Marc Engelhardt (Hrsg.)

VÖLLIG UTOPISCH

17 Beispiele einer besseren Welt

Pantheon

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH

Erste Auflage

März 2014

Copyright © 2014 by Pantheon Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Karten: Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-641-12903-3

www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Utopie ist machbar, Herr Nachbar

ILIJA TROJANOW

NEUSEELAND

Der Regenflüsterer

ANKE RICHTER

NIEDERLANDE

Vergessende, unvergessen

KERSTIN SCHWEIGHÖFER

CHINA

Mut zur Freiheit

BERNHARD BARTSCH

VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA

Anarchie bei 45 Grad im Schatten

KERSTIN ZILM

ÄTHIOPIEN

Die Gottlosen

PHILIPP HEDEMANN

GRIECHENLAND

Der Traum vom »Wir«

ALKYONE KARAMANOLIS

NAMIBIA

Sterntaler, namibisch

MARC ENGELHARDT

INDONESIEN

Stur, standhaft, selbstbestimmt

CHRISTINA SCHOTT

SERBIEN

Die Geschichte von Viv und Bou

DANJA ANTONOVIČ

BRASILIEN

Traumsucher am Strand

CHRISTINE WOLLOWSKI

ISRAEL

Vom Segen im Verborgenen

RUTH KINET

SPANIEN

Jenseits von Silicon Valley:
Die Hacker von Calafou

JULIA MACHER

ARGENTINIEN

Ich bin mein eigener Fabrikant

KAREN NAUNDORF

DEUTSCHLAND

Wo die Liebe wohnt

MARC ENGELHARDT

DÄNEMARK

Alle Macht allen: Die Geschichte von Hasch, Freiheit, Geld und Immobilien

CLEMENS BOMSDORF

SÜDAFRIKA

Am Anfang des Regenbogens

LEONIE MARCH

RUSSLAND

Sauf dich satt und komm dann wieder

STEFAN SCHOLL

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Utopie ist machbar, Herr Nachbar

ILIJA TROJANOW

Die Welt wird nie gut, aber sie könnte besser werden.

Carl Zuckmayer

»Erehwon« ist der Name einer literarischen Utopie des britischen Autors Samuel Butler. Das hört sich an wie ein sinnfreier Kunstname, bis man das Wort von hinten nach vorne liest und ein weiterer berühmt-berüchtigter Nicht-Ort sichtbar wird, beschworen mit der ganzen kreativen Kraft der Fantasie. Das utopische Verfahren wird deutlich: Die herrschenden Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt, umgestülpt; was im vertrauten Alltag gilt, ist im Gedankenexperiment außer Kraft gesetzt. Utopia ist somit viel mehr als eine Insel der Seligen, auf der Frieden und Gleichheit herrschen und Bildung als höchstes Gut gilt, Utopia ist die Vorwegnahme von Veränderung im Reich der Imagination, Utopia umfasst das freieste Denken, das Ersinnen von Alternativen.

Insofern war der nach 1989 oft verkündete »Untergang der Utopien« ein Totengräbergesang, der alle Träume begraben wollte, um allgemeine Friedhofsruhe durchzusetzen. Ideologisch begleitet von der unbeweisbaren Behauptung, die Schrecken des 20. Jahrhunderts seien Folge utopischen Denkens, obwohl man mit erheblich besseren Argumenten autoritäre Hierarchie, fanatischen Nationalismus, Rassismus, Nepotismus und exterminatorischen Imperialismus für die Schrecken des Staatsterrors verantwortlich machen könnte.

Die Flaute radikalen Denkens konnte nur vorübergehend sein, und heute, da Überwachungsstaat, oligarchische Strukturen, destruktive Finanzmärkte und vieles Kriminelle mehr Gegenentwürfe geradezu provozieren, braust der Wind wieder auf. Die Notwendigkeit wird akut spürbar, geistig jenseits eines System zu blicken, das Eigennutz als wirtschaftlichen Motor einsetzt, zum Nutzen einiger weniger, zum Schaden vieler, auf Kosten zukünftiger Generationen. Oder, in den Worten des anonymen französischen Autorenkollektivs »Unsichtbares Komitee«: Es ist nicht die Ökonomie, die in der Krise ist, die Ökonomie ist die Krise; es ist nicht die Arbeit, die fehlt, es ist die Arbeit, die überflüssig ist; nach reiflicher Überlegung ist es nicht die Krise, sondern das Wachstum, das uns deprimiert. (Der kommende Aufstand)

