Kathy L. Kain & Stephen J. Terrell

Bindung, Regulation und Resilienz

Körperorientierte Therapie des Entwicklungstraumas

Über dieses Buch

Wie behandelt man ein Entwicklungstrauma? 

Frühkindliche Traumata haben erhebliche Folgen für die körperliche, geistige, emotionale und soziale Gesundheit der Betroffenen. Die Symptome sind komplex und ihre Ursachen sind nicht leicht zu erkennen, liegen sie doch häufig im vorsprachlichen Stadium. Eine Behandlung sollte deshalb sowohl physisch als auch psychisch ausgerichtet sein. Allen, die beruflich mit Traumata in der Kindesentwicklung zu tun haben, liefert dieses Buch theoretische Hintergrundinformationen und praktische Behandlungsansätze. 

Vielen Patient*innen hat es in ihrer Kindheit an Sicherheit und Geborgenheit gefehlt. Beides ist jedoch die Voraussetzung für die Entwicklung der Selbstregulation und die Grundfeste der Resilienz, die es zu fördern gilt. 

Behandelte Themen: 

„Nichts ist so förderlich für die Resilienz wie der Körper.“ – Peter Levine

Kathy L. Kain ist Trainerin für Somatic Experiencing und Expertin für den Einsatz von Berührungen in der Psycho- und Traumatherapie.

Stephen J. Terrells Fachgebiete sind Entwicklungstraumata und Adoption. Ausbildung in Somatic Experiencing und EMDR.

Copyright: © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2020
Copyright © der Originalausgabe: 2018 by Kathy L. Kain and Stephen J. Terrell
Nurturing Resilience. Helping Clients Move forward from Developmental Trauma. An Integrative Somatic Approach, erschienen bei North Atlantic Book in Berkeley, Kalifornien

Coverabbildung: © Galakam – stock.adobe.com

Übersetzung: Claudia Campisi

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz: Peter Marwitz, Kiel (etherial.de)

Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2020

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-836-7

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-926-5 (EPUB), 978-3-95571-928-9 (PDF),  978-3-95571-927-2 (MOBI).

Vorwort

Für tiefenpsychologische und psychosomatische Therapeut*innen gehört sie zu den schwierigsten Herausforderungen: die Arbeit mit Menschen, die schon früh im Leben ein chronisches Belastungstrauma erlitten haben. Da es häufig präverbal und vor der Bildung des autobiografischen Gedächtnisses geschieht, braucht man unbedingt eine spezielle Methode, mit deren Hilfe die Betroffenen das Trauma verarbeiten und integrieren können, um so schließlich wieder zu einem stimmigen Selbstbild zu gelangen.

Kathy L. Kain und Stephen J. Terrell verfolgen die menschliche Entwicklung vom Fötus über das Säuglings- und Kleinkindstadium bis zum Kindesalter, damit wir uns ein genaues Bild davon machen können, an welcher Stelle des Wachstumsprozesses unsere Klient*innen am Weiterkommen gehindert wurden und stehen geblieben sind. Denn so wissen wir, wo wir ansetzen und den gesunden Entwicklungsprozess wieder in Gang bringen können. Das Material in diesem Buch erstreckt sich über die Bereiche der Neurowissenschaften, Bindungstheorie, Kindesentwicklung, Somatic Experiencing, die Polyvagaltheorie nach Stephen Porges und die angemessene Anwendung von Berührung. Es sind höchst wirksame Werkzeuge, mit denen wir unseren Klient*innen helfen können, sich besser zu regulieren, sich sicherer zu fühlen und ihre frühen, präverbalen (prozeduralen) Engramme zu entziffern. Nichts ist so förderlich für die Resilienz wie der Körper, wenn wir nicht nur verstehen, wie das Trauma im Körper gespeichert ist, sondern auch, wie Interozeption bei den Betroffenen das Gleichgewicht wiederherstellt und bewirkt, dass sie zu sich selbst finden, sich als ganz erleben und wieder das Gute im Leben erkennen können.

Diesem Anspruch haben Kathy und Stephen mit ihrem facettenreichen Buch in höchstem Maße Genüge getan, weil sie wissen, wie man direkt mit dem lebendigen und sinnesbegabten Körper arbeitet. Unter den international bekannten Lehrern für Somatic Experiencing und andere körperorientierte Ansätze ist Kathy eine feste Größe, und Stephen, mit seiner eingehenden Erfahrung im Bereich Adoption, weiß, welche in der Kindheit zugefügten Wunden noch im Erwachsenenalter schmerzen. Gemeinsam haben sie einen großartigen Beitrag geleistet, sowohl auf dem Gebiet der somatisch basierten Therapien wie auch in der Aufklärung über Trauma und Entwicklungsstörungen.

Dieser umfassende und aufschlussreiche Band dringt tief – dorthin, wo Bindung und Entwicklungsstressoren ihren Ursprung haben. Er sollte Pflichtlektüre für alle Therapeut*innen sein, nicht nur für die körperorientierten, sowie für alle, die sich liebevoll um Kinder kümmern, ob beruflich oder privat.

Peter A. Levine, PHD

Danksagung

Vor ein paar Jahren hockten wir abends nach einem Seminar in der winzigen New Yorker Wohnung, die wir vorübergehend gemietet hatten, und sprachen zum ersten Mal über das Thema, aus dem später eine Trainingsserie und schließlich das vorliegende Buch werden sollte. So sehr wir uns von der Ausbildung und Berufserfahrung her unterschieden, hatten wir größten Respekt vor den Fähigkeiten und Kenntnissen des anderen und waren begeistert von der Vorstellung, unser Wissen über die somatischen Folgen von Entwicklungstraumata zu bündeln.

Unseren Lehrstoff zum Buch zu machen: Das erschien uns wie eine Herkulesaufgabe. Unsere enge Freundschaft und die starke gegenseitige Achtung voreinander hatten sich bereits beim Unterrichten als äußerst fruchtbar erwiesen, weil der Stoff dadurch sehr anschaulich wurde. Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem sich herausstellen würde, ob wir das, was wir gelernt hatten, auch tatsächlich zu Papier bringen konnten. Doch dann bekamen wir so viel Unterstützung in Aussicht gestellt, dass wir den Sprung wagten.

Allzu gern würden wir allen danken, die uns bei der Verwirklichung unseres Vorhabens unterstützt haben und an ihrem Wissen teilhaben ließen, aber das ist alles gar nicht so leicht, schon allein deswegen, weil es so viele sind: Wirklich alle, die uns auf unserem Weg begegnet sind, waren uns eine Hilfe.

Unser Dank gilt in erster Linie allen Klient*innen, die über die Jahre zu uns in die Behandlung gekommen sind. In Wahrheit sind sie die Meister, denn obwohl sie sich manchmal von schier unüberwindbaren Herausforderungen konfrontiert sahen, strebten sie bereitwillig und beharrlich nach positiver Veränderung. Wir sind dankbar für das uns entgegengebrachte Vertrauen und die gemeinsamen Lernprozesse, durch die wir wiederum in der Lage sind, unser Wissen an viele Hilfebedürftige weiterzugeben.

