Cover

Eva-Maria Schnurr (Hg.)

DIE KELTEN

Geheimnisse einer versunkenen Kultur

Cord Aschenbrenner, Sebastian Borger, Markus Deggerich, Angelika Franz, Dirk Husemann, Uwe Klußmann, Bernhard Maier, Holger Müller, Torben Müller, Bettina Musall, Frank Patalong, Judith Reker, Johannes Saltzwedel, Andreas Wassermann, Jutta Wieloch, Andreas Willmy, Stefan Zimmer

Deutsche Verlags-Anstalt


Inhalt

VORWORT

KAPITEL I:
Rätselhafte Barbaren

Wenn bloß der Himmel nicht einstürzt

Wie stellten antike Geschichtsschreiber die gefürchteten Feinde aus dem Norden dar?

Von Cord Aschenbrenner

Die unbekannten Vorfahren

Die moderne Keltenforschung kann vieles nur vermuten – die frühen Europäer hinterließen keine Schriftstücke

Von Eva-Maria Schnurr

Spärliche Zeugnisse

Bretonisch, Walisisch, Gälisch: Manche keltischen Sprachen werden bis heute gesprochen

Von Stefan Zimmer

Der Boden lügt nicht

Am hessischen Glauberg graben Archäologen einen bedeutenden »Fürstensitz« aus

Von Judith Reker

Zwischen Hallstatt und La Tène

Wann und wo lebten die Kelten wirklich? Die wichtigsten Fachbegriffe der Forschung

Von Eva-Maria Schnurr

KAPITEL II:
Fürsten, Händler und Bauern: Der Alltag

Hinter der Mauer

Die mächtige Heuneburg an der Schwäbischen Alb war eine frühe Bastion keltischen Wohlstands

Von Angelika Franz

Weißes Gold, schwarzes Erz

Salz und Eisen waren als Handelsware die Motoren der keltischen Wirtschaft

Von Andreas Wassermann

Botschaft aus dem Jenseits

Die Bestattungskultur gibt Auskunft über Hierarchien und Werte der gar nicht so barbarischen Gesellschaft

Von Andreas Willmy

Wo das Handwerk goldenen Boden hatte

Die Bewohner des Oppidums Manching, bei Ingolstadt gelegen, wurden mit Handel reich

Von Dirk Husemann und Jutta Wieloch

KAPITEL III:
Krieger, Handwerker und Druiden: Die Kultur

Mistelzweige und Menschenopfer

Die Druiden waren für Philosophie, Religion und Rituale zuständig – doch viel weiß man nicht über sie

Von Bernhard Maier

Aufrecht im Streitwagen

Frauen wie die Feldherrin Boudicca galten als mutig und schön – doch besaßen sie wirklich Macht?

Von Bettina Musall

Keine Angst vor dem Tod

Die Archäologin Susanne Sievers über nackte Krieger, innovative Waffen und die Gründe für den Untergang der Kelten

Caesars Rache

Wie Vercingetorix und seine Truppen den Krieg gegen die Römer verloren

Von Holger Müller

Gut gerüstet

Das Kettenhemd war wohl eine keltische Erfindung – und wird bis heute genutzt

Von Uwe Klußmann

KAPITEL IV:
Helden, Dichter und Mythen: Die Britischen Inseln

Mysterium der dunklen Kuh

Was erzählt die mittelalterliche irische Literatur über die keltische Antike?

Von Torben Müller

Über Grenzen hinweg

Über Grenzen hinweg

Kein Brexit in der Eisenzeit: der Keltologe Patrick Sims-Williams über die Verbindung zwischen keltischen Stämmen in Europa und Britannien

»Hexen und Koboldwesen«

Im 19. Jahrhundert feierten Künstler und Intellektuelle in Großbritannien ein »celtic revival«

Von Johannes Saltzwedel

Der Schattenritter

Der sagenumwobene König Artus gilt als berühmtester keltischer Held. Die Frage ist nur: Gab es ihn überhaupt? Und war er Kelte?