Was seit Anbeginn der Moderne utopisch, sprich unrealisierbar, genannt wird, war einst gelebte Wirklichkeit. Die meiste Zeit lebte die Menschheit nämlich in herrschaftslosen Gesellschaften, in denen es keine institutionalisierte Autorität gab, sondern die Position des Anführers, der Anführerin – oftmals handelte es sich dabei um Matriarchate – an die Weiseste, den Intelligentesten oder die Charismatischste ging. Ausgrabungen in China, Niger, Pakistan, Peru und Mali aus letzter Zeit belegen, dass es einst Zivilisationen gab, in denen sich keine Spuren zentralisierter Macht finden, keinerlei architektonische Manifestationen von Herrschaft und Unterwerfung – obwohl es bereits Arbeitsteilung und Spezialisierung gab. In einigen der ältesten religiösen Traditionen, etwa im Judentum oder im Taoismus, wird das Gemeineigentum (heute würde wir Allmende oder commons sagen) propagiert.

Doch dann kam auf leisen und langsamen Sohlen eine zwielichtige Gestalt daher, die sich Fortschritt nannte und Eigentum (drei, zwei, eins, meins) als höchstes Gut propagierte. Wer nicht mittat in der einsetzenden Hatz nach Geld und Gold, befand sich bald außerhalb des Wertesystems, im materiellen Sinne, wer dann noch gegen die herrschende Ordnung opponierte, auch noch im rechtlichen Sinne: geächtet, gesetzlos, vogelfrei – zum Abschuss freigegeben. Der einsame Streiter, der Aussteiger, bedroht seitdem allein durch seine bloße Existenz die Sinnhaftigkeit des autoritären gesellschaftlichen Konstrukts.

Epochen geistiger Blüte brachten auch eine Hochkonjunktur an Utopien hervor: das antike Griechenland, die Renaissance, die Industrialisierung. Sklaverei, Feudalismus, Absolutismus, staatliche Willkür wurden zuerst im Kopf abgeschafft, in der Fantasie niedergerungen, bevor sie in der Realität überwunden wurden. Immer wieder gab es Momente in der neueren Geschichte, das Miteinander radikal anders zu gestalten. Beispielsweise die von Bauern, Kaufleuten und Handwerkern getragene Loslösung der britischen Kolonie in Amerika – diese Revolution führte vorübergehend zu einer Föderation selbstverwalteter Gemeinden, in denen vieles, wenn auch nicht alles zum Guten stand. Oder die anarchistischen Versuche: die Pariser Kommune, die Bauern- und Partisanenbewegung von Nestor Machno in der Ukraine und die Spanische Revolution in den 1930er Jahren, bei der sich die militante Arbeiterschaft in Teilen des Landes gegen den Putsch von General Franco wehrte und die Kontrolle über die Betriebe übernahm. Noch ehe sich diese Gegenentwürfe im Alltag bewähren konnten, wurden sie militärisch niedergeschlagen.

Bedeutend auch die Einzelkämpfer, deren Ideen bis heute unverminderten Einfluss auf ungehorsame Zivilisten besitzen, wie etwa Henry David Thoreau. Der zog sich in eine selbstgebaute Blockhütte am Walden Pond zurück, wollte aus dem amerikanischen Staat austreten, dessen Einstellungen u.a. zur Sklaverei ihm widerstrebten, was er mittels Verweigerung der Steuerzahlung kundtat. Dies brachte ihm eine Nacht im Gefängnis ein und der Welt im Gegenzug einen der wichtigsten subversiven Texte überhaupt: »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat«. Die legendäre Blockhütte stand übrigens auf Ralph Waldo Emersons Grundstück, einem anderen utopischen Philosophen und Kämpfer gegen staatliches Unrecht.

