Amerika

Ich heiße Edda und bin sechs Jahre alt. Eigentlich würde ich lieber Jelina heißen und zehn Jahre alt sein. Jelina mit »Dsch« wie Dschungel. Und zehn wie meine Brüder. Die dürfen nämlich viel länger aufbleiben als ich und bekommen im Sommer ein Handy.

Aber Edda ist auch okay. Den Namen habe ich von meiner Oma. Sie heißt Ingeborg Edda. Da bin ich mit Edda eigentlich ziemlich gut weggekommen, finde ich.

Mein einer Bruder heißt Friedrich, so wie mein Opa. Alle nennen ihn Fred. Also den Bruder, nicht den Opa. Mein anderer Bruder heißt Tom. Papa hat erzählt, dass er früher in den Ferien auf einem Pferd geritten ist, das Tom hieß. Das hat ihm so gut gefallen, und deshalb hat er Tom Tom genannt.

Mama hat erzählt, als sie mit mir schwanger war, hat sie die Jungs gefragt, wie sie mich nennen soll, wenn ich geboren bin. Da haben die vorgeschlagen: Totenkopf-Skelett. Typisch Jungs. Das hätte sich ja toll angehört: »Totenkopf-Skelett, komm zum Mittagessen!« »Oh, Totenkopf-Skelett, hast du dir wehgetan?«

Also, wo ja so viel hätte schiefgehen können mit meinem Namen, finde ich Edda ganz in Ordnung. Aber im Spiel heiß ich jedenfalls Jelina.

Und spielen tu ich jede Menge. Wir wohnen im Moospfad, und da haben wir wirklich Glück, sagt Mama. Weil hier so viele nette Kinder mit netten Eltern wohnen. Da hat sie recht. Ich finde, dass die netten Eltern fast so wichtig sind wie die netten Kinder.

Wenn man nämlich irgendwo spielt und mittendrin Durst bekommt, muss man nicht erst nach Hause rennen, sondern kann direkt da, wo man spielt, fragen, ob man was zu trinken bekommt. Oder aufs Klo gehen, wenn man mal muss. Also man muss dann natürlich »Bitte« und »Danke« sagen. Meistens denk ich da aber auch dran.

Und außerdem kann man dann immer mit allen zusammen grillen. Die Erwachsenen grillen und quatschen, und die Kinder spielen und essen.

 

Unser Haus ist das allerschönste im ganzen Moospfad, finde ich. Es ist riesengroß und ganz bunt. Am schönsten finde ich es, wenn ich abends vom Spielen nach Hause komme und Mama hat schon Licht angemacht. Dann ist es draußen so kalt und dämmrig, und man kann, wenn man näher kommt, schon durch die Fenster sehen, wie gemütlich und warm es bei uns zu Hause ist.

Außerdem liegt unser Haus direkt gegenüber von Amerika. Also nicht von dem echten Amerika, das geht ja gar nicht. Unser Amerika ist ein verwildertes Grundstück. Früher stand dort mal ein Haus, aber das wurde abgerissen. Jetzt gibt es da nur noch Büsche und Sträucher und Wiese. Und einen Tümpel. Fred sagt, der ist das Beste an ganz Amerika, denn in dem Tümpel sind jede Menge Molche, und als er letztens reingegriffen hat, hat er gleich neun Molche auf einmal rausgefischt!

Ich finde in Amerika aber etwas anderes viel toller als den ollen Teich. Aber das ist mein allergeheimstes Geheimnis, und ihr dürft niemandem davon erzählen, vor allem nicht meinen Brüdern, wenn ich das jetzt sage. Versprochen?!

Also, das Allertollste an Amerika ist mein Geheimversteck. Das ist ein großer grüner Busch. Rhododendron heißt der, hat meine Mama gesagt. Dieser Rhododendron ist von außen ganz grün und dicht, sodass man nicht reinschauen kann. Von innen ist er groß und luftig, und wenn ich drinnen sitze, bin ich ganz versteckt, und keiner kann mich sehen. Außerdem gibt es so lange, glatte Äste kreuz und quer, da kann man gut hochklettern oder sich dranhängen.

Mein geheimes Versteck habe ich schon vor langer Zeit entdeckt, als ich noch ganz klein war. Es ist der perfekte Platz, wenn man mal seine Ruhe braucht. Bei uns zu Hause ist immer viel los, so mit drei Kindern. Und meine Brüder sind unglaublich laut, da hab ich manchmal einfach die Nase voll, und dann geh ich hierhin, in meine geheime grüne Höhle. Ich passe auch immer ganz genau auf, dass mich keiner dabei sieht. Ich geh dann erst so in Amerika rum und heb mal einen Stein auf oder so, und dann, wenn garantiert keiner guckt, besonders nicht meine Brüder, schwups, flutsche ich durch die Blätter in den Rhododendron.