Wir danken außerdem den vielen Menschen, die sich mit uns zusammen auf das Abenteuer eingelassen, an unseren neu entwickelten Kursen teilgenommen und wertvolles Feedback abgegeben haben über das, was gut lief – und das, was nicht so gut lief. Ihre Offenheit hat bewirkt, dass wir den Stoff verständlicher strukturiert haben und das Buch so im Ganzen deutlich besser geworden ist. Welch Ehre, von so talentierten Ärzt*innen, Pädagog*innen und Kolleg*innen lernen zu dürfen! Wir haben viel Neues erfahren und empfinden es als Glück, Teil einer so lebhaften lernenden Gemeinschaft zu sein. Unser spezieller Dank gilt Rouel, der uns bei einem unserer Trainings in Los Angeles auf die Idee für den Titel brachte.

Wir glauben an das alte Zenwort: „Wenn der Schüler bereit ist, erscheint auch der Meister.“ Zum Glück sind uns die besten Meister erschienen. Danke Peter Levine für die Entwicklung von Somatic Experiencing! Zu Recht stößt dieser Traumatherapieansatz inzwischen weltweit auf Akzeptanz.

Kathy: Mein reichlicher Dank geht an Arthur Pauls, Julie Henderson und Tony Richardson für ihre unermüdliche Aufklärungsbereitschaft und an Daniel Weber, der mir die Chance gab, mein Wissen mit der Gemeinschaft der somatischen Psychotherapeut*innen zu teilen.

Steve: Ich richte meinen großen Dank an Dan Hughes, den Vater der Dyadischen Entwicklungspsychotherapie – der Erste, der mir die ungeschminkten Fakten über Bindung und deren Störungen auf so eindringliche Weise nahegebracht hat.

Beide möchten wir den Respekt und die Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, die wir für Allan Schore, Stephen Porges, und Bruce Perry empfinden, für ihre Arbeit an der Affektregulation und der Polyvagaltheorie und dafür, dass sie die Folgen von Kindheitstraumata in den Vordergrund gerückt haben.

Wir können unmöglich die Namen all jener aufzählen, die dazu beigetragen haben, dass wir so viel über die Folgen von Traumata wissen: die bunte und vielfältige Gemeinschaft der Forscher*innen, Ärzt*innen, Therapeut*innen, Heilpraktiker*innen und Pädagog*innen, die den Mut hatten, sich mit ihren eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen.

Und dann ist da noch unser großartiges Team, mit dem wir den Inhalt und die Struktur des Buches erarbeitet haben: Leslie Eliel, Cecily Sailer und Katy Adams haben dem Buch zu seiner übersichtlichen und verständlichen Gestaltung und seiner ersten Bearbeitung verholfen und die Quellen vieler Zitate geklärt. Unsere Lektorinnen von North Atlantic Books, Erin Wiegand und Ebonie Ledbetter, haben uns von Anfang bis Ende unterstützt.

Und schließlich ein riesiger, aufrichtiger sehr herzlicher Dank an alle unsere lieben Freunde und Familienangehörigen, die immer für uns da waren, wenn wir sie am meisten brauchten, und uns den Rücken freihielten, damit wir schreiben konnten; die uns anfeuerten, wenn unsere Energie erlahmte, und Haus und Hof für uns in Ordnung hielten. Steve: Für meine beiden Söhne Luke und John Michael, die mir auf meinen Unterrichtsreisen und in langen Nächten am Schreibtisch beigestanden und mich unterstützt haben – ohne eure Liebe und eure Hilfe wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. Kathy: Für meinen Mann Gordon, der auch schreibt und die Anforderungen nur zu gut kennt, die diese Beschäftigung nicht nur an die Schreibenden stellt, sondern auch an die, die sie lieben. Danke dass du mich bei all meinen Bemühungen unterstützt und überdies noch wie von Zauberhand den Umzug in einen anderen Bundesstaat gestemmt hast. Für meinen Stiefsohn Benjamin, der mich jeden Tag mit Stolz erfüllt, dass ich zu seinen „Elternteilen“ gehöre.

Mit großer Dankbarkeit und Anerkennung hoffen wir, dass dieses Buch all der Unterstützung gerecht wird, die wir bei seinem Entstehungsprozess erhalten haben.

Kathy und Steve

Einleitung

Wie können wir Menschen helfen, die in der frühen Kindheit ein Trauma erlitten haben? Mit dieser Frage setzen sich gleichermaßen Psychotherapeut*innen, Traumatherapeut*innen und Neurowissenschaftler*innen auseinander. Sie, mehr aber noch diejenigen, die ihr Leben lang davon betroffen sind, sind derzeit Zeug*innen einer stillen Revolution, durch die gerade auch das Entwicklungstrauma in den Vordergrund gerückt ist. Auf diese neue Sachlage wollen wir in unserem Buch eingehen und einen körperorientierten, somatischen Ansatz vorstellen, mit dem frühe Kindheitstraumata behandelt und geheilt werden können.

Immer mehr Forschungsarbeiten attestieren frühkindlichen Traumata erhebliche Schäden für die körperliche, geistige, emotionale und soziale Gesundheit. Die Symptome sind komplex und erfordern eine adäquate interdisziplinäre, d.h. sowohl physische als auch psychisch ausgerichtete, Behandlung, die jedoch häufig schwer zu bekommen ist.

Unser Buch richtet sich in erster Linie an alle, die beruflich mit Traumata in der Kindesentwicklung zu tun haben. Wir möchten über die dynamischen Faktoren aufklären, die bei Menschen, die schon früh belastende Erfahrungen gemacht haben, tief greifende somatische Veränderungen hervorrufen. Die Auswirkungen sind von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich, doch zentral ist immer ein überwältigendes Gefühl der Ohnmacht. Je mehr wir über das Entwicklungstrauma wissen, desto besser können wir Informationen an die Betroffenen weitergeben, die ihrerseits dann besser verstehen, wie aus ihrer Hilflosigkeit verschiedene Symptome resultieren. Auf diese Weise werden sie handlungsfähiger und können selbstbestimmter leben, sie nehmen mehr Möglichkeiten wahr, sich ihres Daseins zu erfreuen, und werden so resilienter.

Darum bemühen wir uns jeweils in unserer eigenen Praxis: Steve arbeitet mit früh traumatisierten Kindern und Erwachsenen und Kathy mit Erwachsenen, die unter extrem schweren somatischen Symptomen aufgrund eines frühkindlichen Traumas leiden. Gemeinsam geben wir Kurse für engagierte Behandler*innen. Unser Ziel besteht darin, die körperlichen, geistigen und seelischen Folgen von Kindheitstraumata zu behandeln und auf diese Weise die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.

