
Hartmut Demmler | Patrick Hillmanns Leidensgenosse in der Armee. |
Sergeantmajor Webster | Patricks Vorgesetzter im Kaokoland. |
Leutnant Webster | Sergeantmajor Websters Frau. |
Lombard | Weltfremder Sergeant. Stationiert in Swartbooisdrift. |
Leon Ellison | Naturschutzbeamter im Kaoko- und Damaraland. |
Jasmin | Krankenschwester im Kaokoland. |
Frikkie Steyn | Tankstellenbesitzer in Kamanjab. |
Dannie und Ella Steyn | Ladenbesitzer in Kamanjab. |
1
Als es Abend wurde, bog Kondjoura vom Elefantenpfad in den angrenzenden Mopanewald ab. Er schlängelte sich an den knorrigen, im Schatten ruhenden Stämmen vorüber und stieß hinter dem schmalen Laubgürtel auf den Kunene. Frische Rinderfährten und die Spuren von Hirten führten zum Ufer hinunter, und in der Mitte des Grenzflusses zwischen Namibia und Angola strömte das Wasser gurgelnd über eine Felsenbank. Der Kunene war an dieser Stelle nicht mehr als siebzig Schritte breit.
Kondjoura legte den Hirtenstab fort, löste den Knoten in seinem Leibriemen, ließ ihn samt den beiden schwarzen, kalbsledernen Lendenschurzen und dem Tragebeutel auf den Boden fallen und schleuderte die Sandalen aus Giraffenleder von seinen Füßen. Dann näherte er sich dem Fluss.
Das Ufer war mit rundgeschliffenen Steinen übersät, so dass er sich an dem mannshohen Schilf festhalten musste. Kaum hatte er einen Schritt in das milchiggrüne Wasser getan, begann der Strom an seinen Beinen zu zerren. Er hockte sich zwischen zwei Felsen und schloss die Augen.
Der Fluss belebte ihn, so wie er auch seine Urahnen belebt hatte, als die Herero zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus der angolanischen Provinz Mocamedes gen Süden gezogen, den Kunene überquert und ihn auf ihrer Wanderung in das nordwestliche Grenzgebiet des heutigen Namibias zu ihrer Rechten – okunene – gelassen hatten. Ein großer Teil der Herero war weiter ins Landesinnere vorgedrungen, während eine kleine Volksgruppe im Kaokoland, dem Platz der Stille, zurückgeblieben war. Das Volk nannte sich Himba – Die Singenden.
Kondjoura öffnete die Augen und neigte sich vor, um aus der hohlen Hand zu trinken. In dem Moment gewahrte er eine Bewegung. Er sprang auf, im Glauben, ein Krokodil sei am gegenüberliegenden Ufer ins Wasser geglitten, doch als er mit rudernden Armen das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah er ein Himbamädchen im Schilf knien.
Kondjoura atmete auf. »Ist es für dich Abend geworden?«, rief er über den Fluss.
»Ja«, erwiderte das Mädchen, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Ist es für dich Abend geworden?«
»Ja, es ist für mich ein guter Abend geworden«, beendete er die Begrüßung. Das Mädchen starrte ihn noch immer unverwandt an. Er war ein hochgewachsener, junger Mann mit breiten Schultern, schmalen Hüften und langen, sehnigen Beinen. Als er die Hände vor seinem nackten Schoß faltete, senkte sie den Kopf, und das schulterlange, zu fingerdicken Schnüren geflochtene Haar fiel wie ein Perlenvorhang über ihr Gesicht.
Grinsend nahm Kondjoura wieder zwischen den Felsen Platz und betrachtete die junge Frau: Sie trug eine wulstige Halskette aus Straußeneierplättchen, an den Handgelenken Kupferringe; und eine mit einer Muschel verzierte Eisenperlenkette baumelte zwischen ihren Brüsten herab. Sie hatte große Brüste; sie berührten die Ellbogen, jetzt, da sie sich nach vorn neigte und einen ausgehöhlten Flaschenkürbis in das Wasser tauchte.
Obwohl sie so tat, als sähe sie ihn nicht, ahnte er, dass sie ihn verstohlen beobachtete. Er drehte den Kopf zur Seite, damit sie seine beiden Zöpfe sah und wusste, dass er beschnitten und durchaus berechtigt war, eine Frau an sein Feuer zu holen.
