Hönir ist zwar einer der unbekannteren, aber trotzdem einer der wichtigen Götter, da er eine wesentliche Funktion im Leben der Germanen verkörpert.
Der Name „Hönir“ lautete im Altnordischen „Huhnijaz“ und bedeutete „Huhn“ („höna“) oder „Hahn“ („hani“). Diese Form ist aus dem germanischen „Honam“ für „Huhn“ und „Hanon, Hanan“ für Hahn entstanden. Der Name des Hahnes leitet sich von dem indogermanischen „cano“ für „singen“ ab – der Hahn ist also als der „Sänger“ benannt worden.
Dies bedeutet, daß Hönir möglicherweise nicht direkt nach dem Hahn benannt worden ist, sondern daß sowohl dieser Gott als auch der Vogel aufgrund ihrer Stimme bzw. ihrer Tätigkeit als „Sänger“ bezeichnet worden sind. Daraus ergibt sich allerdings eine enge Assoziation zwischen Hönir und den Hähnen.
Der Sänger ist eine gut bekannte Funktion der indogermanischen Priester, die zugleich Schamane, Priester, Gelehrte, Historiker, Richter, Arzt und noch einiges ähnliches mehr waren. Zu dieser „sprituellen Gelehrten-Funktion“ gehörte auch das Vortragen von religiösen und historischen Texten, die auswendig gelernt wurden. Es gab zwar eigene Bezeichnungen für diese Sänger, aber sie entwickelten sich erst sehr spät zu einem eigenständigen Beruf – sie bildeten einen Tätigkeitsaspekt der „Weisen“.
Bei den Germanen wurden diese Sänger „Skalden“ genannt, bei den Kelten „Barden“, bei den Griechen „Rhapsoden“, bei den Indern „Udgatr“ und „Hotra“ usw. Aufgrund der Bedeutung des Namens des Gottes Hönir läßt sich daher vermuten, daß er die Funktion des Sängers und somit des „spirituellen Weisen“ verkörperte.
Der Hahn sitzt in den Mythen der Germanen häufig auf dem Weltenbaum. Ein Vogel auf dem Weltenbaum ist mit großer Sicherheit ein Seelenvogel, d.h. eine Seele in der Gestalt eines Vogels.
Der Seelenvogel ist ein universelles Bild, das daraus entstanden ist, daß man bei einem Nahtod sich selber als über dem eigenen materiellen Körper schwebend erlebt, d.h. daß man sich selber von oben her sehen kann. Dieses Erlebnis ist vermutlich die Ursache für die Vorstellung, daß es eine Seele gibt, und auch eine der wichtigsten Wurzeln für die Entstehung von Religion allgemein gewesen – denn dieses Erlebnis zeigt, daß es mehr als nur die materielle Welt gibt.
Der Gott Hönir ist somit auch mit der Seele assoziiert. Dies ist auch schon von seiner Auffassung als Urbild des „spirituellen Weisen“ naheliegend, da der Ursprung und der Kern aller Priester der Schamane ist, dessen wichtigste Tätigkeit, das Begleiten der Seelen der Verstorbenen ins Jenseits und das Herbeiholen von Rat und Hilfe von den Seelen der Ahnen im Jenseits ist.
Auf dem Weltenbaum findet sich in den Mythen der Germanen und anderer indogermanischer Völker auch der Adler, der als der stärkste Vogel der Seelenvogel des Sonnengott-Göttervaters (Tyr) gewesen ist. Auch der Hahn sitzt in den Liedern und Mythen, die in der Edda berichtet werden, stets auf dem Weltenbaum (Yggdrasil, Mimameid).
Diese Seelen-Symbolik des Hahnes findet sich auch in den Ritualen der Germanen. Der arabische Forschungsreisende berichtet um 922 n.Chr. über die Bestattung eines Fürsten, in dessen Verlauf die Dienerin, die später getötet und mit ihm zusammen verbrannt wird, einem Küken den Kopf abschneidet und später ein Huhn nimmt und es auf das Schiff wirft, auf dem der Fürst bestattet wird. Eine ähnliche Szene findet sich bei Saxo grammaticus in seiner „Geschichte der Dänen“, in der die Begleiterin des Königs Haddingus in der Unterwelt einen Hahn köpft und ihn und seinen Kopf über die Grenzmauer des Reiches der Hel wirft, wo er dann wieder lebendig wird und zu singen beginnt.
Die Deutung des Namens „Hönir“ als „Sänger“ und als „Hahn“ fallen in dem Motiv des am Morgen krähenden Hahnes zusammen: Der Hahn kann die Seele des Sonnengott-Göttervaters Tyr sein und er kann der Priester sein, der mit seinem Gesang die Morgensonne begrüßt.
