Kim Forester

Clans von Cavallon

Im Bann des Einhorns

Weitere Bücher von Kim Forester beim Arena Verlag:

Clans von Cavallon – Der Zorn des Pegasus (Band 1)

Clans von Cavallon – Der Fluch des Ozeans (Band 2)

Kim Forester

liebt Tiere und Fantasyliteratur. Seit sie in

der 8. Klasse Unten am Fluss gelesen hat, träumt sie

sich leidenschaftlich gerne in fantastische Welten.

Mit ihrem Mann, ihrem Sohn und drei Katzen lebt sie am Rande

eines Waldes in Maryland. Die wilden Pferde, die

dort leben und die sie von ihrem Schreibtisch aus beobachten

kann, haben sie zu den Clans von Cavallon inspiriert.

Max Meinzold,

geboren 1987, ist freischaffender Grafikdesigner

und Illustrator. Seine Schwerpunkte liegen

in den Bereichen Science-Fiction, Fantasy und der Kinder-

und Jugendliteratur. Für seine moderne, innovative

Buchgestaltung wurde er bereits für zahlreiche Preise

nominiert. Er lebt und arbeitet in München.

Kim Forester

Aus dem Englischen
von Ulrike Köbele

For Marjorie, who will get through this. —
Für Marjorie, die das überstehen wird.

Die Clans von Cavallon

Menschen wohnen im gebirgigen Norden von Cavallon und in der Freien Stadt. Dort ist der Rat von Cavallon angesiedelt, in dem alle fünf Clans repräsentiert sind. Menschen spezialisieren sich darauf, Werkzeuge und Schmuck herzustellen und damit zu handeln. In der Freien Stadt leben die Clans friedlich zusammen. Im Rest des Landes jedoch bestimmen teilweise noch immer uralte Feindschaften und Aberglaube das Leben der Menschen.

 

Einhörner haben die Schwarzhornwälder im Osten Cavallons als ihr Territorium erkoren. Sie leben nach dem Recht des Stärkeren und sind geschickte Jäger und Krieger, die sich Menschen als Sklaven halten. Der Legende nach soll in früheren Zeiten einmal ein außergewöhnliches Band zwischen Menschen und Einhörnern bestanden haben, doch seit dem Krieg von Cavallon schürt diese Vorstellung unter Einhörnern große Angst.

 

Den Pegasus wird für den Krieg von Cavallon die Schuld gegeben. Sie gelten als extrem selten und sind als rachsüchtige Kriegstreiber gefürchtet. Nach der Unterzeichnung des Friedenspakts zog sich die einzig verbliebene Pegasusherde ins Wolkengebirge im Nordosten des Landes zurück. Ihre Federn werden auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Pegasus sind äußerst misstrauisch allen anderen Clans gegenüber.

 

Kelpies leben in der Kalten See im Nordwesten und sind vielerorts gefürchtet. Denn sie ziehen Menschen unter Wasser und töten sie - so heißt es. Tatsächlich sehen Wasserpferde mit ihren spitzen Zähnen und kräftigen Fischschwänzen gruselig aus. Sie jagen jedoch nur Fische und ernähren sich von Algen. Nach dem Friedenspakt haben sich die Kelpies in die Unterwasserhöhlen rund um die Festungsinsel zurückgezogen.

 

Zentauren leben in Corlandia, im Süden Cavallons an der Warmen See. Sie gelten als die Gelehrten von Cavallon und die übrigen Clans erweisen ihnen höchsten Respekt. Ihre Hauptstadt ist Coropolis, dort horten die zentaurischen Chronisten alles Wissen des Landes. Sie können als einziger Clan lesen und schreiben, Menschen arbeiten für sie als analphabetische Schreiblehrlinge. Doch die Zentauren haben einen grauenhaften Pakt geschlossen und hüten ein Geheimnis, das ganz Cavallon erschüttern wird …

Prolog

Robyn setzte sich auf dem hohen Stuhl zurecht und blickte in die gebannten Gesichter ihres Publikums.

»Doch Greta schrie, dass sie die Menschen niemals kriegen würden«, fuhr sie fort. »Von Fariennes Rücken aus hieb sie mit ihrem Schwert nach dem Gegner, der ihr am nächsten war. Das riesige kastanienbraune Einhorn schnaubte bedrohlich, als Greta erneut ausholte. Sie legte eine solche Wucht in den Schlag, dass Farienne beinahe aus dem Tritt geriet. In der Kuhle hinter ihnen keuchten die verängstigten Menschen auf und wichen vor den Kämpfenden zurück. Farienne jedoch schaffte es, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Mit einem markerschütternden Wiehern stürzte sie sich auf die angreifenden Einhörner.«

Robyn holte tief Luft. »Farienne kannte Gretas nächste Schritte so genau, als hätten sie sie Hunderte Male geübt. Ihr Band war so stark, dass Farienne an Gretas Seite nun sogar gegen Mitglieder ihres eigenen Clans kämpfte. Während Greta ihr Schwert auf Wolfsbane, den Anführer des Donnerhufclans, niedersausen ließ, tänzelte Farienne zur Seite, um die Bewegung ihrer menschlichen Freundin auszugleichen. Greta wiederum hielt sich blitzschnell an Fariennes Mähne fest, als die Stute sich aufbäumte und einem heranpreschenden weißen Einhorn einen mächtigen Huftritt verpasste. Es geriet ins Straucheln und stieß mit einem kleineren rostbraunen Einhorn hinter ihm zusammen.«

Jetzt beugte Robyn sich vor. »Greta schwang sich von Fariennes Rücken und hieb auf ein graues Einhorn ein, das geglaubt hatte, sie von der Seite attackieren zu können, während Farienne abgelenkt war. Als es stolpernd zurückwich, lachte sie ihm ins Gesicht und schrie: ›Ihr könnt uns nicht besiegen!‹«

An der Stelle geriet das Publikum jedes Mal aus dem Häuschen und der Raum, der bis auf den letzten Platz besetzt war, füllte sich mit lautem Johlen und Anfeuerungsrufen. »Zeig’s ihnen, Greta!«, brüllte ein Mann in der ersten Reihe.

Als langsam wieder Ruhe einkehrte, erzählte Robyn weiter. »Das Einhorn knurrte bloß und ging erneut zum Angriff über. Mit einem finsteren Lächeln im Gesicht wehrte Greta erst ein, dann zwei und schließlich ein halbes Dutzend Einhörner ab. Ihre braunen Locken rutschten unter dem Helm hervor und flogen nur so umher. Es spielte keine Rolle, wie viele Gegner auf sie einstürmten: Durch ihre Adern strömte die Kraft des Bandes. Ihre Stärke und Entschlossenheit waren eins mit Fariennes. Solange sie zusammen waren, konnte nichts und niemand sie aufhalten.