Von Sebastian Borger

Die Hüter des Schatzes

Warum ist in Irland bis heute das keltische Erbe so bedeutsam für die Nationalidentität? Eine Spurensuche

Von Frank Patalong

Anhang

Bildteil – Chronik – Buchempfehlungen – Autorenverzeichnis – Dank – Personenregister

VORWORT

Die meisten Menschen haben ein bestimmtes Bild im Kopf, wenn das Stichwort »Kelten« fällt: Die einen denken an Caesars Gallischen Krieg, andere an Irland, manche an prächtigen Goldschmuck mit Fabelwesen und verschlungenen Mustern. Bis heute umwehen die Kelten zahlreiche Geheimnisse und Mythen, sie sind rätselhaft, archaisch, soviel immerhin scheint klar. Doch wer genau waren die Menschen, die zwischen etwa 700 v. Chr. und der Zeitenwende ihre Spuren in Mitteleuropa hinterließen? Wie lebten sie? Woran glaubten sie? Und was von ihrer Kultur hat bis heute überdauert?

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben sich auf die Spur der eisenzeitlichen Keltenkultur begeben. Sie versuchen, das Fremde, Archaische nahbar und verständlich zu machen – und zu erklären, wie die zahlreichen Mythen entstanden, die sich bis heute hartnäckig halten.

Archäologen nutzen vielfältige technische Hilfsmittel, um die Geheimnisse der Kelten zu lüften. Vor allem in Süddeutschland stoßen sie immer wieder auf Reste keltischen Lebens. Am Glauberg in der Nähe von Frankfurt, wo Wissenschaftler 1996 eine mannshohe Sandsteinstatue hoben, hat SPIEGEL – Autorin Judith Reker die Forscher bei ihrer Arbeit beobachtet – und miterlebt, wie ein neues keltisches Grab entdeckt wurde.

Bereits fast vollständig ausgegraben wurde die Heuneburg an der Donau. Zu keltischer Zeit war diese Siedlung auf einer Hügelkuppe eine prächtige Stadt, in deren Umkreis bis zu 5000 Menschen lebten. Angelika Franz, selbst Archäologin, erzählt die Geschichte dieser eisenzeitlichen Metropole und rekonstruiert das Alltagsleben der Kelten von der Mode über die Körperpflege bis hin zu Ernährung und Landwirtschaft.

Anhand von Samen oder kleinsten Nahrungsrückständen können die Forscher heute relativ leicht darauf schließen, was die Menschen damals aßen. Viel schwieriger hingegen sind Aussagen über die soziale Ordnung der keltischen Gemeinwesen. Frühere Keltenforscher prägten Schlagworte wie »Fürstengrab«, ein Begriff, der auf eine hierarchisch strukturierte Gesellschaft hinweist. Doch so klar sind die Botschaften der Toten keineswegs. Der Kelten-Experte Andreas Willmy hat den aktuellen Wissensstand über die eisenzeitlichen Clans und Familien zusammengetragen.

Ein Stück weit wird die Geschichte der Kelten wohl immer Interpretation bleiben. Denn viele Zeugnisse über sie stammen von ihren Gegnern und denen, die sie schließlich besiegten. Den bekanntesten Bericht über die Kelten verfasste Gaius Iulius Caesar mit seinem »Gallischen Krieg«. Wie es zu diesem Feldzug kam und warum die Gallier in der Schlacht bei Alesia den römischen Soldaten schließlich unterlagen, beschreibt der Althistoriker und Keltologe Holger Müller.

Bleiben die Kelten auf den britischen Inseln. In Wales und in einigen Gebieten Irlands werden heute noch keltische Sprachen gesprochen, Walisisch und Gälisch. Doch wie keltisch war die Kultur auf den Inseln in der Eisenzeit tatsächlich? Der SPIEGEL-ONLINE – Redakteur Frank Patalong hat sich in Irland auf die Suche nach den Erben der Kelten gemacht, in dem Land, das sich bis heute »Celtic Nation« nennt. Sein Fazit könnte auch als Leitspruch über diesem Buch stehen: »Keltisch zu sein ist keine Frage des Stammbaums, sondern der Kultur, die jemand lebt«.

Hamburg im Januar 2018

Eva-Maria Schnurr

KAPITEL I

Rätselhafte Barbaren

© Erich Lessing / AKG

Detaildarstellungen der Hallstätter Grabfunde
(Aquarell von Isidor Engel, 1878)

Wenn bloß der Himmel nicht einstürzt

387 v. Chr. rücken keltische Krieger auf Rom vor. Die Angst vor den Barbaren schlägt sich in der antiken Geschichtsschreibung nieder – und prägt für lange Zeit das Keltenbild.