Mithilfe der Erfolge und Niederlagen Zigtausender Klient*innen haben wir in jahrzehntelanger Arbeit die Teile dieses klinischen Puzzles zusammengesetzt, das uns hoffentlich die Auswirkungen von Kindheitstraumata erklärt. Die Puzzleteile, über die wir in unserem Buch informieren möchten, stammen aus folgenden Bereichen:

  • Bindungstheorie
  • Polyvagaltheorie (Porges) und andere neurowissenschaftliche Forschungsansätze
  • Traumaforschung
  • Somatische Interventionen bei Kindheitstraumata
  • Entwicklungspsychologie

Dieses Buch basiert auf unseren Erfahrungen aus 50 Jahren, in denen wir praktizieren und unterrichten. Es vermittelt Grundlagenwissen und soll für alle helfenden Berufe eine Einführung sein, z.B. für Psychotherapeut*innen, die wissen möchten, wie sie effektiv auf Menschen regieren können, die mit körperlichen oder psychischen Folgen von Kindheitstraumata und Bindungsstörungen zu tun haben.

Dieses Buch gewährt Einblick in einen vielfältigen, von Mitgefühl getragenen Ansatz, der die besten Ergebnisse aktueller Forschungsarbeiten zu Trauma und Bindung auf neue und zutiefst effektive Weise kombiniert und vom Potenzial der Resilienz selbst bei schweren Fällen überzeugt ist. Unser somatischer Ansatz verknüpft Modelle, Theorien und Behandlungsmethoden auf eine Weise, dass die Heilung von Klient*innen, die mit den Folgen frühester Kindheitstraumata zu kämpfen haben, in jeder Hinsicht gefördert wird.

In der Psychologie wird das Entwicklungstrauma häufig als Resultat chronischer Misshandlung durch wichtige Bezugspersonen verstanden. Doch unserer Meinung nach greift dies zu kurz: Die komplexen Traumafolgen lassen sich nicht immer auf mangelhafte Erziehung und Misshandlung zurückführen und können genauso gut von medizinischen Verfahren, Geburtskomplikationen, katastrophalen Ereignissen oder institutionellen Versäumnissen herrühren.

Doch nicht allein unser Verständnis des Entwicklungstraumas hat sich durch die aktuelle Forschung verbessert – auch über Resilienz wird immer mehr in Erfahrung gebracht und ihr Definitionsrahmen erweitert. So haben erst kürzlich neue Forschungsarbeiten gezeigt, dass die Entwicklung bzw. Wiederherstellung der Resilienz nicht nur von individuellen Merkmalen beeinflusst wird, sondern von weitaus mehr Faktoren, wie etwa der Familie, dem sozialen Umfeld und breiteren kulturellen Zusammenhängen, wobei nicht ganz klar ist, welche Faktoren direkt eine Rolle spielen. Diese vielen hilfreichen neuen Erkenntnisse werfen außerdem die Frage auf, wie sich Resilienz eigentlich definiert. Im Zusammenhang mit diesem Buch haben wir uns auf folgende Definition geeinigt: Resilienz ist die Fähigkeit, allen Widrigkeiten zum Trotz positive – mentale, emotionale, soziale und spirituelle – Resultate zu erzielen.

Obgleich wir immer noch nicht alles über Resilienz wissen, zeichnet sich immerhin schon ab, welche Schutzfaktoren ihr Entstehen bei Kindern fördern, selbst wenn diese erheblichen Belastungen ausgesetzt sind (Shonkoff et al. 2012; Walsh 2015):

  • die Erfahrung von Solidarität vonseiten eines Erwachsenen
  • das Gefühl der Selbstwirksamkeit und das Bewusstsein von Kontrolle über die Umwelt
  • die Fähigkeit zu Anpassung und Selbstkontrolle
  • die Möglichkeit, aus Glaube, Hoffnung und kulturellen Traditionen Kraft zu schöpfen

Manche Menschen scheinen schon von Geburt eine günstige Veranlagung für Resilienz zu besitzen, doch diese ist nicht der Hauptfaktor. Laut dem Harvard University Center on the Developing Child ist „der häufigste Einzelfaktor für die Entwicklung von Resilienz mindestens eine stabile und verlässliche Beziehung zu einem Erwachsenen, der dem Kind beisteht, egal ob das ein Elternteil oder eine andere Bezugsperson ist“ (Center on the Developing Child 2017).

Gewissermaßen wird im Beziehungskontext jeder einzelne resilienzfördernde Schutzfaktor gestärkt. Wie in den ersten Kapiteln erläutert wird, gehören zur Dynamik einer gesunden Erwachsenen-Kind-Beziehung sowohl die gesunde Entwicklung selbstregulatorischer Fähigkeiten als auch das Gefühl, Dinge bewirken und beeinflussen zu können. Mit dem edukativen Schwerpunkt unseres Buches möchten wir allen Behandelnden helfen, noch genauer zu verstehen, welche Elemente zu Resilienz beitragen beziehungsweise auf welche Weise jene so überaus wichtigen stützenden Beziehungen zu besseren Resultaten führen.

Genauso wichtig aber ist das Verständnis, wie ein Entwicklungstrauma jene Schutzfaktoren beeinträchtigt und sich negativ auf die Resilienz auswirkt. Dabei kommt es nicht so sehr auf die Ursachen für das Trauma an, sondern eher auf die Art, wie es sich im Leben der Betroffenen manifestiert. Diese sind häufig im Stadium der Überlebensphysiologie gefangen. Sie haben sich Bewältigungsstrategien angeeignet, um ihre Angst und ihr von anderen als negativ bewertetes Sozialverhalten zu überspielen. Das chronische Gefühl des Getrenntseins, des „Nicht-dazu-Passens“, führt dazu, dass sie ihre Symptome aus dem allzu menschlichen Wunsch nach Zugehörigkeit hinter einer Maske verbergen. Doch keine Strategie hilft. So bleibt das zugrunde liegende Problem der frühen Kindheit bestehen und erschwert den Alltag, wie wir bei vielen Erwachsenen und Kindern, mit denen wir arbeiten, feststellen können.

Natalie und Gregg waren verzweifelt und wussten nicht mehr weiter. Sie konnten nicht aufhören zu weinen. Ihr sechs Jahre alter Adoptivsohn Mark war in die Psychiatrie eingewiesen worden und bekam dort hochdosierte Psychopharmaka gegen gewaltsames Ausagieren.

Die beiden litten schrecklich darunter. Sie gaben sich selbst die Schuld, waren wütend und traurig zugleich. Er tat ihnen so leid. Die Psychiaterin sei der Meinung, ihr Sohn würde als Erwachsener nie auf eigenen Füßen stehen können – entweder werde er zu Hause auf Hilfe angewiesen sein oder in einer betreuten Wohngruppe leben müssen. Sie mögen ihn doch zu sich nach Hause holen und schon mal für die psychiatrische Behandlung sparen, die er später sicher einmal brauchen würde, habe man ihnen in der Klinik gesagt.