Farienne spürte es ebenfalls. Sie stieß ein triumphierendes Wiehern aus, als Wolfsbane unter ihren Huftritten zusammenbrach. ›Wir lassen nicht zu, dass ihr diese Menschen versklavt!‹, rief sie. ›Wenn ihr sie euch holen wollt, müsst ihr uns vorher töten!‹«

Robyn verlieh ihrer Stimme einen tiefen, bedrohlichen Klang. »›Dann macht euch bereit zu sterben‹, knurrte Wolfsbane. Er rappelte sich auf und stürzte sich erneut auf Farienne. Silbernes Blut rann über seinen Brustpanzer. Er brüllte: ›Ihr seid Verräter! Wir befinden uns im Krieg gegen die Pegasus! Wir brauchen die menschlichen Sklaven mehr denn je!‹«

Ein Chor aus Buhrufen schallte ihr aus dem Publikum entgegen.

»Wolfsbane wollte an Farienne vorbeistürmen«, fuhr Robyn fort, »doch sie war stärker und schneller. Sie warf sich ihm in den Weg und ihre Rüstungen prallten mit ohrenbetäubendem Scheppern und Krachen aufeinander. Im nächsten Moment hatte sich Greta wieder auf Fariennes Rücken geschwungen. Mit geschickten Fingern löste sie die Riemen von Wolfsbanes Rüstung. Der Anführer des Donnerhufclans taumelte rückwärts. Farienne schrie: ›Was ihr mit den Menschen macht, ist falsch. Kein Einhorn, das je ein Band mit einem Menschen eingegangen ist, wird euer Vorgehen dulden!‹ Wolfsbane erwiderte mit donnernder Stimme: ›Dann bedeutet dies das Ende des Bandes! Dafür habt ihr mit eurem Verrat gesorgt!‹«

In dringlichem Ton erzählte Robyn weiter. »Greta drehte sich zu den Menschen um. ›Lauft!‹, rief sie. ›Lauft, so schnell ihr könnt!‹ Eilig ergriffen die Menschen die Flucht. Ein paar Kinder gerieten ins Stolpern und drohten hinzufallen. Blitzschnell war Farienne bei ihnen, Greta beugte sich hinunter und nahm das jüngste von ihnen auf den Arm. Gemeinsam flohen sie in den Wald, wo die Bäume ihnen ein wenig Schutz und Deckung boten. Farienne lief voraus, die Ohren aufmerksam gespitzt, während Greta auf ihrem Rücken Ausschau hielt. Die verängstigten Menschen schlichen still hinter ihnen her. Ab und zu wimmerte eines der Kinder auf, wurde jedoch umgehend zum Schweigen ermahnt. Plötzlich löste sich eine helle Gestalt aus den Schatten der Bäume und trat ihnen entgegen. Farienne blieb wie angewurzelt stehen und Greta zog ihr Schwert, als sie sahen, wie ihr Gegenüber die Schwingen ausbreitete und ihnen den Weg versperrte.«

»Ein Pegasus!«, rief eine Frau von der Seite des Raumes.

»Ganz recht«, bestätigte Robyn. »Er war kleiner und zierlicher als Farienne, aber seine weißen Flügel nahmen den gesamten Raum zwischen den Bäumen ein. ›Lass uns durch‹, grollte Greta. ›Sofort.‹ Farienne spannte die Muskeln an, bereit, sich auf den Pegasus zu stürzen, doch der blickte an ihnen vorbei und musterte das zerlumpte Häuflein Menschen. ›Wollt ihr deswegen mit mir kämpfen?‹, fragte er. ›Um diese Flüchtlinge zu beschützen?‹« Unwillkürlich reckte Robyn den Hals und straffte die Schultern.

»›Zwischen uns besteht ein Band und wir sind aus allen Clans verstoßen worden‹, antwortete Farienne trotzig. ›Auch wir sind Flüchtlinge.‹ Greta richtete die Spitze ihres Schwertes auf den Pegasus. ›Ja‹, sagte sie, ›und wenn es sein muss, werden wir gegen dich kämpfen.‹ Der Pegasus betrachtete Farienne und Greta nachdenklich. Schließlich legte er die Flügel an und senkte den Kopf. ›Ihr seid nicht meine Feinde. Folgt mir, ich bringe euch ins Gebirge, an einen Ort, wo ihr sicher seid. Ihr alle.‹ Die Menschen sahen Greta und Farienne fragend an. Sie würden ihren Retterinnen folgen, wohin auch immer diese sie führten. Greta und Farienne wechselten einen langen Blick, dann wandten sie sich wieder dem Pegasus zu. ›Wir nehmen dein gütiges Angebot an‹, verkündete Greta. Als der Pegasus sich in Bewegung setzte, drehte sie sich um und sah ein letztes Mal auf den Wald zurück, den sie nun ein für alle Mal verlassen würden.«

Im Raum herrschte völlige Stille. Die Zuhörer hingen förmlich an Robyns Lippen. Sie holte tief Luft, um die letzten Zeilen mit angemessenem Pathos vorzutragen. »›Heute mögen wir fliehen‹, sagte Greta, ›doch eines Tages werden wir zurückkehren und dafür sorgen, dass alle Menschen befreit werden. Das schwöre ich.‹«

Im Raum hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Dann sprang das Publikum auf und die Ränge füllten sich mit Applaus und lautem Stampfen. Mit einem breiten Grinsen hüpfte Robyn vom Stuhl und verneigte sich vor ihren Zuhörern – Menschen, die wie sie als Schreiber tätig waren oder als Hausangestellte der Zentauren von Coropolis arbeiteten. Sie alle kannten die Geschichten vom Krieg von Cavallon in- und auswendig, die von einer Generation zur nächsten überliefert worden waren. Mündlich, bei solchen Erzählabenden, denn die Menschen konnten weder lesen noch schreiben. Aber das hat sich geändert, dachte Robyn mit Genugtuung.

In angeregte Unterhaltungen vertieft, schoben sich die Gäste langsam zum Ausgang. Jemand nahm die Vorhänge ab, die die Bühne von beiden Seiten einrahmten. Die Schreiber machten sich daran, den Holzboden zu fegen und die Stühle und Bänke entlang der Wand aufzustapeln. Stück für Stück verwandelte sich das provisorische Theater zurück in den armseligen Wohnraum der Schreiber von Coropolis.

»Wie haben wir uns heute geschlagen, Hoyle?«, erkundigte sich Robyn bei einem großen Jungen mit strohblondem Haar, der am Ausgang stand.