Kaum einer wird bezweifeln, dass das Streben nach einem Ideal uns zu besseren Menschen macht. Zugleich trösten wir uns damit, dass ein Idealzustand ohnehin an der Natur des Menschen scheitern muss, der fehlerbehaftet und im Grunde seines Herzens stets egoistisch bleibt. Mit der Ausrede »Die menschliche Natur ist halt so« ist schon viel Grausames gerechtfertigt worden. Statt begreifen zu wollen, was wir von Natur aus sind und wie weit wir uns von diesem ursprünglichen Zustand entfernt haben, werden in den Schulen weiterhin die Thesen von Thomas Hobbes gelehrt, der mit tönernen Argumenten Zwang und Ordnung legitimiert. Denn gerade die inhärente moralische Schwäche des Menschen wird in dem Maße potenziert, in dem man diesem Macht in die Hände gibt, wird verschlimmert durch Privilegien und institutionalisierte Autorität – die Geschichte bietet hierfür Beweise im Überfluss. Es ist zu offensichtlich, als dass man es in den Schulen unterrichten dürfte: Der Mensch ist nicht gut genug, um gütig über seine Mitmenschen zu herrschen, er kann nicht weise und abgeklärt mit den eigenen Privilegien umgehen. Wer an das Schlechte im Menschen glaubt, der müsste erst recht ein System flacher Hierarchien und Transparenz auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens propagieren, der müsste sich rigoros die Überwindung von konzentrierter Macht und Vermögen auf die Fahnen schreiben.

Das Schiff des Ideals ist am Alltag zerschellt.

Frei nach Wladimir Majakowski

Die Träume von Gleichheit und Gerechtigkeit sind gegenwärtig dem Schlaf überlassen, im Wachsein dominiert die Ersatzdroge Konsum. Unter dem Druck, funktionieren zu müssen, um konsumieren zu können, geht der Blick fürs visionäre Ganze leicht verloren, ebenso wie der Glaube daran, etwas verändern zu können.

Wer kennt nicht den Einwand, das sei ja alles schön und gut, aber leider (hier wird meist ein theatralischer Seufzer untergebracht) nicht praktizierbar. Dieses ist ein Mantra der herrschenden Verhältnisse, und ein Mantra bezieht seine Kraft bekanntlich nicht aus dem Sinn, sondern aus der Wiederholung. Unzählige Lebensentwürfe weltweit widersprechen diesem Mantra. Sie entwickeln und verkörpern emanzipatorische Aufbrüche, um jenseits von Ghettos und Eingrenzungen in Gemeinschaften kreativ leben und wirken zu können, mehr im Einklang mit der Natur, mit Hilfe eines gerechteren Wirtschaftens, eines würdigeren Auskommens. Sie praktizieren Veränderung im Kleinen, Widerstand im Alltag lautet die Devise, nichts mehr hinnehmen, was von oben oktroyiert wird, jede Stanze, jede Worthülse hinterfragen. Sie stellen Fetische wie Arbeit und Erfolg in Frage, erkennen einen anderen Reichtum, den Reichtum an Zeit, an Selbstbestimmtheit, an Kontemplation.

Solche Menschen werden in diesem Buch porträtiert. Eigenwillige Vorbilder alternativen Lebens. Porträtiert werden Menschen, die nicht verzagen, sondern aufbrechen, die ein Zeichen setzen gegen den grassierenden Fatalismus und Defaitismus, Menschen, die nicht in die Knie gegangen sind vor den persönlichen Problemen und gesellschaftlichen Gefährdungen: Die Übermacht der herrschenden Verhältnisse lähmt, der Ausbruch beflügelt, Verzweiflung ist eine affirmative Reaktion, ein Kapitulieren. Porträtiert werden Menschen, die ihrem rasanten Alltag entsagen, die eines Tages innegehalten haben im aufzehrenden Ringen um Selbstbehauptung, die sich selbst befragt haben, indem sie sich selbst und ihre wirklichen Bedürfnisse wahrgenommen haben.