Von Cord Aschenbrenner

Der Lärm ist schwer zu ertragen. Das heisere Kriegsgeschrei der Kelten kurz vor dem Angriff soll den in langen Schlachtreihen aufgestellten Römern Angst einjagen und den eigenen Kampfgeist anstacheln. Aus der Poebene sind die struppigen, hünenhaften Krieger in Richtung Süden gezogen; so gewaltig war ihr Krach, dass die Bewohner der bukolischen Landschaft Mittelitaliens, die Etrusker, sie schon aus großer Entfernung hören konnten.

Für die Bauern ist das anhaltende Lärmen der riesigen, grobschlächtigen Kelten, sind die quäkenden Töne ihrer langen Kriegstrompeten so etwas wie ein bedrohliches Erkennungszeichen. Auch ihre Gesänge auf dem Weg nach Süden sind beunruhigend: Als »misstönend« beschreibt sie später der um die Zeitenwende lebende römische Historiker Titus Livius in seiner römischen Stadt- und Staatsgeschichte »Ab urbe condita«. Jetzt stehen sie am Flüsschen Allia, einige Kilometer nördlich von Rom, den römischen Truppen gegenüber.

Es ist wohl der 18. Juli 387 v. Chr., als sich die römischen Regimenter in Phalanx-Ordnung den Kelten entgegenstellen. An der Allia sollen die Barbaren unter ihrem Anführer Brennus aufgehalten, vernichtet oder zur Umkehr gezwungen werden, nachdem sie vorher schon die weiter nördlich gelegene Stadt Clusium belagert haben.

Die Kelten aber, Livius nennt sie Gallier – in Anlehnung an Julius Caesar –, überrennen die Römer einfach. Brüllend stürmen die großen Männer auf die Legion zu, manche von ihnen nackt, geschmückt mit Armreifen und Halsbändern. Andere haben ihre Gesichter mit Kalk beschmiert, die blondierten Haare nach oben gebürstet. Viele tragen mannshohe Schilde, die meisten schwingen Langschwerter mit zwei Schneiden. Die Römer, keine Berufssoldaten, sind dieser Attacke nicht gewachsen. Kurz halten sie stand, dann fliehen sie in Panik vom Schlachtfeld oder werden dort getötet.

Es ist die erste ernsthafte Begegnung der Römer mit den Kelten. Zwar hatten bereits seit etwa 500 v. Chr. keltische Stämme die Alpen überquert und sich in der Poebene niedergelassen, doch in der Wahrnehmung der Römer spielten sie lange keine Rolle. Erst, als sich Brennus mit seinen Truppen in Richtung Süden aufmacht, geraten die barbarischen Krieger in den Blick.

Auf die römischen Truppen müssen die Kelten schon allein wegen ihrer äußeren Erscheinung ähnlich Furcht einflößend gewirkt haben wie die nordamerikanischen Indianer auf die ersten Siedler aus Frankreich und England. Der Schrecken ob des überraschenden Angriffs, ob der überlegenen Kampfeskraft derer, die man doch für kulturlose Barbaren hielt, schlägt sich in der römischen Geschichtsschreibung nieder und bestimmt so das Bild der Kelten lange Zeit mit.

Zwischen Rom und den Kelten liegt nach der Schlacht an der Allia kein Hindernis mehr. Wenige Tage später nimmt Brennus’ Heerhaufen die Stadt am Tiber bis auf das Kapitol ein – die römischen Verteidiger haben sich ohne weitere Gegenwehr in die Burg auf dem Kapitolhügel zurückgezogen. Die Bewohner Roms fliehen oder hoffen auf die Gnade der Eroberer.

Folgt man Livius, so retten nur die auf dem Hügel zu Ehren der Göttin Juno gehaltenen heiligen Gänse die Stadt vor der völligen Niederlage. Durch ihr Geschnatter warnen sie die Verteidiger des Kapitols vor den eines Nachts heranschleichenden Kelten. Der Überraschungsangriff misslingt.