Gleich nach der Geburt war Mark in Osteuropa ins Waisenhaus gekommen, wo er bis zu seiner Adoption blieb. Seine Adoptiveltern hatten an ihm Zeichen eines Entwicklungstraumas wahrgenommen. Er war Opfer seiner eigenen Überlebensphysiologie geworden, einer Art Überbrückungssystem, mit dem er nicht nur sich selbst, sondern uns alle – obwohl wir es eigentlich hätten besser wissen sollen – zum Ausagieren zwang. Für ein Kind wie Mark, das nie die notwendige soziale Bindung und Co-Regulation erfahren hatte (ein Konzept, das in Abschnitt I erläutert wird), war eine gesunde emotionale Regulation schier unmöglich.

Er hatte eine entwicklungsneurologische Störung erlitten, die sich auf allen Lebensebenen auswirkte: spirituell, emotional, mental und physisch. Zum kollektiven Wohl der Familie waren Korrekturen nötig, damit das Gehirn und die neuronalen Netzwerke des Jungen das neue, liebevolle und sichere Umfeld, in dem er sich nun befand, aktiv zulassen und den Umgang damit erlernen konnte. Um Mark besser unterstützen zu können, mussten auch Natalie und Gregg lernen, sich anders zu verhalten. Auch sie mussten stabiler werden und ihre eigene Emotionalität besser im Zaum halten.

Diese Kombination aus psychischen und somatischen Symptomen ist bei Menschen, die in der Kindheit traumatisiert wurden, leider verbreitet. Doch trotz ihrer schweren Startbedingungen gelingt vielen später sogar ein produktives Leben, oft jedoch mit sehr komplexen Symptomen, deren Bewältigung manchmal eine geradezu heldenhafte Anstrengung erfordert.

In der Kindheit schwer traumatisierte Erwachsene leiden meist unter komplexen und miteinander verwobenen Symptomen, die vor der Therapie erst einmal erfasst werden müssen. Oft sind es vordergründige, scheinbar völlig unabhängig voneinander auftretende körperliche Beschwerden wie hoher Blutdruck, Autoimmunerkrankungen oder Diabetes, die jedoch alle auf ein Entwicklungstrauma zurückgehen. Tatsächlich kann ein Trauma in der frühen Kindheit eine genetische Veranlagung zu bestimmten Krankheiten aktivieren bzw. „anschalten“. Es kann die Größe des sich im Entwicklungsstadium befindenden Gehirns beeinflussen, das Immunsystem zu chronischer Entzündung anstiften und zur Entstehung vieler verschiedener physischer wie psychischer Störungen beitragen (Ellason, Ross & Fuchs 1996; Felitti et al. 1998; Perry 2004a, 2006).

Unserer Erfahrung nach ist es am effektivsten, wenn man die Wunden des Kindheitstraumas auf allen Ebenen versorgt. Ein Entwicklungstrauma kann nur gelöst werden, wenn man in der Behandlung auch die somatischen Reaktionen mitberücksichtigt. Zu dieser Überzeugung gelangten wir unter anderem durch die bahnbrechenden Arbeiten von John Bowlby, Mary (Salter) Ainsworth, Bruce Perry, Peter Levine und Bessel van der Kolk, die uns halfen, unsere realen klinischen Erfahrungen theoretisch zu untermauern, in einen größeren Kontext einzuordnen und so besser zu vertehen. Das gilt ganz besonders für die Polyvagaltheorie von Stephen Porges, die in Kapitel 4 erörtert wird. Am wichtigsten für unsere Arbeit ist jedoch die umfangreiche, auf der ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences Study) basierende gesundheitspolitische Untersuchung, die wir in Kapitel 6 vorstellen. Sowohl die ACE-Studie, bei der Kindheitstraumata mit der späteren Entwicklung verschiedener Krankheiten und Störungen korrelieren, als auch die Vielzahl der aus den Forschungsergebnissen entsprungenen Folgestudien bestätigen, welch verheerende Wirkung ein Trauma haben kann, wenn es in der frühen Kindheit geschieht. Außerdem hebt die Studie hervor, wie wichtig es ist, die physischen und somatischen Symptome der Klienten nicht von ihren psychischen Leiden zu trennen.

Dass wir diese verschiedenen Forschungsrichtungen nun miteinander in Verbindung bringen, ergab sich aus der praktischen Arbeit mit Tausenden von Klient*innen, deren Symptome nach kreativen, unseren Horizont übersteigenden Interventionen verlangten. Wir waren bereit zu lernen, und so machten wir uns zusammen mit unseren Klient*innen, die ihrerseits zu einem gemeinsamen Experiment bereit waren, auf eine spannende und aufschlussreiche Expeditionsreise, bei der wir viele neue Wege entdeckten, wie man ein Entwicklungstrauma effektiver behandeln kann.

Das Ergebnis ist eine mannigfaltige, ausbaufähige und äußerst wirksame Synthese. Dank einer um die Erkenntnisse aus der Bindungstheorie und das innovative Wissen über die Überlebens- und Trauma-Stress-Physiologie erweiterten somatischen Intervention konnten wir bei unseren Klienten verheißungsvolle und manchmal drastische Verbesserungen feststellen. Diese Mischung aus praktischer Erfahrung und theoretischem Wissen hat sich als heilsam für das Nervensystem wie für Familienstrukturen erwiesen und so das Leben vieler Menschen zum Positiven verändert.

Zum Aufbau des Buches

Zur Vermittlung des Wissens, das für eine effektive Traumatherapie aus der somatischen Perspektive notwendig ist, haben wir das Buch in zwei Abschnitte aufgeteilt, wobei die Reihenfolge der Kapitel dem Ablauf der Behandlung eines Kindheitstraumas folgt.

In Teil I, Das Entwicklungstrauma: Ein gesunder Anfang und dann geht es schief – warum?, werden Sie erfahren, wie die Grundlegung gesunder Funktion und Regulation im Optimalfall verläuft und wie und warum es unter dem Stress eines Entwicklungstraumas zu Störungen kommt.

In Teil II, Regulation und Resilienz, informieren wir über die unzähligen Anzeichen und Symptome, die darauf hinweisen, dass ein ungelöstes Entwicklungstrauma die Fähigkeit der Klient*innen zu Genesung und Veränderung blockiert, wie sich die Behandlung eines Entwicklungstraumas von der anderer Traumaformen unterscheidet und was bei den einzelnen Interventionen zu berücksichtigen ist.

TEIL I
DAS ENTWICKLUNGSTRAUMA: EIN GESUNDER ANFANG UND DANN GEHT ES SCHIEF – WARUM?

Sicherheit und Geborgenheit sind Voraussetzung für die Entwicklung der Selbstregulation und die Grundfeste der Resilienz. Im ersten Teil soll es deshalb um gesunde Entwicklung gehen, darum, wie sie gesunde Bindungsmuster fördert, wie sie das Fundament legt für die zu einem Bewusstsein von Geborgenheit und Zugehörigkeit nötige physiologische Kompetenz und wie sie außerdem zu konstruktiver Selbstkommunikation befähigt. Zum Schluss erfahren Sie, auf welche Art und Weise diese Frühentwicklung durch ein Trauma zum Erliegen kommt.