Innen im Rhododendron hab ich bunte Bänder an die Äste gebunden. Immer wenn jemand aus unserer Familie Geburtstag hat, mopse ich mir nach dem Auspacken die schönsten Geschenkbänder, und dann häng ich sie auf. Ich habe weißes mit grünen Punkten, rosanes mit Glitzer und goldenes, das sich immer so lockt. Am schönsten ist aber eins von Weihnachten. Das ist durchsichtig weiß mit goldenen Eiskristallen drauf.

Manchmal binde ich auch was an die Bänder, wenn ich zum Beispiel etwas Schönes draußen finde. Einmal hab ich so einen silbernen Pinökel gefunden, der an Coladosen oben dran ist, den hab ich aufgehängt, und eine weiße Feder. Im Urlaub an der Ostsee habe ich eine Muschel mit Loch gefunden, die hängt jetzt auch hier, in meinem Geheimversteck.

Wenn ich nachdenken will, lege ich mich in meinem Rhododendron mit dem Rücken auf den Boden, und dann schweben die bunten Bänder über mir und schaukeln sanft, und die Blätter rascheln leise, das ist dann ganz zauberhaft schön.

Und auf den Rücken legen kann ich mich da ruhig, weil ich fege ja auch immer. Ich habe einen Ast, den hab ich mal in Amerika gefunden, da sind unten noch ganz viele vertrocknete Blätter dran, und mit dem kann man super fegen. Ich halte mein Geheimversteck schon in Ordnung. Der Besen hat auch seinen festen Platz. Immer wenn ich fertig gefegt habe, lehne ich ihn in eine bestimmte Astgabel. Mein Geheimversteck ist vielleicht sogar ordentlicher als mein Zimmer.

Hier ist es aber nicht nur wunderschön und tipptopp ordentlich, sondern es gibt auch einen richtigen Schatz. Ganz unten am Stamm des Rhododendrons, da, wo schon fast die Wurzel anfängt, ist so eine Kuhle. In diese Kuhle habe ich meine kleine Schatzkiste gestellt. Die hab ich mal selbst gemacht, im Urlaub. Da konnte man eine kleine Holzkiste verzieren mit Kleber und Stücken von Servietten, und ich habe eine wunderschöne Serviette gefunden, mit Regenbögen drauf, und die Kiste ist richtig prima geworden. Deshalb ist sie jetzt meine Schatzkiste, und da sind meine wichtigsten Geheimsachen der Welt drin. Das kann ich jetzt auch gar nicht verraten, was das ist. Jedenfalls liegt das Kistchen in der Kuhle, und darüber leg ich immer fünf braune Blätter, damit das auf keinen Fall jemand findet. Immer genau fünf, Ordnung muss sein, sagt Oma.

 

So, also das ist auf jeden Fall Amerika. Da spielen wir fast jeden Tag.

Und weil wir jedes Mal etwas Neues entdecken, hat Mama mal gesagt, wir seien ja richtige Entdecker. Wie so ein Kolumbus. Der hat nämlich das echte Amerika entdeckt. Ja, und deshalb heißt unser Amerika jetzt auch Amerika.

 

Den schönsten Garten hat aber auf jeden Fall meine Freundin Liv. Die wohnt im Farnweg, das ist nur eine Straße weiter. Liv hat ein Trampolin, einen richtigen Teich mit Fischen, ein Baumhaus und gleich drei Schwestern. Das find ich echt ungerecht! Die hat so ein Glück!

Mama sagt, ich soll mich nicht beschweren. Schließlich hätte ich doch auch Glück. Denn weil Liv meine Freundin ist, kann ich Trampolin, Teich, Baumhaus und Schwestern mitnutzen. Da hat sie ja auch irgendwie recht. Die Schwester die ich am liebsten mitnutze, heißt Luna. Sie ist siebeneinhalb, und ich glaube, sie ist in Wirklichkeit eine Elfe. Luna guckt immer so verträumt und kann superschön singen und denkt sich immer besondere Spiele aus.

Manchmal denk ich echt: Gleich breitet sie ihre Flügel aus und fliegt weg. Macht sie aber nicht, zum Glück, denn sie lässt mich die besonderen Spiele ganz oft mitspielen.

Meine Freundin Liv geht mit mir in den Kindergarten. Also, meistens ist sie meine Freundin. Im Sommer kommen wir beide in die Schule, und manchmal macht es richtig Spaß, mit ihr zu spielen.