Livius schreibt seine Stadtgeschichte um 25 v. Chr. nieder, also mehr als 350 Jahre nach der Eroberung Roms. Für die wirklichen Geschehnisse bei der fast geglückten Einnahme der Stadt geben seine Schilderungen nach Ansicht von Historikern allerdings nicht allzu viel her – zu viele offensichtliche Legenden und Anekdoten durchziehen den Bericht.

Sehr knapp und nüchtern hingegen beschreibt der griechische Historiker Polybios (ca. 200 bis 120 v. Chr.) die Einnahme der Stadt durch die Kelten: »Nach einiger Zeit besiegten sie die Römer und ihre Bundesgenossen in einer Schlacht, verfolgten die Fliehenden und eroberten drei Tage später Rom selbst mit Ausnahme des Kapitols. Ein Einfall der Veneter in ihr Land jedoch lenkte sie von Rom ab. Sie schlossen daher einen Vertrag mit den Römern, gaben ihnen ihre Stadt zurück und kehrten heim.«

Polybios erwähnt nicht das hohe Lösegeld, das die Römer für den Abzug der Gallier zahlen müssen, wie Livius berichtet. Schwerer als die tausend Pfund Gold wiegt aber die traumatische Erfahrung, das Zentrum der eigenen Herrschaft fast verloren zu haben und die eigenen Ambitionen als aufstrebende Macht erst einmal überdenken zu müssen.

Das Ganze ist so einschneidend für den Stadtstaat Rom, dass das Datum der Schlacht an der Allia als »dies ater«, als schwarzer Tag, Eingang in den römischen Kalender findet; noch lange Zeit hält sich auch der Ausdruck »Metus Gallicus« – Furcht vor den Galliern.

Bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. hat diese Furcht einen realen Hintergrund. Immer wieder gibt es Krieg mit den Barbaren aus dem Norden, oder sie kämpfen an der Seite der Feinde Roms.

Darüber hinaus instrumentalisieren römische Politiker aber auch immer wieder das Schreckensbild von den gefährlichen Galliern. Der Feldherr Marius etwa aktiviert noch um das Jahr 100 v. Chr. herum die Angst vor den Kriegern aus dem Norden. Bei der Bekämpfung der Kimbern und Teutonen – keine Gallier – macht er sich den Metus Gallicus geschickt zunutze, um das Amt des Konsuls fünfmal hintereinander zu bekleiden.

Im Prinzip konnten die Römer auch schon lange vor der überraschenden Einnahme Roms durch Brennus’ Krieger von den Kelten wissen. Vor allem in griechischen Berichten tauchen sie immer wieder auf. Einer der ersten Belege für ein Volk namens »Kelten«, griechisch »Keltoi«, findet sich in den »Historien« des bedeutenden griechischen Gelehrten Herodot aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Herodot, der als erster Historiker gilt und aus Ionien, der von Griechen besiedelten Westküste der Türkei stammte, soll weite Reisen durch die damals bekannte Welt unternommen haben.

In den »Historien« schreibt er, vermutlich fußend auf den Berichten griechischer Seefahrer und Händler, dass die Kelten dort leben, wo der »Istros«, die Donau, entspringt und wo die »Stadt Pyrene« liegt. Möglicherweise ist diese identisch mit der Heuneburg, einer bedeutenden und reichen frühkeltischen Siedlung östlich der Donauquellen.

Auch der Geograf Hekataios von Milet, ebenfalls ein Grieche, soll in seiner nur fragmentarisch erhaltenen, von späteren Autoren zitierten Erdbeschreibung die Heimat der Kelten benannt haben; die griechische Kolonie Massalia, heute Marseille, läge »unterhalb des Keltenlandes«.

Und schon eine der vermutlich ältesten schriftlichen Quellen über den Westen und Norden Europas, ein griechischer Periplus, so etwas wie ein Seefahrtshandbuch für unbekannte ferne Gestade, könnte um 600 v. Chr. die Kelten erwähnt haben; jedenfalls vermutet man, dass sich der spätantike Autor Avienus darauf stützt, als er in seiner Weltbeschreibung schreibt: »Sie leben in einem Land, das sie den Ligurern genommen haben.« Die Ligurer lebten im westlichen Oberitalien, aber auch an der französischen Mittelmeerküste.