1. Die Eckpfeiler in der Entwicklung zwischenmenschlicher Verbundenheit

Alle 4,3 Sekunden wird irgendwo auf dieser Welt ein Kind geboren. Und jedes Mal bestimmt eine Vielzahl von Faktoren, wie das Kind aufwächst, wie es autonom wird und zu sich selbst findet. Nach der Geburt sind Menschen ja vollkommen auf Fürsorge angewiesen. Frühestens mit 18, spätestens mit 25, werden sie flügge, ziehen von zu Hause aus und leben ihr eigenes Leben. Doch ihre Beziehungsfähigkeit entwickelt sich bereits in den ersten Lebenswochen, -monaten und -jahren. Auf welcher Basis dies geschieht, erfahren Sie in diesem Kapitel. Wir werden uns damit beschäftigen, wie das Gespür für Geborgenheit, die Co-Regulation, die Bindungsfähigkeit und das Gefühl für Zugehörigkeit die Eckpfeiler für eine gesunde und sichere Entwicklung bilden. Schauen wir uns als Erstes die Arbeit derer an, die in der Formulierung der Bindungstheorie Pionierarbeit geleistet haben: John Bowlby, Mary Ainsworth und Mary Main.

1.1 Bindung und Geborgenheit

Bowlby (1969) und Ainsworth (1973) zufolge ist Bindung eine tiefe, dauerhafte emotionale Verbundenheit zwischen Menschen über Raum und Zeit hinweg. Sie ist nicht immer beidseitig, sondern kann ohne Weiteres nur in eine Richtung erfolgen, wenn ein Kind sich zum Beispiel an ein Elternteil bindet, dieser aber weniger stark an das Kind, oder umgekehrt.

Vor John Bowlby wurde die Frage, wie Menschen zu der Person heranreifen, die sie sind, standardmäßig mit der Verhaltenstheorie erklärt (Dollard & Miller 1950). John Dollard und Neal Miller waren der Meinung, Kleinkinder würden sich stärker an diejenigen gebunden fühlen, die sie fütterten. Infolgedessen wurde die Mutter – vor allem die durchgängig selbst stillende – als Hauptbezugsperson und infolgedessen die Mutter-Kind-Beziehung als besonders starke und dauerhafte Bindung betrachtet. Doch dann stellten sich Zweifel ein: Denn was ist, wenn das Kind von einer gefühlskalten Mutter gefüttert wird, die sich zwar um seine biologischen Bedürfnisse kümmert, aber nur widerwillig, weil sie innerlich unbeteiligt bleibt und sich weder in das Kind noch in sein Bedürfnis nach „emotionaler Nahrung“ einfühlen kann? So kam es in Bezug auf die Sichtweise der Mutter-Kind-Beziehung zu einem Paradigmenwechsel, für den John Bowlby und Nachfolger*innen den Anstoß gaben.

John Bowlby und Mary Ainsworth, den Schöpfern der modernen Bindungstheorie, verdanken wir den psychologischen Rahmen, an dem sich heute unser Verständnis von Beziehungen und Kindesentwicklung orientiert. Dass es in der Beziehung zwischen Eltern und Kind vor allem auf Nähe ankommt, dass Nähe den Grundstein für Bindung setzt – auf diese Vermutung hatte Bowlby wohl seine eigene Kindheitserfahrung als Internatsschüler gebracht.

John Bowlby wurde 1907 in London als eines von sechs Kindern geboren. Sein Vater war Arzt im britischen Königshaus, und wie damals in Oberschichtsfamilien üblich, engagierte seine Mutter ein Kindermädchen.

Die Beziehung zu seiner Mutter war Bowlbys eigenen Schilderungen zufolge weder eng noch liebevoll. Den wichtigsten Kontakt hatte er zur Kinderfrau. Ihr vertraute er, sie war seine Hauptbezugsperson. Doch zu seinem und seiner Geschwister Leidwesen verließ sie das Haus, als er erst vier Jahre alt war. Ein schwerer Schlag, der ihn in einen Zustand tiefster Traurigkeit stürzte.

Wie viele Kinder seiner Zeit kam Bowlby mit sieben, d.h. nur drei Jahre nach dem Verlust seines Kindermädchens, auf ein Internat. Er fühlte sich dort einsam und verlassen und war wütend, dass man ihn dermaßen abschob. Diese Gefühle, die er schon so früh im Leben erfahren musste, bildeten die Grundlage für seine spätere Arbeit als Erwachsener in der Erforschung und Konzipierung der Bindungsdynamik und erklärt auch seine Behauptung, Internate seien schädlich für Kinder.

Mit 17 ging Bowlby an die renommierte Cambridge University und studierte dort Verhaltenswissenschaften mit dem Schwerpunkt Psychologie. Nach seinem überdurchschnittlich guten Abschluss entschied er sich für ein Medizinstudium am University College Hospital in London, wo er sich auf Kinderpsychiatrie spezialisierte. Von Sigmund Freud beeinflusst, ließ er sich als Psychoanalytiker nieder, mit Melanie Klein als Supervisorin. Er setzte sich mit den Arbeiten von Anna Freud, René Spitz und Dorothy Burlingham auseinander, wagte sich jedoch über die seinerzeit anerkannten Theorien hinaus und begann mit eigenen Forschungsarbeiten zur Bindungsdynamik und Kindesentwicklung. Neben seinen beruflichen Tätigkeiten engagierte er sich außerdem ehrenamtlich an einem Heim für verhaltensauffällige Jungen, was seine Forschung nachhaltig prägte und zu erstaunlichen Ergebnissen führte.

An seinem ersten Arbeitsplatz, der Child Guidance Clinic of London, interessierte er sich besonders für verhaltensauffällige Kinder, die von ihrer Mutter oder der Kinderpflegerin getrennt worden waren. Es handelte sich um eine Gruppe von Jungen, die wegen Diebstahl und anderer Straftaten eingewiesen worden waren, und Bowlby fragte sich, welche Rolle ihre frühkindliche Entwicklung dabei spielen mochte.

Je mehr er sich mit der Lebensgeschichte der Jugendlichen befasste, desto stärker wurde sein Interesse, denn immer wieder stieß er auf dasselbe Thema: Trennung von der Mutter. Die entscheidende Wende in seiner Forschung ereignete sich, als zwei Jungen offenbar eine emotionale Beziehung zu ihm entwickelten, in der er das tiefe Bedürfnis nach Bindung erkannte (Bowlby 1947). So kam es, dass die Kinder ihm in kürzester Zeit Augen, Ohren und Herz öffneten für die spannende Frage nach der Entwicklung von Beziehungsfähigkeit und ihren Störungen.