»Ich bin Kondjoura, der in der Sturmnacht Geborene!«, rief er. »Ich habe sechs Monde im Kral meines Onkels zugebracht, um mir die Rinder anzusehen, die ich eines Tages erben werde. Die Rinder sind fett und so zahlreich wie die Sterne.«
Er hatte bewusst angegeben, doch die Aufmerksamkeit des Mädchens galt allein den Luftblasen, die blubbernd aus dem Flaschenhals der Kalebasse aufstiegen.
»Wer bist du?«
»Tjizire!«
Kondjoura nickte. »Die Welt verändert sich ständig«, pflichtete er ihr bei. »Eben noch hat dein Anblick mich erschreckt, jetzt erfreut er meine Augen.« Er lächelte. »Welchem Matriclan gehörst du an?«
»Dem Clan der Schwiegertochter des Regens.« Tjizire hatte eine helle, klare Stimme, die mühelos den gurgelnden Fluss übertönte. Nun hob sie die Kalebasse aus dem Wasser und stand auf. Ein mit Münzen verzierter Riemen umspannte ihre Taille, und an ihrem vorderen Lendenschurz waren Kupferstangen befestigt. Die Schmuckstücke funkelten im Abendlicht, und ihre mit Ocker und Butter beschmierte Haut glänzte wie das seidige Fell eines roten Rindes.
»Dein Vater muss ein wohlhabender Mann sein!«
»Mein Vater ist ein Häuptling!«, rief Tjizire. »Er heißt Uasuta.«
»Und wie heißt dein Verehrer?«
Sie winkte mit einer wegwerfenden Handbewegung ab, einer Bewegung, die in Kondjoura jäh den Wunsch weckte, Tjizire zu besitzen. Sie war allein, also konnte Uasutas Kral nicht weit vom Fluss entfernt sein.
»Mein Vater ist auch ein Häuptling«, rief Kondjoura. »Ngaturipure herrscht über ein großes Weidegebiet in der Nähe der Epupa-Wasserfälle. Ich werde ihm ausrichten, dass ich jenseits des Kunene ein Mädchen gesehen habe, das mein Herz zum Singen gebracht hat.«
Tjizire hob den Flaschenkürbis auf ihren Kopf, wandte sich um und ging davon, während Kondjoura reglos im Wasser verharrte. Er hoffte, dass Tjizire sich noch einmal nach ihm umschauen würde, doch sie stieg mit schwingenden Hüften den sanft ansteigenden Hang empor und war nur einen Augenblick als Silhouette gegen den Abendhimmel zu sehen, ehe sie hinter dem Bergrücken verschwand.
Als sie fort war, wirkte der Berg trostlos und karg, und das Gemurmel des Wassers klang, als führte der Fluss Selbstgespräche. Kondjoura jedoch lächelte, denn er brauchte nur die Augen zu schließen, um sich Tjizire in die Erinnerung zurückzurufen.
Kaum hatte Tjizire die Kalebasse vor der Hütte ihrer Mutter abgestellt, da winkte ihr Vater sie auch schon mit einem gekrümmten Zeigefinger zu sich heran. Tjizires Mutter saß neben Uasuta auf einem umgestürzten Baumstamm, der ihm als Thron diente. »Meine Späher haben mir gemeldet, dass sich unten am Fluss ein fremder Mann vor deinen Augen entblößt hat«, sagte er.
Tjizire senkte den Kopf. »Er hat mich nicht kommen sehen.«
»Aah …«, sagte Uasuta, »ein Blinder!«
»Er hat eine lange Reise hinter sich«, entgegnete Tjizire mit trotzig klingender Stimme. »Er hat sechs Monde im Kral seines Onkels zugebracht, um sich die Rinder anzusehen, die er eines Tages erben wird. Die Rinder sind fett und so zahlreich wie die Sterne.«
»Aah …« Uasuta lächelte. »Ein Lügner!«
»Kondjoura ist der Sohn des allmächtigen Ngaturipure!«, stieß Tjizire hervor und sah, wie das Lächeln auf den Lippen ihres Vaters gefror.
»Was ist?«, fragte sie. »Kennst du ihn?«
Uasuta nickte. »Nomaden haben seinen Namen über den Fluss getragen und gesagt, dass Ngaturipure jenseits des Kunene über ein großes Weidegebiet herrscht.«
Er schüttelte seufzend den Kopf. »Du hättest Kondjoura zu mir bringen sollen.«
»Zwischen uns lag ein Fluss voller Krokodile!«
»Trotzdem«, beharrte Uasuta.
»Was hat Kondjoura zu dir gesagt?«, mischte sich Tjizires Mutter ein.