Der Schriftsteller Xenophon liefert den ersten Beleg für die Anwesenheit von Kelten in Griechenland: Er erwähnt keltische Kämpfer aufseiten der Spartaner im Krieg gegen Theben um 370 v. Chr. Der Historiker Ephoros von Kyme widmet den Fremden um die Mitte des 4. Jahrhunderts eine eigene Schilderung. Ihm erscheinen die Kelten als ein bedeutendes Volk.

Auch bei den beiden großen griechischen Philosophen Platon und Aristoteles kommen die Kelten vor – nicht gerade positiv allerdings. Platon missbilligt ihre Trunksucht; sein Schüler Aristoteles ist nicht weniger kritisch, er nennt sie unbeherrscht und unfähig zu staatlicher Ordnung.

Beide Philosophen wissen von den keltischen Raubzügen auf dem Balkan und in Griechenland. Sie kennen auch die Gewohnheit keltischer Krieger, sich als Söldner bei Kriegen zwischen den Völkern im Mittelmeerraum zu verdingen. Und zwar auf beiden Seiten, so bei den Kriegen zwischen Karthago und Syrakus. Der bedeutende preußische Historiker Theodor Mommsen hat sie in seiner »Römischen Geschichte« zutreffend als »Landsknechte des Altertums« bezeichnet.

Während der Punischen Kriege ab 264 v. Chr. rekrutieren die Karthager keltische Söldner aus Oberitalien, von wo ja auch Brennus mit seinen Kriegern gekommen war, und setzen sie psychologisch geschickt gegen das Römische Reich ein. Auch die Karthager kennen die Angst Roms vor den Kelten.

Ein Epigramm aus der Gedichtsammlung Anthologia Graeca geißelt den »frevelhaften Übermut« der Kelten, »der kein Gesetz anerkennt«. Nicht einmal vor Alexander dem Großen haben die Kelten übermäßigen Respekt, wie der Geograf Strabon berichtet. Er bezieht sich auf einen von Alexanders Feldherren, der dabei war, als der Herrscher des riesigen Reiches während seines Balkanfeldzugs im Jahr 335 v. Chr. die an der Adria lebenden Kelten empfing.

Es gab Wein, so schilderte es der Soldat, man plauderte, und irgendwann stellte Alexander seinen Gästen die Frage, was sie am meisten fürchteten. Vermutlich hätte jeder andere dem mächtigen Herrscher, um ihm zu schmeicheln, geantwortet: ihn, den König der Makedonen. Die Kelten aber erwiderten frohgemut, sie hätten vor nichts Angst – nur davor, dass der Himmel über ihnen einstürze. Jedoch würden sie die Freundschaft Alexanders außerordentlich schätzen.

Als extrem kampfesmutig gelten die Kelten überall im Mittelmeerraum. Doch gleichzeitig hält man sie auch für ziemlich tumb. Strabon etwa betont in seiner »Erdkunde« ihren Unverstand und ihre Einfalt. Letzteres könnte ein Grund dafür sein, dass die Griechen die in Kleinasien siedelnden Kelten Galater nennen: nach Galates, einem Sohn des von Homer geschilderten Zyklopen Polyphem und der Quellnymphe Galateia. Aus dieser Verbindung konnte nichts Gutes werden, denn der einäugige Polyphem war zwar ungeheuer stark, aber leider ebenso dumm.

Auch die Römer bemühen sich, das Auftauchen der Kelten südlich der Alpen zu erklären. Zwar mischt sich in die Erklärungen der römischen Autoren keine Mythologie, legendenhaft sind ihre Schilderungen aber dennoch. Denn auch für einen versierten Geschichtsschreiber wie Titus Livius stellt sich die Vergangenheit der schriftlosen Kelten als dunkel und kaum zu ergründen dar.

So ergeht Livius sich in allerlei Mutmaßungen über die Motive der Gallier, Jahrhunderte zuvor über die Alpen nach Süden zu ziehen. Warum sind sie überhaupt nach Italien gekommen und nicht zu Hause geblieben?

Livius’ Angaben sind vage, er bezieht sich auf Erzählungen, »Sagen«, wie er schreibt, die darauf hinauslaufen, dass »dieser Stamm, eingenommen von der Süße der Früchte und vor allem des Weines, ein damals neuer Sinnesgenuss, die Alpen überquert und die zuvor von den Etruskern bestellten Länder in Besitz genommen hätte«.