Er grinste. »Volles Haus, Robyn. Mit deiner Version von Gretas Geschichte kriegst du sie immer wieder. Das werden sie nicht so schnell vergessen.«

Robyn erwiderte sein Grinsen. »Ausgezeichnet.« Sie wartete, bis die Tür hinter den letzten Gästen ins Schloss fiel, dann klatschte sie laut in die Hände. »Auf geht’s. Greta hat geschworen, dass alle Menschen wieder frei sein würden. Dann sorgen wir mal dafür, dass sie recht behält.«

Kapitel 1

Nixi legte den Kopf in den Nacken, sodass der Regen ihr Gesicht benetzte. Damals auf der Festungsinsel hatte sie solche wolkenverhangenen Tage gehasst, aber jetzt gab es für sie kaum etwas Schöneres.

Dann sah sie die Menschen, die ihr auf der Straße entgegenkamen, und zog sich die Kapuze wieder tief in die Stirn. An der einfachen Kleidung aus handgesponnener Wolle erkannte sie, dass es sich um Dorfbewohner aus der Gegend handeln musste. Sie zogen einen Karren, dessen Räder immer wieder im Schlamm stecken blieben. Dadurch waren sie abgelenkt und erkannten nicht, dass die Gestalt, die durch den Schlamm auf sie zustapfte, ein Meermädchen mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern war.

Es würde ihnen vermutlich nicht mal auffallen, wenn ich die Kapuze abnehmen und ihnen mein schuppiges Gesicht zeigen würde, dachte Nixi, während sie an ihnen vorbeihuschte. Bei dem Lärm, den sie veranstalten, könnte ich ihnen einen ganzen Korb voller Äpfel klauen, ohne dass sie es bemerken.

Doch als Meermensch hielt sich ihr Appetit auf Obst in Grenzen. Und außerdem: Selbst wenn ihr beim Anblick der Äpfel das Wasser im Mund zusammengelaufen wäre, war das Risiko einfach zu groß. Sie konnte es sich nicht erlauben, erwischt zu werden – nicht jetzt. Nicht, solange ich das, was ich am dringendsten brauche, bei mir habe. Sie grinste, schob die Hand in die Tasche, die ihr bei jedem Schritt gegen den Oberschenkel schlug, und streichelte das dicke Buch darin.

Verwandlungszauber. Band zehn der Bücher der Magischen Beschwörung. So hatte dieser eingebildete Zentaur, dieser Lysander, es genannt und dabei ganz entsetzt ausgesehen.

So viele Leute wollten dieses Buch in ihre Hände, Hufe oder Klauen bekommen. Bei dem Gedanken wurde Nixis Grinsen noch breiter. Lysander wollte es – er und sein Freund Alexos hatten die halbe Nacht davon gefaselt, wie sie damit beweisen wollten, dass die Zentauren ganz Cavallon belogen hatten. Anscheinend hatten diese nach dem Krieg behauptet, sie hätten es zerstört, obwohl das gar nicht stimmte. Die Anführer der Zentauren in Coropolis wären ebenfalls hinter dem Buch her, sobald sie merkten, dass es nicht mehr in der Höhle war. Und der Menschenmutant mit den magischen Fähigkeiten, dieser Dromego, wollte es garantiert auch haben, schließlich hatte dieser Sam es aus seiner Höhle gestohlen.

Aber keiner von ihnen würde es bekommen. Wenn jemand es wirklich brauchte, dann Nixi.

Die beiden Zentauren hatten sich noch lange am Lagerfeuer unterhalten, doch Nixi war eisern wach geblieben. Sobald sie endlich verstummt waren und ihr Gequassel in langsame, gleichmäßige Atemzüge übergegangen war, hatte Nixi sich die Tasche mit dem Buch geschnappt und war damit in Richtung Süden geflohen, zu dem Fluss, wo Floss, Gryce und Jenera auf sie warteten.

Ich hab ihnen ja gesagt, dass ich einen Weg finden würde, uns wieder in Menschen zu verwandeln. Nixi stellte sich die Gesichter der drei vor, wenn sie ihnen ihre Beute zeigen würde, und ihre Schritte bekamen etwas Federndes. Schon bald würden sie diese widerwärtigen Schuppen und scharfen Reißzähne ein für alle Mal los sein.

Wenn ich wieder ein Mensch bin, kann ich machen, was ich will.

Nixi ließ ihre Gedanken schweifen. Sie stellte sich vor, wie ihre Gang sie ehrfürchtig und staunend anschauen würde, wenn sie in ihrer gewohnten menschlichen Gestalt auf die Festungsinsel zurückkehrte, um sie aus dem Gefängnis zu befreien.

Dann bog sie um eine Kurve und stieß einen leisen Fluch aus. Vor ihr war eine Gruppe aus mindestens zwei Dutzend Menschen und Zentauren unterwegs. Sie liefen in dieselbe Richtung wie sie, kamen wegen der Karren, die sie hinter sich herzogen, jedoch nur langsam voran. Bisher war es ihr gelungen, andere Reisende weitgehend zu meiden. Sie war meist mit gesenktem Kopf an ihnen vorbeigehuscht und hatte ihre Grüße mit leisem Gemurmel erwidert. Doch bei einer so großen Karawane bestand die Gefahr, dass jemand sie einladen würde, sich ihnen anzuschließen. Oder schlimmer noch, dass einer von ihnen genauer hinsehen und bemerken würde, was sich wirklich unter dem Umhang verbarg.

Sie ging langsamer, aber die Trödelei machte sie fast wahnsinnig. Ihre Schuppen juckten förmlich vor Ungeduld. Ich muss den anderen das Buch bringen! Sie musterte den Graben am Straßenrand und versuchte abzuschätzen, wie schwierig es wohl sein würde, ein Stück durch den Wald zu laufen, um die Karawane ungesehen zu überholen.

In dem Moment drehte sich ein kleines Kind am Ende der Gruppe um und schrie.

Ich bin aufgeflogen!, schoss es Nixi durch den Kopf.

Doch nein – das Kind zeigte zum Himmel hinauf, auf die beiden dunklen Schatten, die sich aus den Wolken lösten und über die Karawane hinwegglitten. Bevor Nixi erkennen konnte, worum es sich handelte, stoben die Menschen und Zentauren kreischend auseinander. In ihrer Panik stießen sie ihre Karren um und zertrampelten die Ladung.

Nixi hechtete kopfüber in den Straßengraben und machte sich unter ihrem Umhang ganz klein, in der Hoffnung, dass sie im Dämmerlicht des Regentages nicht so leicht auszumachen sein würde.

Eine der Gestalten über ihr flog eine scharfe Kurve, sodass Nixi sie besser sehen konnte. Es handelte sich um ein riesiges pferdeartiges Wesen mit gewaltigen ledrigen Schwingen, die Nixi an eine gigantische Fledermaus erinnerten. Sein langer, schuppiger Hals machte einen beinahe eleganten Bogen, als es das Maul aufklappte und einen Feuerstrahl ausspie, der einen der Karren in Brand setzte.