»Mein Anblick hat sein Herz zum Singen gebracht«, sagte Tjizire.
»Hohoho!«, rief Uasuta und schlug sich vergnügt auf die Schenkel.
»Hat er dir ins Herz geblickt?«
»Ja, Mutter.«
»Und was hat er gesehen?«, wollte Uasuta wissen.
»Dass er ein begehrenswerter Mann ist.«
»Hohoho!«
»Leg die Hände in den Schoß, wie es sich für ein geduldiges Himbamädchen gehört«, sagte ihre Mutter. »Wenn Kondjoura wirklich der Sohn des allmächtigen Ngaturipure ist und dein Anblick sein Herz zum Singen gebracht hat, wird er bald den Fluss überqueren und deinem Vater ein großzügiges Angebot machen.«
»Ja, Mutter.«
Das Dämmerlicht war zu schwach, als dass Kondjoura den Fußspuren der Hirten zu einem Kral hätte folgen können. Und so ging er in den Mopanewald zurück, kramte eine Zunderbüchse aus dem Tragebeutel und entfachte ein Feuer. Anschließend hob er im Flammenschein eine Mulde aus, streute Laub hinein und kuschelte sich in die welken Blätter. Aber er fand keinen Schlaf. Tjizire hatte sich in seinem Kopf eingenistet, und er wusste, dass sie dabei war, sich in sein Herz zu schleichen.
Kondjoura wandte den Kopf ab und blickte zu den Sternen empor. Es ist gefährlich, des Nachts in ein Feuer zu starren: Die Augen brauchen zu lange, ehe sie sich an die Dunkelheit gewöhnen und eine herannahende Gefahr erkennen. Es ist nicht minder gefährlich, sich des Nachts irgendwelchen Wunschträumen hinzugeben, doch Kondjoura konnte Tjizire nicht aus seinen Gedanken verbannen. Er lauschte den Stimmen des Waldes und des Flusses und fragte sich, ob es an ihrem Vater oder an Tjizire selbst lag, dass sie keinen Verehrer hatte. Um die Antwort herauszufinden, würde er den Kunene überqueren müssen …
Als der Morgen graute, stand Kondjoura auf und urinierte in die sterbende Glut. Dann ging er zum Fluss hinunter. Dunstschwaden stiegen träge aus dem Wasser – es war über Nacht braun geworden und schmeckte nach Lehm, ein Zeichen, dass im Osten der erste Regen des Sommers gefallen war.
Kondjoura wischte seinen Mund am Unterarm ab und spähte zum gegenüberliegenden Ufer hinüber. Das Schilf hatte sich wieder aufgerichtet, dort, wo Tjizire es mit ihren Knien niedergedrückt hatte. Lächelnd kehrte Kondjoura dem Ufer seinen Rücken zu und machte sich auf den Heimweg.
Der Elefantenpfad führte ihn in westlicher Richtung am Kunene entlang durch Mopanewälder und über auslaufende Berghänge hinweg. Er schritt leichtfüßig aus, mit schlenkernden Armen, den Hirtenstab wie einen Speer in der rechten Faust haltend, derweil sich hinter ihm die Sonne an den Bäumen emporhangelte und über den Wipfeln in den Himmel stieg. Er spürte ihre Strahlen warm auf seinem nackten Rücken, und mit der Hitze kamen die Fliegen. Kondjoura hatte es schon als Kind aufgegeben, sie zu verscheuchen. Nur wenn sie sich in seinen Augenwinkeln niederlassen wollten, kniff er ruckartig die Lider zusammen.
Unterwegs brach er einen Mopanezweig ab, schob ihn zwischen die Lippen und kaute darauf herum, um seinen Hunger zu stillen. Er musste sich eine ganze Weile mit dem bitteren Holz begnügen, denn erst als sein Schatten wie ein schwarzer Zwerg vor ihm hertanzte, traf er auf einen Hirtenjungen, der eine Ziegenherde zum Fluss hinunterführte. Kondjoura hob grüßend seine freie Hand. Daraufhin blieb der Hirte wie angewurzelt auf dem Elefantenpfad stehen.
»Hast du den Tag verbracht?«, rief Kondjoura.
