eISBN 978-3-649-63649-6

© 2020 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Satz: Helene Hillebrand, Bielefeld

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-63557-4.

Karin Müller

Das
Delfinmädchen

Mit Illustrationen von Marie Braner

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Nachwort

Kapitel 1

»Marie?« Jan Rehschmidt ließ seinen Blick über den Pier schweifen. »Marie«, schimpfte er und rief noch einmal lauter: »Marie!«

»Wo steckt sie denn? Die Fähre legt gleich ab!« Frau Rehschmidt stand neben ihrem Mann, die Hände in die Hüften gestemmt.

Das Auto war verladen, der Lastwagen mit den Möbeln auch. Der dicke Bauch der Schiffsluke schloss sich kreischend und nur noch ein kleiner schwankender Steg war für verspätete Passagiere als letztes Bindeglied vom Festland zum Schiff ausgefahren.

Es hatte Stunden gedauert, bis Maries Vater alle Formalitäten erledigt hatte. Dabei hatte er mehrere Stofftaschentücher beim Abtupfen von Stirn und Nacken durchgeschwitzt. Dann hatte der Hafenmeister ihnen glücklich zugewinkt und das Rollo zu seinem Bürofenster herabgezogen. Froh, die deutschen Auswanderer endlich los zu sein und Siesta halten zu können.

Es stank nach Diesel und Algen und heißem Frittierfett aus irgendeiner Hafenspelunke. Das Schiff würde gleich ablegen und nun war Marie weg. Eben hatte sie noch die Möwen mit den Resten ihres Frühstücksbrötchens gefüttert und jetzt war sie verschwunden. Mahnend tutete die Schiffssirene. Maries Vater raufte sich die spärlichen Haare unter der Schirmmütze.

»Vamos!«, rief ihnen ein braun gebrannter Hafenarbeiter zu und wies sie mit drängender Geste an Bord.

»Marie!«, brüllte ihre Mutter.

Marie verließ mit einem Seufzer ihren Schattenplatz hinter einem der Container, die leer an Land zurückblieben, und schlenderte zu ihren Eltern.

»Andale, chica!«, rief der Hafenarbeiter und ruckelte drängelnd an der metallenen Seitenstrebe des Stegs.

Ohne ein Wort zu sagen, zogen Maries Eltern sie an Bord.

Der Hafenarbeiter brummte kopfschüttelnd etwas auf Spanisch durch die Lücke zwischen seinen braunen Zähnen. Er spuckte auf den Boden, als er den Steg einholte und das Zeichen zum Ablegen gab.

Marie verzog angewidert das Gesicht. Wenn alle Spanier so waren, hatte sie es ganz bestimmt nicht eilig, auf die Insel zu kommen. Wer wollte dort schon wohnen? Irgendwo am Ende der Welt, kurz vor Afrika?

Urlaubsparadies, pah! Ihre beste Freundin Hanna war weit weg. Sie würde Marie nicht so schnell besuchen kommen.

Was sie ihr nicht verübeln konnte. Von der Sonne und dem Meer bekam man bestimmt Pickel, Pusteln und Ausschlag. Und sicher gab es keinen Arzt in der Nähe.

Marie glotzte missmutig über die Reling in die Gischt. Eine Plastiktüte trieb vorbei.

»Hier werde ich ganz bestimmt nicht baden«, murmelte sie düster vor sich hin.

»Hast du was gesagt, Liebling?«, erkundigte sich ihre Mutter und strahlte sie an. »Ist das nicht aufregend? Komm, wollen wir nach vorn an den Bug gehen? Vielleicht sehen wir Delfine. Der Hafenmeister hat Papa erzählt, dass es hier ganz viele gibt.«

Für Maries Geschmack war ihre Mutter viel zu gut gelaunt. Seit Wochen schon. Sie war gar nicht mehr so blass und wortkarg und traurig wie in den Monaten davor. Dabei hatte Isabelle Rehschmidt viele Freundinnen in Deutschland zurückgelassen. Eine Riesenabschiedsparty hatten die für sie veranstaltet.

Alles streng geheim. Marie war natürlich eingeweiht gewesen und hatte nichts verraten dürfen. Das hatte sie auch nicht. Aber nicht, weil sie keine Spielverderberin sein wollte, sondern weil sie das alles extrem langweilig und bescheuert fand.