So etwas hatte Nixi schon mal gesehen – während des Angriffs auf Coropolis!

Nur dass auf dem Rücken dieser Kreatur eine weitere dämonische Gestalt saß. Im ersten Moment hielt Nixi sie für einen Menschen, doch dann fielen ihr die ledrige Haut und das spitze Horn auf, das aus der Stirn der Gestalt ragte. Das Horn war lang, länger als das eines Einhorns, und von verfilztem schwarzem Haar umwuchert.

Das muss einer von Dromegos Mutantensoldaten sein, die er mit der Magie aus dem Buch erschaffen hat!

Der Mutant hielt eine Armbrust in seinen klauenartigen Händen und zielte damit auf eine junge Zentaurin. Der Anblick der Kreatur war grauenhafter als alles, was Nixi je erlebt hatte – bis die Kreatur zu sprechen begann.

»Wo ist der Menschenjunge?«, donnerte sie mit tiefer, heiserer Stimme, die Nixi durch Mark und Bein ging.

»I-ich weiß nicht, was Ihr meint«, wimmerte die Zentaurin. Ihre blonden Locken zitterten, so sehr bebte sie vor Angst.

Ein Pfeil bohrte sich tief in ihre Flanke und sie brach jaulend zusammen. Ihre Schreie gingen zwischen denen der Menschen und anderen Zentauren um sie herum unter.

Unterdessen glitt die zweite fliegende Kreatur über die Karawane hinweg. Die Stimme des gehörnten Reiters auf ihrem Rücken schallte dröhnend auf sie herab. »Jetzt wisst ihr, was wir mit euch machen, wenn ihr euch nicht unterwerft.« Es klang genauso bedrohlich wie die erste Stimme, aber kälter, schärfer – wie Eissplitter. Nixi vermutete, dass die zweite Bestie mit ihrem knochenfarbenen Horn möglicherweise weiblich war. »Sagt uns, wo der Junge ist! Sagt uns, wo das Buch ist!«

Sie suchen nach diesem Sam! Auf einmal schien das Magische Buch ein Loch in die Tasche an Nixis Oberschenkel zu brennen. Gleichzeitig verspürte sie eine gewisse Genugtuung. Trotz all seiner Macht hatte Dromego offenbar keine Ahnung, dass Sam das Buch Lysander gegeben und dass Nixi es ihm anschließend geklaut hatte.

Sie drückte die Tasche an sich und kroch mit eingezogenem Kopf durch den Graben, weg von den Rufen, den Schreien, den lodernden Flammen. Dann blickte sie sich um und wartete auf eine passende Gelegenheit. Als die gehörnten Monster ihre fliegenden Pferde antrieben, auch noch die letzten Karren in Brand zu setzen, sprang Nixi auf und rannte in den Wald – und hielt erst an, als sie den Schutz der Bäume erreicht hatte.

Immer wieder schaute sie sich um, denn sie hatte ein mehr als mulmiges Gefühl. War das bloß ein unglücklicher Zufall, dachte sie, oder haben sie das Buch irgendwie gewittert? Sind sie hinter mir her?

Hinter einem Baum blieb sie stehen und blickte zurück zur Straße. Das Einzige, was sie von hier aus erkennen konnte, waren der aufsteigende Rauch und die beiden Pegasus mit den ledrigen Schwingen, die sich mit kräftigen Flügelschlägen entfernten. Sie stellte sich vor, wie die Überlebenden zu ihren Karren zurückeilten, um die Feuer zu löschen und die Verwundeten zu versorgen.

Ich kann ihnen nicht helfen, sagte Nixi sich. Und selbst wenn, würden sie mich niemals in ihre Nähe lassen. Außerdem: Wenn Dromegos Soldaten tatsächlich hinter dem Buch her sind, ist das Beste, was ich für diese Leute tun kann, so weit von ihnen wegzulaufen wie nur möglich.

Von diesem Gedanken angetrieben, setzte sie sich wieder in Bewegung. Sie lief den ganzen Nachmittag weiter, wobei sie mit einem Auge den Himmel über den kargen Bäumen im Blick behielt. Insgeheim rechnete sie damit, dort jeden Moment einen geflügelten Schatten über sich hinweggleiten zu sehen. Da sie sich von der Straße fernhalten musste, dauerte ihre Reise länger. Nixi platzte fast vor Ungeduld, aber die Erinnerung an die Feuer speienden Monster war eindrucksvoll genug, dass sie sich lieber weiter in der Deckung der Bäume hielt. Irgendwann stieß sie auf einen Bach und folgte ihm Richtung Süden. Mit den Schwimmhäuten zwischen ihren Zehen kam sie im flachen Wasser sehr viel schneller voran als auf dem schlammigen Waldboden.

Das Regengrau des Nachmittags war längst in ein dämmriges Dunkelblau übergegangen, als Nixi endlich den Fluss erreichte, wo sie ihre Freunde zurückgelassen hatte. Sie fand sie in einem sumpfigen Tümpel, der hinter den herabhängenden, mit dichtem Moos bewachsenen Ästen kaum auszumachen war. Ein breites Grinsen huschte über ihr Gesicht, als sie durch das Schilf auf sie zustapfte und ihre Freunde sie überschwänglich begrüßten. Gryce schlug ihr anerkennend auf die Schulter und Jenera drückte ihr die Hand. Floss dagegen schlang die Arme um sie und zog sie so fest an sich, dass Nixi begriff, welche Angst das Meermädchen um sie gehabt haben musste. Offenbar hatte sie befürchtet, dass Nixi nicht mehr zurückkommen würde.

Nixi hielt ganz still, während Floss ihr Gesicht betastete. »Ist dir was zugestoßen?«, fragte Floss. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«

Nixi lachte. »Mir geht es gut. Besser als gut sogar.« Sie zog das Zauberbuch hervor und warf die Tasche achtlos beiseite. Im abendlichen Dämmerlicht schienen die unverständlichen Wörter auf dem Einband regelrecht zu funkeln – verheißungsvoll, aber irgendwie auch bösartig. Sie drückte Floss das Buch in die Hand. »Ich hab’s gefunden. Das Magische Buch der Zentauren.«

Floss strich mit den Fingern über den Ledereinband, während Gryce und Jenera näher kamen, um es sich anzusehen.

»Nicht zu fassen, dass du das geschafft hast!«, staunte Gryce, der das Buch mit seinen Blicken förmlich verschlang.

»Wie bist du da rangekommen?«, wollte Jenera wissen.