Aber Livius kennt auch noch eine andere Begründung für die Einwanderung der Gallier nach Norditalien. Unter der geschickten Herrschaft des keltischen Königs Ambigatus, so habe er in Erfahrung gebracht, habe es in Gallien so viele Menschen gegeben, dass der König sie nicht mehr habe regieren können.

Also beauftragte er seine Neffen Bellovesus und Segovesus, sich mit »einer beliebig großen Zahl von Menschen« auf den Weg zu machen, »sodass kein Volk in der Lage wäre, die Neuankömmlinge aufzuhalten«.

Das Los bestimmte für den einen Neffen als Ziel die Mittelgebirge östlich des Rheins, für den anderen, Bellovesus, den Weg nach Italien. Bald hatten die Kelten die Etrusker in Oberitalien und in der Poebene unterworfen und sich festgesetzt. Die Römer nennen dieses Gebiet, das Land zwischen Po und Alpen, Gallia Cisalpina – Gallien diesseits der Alpen. Diese Bezeichnung hält sich auch dann noch, als die Kelten von den sich mit Macht nach Norden ausdehnenden Römern in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. geschlagen werden und so unter römische Herrschaft geraten.

Nach der Zeitenwende nennt der Historiker Plinius der Ältere – nicht anders als Livius – als Motiv für die Einwanderung nach Italien Wein, Öl und Früchte, die die Gallier gekostet hätten, um dann den Zug nach Süden zu beschließen. Der selbst aus Südgallien stammende Pompeius Trogus, ein Zeitgenosse Livius’, spricht von »inneren Unruhen und anhaltenden Bürgerkriegen« in Gallien.

So könnte es gewesen sein. Zu dichte Besiedlung im »Keltenland«, daraus entstehende soziale Spannungen, Konflikte, sogar Bürgerkriege zusammen mit einer Art Drang nach Süden und dessen Gütern – es scheint durchaus plausibel, was die Historiker vor über 2000 Jahren über das unverhoffte Erscheinen der Kelten schreiben, selbst wenn sie sich auf Legenden berufen haben.

Die unbekannten Vorfahren

Wer waren die Kelten? Ein Volk mit gemeinsamer Sprache, Kultur und Staatsstruktur jedenfalls nicht. Wer sie erforscht, erkennt vor allem, wie wenig man über sie weiß.

Von Eva-Maria Schnurr

Als Bergleute des Salzbergwerks Hallstatt im November 1846 eine Kiesgrube öffneten, stießen sie auf ungewöhnliche Gräber: Neben den Knochen von Menschen entdeckten sie zahlreiche »Alterthümer«, Schmuck, Fibeln und Werkzeug.

Rasch riefen die Arbeiter den Bergwerksmeister Johann Georg Ramsauer herbei. Er begann, die Umgebung zu sondieren, und fand bald sieben Bestattungsstellen: Offenbar hatte man es mit einem prähistorischen Gräberfeld zu tun, einem Friedhof von Menschen, die einst in dem Salzbergwerk am Fuße des Dachsteinmassivs geschuftet hatten.

Mehr und mehr Skelette kamen bei den Untersuchungen zutage, sorgfältig dokumentierten Ramsauer und seine Mitarbeiter die Lage der Knochen und jeden Fund. 6084 Gegenstände und 993 Gräber zählte die erste wissenschaftliche Abhandlung über die Ausgrabungen bis zum Jahr 1863.

Wer waren die Menschen, die in grauer Vorzeit hier gelebt und gearbeitet hatten: in dem schwer zugänglichen Tal, in das im Winter drei Monate lang kein Sonnenstrahl fällt, in dessen steilen Berghängen sich aber reichhaltige Salzstöcke verbergen? Aus den Angaben antiker griechischer und römischer Autoren schloss Eduard von Sacken, der Autor der ersten Veröffentlichung, »dass in der Zeit, welcher das Grabfeld zugewiesen werden muss, die Gegend von einem keltischen Stamme bewohnt war … und zwar von den Tauriskern«. Der Fund in Hallstatt war eine Sensation – und der Startschuss für die ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung mit den Kelten.