1958 hatte sich in Bowlby folgende Erkenntnis gefestigt: Kinder brauchen zum Überleben nicht nur Zuwendung, sondern auch eine enge emotionale Bindung. Dass Säuglinge alleine nicht überleben können und jemanden brauchen, der ihnen Sicherheit und Geborgenheit gibt, damit sie ein Leben lang wachsen und gedeihen können, und dass dieser durchgängig anzutreffende Überlebensdrang den Grundstein der Entwicklung bildet, war bereits bestens bekannt. Doch Bindung als Teil dieses aktiven Überlebenskampfes, die Vorstellung, dass Säuglinge und Kleinkinder durch Bindung an ihre Bezugsperson aktiv für ihr Überleben sorgen – das war neu. Bisher hatte man kindliche Abhängigkeit immer als etwas Passives betrachtet und Bindung lediglich für eine durch die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse automatisch hervorgerufene Nebenwirkung gehalten.

Da die Mutter biologisch – d.h. durch Schwangerschaft, Geburt und Stillen – für die Rolle der Kindererziehung prädestiniert schien, machte Bowlby sie für die lebensnotwendige Befriedigung nicht nur der körperlichen, sondern auch der emotionalen Bedürfnisse verantwortlich. So rückte die Nähe der Mutter – bzw. ersatzweise der Kinderpflegerin – zum Kind, sowohl ihre physische Präsenz als auch ihre Fähigkeit zur Befriedigung der emotionalen und geistigen Bedürfnisse des Kindes, immer mehr in den Fokus des Forschungsinteresses. Bowlbys Beobachtungen zufolge war die Geborgenheit vermittelnde Nähe der Betreuungsperson erst recht von essenzieller Wichtigkeit, wenn das Kind unter Stress stand.

So konzipierte Bowlby an der bereits erwähnten Gruppe aus 44 Jungen, die aufgrund ihrer kriminellen Handlungen ins Heim eingewiesen worden waren, eine für die Bindungstheorie bahnbrechende empirische Studie (Bowlby 1944), durch die er beweisen konnte, dass die frühe Beziehung der Mutter zum Kind dessen Persönlichkeit bis in die Adoleszenz und sogar bis ins Erwachsenenalter hinein beeinflusst.

Das Erste, was Bowlby bei seinem Projekt „Vierundvierzig jugendliche Diebe: Ihr Charakter und ihr Leben zu Hause“ auffiel, war das fehlende Mitgefühl der Jungen für andere. Sie kapselten sich von ihrem Umfeld ab und achteten weder das Leben noch das Eigentum anderer Menschen. Dabei korrelierte das Stehlen direkt mit der Trennung von der Mutter bzw. einer zentralen Pflegeperson. Trennung und Vernachlässigung hatten das Bild verzerrt, das die Jungen von ihrem Umfeld hatten (Bowlby 1944). Wahrscheinlich sah Bowlby in den Studienergebnissen seine eigenen Kindheitserfahrungen und seinen Trennungsschmerz widergespiegelt.

Seine erste Forschungsarbeit in dem Heim für schwer erziehbare Jungen beflügelten ihn zu weiteren Untersuchungen über Bindungsdynamik und schließlich zur Formulierung seiner Bindungstheorie. Er postulierte vier Elemente als unabdinglich für eine gesunde Bindung des Kindes an ein Elternteil oder eine andere Bezugsperson (Bowlby 1969). Wir fassen sie folgendermaßen zusammen:

  1. Zufluchtsort: Kleine Kinder brauchen einen Beziehungsraum, in dem ihr Bedürfnis nach Bindung von einer Bezugsperson befriedigt wird, die ihnen Schutz gewährt und sie liebevoll umsorgt. So bekommen sie das Gefühl, dass sie einen verlässlichen Ort haben, an den sie in Stressphasen zurückkehren können, um dort beruhigt zu werden. Denn in diesem Entwicklungsstadium können sich Kinder noch nicht selbst wieder beruhigen und sind auf Erwachsene angewiesen, die ihre emotionalen Bedürfnisse erkennen und darauf eingehen. Innerhalb dieses Raumes erlernt das Kind allmählich ein Gefühl der Geborgenheit und Verbundenheit.
  2. Sichere Basis: Mindestens bis das Kind fünf ist, sollte die Mutter oder eine andere Betreuungsperson kontinuierlich bei ihm bleiben und für es da sein. Damit die Bindung zwischen beiden hundertprozentig hält, sind mindestens zwei Jahre notwendig, und für die Stärkung der Beziehung und die Bildung einer sicheren Basis weitere drei Jahre. Dieses Muster wird sich später, bis ins Erwachsenenleben, wiederholen. Zu seiner sicheren Basis wird das Kind in Zeiten der Überforderung oder Belastung immer wieder zurückkehren (auch im Kontakt mit anderen Kindern und Erwachsenen).
  3. Beständige Nähe: Das Kind hält ein bestimmtes Maß an Nähe zu seiner Bezugsperson aufrecht. Es beginnt langsam, seine Umgebung zu erforschen, wagt sich immer weiter hinaus, hält den Kontakt aufrecht, gewinnt so an Autonomie und weiß sich bei Bedarf sicher mit der Bezugsperson verbunden (und findet diese auch). Durch die beständige Nähe in der Beziehung bekommt das Kind die erforderliche Unterstützung und Sicherheit, um neue Lebensbereiche kennenzulernen. Indem es sich immer wieder von seiner Bezugsperson wegbewegt und zu ihr zurückkehrt, kann das Kind darauf vertrauen, dass sie ihm jederzeit ein Gefühl der Geborgenheit verleiht.
  4. Trennungsstress: Das Kind bildet ein unabhängiges, von seiner Bezugsperson getrenntes Ich, in der Gewissheit, dass die Abwesenheit nur vorrübergehend und eine Wiedervereinigung möglich ist. Ohne diese Gewissheit entwickelt das Kind ein Gefühl der Getrenntheit und kann nicht mitfühlend auf andere eingehen. So bildet es ungesunde oder gar keine Bindungen. Dies ist der kritische Moment für die gesunde Entwicklung des Kindes, an dem auch die emotionale Reife der vierundvierzig, von Bowlby therapierten Jungen scheiterte (Bowlby 1947).