Floss legte die Stirn in Falten. »War es gefährlich?«

»Ein bisschen, ja. Aber mach dir keine Sorgen. Jetzt habe ich es ja. Genau wie früher auf der Festungsinsel, weißt du noch? Reingehen, rangehen, rausgehen.« Sie stieß sie mit dem Ellbogen an und Floss rang sich ein Lächeln ab. »Bald haben wir unsere menschlichen Körper zurück!«

Gryce rieb sich die Hände. »Und ich kann meine Ellie und meinen kleinen Wil wiedersehen. Das letzte Mal war vor drei Jahren, bevor ich ertrunken bin.« Er stieß ein nervöses, vorfreudiges Lachen aus. »Inzwischen ist er wahrscheinlich schon groß.«

Jenera strich ehrfurchtsvoll mit dem Finger über den Rücken des Buches, das Floss immer noch in ihren Händen hielt. »Und ich kann mich endlich bei meiner Mam dafür entschuldigen, dass ich weggelaufen bin«, sagte sie leise.

»Worauf warten wir?«, fragte Gryce. »Lasst uns anfangen, bevor es völlig dunkel wird.«

Selbst Floss lächelte jetzt. Sie streckte Nixi das Buch hin. »Na los.«

Nixi strahlte. Die Aufregung der anderen ließ ihre eigene nur noch größer werden. »Also dann.« Mit großer Geste schlug sie das Buch auf. Vorsichtig, wie sie es bei Lysander im Turm der Chronisten gesehen hatte, blätterte sie die Seiten um und ließ den Blick über die Textzeilen und seltsamen Zeichnungen, Diagramme und Tabellen schweifen.

»Was ist los? Tut sich was?«, flüsterte Floss.

»Noch nicht«, antwortete Jenera. »Bestimmt dauert es ein bisschen, bis die Magie wirkt. Wir müssen einfach geduldig sein, oder, Nixi?«

Stirnrunzelnd blätterte Nixi noch ein paar Seiten weiter. Dann hörte sie auf und hielt sich das Buch über den Kopf. Vielleicht habe ich zu schnell umgeblättert. Vermutlich müssen die Seiten einfach länger aufgeschlagen sein, damit die Magie ihre Wirkung entfalten kann.

Doch das Einzige, was geschah, war, dass ihr Arm zu verkrampfen begann. Sie schlug das Buch zu und wieder auf, dann ließ sie die Seiten schnell über ihren Daumen gleiten und schnitt sich dabei prompt am Papier. Sie fluchte, als ein silbergrüner Blutstropfen aus ihrem Finger quoll und auf dem Seitenrand landete. Doch statt einzusickern, rann das Blut über die Buchseite und tropfte auf den Boden, ohne die geringste Spur auf dem Papier zu hinterlassen.

Nixi schluckte beklommen. Sie steckte den verletzten Finger in den Mund und gab das Buch an Jenera und Gryce weiter. »Könnt ihr irgendwas hiervon lesen?«

Die beiden mühten sich redlich, die seltsamen Zeichen zu entziffern, konnten aber genauso wenig lesen wie Nixi.

»Es ist doch ein Zauberbuch«, grollte Nixi. »Wenn es so mächtig ist, warum muss man es denn dann überhaupt lesen? Kann es nicht einfach … tun, was es tun soll?«

»Lass es mich noch mal halten«, bat Floss. Nixi reichte ihr das Buch und Floss fuhr mit den Fingern über die Schrift und Symbole. Nixi schöpfte neue Hoffnung, als sie Floss’ konzentrierte Miene sah. Vielleicht ist sie hierin ja genauso gut wie in den Tunneln unter Coropolis. Was, wenn sie die Magie irgendwie fühlen kann?

Doch schließlich verzog Floss das Gesicht und klappte das Buch wieder zu. »Ich spüre nur Papier«, sagte sie entschuldigend.

Schweigend betrachteten sie das Buch. Die Enttäuschung war geradezu greifbar. Gryce ließ die Schultern hängen, Jenera schaute missmutig drein und Floss schrumpfte förmlich in sich zusammen.

Nixi schluckte ihren eigenen Frust runter. »So schnell geben wir nicht auf«, verkündete sie. »Das ist bloß ein kleiner Rückschlag, nichts weiter.«

»Aber was sollen wir denn machen, Nixi?«, fragte Floss.

»Ganz einfach.« Nixi rang sich ein zuversichtliches Lächeln ab. »Wir suchen jemanden, der das Buch für uns lesen kann.«

Kapitel 2

Es muss hier irgendwo sein!«, rief Lysander, während er mit den Vorderhufen hektisch in den Resten des Lagerfeuers scharrte. »Hast du hinter den Felsen nachgesehen?«

»Ich schau noch mal.« Alexos strich sich das blonde Haar aus der Stirn und trabte an der Felswand entlang, die am Rande der Kuhle aufragte. Er lugte hinter sämtliche Felsbrocken und drehte jeden einzelnen Stein um, doch schließlich wandte er sich zu Lysander um und schüttelte mutlos den Kopf. »Hier ist nichts. Es ist weg, Lysander.«

»Es kann nicht weg sein!«, protestierte Lysander. »Ohne dieses Buch können wir die Verschwörung meines Vaters nicht aufdecken! Wer glaubt uns denn, dass die Zentauren die Magischen Bücher der Beschwörung nicht zerstört haben, wenn wir kein echtes Magisches Buch der Beschwörung vorzeigen können, um es zu beweisen?«

Wütend trat er gegen seinen Rucksack und durchwühlte ihn erneut. Vielleicht habe ich es einfach nur übersehen, dachte er verzweifelt. Vielleicht war ich gestern so erschöpft, dass ich vergessen habe, wo ich es hingesteckt habe, bevor ich eingeschlafen bin.

Immerhin war er seit mehreren Tagen auf der Flucht und hatte gerade erst die blutige Schlacht gegen Dromegos Monster überstanden. Und dann war er gestern noch die halbe Nacht aufgeblieben, um sein Vorhaben mit Alexos, dem Einhorn und diesem Menschenjungen zu …

»Sam und Tordred! Denkst du, sie haben es sich zurückgeholt?«

Alexos, der dabei war, in aller Ruhe ihre übrigen Vorräte einzupacken, sah ihn verwundert an. »Warum sollten sie es uns erst geben, nur um es uns dann wieder zu klauen? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Nichts hieran ergibt irgendeinen Sinn! Vielleicht war es ja auch einer von den Pegasus oder … Nixi.« Er stöhnte auf, als ihm einfiel, wie das Meermädchen ihn im Turm der Chronisten mit einem Messer bedroht hatte, damit er ihr zeigte, wo die Zauberbücher standen. Er vergrub das Gesicht in den Händen. »Es war Nixi. Sie muss es gewesen sein.«

Alexos runzelte die Stirn. »Ich dachte, sie kann nicht lesen? Was soll sie dann damit anfangen?«

»Keine Ahnung.« Lysander stampfte mit dem Huf auf. »Aber jetzt ist sie weg! Sie hat unseren ganzen Plan ruiniert …«

Alexos sah sich beunruhigt um. Lysanders Wutausbruch hallte ringsum von den Felswänden wider. »Was weg ist, ist weg, Lysander. Jetzt lass uns hier verschwinden, bevor Dromegos Monster uns entdecken.«

Alexos hatte wie immer recht. Trotzdem durchsuchte Lysander beim Packen erneut all ihre Habseligkeiten. Er hoffte immer noch, dass sich der dicke Lederband in irgendeiner Decke verheddert hatte oder zwischen ihren Vorräten klemmte.