Für die Altertumskundler des 19. Jahrhunderts war die Sache aufgrund der antiken Quellen, der Berichte von Herodot, Poseidonios und anderen Geschichtsschreibern, völlig klar: Bei den kunstvoll verzierten Eisenschwertern, den goldenen Kleidernadeln und den eisernen Kannen und Kesseln, die man nun an immer mehr Orten vor allem in Süddeutschland und Frankreich fand, musste es sich um die Hinterlassenschaften von Kelten handeln. Dem Volk also, dessen Kampfesmut Griechen und Römer gefürchtet und über dessen barbarische Bräuche und Sitten – darunter angeblich Menschenopfer und befremdliche kultische Handlungen von Druiden – sie gestaunt hatten.

Die Faszination für die Kelten währt bis heute, nicht zuletzt, weil sie irgendwie Vorfahren sind, mehr oder weniger in der Nachbarschaft lebten – nur vor mehr als 2000 Jahren. Man kann in Hallstatt am Gräberfeld stehen und sich zurückversetzen in die Welt der Menschen, die mit einfachem Werkzeug gegen die Berge vorrückten, um ihnen den kostbaren Rohstoff Salz zu entlocken. Man kann vom Tal aus auf die rekonstruierte weiße Mauer der Heuneburg an der Donau blicken, einer der größten und frühesten keltischen Siedlungen, und sich vorstellen, wie einst Handwerker in ihren Werkstätten an kunstvollen Schmuckstücken arbeiteten. Oder man kann der lebensgroßen Statue des »Fürsten vom Glauberg« ins Gesicht schauen, mit seiner merkwürdigen Blattkrone, der Rüstung und dem grimmigen Blick, und sich fragen, ob der abgebildete Mann wohl ein Druide war, ein Häuptling oder ein Krieger.

Wie sahen die Menschen der Eisenzeit die Welt, wie dachten sie, wie lebten sie? Wer waren die Kelten, also die Menschen, die zwischen 700 v. Chr. und der Zeitenwende ihre Spuren in Süddeutschland und Frankreich, in Teilen Österreichs, aber auch in Spanien, in Böhmen und bis hin nach Kleinasien hinterlassen haben? Und vor allem: Waren sie wirklich ein Volk, so einheitlich in Sprache, Lebensraum und Kultur, so ethnisch homogen und klar definiert, wie es klingt, wenn man von »den Kelten« spricht?

Die Wissenschaft ist sich da heute längst nicht mehr so sicher wie zu Beginn der archäologischen Forschungen im 19. Jahrhundert. Ja, es gibt sogar einige Forscher, die provokant behaupten, es habe die Kelten überhaupt nie gegeben, sie seien reine Fiktion. Die Sache ist so kompliziert, weil die antiken Kelten kaum schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen haben. Als historische Quellen bleiben demnach nur die Berichte der griechischen und römischen Historiker. Denen jedoch sollte man nicht vorbehaltlos trauen: Mal sind sie ungenau, beruhen nur auf Hörensagen oder sind irgendwo abgeschrieben. Und ziemlich oft dienen sie der Propaganda, sollen ein möglichst plastisches Feindbild zeigen.

Konkreter sind die zahlreichen archäologischen Funde, die man aufgrund ihrer auffälligen Gemeinsamkeiten einem übergreifenden Kulturkreis zuordnen kann. Doch über die Ethnie der Menschen, die vielleicht einst mit den Schwertern kämpften, aus den Kesseln Wein schöpften oder den Schmuck trugen, verraten diese Funde aus der Erde nichts – und auch nicht über ihre Sprache, ihr Weltbild oder ihr Selbstverständnis.

Es bleibt also jede Menge Raum für Interpretationen. Deutlich mehr jedenfalls als bei anderen antiken Kulturen, bei denen archäologische Befunde und zahlreiche historische Quellen zusammenkommen, sodass sich das Bild der Vergangenheit weitaus einfacher zeichnen lässt. Die Geschichte der Kelten hingegen wird immer ein Stück weit ein Konstrukt bleiben, eine Idee davon, wie die Menschen in der Zeit zwischen dem 8. Jahrhundert v. Chr. und der Zeitenwende in Mitteleuropa lebten.

Diese Idee ist nicht zeitlos; sie ist abhängig von der Perspektive, mit der man in die Vergangenheit schaut, davon, welche Fragen man an sie stellt. Die Kelten seien »ein Paradebeispiel für die Mechanismen solcher Konstruktionen, von der Antike bis heute. Die Frage nach der historischen Realität, die hinter dem Keltenbegriff steckt, lässt sich daher nur mit einem Blick auf die Geschichte dieser Konstruktionen beantworten«, schreibt die Ur- und Frühhistorikerin Sabine Rieckhoff.