»Ja«, sagte der Hirte. »Hast du auch den Tag verbracht?«
»Ja, ich verbrachte den Tag.« Kondjoura rammte den Hirtenstab in den Boden, stützte sich auf den Knauf und musterte den Jungen. Er war ebenso mager wie die Ziegen, die durch das Unterholz brachen, und anstelle eines kalbsledernen Lendenschurzes verbarg ein zerschlissenes, schwarzes Tuch sein Geschlecht. Kondjoura hatte den schmutzigen Kerl, der sich nervös am Hintern kratzte, noch nie gesehen. »Wer bist du?«
»Vejaruka.«
»Woher stammst du?«
»Okongwati.« Der Kral lag im Süden, drei Tagesreisen vom Kunene entfernt. »Wir sind nach Norden gezogen, weil die Himba in dem ausgetrockneten Omuhongafluss zu viele Brunnen gegraben und das Wasser zum Versiegen gebracht haben.«
»Und wer gab euch das Recht, euer Vieh in der Nähe der Epupa-Wasserfälle weiden zu lassen?«
»Ngaturipure«, antwortete der Junge mit ehrfürchtig klingender Stimme.
Kondjoura lächelte. »Ich bin der Sohn des Ngaturipure.«
Vejaruka pfiff durch die Zähne. Einen Herzschlag später war er im Gebüsch verschwunden, und als er wiederauftauchte, hatte er eine Ziege im Schlepp. Er zerrte sie an den Hörnern in den Schatten und forderte Kondjoura auf, sich unter das pralle Euter zu legen. Während der Hirte einen schäumenden Milchstrahl in Kondjouras Mund lenkte, pries er überschwänglich Ngaturipures Großzügigkeit – Vejaruka nannte ihn einen Vater der Himba und verherrlichte die Schönheit seiner Rinder.
»Deine Worte werden Ngaturipures Ohren schmeicheln«, versicherte Kondjoura dem Jungen und kroch unter der Ziege hervor – er hätte gern noch mehr von der süßen Milch getrunken, doch er wollte nicht, dass Vejaruka und das Lamm seinetwegen Hunger leiden mussten.
»Ich will dich zu meinem Vater führen«, schlug der Hirte vor. »Meine Mutter wird dir zu Ehren eine Ziege schlachten.«
»Die Milch deiner Ziege hat mich bereits gestärkt«, wehrte er sanft ab und sah sich nach seinem Hirtenstab um.
Unterdessen überlegte der Junge, wie er Kondjoura am Fortgehen hindern konnte. Plötzlich hellte sein Gesicht sich auf: »Ich habe vier Schwestern«, sagte er augenzwinkernd. »Zwei davon sehnen sich nach einem Mann.«
Kondjoura strich Vejaruka lachend über den schmalen Haarstreifen, der am Hinterkopf des Jungen in einen geflochtenen Zopf mündete. »Ich habe noch einen weiten Weg vor mir«, sagte er, »aber ich werde bald mit Ngaturipure zurückkehren, um eine Frau an mein Feuer zu holen. Dann werde ich deinem Vater sagen, dass er einen tapferen Sohn hat.«
Vejaruka hob eine Hand. »Leb wohl, Sohn des Ngaturipure.«
Kondjoura spürte die Augen des Jungen auf seinem Rücken, warm wie die Sonne, und sie folgten ihm, bis er hinter einer Biegung vom weißgesprenkelten Schatten des Waldes verschluckt wurde.
Je näher Kondjoura den Epupa-Wasserfällen kam, desto vertrauter wurde ihm die Umgebung. Bald erkannte er einzelne Bäume wieder. Er begrüßte sie, indem er ihnen im Vorübergehen die Hand auf die rissige, graue Rinde legte. Und als er neben dem Elefantenpfad rastete, um die heißeste Zeit des Tages verstreichen zu lassen, begann der Westwind im Laub zu rascheln, und Kondjoura konnte mit einem Mal die Wasserfälle hören. Er rappelte sich auf und stieg querfeldein über die glühenden Hügel, denn das ferne Rauschen klang in seinen Ohren wie eine Stimme, die nach ihm rief.
Trampelpfade führten aus den umliegenden Hügeln in das Tal hinunter. Solange Kondjoura zurückdenken konnte, waren die Rinder seines Vaters auf diesen Wegen zu den fernen Weidegründen gezogen. Im Tal selbst ragten die Zweige der entlaubten Sträucher wie schwarze, verkrüppelte Finger aus der Schuttebene, und die Ziegen hatten das Gras bis auf die Wurzeln heruntergefressen.