Doch das Buch war nirgends zu finden. Nachdem sie die Ausrüstung auf die Pferderücken geladen hatten, machten sie sich an den Abstieg. Lysander blieb nichts anderes übrig, als der Realität ins Auge zu blicken: Das Magische Buch war weg.

»Dann müssen wir eben einen anderen Weg finden, die Schuld meines Vaters zu beweisen«, sagte er finster.

»Sieh es doch mal so«, versuchte Alexos, ihn aufzumuntern. »Auch ohne das Buch haben wir jede Menge Beweise – unsere Notizen, deine Bilder. Damit können wir immerhin aufdecken, dass der Rat die Magischen Bücher von einem Minotaurus bewachen lässt und ihm dafür im Gegenzug Menschenopfer bringt. Das allein ist schlimm genug, findest du nicht?«

Lysander zuckte mit den Schultern. »Aber wird uns irgendjemand glauben? Ohne Beweise?«

Alexos schwieg nachdenklich. Eine Weile war nur das Klappern ihrer Hufe zu hören. Schließlich sagte er: »Deine Zeichnungen sind ziemlich überzeugend. Ich glaube nicht, dass bei ihrem Anblick noch irgendwer daran zweifeln wird, dass du wirklich einen Minotaurus gesehen hast.«

Das Kompliment tat gut. Lysander spürte, wie sich seine Laune unwillkürlich besserte. »Kann sein … Deine Notizen sind ja auch sehr gründlich. Und vielleicht können wir sogar jemanden dazu bringen, mit uns in die Berge zu gehen und sich die Höhle mit eigenen Augen anzusehen. Spätestens dann sollte ihnen klar werden, dass wir die Wahrheit sagen.«

»Im Angesicht des Monsters.« Alexos nickte düster. »Dann schlage ich vor, dass wir das alles zu einer Chronik zusammenstellen, damit Cavallon die wahrhaftige Wahrheit erfährt.«

»Die wahrhaftige Wahrheit«, wiederholte Lysander. »Genau.«

Während sie sich einen Weg durch die Ausläufer des Wolkengebirges bahnten, gingen sie noch mal all ihre Beweise durch. Wann immer es möglich war, mieden sie die Straße aus Stein und festgetretener Erde und liefen über die mit Gras und weichem Moos bewachsenen Hänge. Gegen Abend begann Lysanders Magen, lautstark zu knurren. Sie hatten die letzten Reste Trockenfrüchte und Hartkäse aufgegessen, als sie gegen Mittag bei einem Bachlauf angehalten und eine Pause eingelegt hatten.

»Vielleicht finden wir irgendwo ein paar Beeren.« Alexos zeigte auf ein kleines Wäldchen.

Lysander kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was vor ihnen in der Ferne lag. »Nein, guck mal – da ist Rauch!« Er deutete auf die Baumwipfel, über denen ein dünner, aber gleichmäßiger Rauchkringel aufstieg. »Dort muss ein Haus sein. Vielleicht sogar ein Gasthaus.« Obwohl er sich keine großen Hoffnungen machen wollte, lief ihm bereits das Wasser im Mund zusammen, als er auf das Wäldchen zutrabte. Und tatsächlich: Kurz darauf kam zwischen den Bäumen ein heruntergekommenes zweistöckiges Gebäude zum Vorschein, über dessen Eingang ein Schild hin und her schwang. Darauf war ein geradezu absurd gut gekleideter Zentaur mit einem extralangen Pferdebein zu sehen, das jedes Mal auszutreten schien, wenn der Wind das Schild bewegte.

»Das Wirtshaus zum Huftritt. Davon habe ich gehört«, meinte Alexos. »Es hat … nicht gerade den besten Ruf.«

Lysander blickte vielsagend auf ihre zerrissene, schmutzige Kleidung. »Dann passen wir da ja perfekt rein. Abgesehen davon, würde mein Vater uns hier so ziemlich als Letztes suchen, oder?« Alexos wirkte immer noch unschlüssig. Lysander wühlte in seiner Tasche, bis er den leeren Käsebeutel fand, und hielt ihn hoch. »Wir müssen was essen.«

Als sie sich dem Gasthaus näherten, schallte ihnen grölender Gesang entgegen. Ein betrunkener Mensch in rußbefleckter Tunika torkelte aus der Tür, prostete ihnen mit seinem Humpen und einem deftigen Fluch zu und erbrach sich in den Vorgarten, bevor er wieder hineinstolperte.

Von Nahem konnte Lysander erkennen, dass die Farbe von dem Schild abblätterte und die Tür und Fensterläden schief in den Angeln hingen. Zwischen den Holzbohlen, aus denen die Wände zusammengezimmert waren, klafften Risse, durch die er Umrisse von Leuten ausmachen konnte, die im schummrigen, verqualmten Gastraum umherliefen.

Lysander machte einen großen Schritt über das Erbrochene im Vorgarten und drückte die Tür auf. Eine Wolke unterschiedlichster Aromen drang ihm in die Nase: eine Mischung aus Rauch, Gewürzen, Schweiß, gebratenem Fleisch und Fisch und irgendetwas Schwerem, Süßlichem.

Die Gäste im Inneren des Wirtshauses waren genauso bunt gemischt wie die Gerüche. Hinten in der Ecke spielten zwei Einhörner, ein Zentaur und drei Menschen eine lärmende Partie »Waffenstillstand«. Die Würfel rollten klappernd über das Spielbrett und in der Mitte des Tisches türmte sich der Wetteinsatz: ein Haufen Münzen, der beständig und laut klirrend anwuchs. Lysander hatte noch nie gesehen, dass jemand auf den Ausgang einer Partie »Waffenstillstand« wettete. Gut, genau genommen, hatte er noch nie jemanden auf irgendetwas wetten sehen, weil unter Zentauren jede Form von Glücksspiel verpönt war. An einem Tisch beim Feuer war ein weiteres Spiel im Gange: Eine Gruppe, die größtenteils aus Menschen bestand, flippte Eicheln über die Tischplatte. Lysander kannte das Spiel zwar nicht, aber anscheinend waren dazu jede Menge Geschrei und humpenweise Bier nötig.