Wer waren die Kelten denn nun?

Wie schön wäre es, mit farbsatten Szenen in die keltische Kultur eintauchen zu können. Mistelzweigbekränzte Druiden, die inmitten von Steinkreisen kultische Handlungen vollziehen. Ein mit edlem Schmuck behangener »Keltenfürst«, der von einem prächtigen Thron aus über sein Volk gebietet. Oder leierzupfende Barden auf einem malerischen Dorfplatz irgendwo in Irland.

Doch leider: Das alles hat mit den historischen Kelten nur wenig zu tun. Die Steinkreise in England oder die Menhir-Felder in Frankreich – die berühmten »Hinkelsteine« – zum Beispiel entstanden schon lange vor der keltischen Zeit. Zwar nannte man bis vor einigen Jahren die Grabstätten mit Beigaben aus Gold, die man unter mächtigen Erdhügeln fand, »Fürstengräber«. Doch ob es sich bei den Toten tatsächlich um »Fürsten« handelte und über wen sie herrschten, ist völlig unklar. Und ob Irland in der Eisenzeit überhaupt keltisch war, auch darüber streiten die Wissenschaftler bis heute.

Viel einfacher, als auf den Punkt zu bringen, wer oder was die Kelten denn nun eigentlich waren, ist es zu sagen, was sie nicht waren. Sie waren nicht die Erbauer von Stonehenge. Sie waren nicht die Erfinder der irischen Kreuze mit den scheinbar so typisch keltischen Rankenmustern. Sie waren keine Gralsritter. Und vor allem: Sie waren kein Volk, jedenfalls nicht unter ethnischen Gesichtspunkten.

Am ehesten könnte man sie vielleicht noch als Repräsentanten der vorrömischen Eisenzeit in Mittel- und Westeuropa beschreiben – in etwa so, wie man Europäer seit dem Mittelalter zum »christlichen Abendland« rechnet. Doch wie es Unterschiede zwischen einem Niederländer und einem Italiener gibt, gab es sie auch zwischen den unterschiedlichen Gruppen, die man mit dem Oberbegriff »Kelten« zusammenfassen kann.

Es ist ziemlich zweifelhaft, dass sich die Kelten selbst als Gruppe fühlten, dass sie ein irgendwie geartetes ethnisches Bewusstsein hatten und sich von anderen abgrenzten. Eher kann man sich die kleinen Gemeinschaften der Eisenzeit als Stämme oder Familienclans vorstellen oder als Bewohner verschiedener Siedlungszentren. Vermutlich sprachen sie ähnliche Sprachen oder Dialekte, konnten sich also untereinander verständigen. Einige der Untergruppen, die man unter dem Oberbegriff »keltisch« zusammenfasst, kennt man namentlich, darunter die Boier und die Belger, die Helvetier und die Taurisker. Aber zweifelsohne existierten weitaus mehr.

Eine einheitliche, fest umrissene Kultur hatten sie alle wohl ebenso wenig wie übergreifende politische Strukturen. Es erscheine »immer offensichtlicher als eine übertriebene Vereinfachung, von einer einzigen und gleichartigen frühgeschichtlichen Zivilisation der Kelten zu sprechen. Wir haben es in Wirklichkeit mit mehreren in Raum und Zeit benachbarten keltischen Gemeinschaften zu tun«, schreibt der Archäologe Venceslas Kruta, emeritierter Professor der Pariser Sorbonne.

Wie kam es überhaupt zu der Idee, die Kelten seien ein Volk?

Die ersten, die den Begriff »Kelten« benutzten, waren die antiken Mittelmeerkulturen. Von »Keltoi« sprachen die Griechen, später auch von »Galatai« (Galatern), die Römer kannten »Galli« oder »Celtae«.

Ein Volk im modernen Sinne meinten die antiken Autoren damit allerdings nicht, vielmehr war der Begriff eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Denn das Weltbild der klassischen Antike war in dieser Hinsicht ziemlich simpel. Aus griechischer und römischer Perspektive gab es lange Zeit in Nordeuropa nur Kelten und Skythen.