Es wäre auch eine Herleitung des Namens „Hönir“ von dem indogermanischen Adjektiv „keuk“ für „leuchtend, weiß“ denkbar. Auch mit diesem Wort ist die Seele assoziiert worden, da der Schwan, der als der „Weiße“ benannt worden ist, das wichtigste Bild der Indogermanen für die Seele gewesen ist.
Im Griechischen lautet der Name des Schwanes „Kyknos“ und im litauischen heißen die Seelen der Verstorbenen „Kaukas“.
Hier fügt sich ein weiteres Erlebnis zu der Symbolik hinzu: Wenn man beginnt, hellsichtig Geister oder allgemein die Lebenskraft wahrzunehmen, erscheint sie als ein milchigweißes Leuchten mit einem leichten Blauschimmer. Deshalb werden auch die Geister der Toten als „Bettlaken-Gespenster“, die man aufgrund ihres Leuchtens auch im Dunkeln wahrnehmen kann, dargestellt. In den indianischen Kulturen wird dieses Leuchten als „leuchtender Rauch“ beschrieben. Daher heißt der aztekische Gott der Hellsichtigkeit und der Wahrsagung „Rauchender Spiegel“.
In den Mythen der Germanen spiegelt sich dieses grundlegende spirituelle Erlebnis in dem Namen „Alfen“ für die Totengeister wider, denn dieser Name bedeutet „die Weißen“ im Sinne von „die Leuchtenden“ (lateinisch „alba“).
Die beiden bekanntesten „Schwanenseelen“ sind vermutlich der griechische Göttervater Zeus als Schwan bei seiner Vereinigung mit Leda und die germanischen Walküren, die sich in Schwäne verwandeln konnten.
Der ursprüngliche Göttervater der Germanen ist Tyr gewesen. Sein Name leitet sich wie der des Zeus, des Jupiter und vieler anderer Götterväter der indogermanischen Völker von dem ursprünglichen Namen „Dhyaus“ ab. Daher könnte dem „Zeus kykneios“, also dem „schwanengestaltigen Zeus“ der Griechen, ein „Tiuz hihnijaz“ bei den Germanen entsprochen haben, also ein „hahngestaltiger Tyr“.
Der Gott Hönir ist somit recht sicher nach dem Seelenvogel und nach der Tätigkeit des Singens im Ritual benannt worden. Ob nun die Herleitung von dem „Sänger“ und dem ebenfalls singenden „Hahn“ zutreffend ist oder die Herleitung von „Schwan“, ist letztlich nicht besonders wichtig, da alle drei Deutungen zu fast genau demselben Ergebnis führen.
In diesem zentralen Lied, das die Mythen der Germanen in einem großen Entwicklungsbogen zusammenfaßt, erscheint Hönir als einer der drei Erschaffer der Menschen.
Gingen da dreie aus dieser Versammlung,
Mächtige, milde Asen zumal,
Fanden am Ufer unmächtig
Ask und Embla und ohne Bestimmung.
Besaßen nicht Seele, und Sinn noch nicht,
Nicht Blut noch Bewegung, noch blühende Farbe.
Seele gab Odin, Hönir gab Sinn,
Blut gab Lodur und blühende Farbe.
Die drei Asen Odin, Hönir und Lodur fanden am Ufer Ask und Embla, d.h. eine Esche und eine Ulme oder Ranke. Das Ufer könnte darauf hinweisen, daß die beiden Stämme dort als Treibholz angespült worden sind. Da das Jenseits als eine Wasserunterwelt bzw. eine Welt jenseits des Wassers (Quelle, Meer, Fluß, Insel) angesehen wurde, würde diese Lage der beiden Stämme auch bedeuten, daß sie aus dem Jenseits gekommen sind.
Eine weitere Assoziation könnten die Kulthölzer gewesen sein, die die Germanen an Seen, also an Toren zum Jenseits aufstellten und die sehr einfache Statuen der Götter darstellten.
Die Reise eines Menschen vom Jenseits ins Diesseits war den Germanen keineswegs unbekannt: In der Völsungen-Saga senden Frigg und Odin der Frau des Königs Rerir einen magischen Apfel, nach dessen Verspeisen sie endlich schwanger wird. In den Helga-Liedern wird berichtet, daß sich der Held Helgi (Tyr) und seine Frau, die eine Walküre ist, mehrfach reinkarniert haben.
Die beiden Baumstämme werden in den Versen als ohnmächtig, d.h. als leblos beschrieben. Dieses Leben wird ihnen dann von den drei Göttern eingefügt, sodaß sie zu zwei lebendigen Menschen werden. Die drei Götter scheinen somit im Wesentlichen das Leben selber zu verkörpern.