Die Revolution von morgen beginnt schon heute im Kleinen, das illustriert diese Sammlung von Reportagen aus aller Welt, in Strukturen, Netzwerken, Nischen, die Gegenentwürfe praktizieren und vorleben. Trotz eines Systems, das Eigennutz und Gier belohnt, erleben wir täglich solidarisches Handeln, gegenseitige Hilfe, gemeinschaftliche Lösungen. Diese kleinen und großen Handreichungen tragen mehr zum Gleichgewicht in der Gesellschaft bei als das profitable Funktionieren all jener quantifizierbaren Prozesse, die allein die Macht und den Reichtum einer kleinen Schicht, ob Elite, Oligarchie oder Nomenklatura genannt, sichern. Leicht werden wir uns darauf einigen können, dass – abhängig von den jeweiligen sozialen Rahmenbedingungen – dem Menschen sowohl Aufopferung als auch egoistische Gier eigen ist. Ebenso klar sollte sein, dass wir weiterhin und jetzt erst recht utopische Lebensentwürfe benötigen, denn ansonsten droht die Hoffnungslosigkeit, und die ist – wie Karl Jaspers einmal schrieb – die vorweggenommene Niederlage.

Der Regenflüsterer

ANKE RICHTER

Der Hubschrauber, in dem ich mit meiner Familie sitze, knattert über hohe Farne. Mäanderndes Wasser unter uns, die letzten Ausläufer einer Farm, ein einsamer Traktor, dann nur noch Gestrüpp. Urwald, feucht und dicht. Kein Weg, kein Haus, kein Mensch. So geht das jetzt weiter, runter bis zu den Fjorden. Zweihundert Kilometer weiter hört das Land auf, westlich liegt Tasmanien, im Süden die Antarktis. Unser Ziel ist eine Flussmündung in the middle of nowhere, mitten im Nichts. Gorge River.

Wir besuchen Neuseelands abgeschiedenste Familie. Sie wurde nicht nur wegen ihrer selbstgewählten Isolation bekannt, die die meisten westlichen Menschen kaum nachvollziehen können. Sondern weil sie etwas verkörpert, von dem auch in diesem zivilisationsarmen Land viele träumen.

Ich lebe am anderen Ende der Welt, fern von Europa. Ein Sehnsuchtsziel für die, die mehr Natur und Einfachheit suchen. Doch auch in meiner dünner besiedelten Welt gibt es Verkehrsstaus, Hektik, Einkaufszentren. Ihr eigenes Ende, wo man den Menschen entfliehen kann, ist die südliche Westküste Neuseelands: rau und regnerisch, wild und wunderschön. Hier gibt es keine Straßen, keine Promenaden, dafür Seevögel und Milliarden stechender Sandfliegen, die laut einer Sage der Maori von den Göttern abstammen. Die Brandung ist unberechenbar, die Sonnenuntergänge sind betörend. Regenwald und Berge erstrecken sich bis ans Meer. Wer es bis hierhin schafft, muss busch- und wetterfest sein. Meist sind es Jäger und Angler, die für kurze Zeit ihr Quartier zwischen Fjorden und Gletschern aufschlagen. Niemand bleibt für 33 Jahre und nur mit einem Minimum an Gepäck. Niemand außer Robert Long.

Christan und Robin leben mit ihren Eltern in einem Haus am Meer am Gorge River. Keine Autos oder Lastwagen kommen dort vorbei, denn es gibt keine Straße. Wenn sie zum Einkaufen gehen wollen oder zur Post oder zu anderen Kindern zum Spielen, dann müssen sie drei Tage am Strand entlang und durch den Wald laufen.

Catherine Stewart, Roberts Frau und Mutter der beiden gemeinsamen Kinder, hat diese Zeilen vor achtzehn Jahren in einem Lesebuch für ihre Kinder aufgeschrieben. Wir treffen sie am Ende der Straße südlich von Haast, von wo es nur noch zu Fuß oder per Hubschrauber Richtung Süden weitergeht – eine kleine, kompakte Frau, unprätentiös und herzlich, mit offenem Blick. Sie hat Einkaufstüten und einen zerschlissenen Tagesrucksack dabei. Ohne uns wäre sie zu Fuß zurück gewandert. In schnellen Sätzen erklärt sie aus der Luft, wo man dabei Unterschlupf findet, falls das Wetter umkippt. Ihren ganz normalen Heimweg werden wir in ein paar Tagen selbst zurücklegen.