Den Blick auf den grün gestrichenen Boden gesenkt, um in keine der ölig schillernden Pfützen zu treten, folgte sie ihrer Mutter. Seit ihre Eltern mit dem Plan herausgerückt waren, im Süden eine Pension zu kaufen, hatte Marie schlechte Laune. Sie wollte kein neues Land, keine neuen Freunde und kein neues Haus mit großem Garten und ohne Winter.

Aber das spielte keine Rolle. Es war gleichgültig, was sie dachte oder fühlte, ihre Eltern hatten sie nicht gefragt. Sie hatten einfach über ihren Kopf hinweg entschieden, ganz so, als würde sie überhaupt nicht richtig zur Familie gehören. Marie blieb stehen und betrachtete fasziniert eine kleine Spinne. Sie hatte ein gigantisches Netz zwischen zwei Stufen der rostigen Metalltreppe gesponnen, die auf das Oberdeck führte.

Sicher hatte ihre Mutter nicht darüber nachgedacht, ob diese Spinne vielleicht giftig war. Sie und ihr Vater machten sich überhaupt wenig Gedanken über Bakterien, Krankheiten und … Marie runzelte die Stirn.

Stattdessen entschieden sie mal eben, in den Süden auszuwandern. Wo doch jeder wusste, dass Sonne Krebs verursachte.

Es stank nach Diesel oder womit auch immer diese durchrostungsgefährdete Fähre betrieben wurde. Marie rümpfte die Nase und überlegte, ob sie wie ihre Mutter und ein paar andere ahnungslose Touristen die Spinne ignorieren sollte.

»Marie! Da drüben, schau!« Isabelle Rehschmidt sah von oben die steile Treppe hinab und winkte sie mit hektischen Handbewegungen zu sich hinauf. »Komm schon, beeil dich, Marie!«

Wenn sie nicht wollte, dass sich alle anderen Passagiere nach ihr umdrehten, musste Marie sich jetzt entscheiden, wie sie die Spinnentreppe meistern wollte. Wenn sie zwei Stufen auf einmal nahm, lief sie Gefahr, zu stürzen und sich ein Bein zu brechen. Sie zögerte und umfasste fest die Eisenstangen des Treppengeländers. Das Schiff schwankte und der scharfe Dieselgeruch drang ihr abermals in die Nase. Übelkeit stieg in ihr auf. Marie hatte seit einem flauschigen Weißmehlbrötchen mit quietschsüßer Kirschmarmelade am Morgen nichts mehr gegessen.

»Nun komm doch, Mariechen!«, drängelte ihre Mutter aufgeregt und beobachtete mit einer Hand über den Augen den Horizont.

Marie atmete tief durch. Die Spinne war offensichtlich voll und ganz damit beschäftigt, eine unvorsichtige Fliege in einen Kokon zu wickeln. Sieben Stufen und vier Schritte später stand sie schließlich neben ihrer Mutter und versuchte gehorsam, ihrem Blick zu folgen.

Wahrscheinlich sah man irgendwo weit draußen ein paar silbrige Punkte, die genauso gut Bojen oder Möwen sein konnten. Marie seufzte ergeben. Doch sie irrte sich.

Tatsächlich waren die Delfine kaum zwanzig Meter entfernt. Groß und deutlich sah man sie aus dem Meer steigen und in hohen Bögen zurückspringen, ihre dreieckigen Rückenflossen glänzten im gleißenden Mittagslicht. Marie kniff die Augen zusammen.

»Sind die nicht wunderschön? Das ist bestimmt ein gutes Omen!« Isabelle Rehschmidt drückte ihre Tochter an sich.

»Bonitos«, erklärte ein Spanier, der neben ihnen stand. Er deutete auf einen Schwarm großer, dicker Fische, die in der Nähe der Delfine dicht unter der Wasseroberfläche dahinschossen.

Marie stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, und der Mann nickte ihr freundlich zu. Schnell schaute sie weg und pulte sich ein Eukalyptusbonbon aus der Hosentasche.

Ihre Mutter verwickelte den Einheimischen derweil in ein Gespräch. Sie hatte seit Wochen Spanisch gelernt, weil sie die Vorstellung furchtbar fand, in ein neues Land zu ziehen und die dortige Sprache nicht zu sprechen.

Marie hatte auch einen Spanischkurs belegt, tat sich aber mit der Aussprache schwer. Deshalb war sie ziemlich erstaunt, dass der Fremde ihre Mutter anscheinend richtig gut verstand und angeregt mit ihr plauderte. Die beiden lachten und Marie rollte mit den Augen. Sie wusste nicht, was so lustig sein sollte.