Somit hatte Bowlby die entscheidenden Elemente für die Erfahrung von Sicherheit, Stabilität und Geborgenheit in der Erwachsenen-Kind-Beziehung benannt, die, wie wir inzwischen wissen, so wichtig für die Entwicklung von Resilienz ist. Des Weiteren identifizierte Bowlby vier aufeinander aufbauende Phasen, in denen die Fähigkeit zu Bindung entstehen oder unterbunden werden kann (Bowlby 1969):

  1. Vorbindungsphase (Geburt bis sechs Wochen): Zwischen dem Säugling und der ihn betreuenden Person bahnt sich allmählich ein Kontakt an. Durch sein Weinen oder Glucksen und Gurren versucht er, ihr nahezukommen. Er erkennt ihre Stimme und ihren Geruch. Wenn sie ihn auf den Arm nimmt, reagiert er darauf und geht einen Dialog aus Lächeln und Flüstern ein.
  2. Bindung in der Entstehung (sechs Wochen bis acht Monate): Das Baby hält jetzt nach seiner Hauptbezugsperson Ausschau und zieht sie anderen Erwachsenen gegenüber vor. Auf sie reagiert es anders als auf diejenigen, die nur gelegentlich zu Besuch kommen. Im Kontakt mit ihr werden seine verbalen Fähigkeiten immer besser.
  3. Eindeutige Bindung (acht bis achtzehn Monate): Es ist nun ziemlich offensichtlich, von wem das Baby beruhigt werden möchte und mit wem es sich am stärksten verbunden fühlt. In dieser Phase entwickelt es sich zum Kleinkind. Es schiebt sich in den Vordergrund, will seine Hauptbezugsperson auf sich aufmerksam machen. Es möchte auch weiterhin im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit bleiben und hüpft und klettert auf ihr herum. Wenn es von ihr getrennt ist, wird es sichtlich nervös, ist aber auch offen für andere fürsorgliche Erwachsene, die seine Bedürfnisse stillen und eine Bindung mit ihm eingehen wollen.
  4. Wechselseitige Bindung (achtzehn Monate bis zwei Jahre): Mit der Erweiterung des Bewegungs-, Spiel- und Kommunikationsrepertoires, vor allem auch durch den Spracherwerb, werden Wörter immer wichtiger für das Kind. Das Sprechen erleichtert den Lernprozess. Obwohl das Kind weiß, dass seine Bezugsperson nur vorübergehend abwesend ist und wiederkommen wird, signalisiert es manchmal noch Stress, wenn sie fortgeht. Um sie vom Gehen abzuhalten, drückt das Kind absichtlich verbal oder durch sein Verhalten Frustration aus. Die Bezugsperson sollte sich Zeit nehmen, dem Kind zuhören und sich mit ihm beschäftigen, damit es auf die gleichbleibende Befriedigung seiner Bedürfnisse vertrauen kann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Bowlby als stellvertretender Direktor an die Londoner Tavistock Clinic. Die von ihm geleitete Kinderstation wandelte er in eine Abteilung für Kinder und Eltern um, da er sich dem Wohl des Kindes verpflichtet fühlte und für die Entwicklung der jungen Persönlichkeit die gesamte Familie als wichtig erachtete.

Noch vor der endgültigen Konzipierung seines Modells schrieb Bowlby 1949 einen Artikel über seine Erfolge in der Familientherapie. Es käme ihm vor allem darauf an, dass Eltern ihren Kindern erzählten, was sie selbst in ihrer Kindheit erlebt haben (Bowlby 1949). Biografisches Erzählen war ein ganz wesentliches Element in Bowlbys Kindertherapie. Wie wirkungsvoll das ist, sehen wir heute in der Behandlung des Entwicklungstraumas. Die später von Daniel Hughes entwickelte Dyadische Entwicklungspsychotherapie (Dyadic Development Psychotherapy, DDP) (Beck-Weidman & Hughes 2008), bei der der Therapeut sich auf die Entwicklung des Kindes bzw. das emotionale Entwicklungsstadium des Erwachsenen einstellt, um deren Erzählung zu hören und urteilsfrei zu akzeptieren, haben wir ebenfalls in unseren Ansatz integriert.

Bowlby war jedoch kein „Alleingänger“. 1950 kam Mary Ainsworth aus Kanada nach London, da ihr Mann, Leonard Ainsworth dort sein Studium abschließen wollte. Die gebürtige US-Amerikanerin war als kleines Kind mit ihrer Familie nach Toronto gezogen und hatte mit sechzehn im Rahmen eines Begabtenförderungsprogrammes ein Psychologiestudium an der Universität von Toronto begonnen. Das Thema ihrer Forschungsarbeit, die sie noch unter ihrem Mädchennamen Salter (1940) publizierte, war die von ihrem Mentor William E. Blatz konzipierte „Sicherheitstheorie“. Wie Bowlby interessierte auch sie sich für die gesunde oder ungesunde Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern.

In London suchte Ainsworth nach einer Möglichkeit, weiterhin auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie zu arbeiten, und fand eine Stelle als Forschungsassistentin bei John Bowlby. Weder er noch sie konnten voraussehen, welch tief greifende Folgen diese schicksalhafte Fügung für ihre zukünftige Arbeit haben würde. Ohne den anderen hätte wohl keiner von beiden so viel erreicht, bemerkte Bowlbys Sohn später einmal. Betrachtet man John Bowlby als den Vater der Bindungstheorie, dann ist Mary Ainsworth deren Mutter.

Bis 1954 arbeitete sie als seine Assistentin an der Tavistock Clinic und ging dann für ein eigenes Forschungsprojekt nach Uganda. Dort konzentrierte sie sich auf eine verbreitete Tradition, Kinder zum Abstillen für ein paar Tage von der Mutter zu trennen, damit diese „die Brust vergessen“. Da Ainsworth die regionale Sprache erlernte, bekam sie einen guten Einblick in kulturübergreifende Zusammenhänge der Kindererziehung und Bindung. Auf der Basis dieser Untersuchung schrieb sie später das Buch Infancy in Uganda (Ainsworth 1967), in dem sie die universalen, über kulturelle, sprachliche und geografische Grenzen hinaus stets gleichbleibenden Merkmale des Bindungsprozesses beschreibt.

1958 zog Ainsworth mit ihrem Mann nach Baltimore, wo sie eine Stelle als Dozentin für Entwicklungspsychologie an der Johns Hopkins University fand. Je mehr sie an Wissen und Können dazugewann, umso gleichberechtigter wurde die Arbeitsgemeinschaft mit Bowlby, der in London geblieben war, sodass sie sich jahrelang jede Woche Briefe schrieben. Obwohl sie sich nur selten zur selben Zeit in der gleichen Stadt befanden, überlappten sich ihre Forschungsarbeiten immer stärker und begannen, miteinander zu verschmelzen.

Anfang 1960 stellte Ainsworth zum ersten Mal ihre Ugandastudie in der Öffentlichkeit vor und wurde von Entwicklungspsychologen angegriffen, die von ihr eine genauere Definition von „Bindung“ forderten. Dies motivierte sie, die den Bindungsprozess beeinflussenden Elemente noch spezifischer herauszuarbeiten und diejenigen Verhaltensweisen zu benennen, durch die sich eine gesunde von einer ungesunden Bindung unterscheidet.

Bis 1965 arbeiteten Ainsworth und ihre Assistentin Barbara Wittig an ihrem Konzept der „Fremden Situation“. Ihr Ziel war die Untersuchung individueller Bindungsunterschiede bei Kindern, die kurzzeitig unter Bindungsstress stehen. Dazu richteten sie ein mit Spielzeug und kindgerechten Möbeln ausgestattetes Labor ein, in dem jedes Kind acht Sequenzen aus ca. drei Minuten verbrachte.