Neben der Tür stand ein altes Kelpie mit einer tropfnassen Decke auf dem Rücken. Es war in ein lautes Gespräch mit einem mageren Einhorn vertieft, das an einer Pfeife nuckelte und in regelmäßigen Abständen Wolken aus violettem Rauch ausstieß.

Lysander ging nach hinten durch zu einem hohen Tisch in einer dunklen Ecke, der auf die Bedürfnisse vierbeiniger Gäste ausgerichtet war. Alexos gesellte sich dazu. Sie setzten ihre Taschen ab und bemühten sich, dabei so auszusehen, als hätten sie ihr halbes Leben in abstoßenden, lärmenden und verqualmten Wirtshäusern zugebracht.

»Ich bestelle uns was zu essen und frage mal nach einem Zimmer«, sagte Lysander.

»Sei vorsichtig«, mahnte Alexos.

Lysander nickte nervös und ging zum Tresen, wo ein ergrauter Zentaur, dessen ungepflegter Zottelbart ihm bis zum Bauch reichte, gerade ein Glas mit einer ungut aussehenden braunen Flüssigkeit füllte.

»Ja?«, brummte er und musterte Lysander mit sichtlichem Desinteresse.

»Ich … äh, ich würde gerne etwas zu essen bestellen, bitte«, stammelte Lysander. »Und ein Zimmer für mich und meinen Freund.«

Der Wirt schniefte und knallte das Glas auf den Tresen. »Ausm Süden, was? Coropolis?«

Mein Akzent, schoss es Lysander durch den Kopf. Er zwang sich, möglichst ungerührt mit den Schultern zu zucken. »Galis, um genau zu sein. Aber meine Großmutter stammte aus Coropolis.«

Es war erschreckend, wie leicht ihm die Lügen mittlerweile über die Lippen kamen. Hatte er das von seinem Vater geerbt?

Jedenfalls schien ihm der Wirt zu glauben. Er grummelte etwas und schenkte ein weiteres Glas voll.

»Etwas zu essen?«, hakte Lysander nach. »Und ein Zimmer?«

»Ein Zimmer ist noch frei. Zehn Cavals die Nacht, Abendessen ist im Preis mit drin. Die Pasteten sind aber schon aus, es gibt nur noch Eintopf. Bier kostet extra. Wir haben Schwarzstein-Bier, Sandelnuss-Bier, Rosa-Bete-Bier …«

Lysander hörte nickend zu, während er sich insgeheim mit wachsender Verzweiflung fragte, was wohl weniger verdächtig wirken würde: ein Bier zu bestellen oder nicht. Das kleine Häuflein Münzen in seiner Westentasche ließ ihm jedenfalls nicht viel Spielraum … Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als die Tür aufflog und ein Mensch mit kupferfarbenem Haar und einem violetten Krokus im Knopfloch hereinstürmte. Das Kelpie am Eingang schrie empört auf, als der Mensch über seine Decke stolperte, doch im Gastraum herrschte ein solcher Lärm, dass niemand sonst das Knallen der Tür oder die Proteste des Kelpies bemerkt zu haben schien. Der Mensch, ein junger Mann, tauchte eilig in der Menge unter.

Währenddessen hatte der Wirt seine Aufzählung nicht mal unterbrochen. »… Feuerblatt-Bier und Kümmelwurz-Bier. Was darf’s sein?«

»Nur den Eintopf, bitte. Zwei Teller.«

Grummelnd zuckte der Wirt mit den Schultern und nahm Lysanders Geld. Gerade als Lysander sich umdrehte, um zu ihrem Tisch zurückzugehen, flog die Tür erneut auf und Hufgetrappel erfüllte den Raum. Lysander fuhr herum und erblickte fünf Zentauren, deren rote Schärpen und Schulterklappen sie als Angehörige der Königlichen Garde von Corlandia auswiesen.

Der Anführer, ein großer weißer Zentaur mit schlammbespritzten Beinen, stampfte mit dem Vorderbein auf und brüllte: »Ruhe!«

Abrupt verstummte das Stimmengewirr. Sämtliche Gäste sahen auf und starrten die Wachleute an. Einige rückten hastig so weit wie möglich von ihnen weg, darunter auch Lysander. Alexos und er zogen die Köpfe ein und duckten sich in die dunkle Nische hinter ihrem Tisch.

»Sie haben uns gefunden!«, raunte Alexos ihm zu. »Was machen wir jetzt?«

Lysander blickte sich panisch nach einem Ausweg um. Es gab keinen. Zwischen ihnen und der Tür befanden sich einfach zu viele Gäste. Vielleicht hatten die Wachen sie in der Menge noch nicht entdeckt, aber das war nur eine Frage der Zeit. Alexos und er mussten irgendeinen Fehler gemacht, irgendeinen Hinweis hinterlassen haben, der ihre Verfolger direkt auf ihre Fährte geführt hatte.

Das war’s, dachte er. Wir werden als Verräter der Krone ins Gefängnis geworfen.

Sein Herz pochte so heftig, dass die Worte des Anführers der Wachen wie aus weiter Ferne an seine Ohren drangen. »Rückt den Spion raus. Wir haben gesehen, wie er hier reingelaufen ist, versucht also gar nicht erst, uns für dumm zu verkaufen. Wenn ihr euch weigert, werdet ihr alle bestraft. Jeder Einzelne hier im Raum.«

Eine alte Frau, die mit den anderen Menschen an einem der niedrigen Tische saß, stieß jemanden nach vorne. »Hier ist er«, krächzte sie.

Der junge Mann mit dem kupferfarbenen Haar sah furchtsam zu den Wachen auf. Sein Gesicht war leichenblass. Er trug ein zerknittertes braunes Jackett und schrumpelte vor Angst in sich zusammen wie der welke Krokus in seinem Knopfloch. »Ich bin kein … Ich habe nicht … Ich weiß nicht, was …«

Der Anführer der Wachen trat ein paar Schritte auf den Mann zu und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Du wirst wegen des Vorwurfs der Verschwörung verhaftet«, sagte er und klang dabei beinahe gelangweilt. »Ergreift ihn.«

Zwei seiner Leute packten den Mann bei den Armen, der weiterhin lautstark seine Unschuld beteuerte.

Der Anführer zog einen Caval aus seiner Tasche und warf ihn der alten Frau zu, die die Münze mit einem zahnlosen Grinsen auffing. »Wo das herkommt, gibt es noch mehr. Für jeden, der König Cassio hilft, seine Feinde unschädlich zu machen. Merkt euch das.«

Ein aufgeregtes Raunen erfüllte den Raum. Lysander konnte den Tonfall nicht einschätzen, aber offenbar ging bei diesen Leuten die Liebe durch den Geldbeutel.