Inmitten dieser Einöde zählte Kondjoura acht Lehmhütten, die kreisförmig um ein Rindergehege herum verteilt waren und von einer zweiten, mannshohen Dornenhecke umschlossen wurden. Die Rundhütte seiner Mutter Ondjandje lag im Südosten des Krals. Die Hütte war größer als die anderen, und der Eingang blickte schräg über das Ahnenfeuer hinweg auf den Durchgang im Gehege, der nachts vorsorglich mit Dornenzweigen versperrt wurde, damit die Raubtiere nicht an die von den Ahnen heiliggesprochenen Rinder herankamen.
Die Hütten sahen baufällig aus. In den sechs Monaten, die Kondjoura bei seinem Onkel verbracht hatte, waren die Lehmwände aufgeplatzt, und die Dornenhecke war in sich zusammengesackt. Sein Vater Ngaturipure hatte lediglich die Schutzwand des Rindergeheges erneuert. Kondjoura grinste. Das Wohlergehen der heiligen Rinder war seinem Vater wichtiger als alles andere.
Kondjoura sah seinen Vater in der Nähe des Durchgangs unter einem Weißstammbaum stehen. Er stützte sich auf seinen Hirtenstab und blickte in die Ferne, so als hielte er Ausschau nach seinem Sohn. Vielleicht tat er das wirklich, denn bei Ngaturipure wusste man nie, was ihm die Ahnen am heiligen Feuer anvertraut hatten. Wie er so hoch aufgerichtet im Schatten stand, erinnerte er Kondjoura an einen Storch. Er rührte sich nicht, während Ondjandje zu seinen Füßen im Staub hockte und mit Hilfe von Kondjouras Schwester Rijamekee Eisenperlen auf eine Lederschnur reihte.
Kondjoura hatte die Hälfte des Hügels bewältigt, als die Hunde anschlugen: magere, schwefelgelbe Kläffer, die zu alt waren, um die Hirten zu begleiten, dafür aber jede Abwechslung mit einem freudigen Geheul begrüßten. Ngaturipure hob eine Hand und beschattete seine Augen. Dann sagte er etwas zu Ondjandje. Kondjouras Mutter und seine Schwester ließen die Eisenperlen fallen und sprangen auf.
Als Kondjoura vor einem halben Jahr fortgegangen war, hatte seine Schwester zwei Zöpfe getragen, die wie die Hörner eines Gnus zu beiden Seiten ihres Gesichts gehangen hatten. Nun versperrten ihr ungezählte Fransen die Sicht und hinderten Rijamekee daran, ihm entgegenzueilen.
Kondjoura näherte sich dem Kral mit gemächlichen Schritten, obgleich auch er am liebsten durch die Lücke in der Dornenhecke gestürmt wäre. Er ging an einer auf Stelzen ruhenden Vorratskammer vorüber und trat in den Schatten des Weißstammbaums. »Meine Augen freuen sich, euch zu sehen«, sagte er.
Rijamekee begann in die Hände zu klatschen und auf der Stelle zu tanzen, und Ondjandje wandte sich ab, um den für Kondjoura bestimmten Flaschenkürbis aus ihrer Hütte zu holen, während Ngaturipure seinen Sohn musterte. »Ich sah dich im Traum über die Hügel kommen«, murmelte er. »Jetzt bist du da.« Sein Haar verbarg sich unter einem kalbsledernen Turban, der wie ein gepolstertes Kissen auf seinem Kopf ruhte. Unter dem Rand, direkt über seinem rechten Ohr, steckte ein Miniaturspeer. Ngaturipure zog ihn hervor, schob die Spitze an der linken Schläfe unter den Turban und kratzte sich. In dem Moment wurde Rijamekee von ihrer Mutter zur Seite gedrängt. Sie reichte Kondjoura den Flaschenkürbis, aus dem er sein Leben lang getrunken hatte. Die Kalebasse war bis zum Hals mit Dickmilch gefüllt.
Ondjandje legte ihm eine Hand auf die Brust, als wollte sie sich durch seinen Herzschlag davon überzeugen, dass er kein Geist war. Ihre Hand hinterließ auf seiner dunklen Haut einen ockerroten Abdruck. »Schaut ihn euch an«, sagte sie und schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Aus dem Kind ist ein Mann geworden.«
Rijamekee grinste ihren Bruder an. Sie konnte durch die herabbaumelnden Zöpfe kaum etwas sehen. Kondjoura hätte seine Schwester gern im Kreis herumgewirbelt, doch auch sie war kein Kind mehr, sondern ein Mädchen, das bald zum ersten Mal Blut und damit die Kindheit verlieren würde.
Kondjoura setzte die Kalebasse an die Lippen, und die Dickmilch rann kühl durch seine Kehle.