Ihr Blick wanderte wieder auf das Wasser hinaus. Wie eine Art Begrüßungskomitee schwammen die Delfine vor dem Boot in den Hafen und drehten erst kurz vor der Mole ab.

»Ach, hier seid ihr«, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Jan Rehschmidt legte ihr die Hand auf die Schulter und hielt ihr eine Limonade hin.

Aus reiner Höflichkeit öffnete Marie die Dose, putzte sie verstohlen an ihrem T-Shirt ab und nahm einen Schluck. In dem Moment merkte sie, wie durstig sie war. Sie trank die Dose in einem Zug aus, setzte sie ab und musste rülpsen. Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund.

Der Spanier sagte irgendetwas, das Marie nicht verstand, ihre Eltern aber zum Lachen brachte. Dann verabschiedeten sich Jan und Isabelle Rehschmidt von dem Mann und lenkten Marie vor sich her die Treppe hinunter zum Autodeck.

Hier war es laut und stickig, der Boden schwankte unter Maries Füßen und der Geruch nach Öl und Benzin war kaum auszuhalten. Maries Magen meldete sich wieder, und sie war heilfroh, als ein Rumsen wie bei einem mittleren Erdbeben darauf deutete, dass sie angelegt hatten. Erleichtert sank sie in ihren Kindersitz und kurbelte die Scheibe herunter. Im Auto war es noch heißer als draußen. Sie schloss die Augen und begann, langsam bis hundert zu zählen.

Als sie bei dreiundachtzig angekommen war, ließ ihr Vater den Motor an, und bei einhundertundsieben spürte sie eine frische Brise im Gesicht.

Sie öffnete die Augen. Die bonbonfarbenen Häuser, die sie vom Schiff aus gesehen hatte, wirkten aus der Nähe nicht mehr ganz so puppenhaft. Der Putz bröckelte von den Wänden und die salzhaltige Luft hatte auch den Scharnieren an Fensterläden und Türangeln zugesetzt und rostige Spuren hinterlassen. Der Hafen war viel kleiner als der auf dem Festland, aber auch hier herrschte geschäftiges Treiben. Fischer hatten ihre Netze zum Trocknen in die Sonne gehängt. Container wurden ausgeladen und überall boten Männer in kurzen Hosen ihre Waren feil.

Plötzlich stutzte Marie. Zwischen all dem Trubel turnte ein Mädchen mit einem kleinen Hund herum. Marie beobachtete es fasziniert aus dem fahrenden Auto. Es mochte etwa so alt sein wie sie, hatte schwarze kringelige Locken, die mit einem violetten Stofftuch zurückgebunden waren, und balancierte wagemutig auf einem Haufen offener Kisten. Das Hündchen hüpfte bellend und schwanzwedelnd um sie herum. Als der Stapel mit lautem Getöse umfiel, donnerte einer der Hafenarbeiter mit einer Schimpfkanonade los und schüttelte wütend seine Faust. Aber das Mädchen pfiff nur nach seinem Hund und sprang lachend davon.

In diesem Augenblick trafen sich ihre Blicke. Marie hob automatisch die Hand zum Gruß, erschrak über sich selbst und ließ sich rasch wieder gegen die Rückenlehne sinken.

Kaum hatten sie das Hafengelände hinter sich gelassen, nahm der Wagen Tempo auf.

»Sind wir bald da?«, fragte sie. Aber durch den Fahrtwind hörten ihre Eltern sie nicht.

Kapitel 2

Das Haus war eigentlich gar nicht so übel, dachte Marie. Aber das hätte sie niemals laut gesagt.

Ihre Mutter hingegen ließ ihrer Freude freien Lauf. »Es ist traumhaft. Und dieser Blick! Liebling, komm doch mal!« Sie meinte Marie.

Diese bemühte sich, weiter mürrisch dreinzuschauen. Doch das war gar nicht so einfach. Das vanillecremefarbene Haus mit den rosa gestrichenen Fensterläden gefiel ihr auf Anhieb.

Die putzige Villa hatte sechs kleine Zimmer und einen Turm und war direkt in den Hang gebaut. Von beinahe jedem Fenster aus konnte man das Meer sehen. Im Garten blühten riesige Hibiskusbüsche. Oleander und andere Blumen, deren Namen Marie nicht kannte, wucherten wie Unkraut über den kleinen Weg aus hellen Steinplatten, der direkt zu einem ovalen Pool führte.

Marie verschluckte sich beinahe, als sie einen Juchzer unterdrückte. Niemals würde sie zugeben, dass es hier schön war.