Wir landen auf einem Grasstreifen zwischen Flachsbüschen. Feuchter Salznebel umgibt uns. Die winzige Landebahn ist auf der einen Seite von Treibholz und Strandkieseln gesäumt, auf der anderen Seite liegt der Gorge River. Opalenes Wasser, das in einer Schlucht verschwindet, dahinter ein Steilhang. Nichts als feuchtes Grün und sattes Braun. Ein urzeitlicher Ort, bis auf die wenigen Quadratmeter, die Robert Long besiedelt hat. Er kommt uns vom Strand entgegen, ein schlaksiger Riese in Gummistiefeln und selbst genähter Daunenweste. Die Augen leuchten stahlblau wie die seiner Frau. Als ich ihm die Zeitung von heute in die Hand drücke, lächelt er, als ob wir ihm ein ganz besonderes Geschenk gemacht hätten. Routiniert hält er sich den Schlapphut fest, damit ihn die Rotorblätter des startenden Helikopters nicht wegwehen. »Jeder bekommt erst mal einen Tee«, sagt Long und winkt uns hinter sich her. Wir folgen ihm Richtung Hütte. Sie ist aus grün gestrichenem Holz und Wellblech zusammengestückelt. Solarzellen und die Satellitenschüssel auf dem Dach lassen die Behausung noch altertümlicher und geradezu zwergenhaft erscheinen, so als ob sie sich vor Wind und Sturmfluten an den Hang dahinter duckt. Ein Fischernetz dient als Gartenzaun, der als Schutz gegen die gefräßigen Possums und Rehe dient. Hinter dem Haus beginnt das Dickicht der Flechten und Farne. Nur wenige Schritte vor dem Haus liegt der Ozean. Wellen rauschen heran, aber baden kann man hier nicht. Zu gefährlich. Allein im Umkreis von sechs Kilometern liegen vier Schiffswracks.

Christan fängt Fisch zum Essen und baut Kartoffeln, Erbsen, Bohnen und Karotten im Garten an. Das andere Essen kommt per Flugzeug, im Hubschrauber oder Boot, und manchmal bringen Wanderer die Post mit.

Vor dem Gartentor steht die kleine Handkarre, mit der Catherine Stewart täglich am Strand Holz fürs Kochen und Heizen sammelt. Daneben ein aus Treibholz gebautes Hubschraubergerippe. In dem haben Longs Kinder gespielt, als sie klein waren. Jetzt sind Sohn und Tochter aus dem Haus. Dafür lassen sich im Holz-Helikopter gerne mal Jäger auf Hirsch-Safari fotografieren, die auf ihren Rundflügen für 5000 Dollar eine Zwischenlandung machen. Dann tanken sie kurz die Andersartigkeit eines Exoten, der lebt wie im vorletzten Jahrhundert. Bis vor ein paar Jahren trug Robert Long noch Rauschebart und lange Haare. Am liebsten lief er barfuß. »Beansprout« nannten die Einheimischen den Vegetarier im Pub und auf den Fischerbooten, weil er lieber Bohnensprossen als Steaks aß. Den Spitznamen kennt man auf der halben Südinsel. Es ist respektvoll gemeint, nicht spöttisch. Der Name ist hart erarbeitet.

Mit seinen 53 Jahren ist Beansprout eine lebende Legende, die nur wenige zu Gesicht bekommen. Martina Navratilova tauchte eines Tages mit ihrer Entourage auf; er erkannte die Wimbledon-Siegerin nicht. Auch der CEO von Goldman-Sachs steuerte Gorge River an, als alle Souvenir-Läden in Queenstown geschlossen hatten, denn sein Privatpilot wusste, dass Beansprout Jadeschnitzereien fertigt und Landschaftsbilder malt. Kunst ist mittlerweile Longs Haupteinkommen. Seit seine Lebensgeschichte als Buch erschien und später das seiner Frau, kann er gute Preise verlangen. Gorge River, einer der am wenigsten bekannten und kaum besiedelten Flüsse Neuseelands, ist zum Begriff geworden. Um die 2000 Euro kosten Longs Bilder, alle auf Kommission gefertigt. Es gab Zeiten, da hat er sie noch verschenkt als Dank für ein paar Trockenvorräte, die ihm Wanderer daließen. Er, der jenseits der Gesellschaft gelebt und sich all ihren Regeln und Zwängen konsequent verweigert hat, hat auf seine stille, charismatische Art in ebendieser Welt Karriere gemacht.