Zum Beispiel vorgestern. Da hatte sie eine total gute Idee: Sie hat vorgeschlagen, dass wir alle Schilder und Stromkästen mal gründlich sauber machen sollen. Das haben wir dann auch gemacht. Wir haben einen Putzeimer von ihrer Mutter bekommen und Lappen und so, und dann ging es los.

Die Stromkästen waren vielleicht dreckig! Das Wasser im Eimer wurde ganz schwarz. Bei den Schildern kamen wir nur an die Stangen dran, aber die hatten es auch wirklich mal nötig! Wir haben dann auch versucht, den Bürgersteig zu wischen, aber das ging nicht so gut, der war so rau. Die Gullydeckel gingen aber super. Das hat so Spaß gemacht!

Nachher haben sogar alle Großen mitgeschrubbt. Die konnten dann weiter oben putzen, wo wir nicht dran kamen. Wir haben geputzt, bis es dunkel wurde und wir reinmussten. So sauber war es draußen bestimmt noch nie!

Aber manchmal ist Liv eine richtige Ziege. Dann streiten wir uns, und ich geh schnell nach Hause. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie erst fünf ist. Sie hat im Sommer Geburtstag. Wenn sie sechs wird, bin ich schon über sechseinhalb. Da bin ich einfach schon vernünftiger und reifer als sie.

Also, Liv und Luna sind meine Freundinnen und dann natürlich auch alle Großen, wenn wir zusammen spielen. Manchmal haben die aber keine Lust, mit uns Kleinen zu spielen, und das kann ich natürlich verstehen. Ich hab ja auch manchmal keine Lust, mit Liv zu spielen.

Deshalb habe ich auch noch Luftfreundinnen. Die habe ich mir ausgedacht. Wenn Liv gerade doof ist oder Omanachmittag hat und Mama auch keine Zeit hat, spiele ich einfach mit denen.

Die machen immer, was ich will, und ärgern nie rum.

 

Und dann gibt es noch meine liebste Helena. Die ist meine allerbeste Lieblingsfreundin von der Welt. Das Dumme ist, dass sie kein Nachbarskind ist und wir uns immer extra verabreden müssen. Das geht aber nur, wenn Helena gerade nicht Chor oder Schwimmen oder sonst was hat. Wir gehen in den gleichen Kindergarten, aber auf die gleiche Schule kommen wir nicht, weil sie woanders wohnt.

Das ist schlimm. Zum Glück hatte ich letztens eine Wimper an der Wange, und Mama hat’s gesehen. Sie hat mir erklärt, dass man die Wimper wegpusten muss und sich dabei etwas wünschen darf. Wenn man den Wunsch niemandem verrät, geht er in Erfüllung. Da hab ich ganz vorsichtig gepustet …

Aber dann ist etwas passiert, das war so schlimm, dass ich gar keine Zeit mehr hatte, mir um Helena Sorgen zu machen.

Rettet Amerika!

Als Mama mich heute aus dem Kindergarten abgeholt hat, stand mitten in Amerika ein Bagger. Zwei Männer gingen herum und redeten miteinander.

»Mama, was machen die da?«, fragte ich beunruhigt.

»Ich fürchte, die bauen dort ein Haus«, antwortete Mama.

»Was? Mitten in Amerika? Das ist gemein!« Ich musste direkt ein bisschen weinen. Das konnte doch nicht wahr sein! Mama erklärte, dass das ja ein Baugrundstück sei und dass das wahrscheinlich jetzt jemand gekauft habe, der genauso schön wohnen wolle wie wir.

»Warte doch mal ab, vielleicht ziehen da ja nette Leute mit ganz netten Kindern ein«, riet mir Mama. Aber das konnte ich nicht glauben! Und überhaupt: Hier waren schon genug nette Leute! Sollten die doch woanders hinziehen! Ich beschloss, sie auf jeden Fall saubescheuert zu finden, auch wenn man das nicht sagt.

Was sollte denn jetzt werden? Die würden doch wohl nicht mein geheimstes Geheimversteck einfach wegbaggern!?

»Du, Mama? Wie groß wird denn wohl das Haus? Geht das dann von Anfang Amerika bis Ende Amerika?« Mama stellte sich neben mich.

»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich denke, das Haus könnte wieder da stehen, wo das andere früher auch stand. Die Leute wollen ja sicher einen Garten haben. Vielleicht haben sie auch nur ein Teil des Grundstücks …«

»Mama, von wo bis wo genau?«

»Na, das weiß ich natürlich nicht.«

»Aber was glaubst du?«