Lysanders Magen zog sich beklommen zusammen, als er hilflos mit ansehen musste, wie die Wachen den Mann mit dem kupferfarbenen Haar zur Tür schleiften. Alle anderen schienen den Festgenommenen bereits vergessen zu haben, doch Lysander ballte die Fäuste, als er beobachtete, wie sich die Finger der Wachen in die Oberarme des Mannes gruben und dieser vor Schmerzen das Gesicht verzog. Er hörte, wie der Mann aufschrie, als sie ihm die Schulter auskugelten …

… und dann sah er, wie der Mann unbemerkt die rechte Hand unter seine Tunika schob und etwas darunter hervorzog, während er weiter aus vollem Hals schrie. Mit einer Bewegung, als wolle er sich losreißen, ließ er ein kleines Paket fallen und beförderte es mit einem Fußtritt unter einen der Tische.

Schnell blickte Lysander sich um. Niemand sonst hatte den Mann beobachtet. Selbst Alexos hatte den Kopf abgewandt, wohl um zu vermeiden, dass die Wachen ihn erkannten. Die restlichen Gäste waren in ihre Gespräche vertieft und die alte Frau redete auf den Anführer der Wachen ein, der sich inzwischen vor der Theke aufgebaut hatte. Wahrscheinlich zählte sie ihm sämtliche Vergehen ihrer Nachbarn auf, in der Hoffnung, noch ein paar Cavals mehr zu verdienen.

»Ich hatte keine Ahnung, das schwöre ich«, unterbrach der Wirt ihren Wortschwall. »Er ist eben erst reingekommen – wir sind ehrliche Leute, wir würden niemals Feinde unseres geliebten Königs Cassio beherbergen!«

Der Anführer der Wache warf einige Cavals auf den Tresen. »Haltet Augen und Ohren offen«, sagte er und folgte seinem Trupp nach draußen.

Kaum dass die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, beugte Lysander sich vor, als würde er etwas in seiner Tasche suchen, und flüsterte Alexos zu: »Er hat was fallen lassen. Der Spion. Da drüben, unter dem Tisch. Nicht hinsehen!«

Alexos gelang es, keine Regung zu zeigen. Er verlagerte bloß ein wenig das Gewicht nach rechts und ging leicht in die Knie, sodass er das Päckchen ausmachen konnte, das sich im Schatten unter einem der Tische abzeichnete.

Der Wirt kam mit zwei Schüsseln Steckrübeneintopf an ihren Tisch. Lysander schenkte ihm ein mattes Lächeln, behielt das Päckchen aber weiter im Auge, während der Zentaur die Schüsseln vor ihnen abstellte und hinter die Theke zurückkehrte. Was auch immer sich darin befand, war offenbar so wichtig, dass der Mann alles darangesetzt hatte, es zu retten.

»Angeblich war er ein Spion«, murmelte Lysander, während er so tat, als er würde er einen Löffel Eintopf essen. »Aber was würde ein Mensch denn ausspionieren? Meinst du, das könnte etwas mit … unserer Sache zu tun haben?«

»Den Menschen muss aufgefallen sein, dass immer mal wieder jemand aus ihren Reihen spurlos verschwindet.« Alexos’ Antwort war kaum lauter als ein Atemhauch. »Vielleicht wissen sie Bescheid. Oder sie ahnen etwas.«

»Ich finde, das sollten wir uns ansehen«, meinte Lysander. »Ich hole es.«

»Ja, finde ich auch. Aber sei vorsichtig«, mahnte Alexos, der hektisch in seinem Eintopf herumrührte.

Lysander wippte nervös mit dem Vorderbein, während er auf den geeigneten Moment wartete. Schließlich ging er zur Tür und schaute demonstrativ hinaus, als wolle er nach dem Wetter sehen. Dann gab er vor, etwas aus seinem Huf zu kratzen, wobei er sich verstohlen umblickte, um sicherzugehen, dass ihn niemand beobachtete. Er ließ seine Tasche fallen, und als er sich bückte, um sie aufzuheben, fischte er gleichzeitig das Päckchen unter dem Tisch hervor und schob es unter seine Tunika.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er zu Alexos zurückkehrte, doch niemand rief ihm hinterher oder versuchte gar, ihn aufzuhalten. Er stopfte das Päckchen in seine Tasche und zwang sich, in aller Ruhe seinen Eintopf aufzuessen.

Sobald Lysander und Alexos die Tür ihres winzigen, schäbigen Zimmers hinter sich verriegelt hatten, wickelte Lysander im schummrigen Licht der einzigen Kerze die Schnur von dem Bündel.

Zum Vorschein kam ein Packen vollgeschriebener Seiten.

Alexos zog die Augenbrauen hoch. »Ganz schön viele Wörter für einen ungebildeten Menschen.«

»Vielleicht war er im Auftrag von Zentauren unterwegs.« Lysander entfaltete eines der Blätter und hielt es ins Licht. Er runzelte die Stirn und drehte es auf die Rückseite, dann hielt er es kopfüber. »Das sieht aus wie Schrift, aber es ergibt überhaupt keinen Sinn. Wörter sind das jedenfalls nicht.«

Alexos tippte mit dem Finger auf die Seite. »Wenn er wirklich ein Spion ist, ist das bestimmt verschlüsselt.«

Lysander ließ enttäuscht die Schultern hängen. »Das könnte alles Mögliche sein. Liebesbriefe oder eine Verschwörung, den Palast zu überfallen … Aber trotzdem, eine kleine Chance gibt es, oder? Dass es mit dem zu tun hat, was wir rausgefunden haben? Vielleicht gibt es ja eine Art … Widerstandsbewegung. Was, wenn noch mehr über das Bescheid wissen, was mein Vater und der Rat treiben, und wir uns ihnen anschließen können?« Eine Gruppe erwachsener Zentauren, die diese fürchterliche, überwältigende Aufgabe übernehmen konnten – bei dem Gedanken keimte in Lysander neue Hoffnung auf.

»Ja vielleicht«, erwiderte Alexos bedächtig. »Kann sein, dass es tatsächlich Zentauren waren, die das geschrieben haben. Oder … oder es war der Mensch selbst.«

Lysander starrte ihn ungläubig an. »Aber … Menschen können nicht schreiben.«

»Soweit wir wissen.« Alexos schüttelte den Kopf. »Meine Mutter hat immer gesagt, dass in der Großen Bibliothek einige Menschen arbeiten, die beinahe schlau genug sind, um schreiben zu lernen.«

Lysander legte die Stirn in Falten. Menschen, die lesen und schreiben konnten? Er zuckte unwillkürlich mit dem Schweif. Der Gedanke hatte etwas Beunruhigendes. »Im Grunde ist es doch egal, ob er das hier geschrieben hat oder nicht. Fakt ist, dass er etwas im Schilde führt, das ist offensichtlich. Ich finde, wir sollten versuchen herauszufinden, was.«