»Meine Arbeit ist meine Inspiration«, sagt Robert Long im Gehen. Er ist da, wo er sein will, und macht das, was ihn erfüllt, so lange er will – »bis mich eine Sturmbö von der Staffelei im Freien vertreibt«. Neben der Hütte steht die Schleifmaschine, mit der der Kunsthandwerker Jade bearbeitet. Begonnen hatte er nur mit einem Faustkeil. »Ich habe mich langsam von der Steinzeit ins Industriezeitalter hochgearbeitet«, sagt er und wischt sanft an einem halbfertigen grünen Delfin herum. Dieses Lächeln! Es flackert auf, macht ihn weich und verletzlich und verschwindet dann sofort wieder hinter Haarzotteln und Denkerstirn. Meinen Söhnen schenkt er jeweils ein kleines Stück Jade. Das »grüne Gold« findet er zwischen Strandkieseln. »Alle Menschen, die hier hin kommen, sind etwas Besonderes. In Auckland hätten wir solche Begegnungen nicht«, sagt Long. Die Großstadt ist die Antithese zu allem, wie und wofür er lebt. Als er einmal in New York war, verlor er sofort alle Energie. Er fühlte sich angreifbar, verloren und allein. Aber nicht hier draußen.

Wir treten durch die Tür aus geflicktem Fliegengitter. Der Raum ist halb Atelier, halb Rumpelkammer. Auf der Werkbank ist ein Possumfell zwischen Nägeln zum Gerben gespannt. Daneben steht eine Nähmaschine mit den Pedalen eines alten Kinderfahrrads als Antrieb. Catherine Stewart verarbeitet dort Felle zu Kissen und Pantoffeln aus Öko-Pelz, eine echte »cottage industry«. Jeder Zentimeter Wand hängt voll mit Kleidung und Arbeitsgeräten, auch von der niedrigen Decke baumelt Krimskrams.

Die Wohnschlafküche nebenan ist urig und heimelig wie ein Hobbit-Haus. Viele Möbel sind aus Strandgut gebaut, die Kissen selbst bestickt. Die Aussicht: Meer in allen Schattierungen, in weiter Ferne winzig ein Schiff. »Die fischen hier nicht«, weiß Catherine sofort, »die fahren weiter.« Als die erdverbundene Australierin Robert Long zum ersten Mal auf einer Westküsten-Wanderung traf, lebte er bereits neun Jahre allein am Gorge River. Damals trug er einen Hut und Kittel aus selbstgesponnener Wolle, mit Nadeln gestrickt, die aus einem alten Ofenrost stammten. Delfinzähne, Korallen und Knochen dienten als Knöpfe. Seine Gummistiefel hatten Flicken aus Autoreifen. Das Letzte, was man ihm ansah: dass er aus einer gutbürgerlichen Familie stammt.

Robert war ein ehrgeiziger Schüler, gewann rudernd Sportpokale und marschierte bei den Kadetten mit. In allem wollte er der Beste sein und Arzt werden. Doch mit seinen Freunden streifte der Teenager die nächsten zehn Jahre an den Wochenenden durch die Wälder und entdeckte ein Leben jenseits der Vororte und Kaderschmieden – unkonformistisch, frei, natürlich. Sie bauten sich Hütten, schwammen im Fluss, gingen in ihrer Umgebung auf und wussten, dass sie »die Antwort und den Traum« hatten, nach dem sich andere sehnen: »Einfache menschliche Beziehungen, Respekt für Tiere und Pflanzen.«Im dritten Jahr schmiss Robert Long sein Medizinstudium hin und brach aus dem »Mainstream-Albtraum« aus, wie er ihn nannte. »Nichts konnte mich mehr stoppen.« Auch seine Eltern nicht, sosehr sie es auch versuchten. Er schwor der Konsumgesellschaft ab, reiste in Indien durch alternative Kommunen, aber dort ging es »immer nur um die Leute«. Die Sinnsuche führte ihn zurück nach Neuseeland. Er heuerte auf Fischerbooten an, aber nur so lange, bis er wieder genug Geld für die Grundvorräte zum monatelangen Überleben in der Wildnis hatte. »Je weniger ich besaß, desto mehr wuchsen meine Entschlossenheit und mein Geist«, schrieb er später. Minimalistischer Survivalist wollte er sein, selbst im Falle einer nuklearen Katastrophe. Er war ein perfektionistischer Aussteiger, kein Penner.