Er war heimgekehrt.
Kondjoura hatte den ganzen Abend Fragen beantwortet. Nun beobachtete er, wie die gut zwei Dutzend Angehörigen seines Clans in ihren Rundhütten verschwanden. Nur sein Vater schien zu spüren, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte, denn der Alte blieb auf den Fersen hocken, die Arme locker über die Knie gelegt, und blickte in die Flammen, die meterhoch aus den aufgeschichteten Mopaneästen schlugen und die Augen der heiligen Rinder hinter der Dornenhecke erglühen ließen.
Kondjoura räusperte sich: »Als ich vor wenigen Tagen den Kral meines Onkels verließ, um zu euch zurückzukehren, entdeckte ich nördlich des Kunene ein Mädchen.«
»Wirklich?« Der Alte war zu Scherzen aufgelegt. Er hatte aus Kondjouras Antworten erfahren, dass sein Schwager wohlauf und das Vieh in guter Kondition war. Hinzu kam, dass es im Osten des Kaokolandes geregnet hatte.
»Das Mädchen heißt Tjizire.«
»Welchem Matriclan gehört sie an?«
»Dem Clan der Schwiegertochter des Regens.«
»Ngaturipure nickte beifällig, denn wäre Tjizire wie Kondjoura in den Matriclan der Schwiegertochter des Schlammes hineingeboren, hätte er sie nicht an sein Feuer holen dürfen.
»Sie sagte, sie sei die Tochter eines Häuptlings.«
»Das behaupten viele Mädchen, wenn ein Fluss voller Krokodile zwischen ihnen und einem Verehrer liegt«, frotzelte Ngaturipure. Doch als Kondjoura ihm den Namen des Patriarchen nannte, schlug Ngaturipure eine Hand vor den Mund und starrte seinen Sohn erschrocken an. »Uasuta?«
»Kennst du ihn, Vater?«
Ngaturipures Hand fiel herab. »Vor ein paar Monden haben Nomaden aus Angola diesen Namen über den Kunene getragen«, murmelte er. »Aber was sie mir erzählten, klang so unglaublich, dass ich Uasuta für ein Fabelwesen gehalten habe.«
»Was haben die Nomaden gesagt?«
»Sie sagten, dass Uasutas Bruder von einem Elefanten niedergetrampelt worden sei. Die Eltern kamen über seinen Tod nicht hinweg. Sie rissen sich im Schmerz die Haare aus und verstümmelten ihre Gesichter mit einem Messer. Als Ndjambi Karunga, der allmächtige Gott, das sah, schenkte er ihnen einen neuen Sohn.« Eine Weile war nur das Knistern des Feuers und das Knirschen eines Lederdeckels zu hören. Ngaturipure pickte mit spitzen Fingern eine Prise Schnupftabak aus dem abgesägten Horn eines Stieres, dann vernahm Kondjoura, wie sein Vater zweimal ruckartig durch die Nase hochzog. »Einen sehr seltsamen Sohn«, fügte Ngaturipure hinzu, »denn Uasuta lässt alle Rinder, die nicht zur heiligen Herde gehören, in seiner Hütte schlafen.«
»In seiner Hütte?«
»Ja, und diese Rinder sind nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Ombapira.«
»Aus Papier?«
»Ich wollte es damals auch nicht glauben, aber die Nomaden beteuerten, dass ein Händler aus der Grenzstation Swartbooisdrift tatsächlich Rinder in Papier verwandeln kann. Sie sollen nicht größer als meine Handfläche sein.«
»Dann lass uns über den Kunene gehen und Uasuta fragen, wie viele Papierrinder seine Tochter wert ist.«
Ngaturipure wandte ihm seinen schmalen, scharf geschnittenen Kopf zu. Schatten nisteten in den Falten und ließen ihn älter erscheinen, als er war. »Wenn wir Uasuta um Rat fragen, wird er einen hohen Brautpreis verlangen.«
»Ich wäre bereit, fünfzehn Kühe für Tjizire zu opfern.«
Ngaturipure schnalzte mit der Zunge: »Wer ein Mädchen begehrt, neigt dazu, ihren Wert zu überschätzen«, sagte er. »Wir werden zehn Ochsen nach Swartbooisdrift treiben und sie dort bei dem Händler gegen Papierrinder eintauschen. Dann tragen wir das Papier über den Kunene und legen es Uasuta in den Schoß.« Ngaturipure grinste. »Der Anblick wird Uasuta über den Verlust seiner Tochter hinweghelfen.«