Ablauf: Eine Mutter betritt mit ihrem zwölf- bis vierundzwanzig Monate altem Kind das Labor und lässt es den Raum erkunden. Nach drei Minuten kommt eine dem Kind unbekannte Person dazu, spricht erst mit der Mutter und befasst sich dann mit dem Kind. Anschließend geht die Mutter „deutlich wahrnehmbar“ hinaus und lässt das Kind mit der fremden Person allein. Während dieser ersten Trennung versucht die fremde Person, mit dem Kind in einen gegenseitigen Kontakt zu kommen. Nach drei Minuten kommt die Mutter zurück. Sie begrüßt und beruhigt das Kind. Die fremde Person geht hinaus. Nach drei Minuten geht auch die Mutter. Das Kind bleibt zunächst allein zurück, dann kehrt die fremde Person zurück und kümmert sich liebevoll um das Kind. Dann betritt auch die Mutter wieder den Raum, begrüßt ihr Kind, nimmt es auf den Arm, während die fremde Person hinausgeht.

Die ganze Zeit über wird beobachtet, wie das Kind auf die fremde Person und dann auf die Rückkehr der Mutter reagiert. Aus dem Verhalten des Kindes lässt sich feststellen, welche Art von Bindungsbeziehung es zur Mutter hat.

Die 26 Kinder der Studie (Ainsworth & Wittig 1969) wurden je nach Kommunikation und Interaktion mit der Mutter, der emotionalen Regulationsfähigkeit und der Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung in drei Kategorien aufgeteilt, die später als Bindungsstile bekannt wurden.

  • Sichere Bindung: Kinder in dieser Kategorie schauen sich in Gegenwart ihrer Mutter mit Vergnügen im Raum um und erkunden ihre neue Umgebung. Dies entspricht Bowlbys Vorstellung von der sicheren Basis: Die Mutter fungiert als sichere Basis, von der aus das Kind gefahrlos seine Umgebung erkunden und sich auf eine fremde Person einlassen kann, solange die Mutter dabei ist. Verlässt die Mutter den Raum, beginnt das Kind zu weinen, freut sich aber über das Wiedersehen. Diese Bindungsart steht in engem Zusammenhang mit den resilienzfördernden Schutzfaktoren (Shonkoff, Boyce, Cameron et al. 2004).
  • Ängstlich-meidende unsichere Bindung: Diese Kinder scheinen ihre Mutter zu meiden bzw. ihr Kommen und Gehen zu ignorieren. Sie interessieren sich nicht für ihre Umgebung und können sich meist nicht dazu entschließen, sie zu erkunden. Emotional sind sie zurückhaltender und weniger ausdrucksstark, egal wer gerade im Zimmer ist oder was zu ihrer Beruhigung getan wird. Bei Nachfolgestudien wurde diese Gruppe später in zwei Untergruppen aufgeteilt: Die Kinder der ersten Gruppe ignorieren ihre Mutter bei deren Rückkehr völlig, während die der zweiten Gruppe sich ihr etwas nähern, sich dann aber von ihr abwenden oder sie ignorieren. Dieses ausweichende Verhalten betrachteten Mary Ainsworth und Silvia Bell, die damals (in den 1970er-Jahren) Forschungsassistentin war, als eine Form des Selbstschutzes. Noch später konnte man mithilfe von Pulsmessern zeigen, dass die ängstlich-meidenden Kinder emotional ebenso beteiligt sind wie die Kinder der anderen Gruppen, also zwar durchaus emotional auf die Mutter reagieren, doch aus irgendeinem Grund gelernt haben, ihre Emotionen zu verbergen oder zurückzuhalten.
  • Ängstlich-ambivalente unsichere Bindung: Diese Kinder sind schon vor dem Weggang der Mutter gestresst. Sie klammern sich an sie und lassen sich nach ihrer Rückkehr kaum beruhigen. Auch diese Gruppe wurde später unterteilt: Während die einen mit sichtlichem Unmut reagieren, weil die Mutter hinausgegangen ist, wirken die anderen passiv und wie verloren.

    Beim ersten Versuch war die Belastung in dieser Gruppe jedoch derart hoch, dass Ainsworth vorzeitig abbrechen musste. Erst von Mary Main und Judith Solomon wurden die am stärksten gestressten Kinder zu einer eigenen Kategorie zusammengefasst:

  • Desorganisierte/desorientierte Bindung: Diese vierte Kategorie stammt von Mary Main und Judith Solomon (Main & Solomon 1986), die auch das Adult-Attachment-Interview zur Erfassung der Bindung Erwachsener entwickelten. Ihnen war eine Gruppe von Kindern aufgefallen, die in keine der drei Bindungsstilgruppen passt. Ihnen fehlt jede Fähigkeit zur Bewältigung der Situation. Manche bewegen sich auf ihre Mutter zu, wenn diese zurückkommt, andere von ihr weg. Beim Wiedersehen wirken sie verwirrt und verhalten sich widersprüchlich. Diese Kategorie steht in sehr engem Zusammenhang mit resilienzschädigenden Risikofaktoren (Shonkoff, Boyce, Cameron et al. 2004; Shonkoff, Levitt, Boyce et al. 2004).

In Studien zu den drei ursprünglichen Bindungsstilen (sicher, unsicher-meidend und unsicher-ambivalent) wurden mehr als 70 % der amerikanischen Kleinkinder als sicher, 20 % als unsicher-meidend und 10 % als unsicher-ambivalent klassifiziert (Ainsworth et al. 1978).

Diese Ergebnisse werden von der Metaanalyse von Van IJzendoorn und Kroonenberg (1988) bestätigt. Noch jüngere Studien zeigen einen besorgniserregenden Rückgang der sicheren Bindung, deren Anteil bei etwa 60 % der allgemeinen Bevölkerung liegt (Andreassen, Fletcher & Park 2007). Der Prozentsatz der mit desorganisierter Bindung kategorisierten Kinder hängt von der jeweiligen Stichprobe ab (Greenberg, Cicchetti & Cummings 1990; Andreassen, Fletcher & Park 2007). So beträgt die Rate laut den Untersuchungen von Mary Main (Main & Solomon 1990) in der weißen Mittelschicht 12–15 %, bei minderjährigen Müttern 30 % (Broussard 1995) und bei misshandelten und psychisch kranken oder drogenabhängigen Müttern sogar 70–80 % (Carlson et al. 1989). Und auch hier korrelieren die Ergebnisse dieser Stichproben mit denen aus Untersuchungen zur Resilienz. Kinder von Müttern mit psychischen Krankheiten oder Drogenproblemen weisen mehr Risikofaktoren auf, die mit schwacher Resilienz korrelieren (Shonkoff & Eisels 2000; Shonkoff & Phillips 2000).