Die halb zerfallene Hütte am Gorge River, damals noch ohne elektrisches Licht und kleiner als heute, entdeckte er auf einem seiner Streifzüge entlang der südlichen Westküste, wohin keine Straße mehr führt. »Es war wie ein Nachhausekommen.« Sie gehört der Naturschutzbehörde DoC, die sie ihm lebenslang überließ, solange er sich auch um die Wanderhütte daneben kümmert. Long quartierte sich ein und nahm nur das Allernötigste aus der Zivilisation mit. Sein einziges Werkzeug für den Neubeginn im Busch war ein Meißel. Er hatte nicht mal eine Taschenlampe. Sein Ehrgeiz war, so zu leben wie die ersten Maori – aber komplett allein. »Ich war ein Niemand, frei von allem Schein. Mein Glaube in die menschliche Natur wurde jeden Tag stärker.«

Über Jahre durchstreifte er meist barfuß die Umgebung, »wie ein wildes Reh«, nur mit ein paar Nüssen in der Tasche, im Freien schlafend, seine Grenzen auslotend. Es konnte Wochen dauern, bis er auf andere Menschen traf. »Das Gefühl der Isolation im Winter ist absolut, und niemand, der es nicht erlebt hat, kann die Einsamkeit nachvollziehen, die ich in meinen Jahren am Gorge River durchlebte«, schreibt er. »Gleichzeitig hat sie mich den Wert menschlicher Nähe schätzen gelehrt.«

Er mahlte die Samen von Wildgräsern zu Mehl und buk sich daraus Fladen, angereichert mit Seetang. Seine künstlerische Ader erwachte. Er begann, Jade von Hand zu bearbeiten, und schuf kostbare Kleinode. Mehr als zweihundert Dollar brauchte er im Jahr nicht zum Leben, Unterstützung hat er nie beantragt. Manchmal warf er sich mitsamt seinem Rucksack in die Wellen, schwamm hinaus zu einem der Fischerboote, schuftete dort eine Weile, sprang woanders wieder von Bord und wanderte zurück zum Gorge River. Oder er wurde von einem Piloten mitgenommen, der ihn auf einer Bergkuppe entdeckte, meditierend. Er fühlte sich frei wie ein Vogel, eins mit den Naturgewalten und dem Kosmos. Ein menschenfreundlicher Einsiedler – bis Catherine kam, die studierte Immunologin mit scharfem Verstand, die immer ganz genau hinhört und gerne lacht.

»Ich hatte gebetet, dass eine Frau für mich auftaucht«, sagt Robert und hantiert am Holzofen, auf dem seit seinen ersten Tagen am Gorge River gekocht wird. Sein Kopf stößt fast an die niedrige Decke. »Ich wollte immer eine Familie.« Er ist tief gläubig, wenn auch nicht im kirchlichen Sinn. Etwas Größeres beschütze ihn, sagt er. Daher verspüre er auch nie Angst vor dem, was ihm in der Wildnis zustoßen könne. Catherine dagegen ist eher handfest als spirituell oder romantisch. Entsprechend realistisch sah sie das Eremitenleben am Gorge River, auch wenn sie früher davon geträumt hatte, in einem Leuchtturm zu wohnen. Es muss eine schwere Entscheidung gewesen sein, die Isolation und der Verzicht auf so vieles, alles für einen radikalen Idealisten. Ihre Dusche in Roberts Stranddomizil war anfangs nur eine durchlöcherte Spülmittelflasche mit Sickerstrahl. Das Trinkwasser wurde als Regen vom Dach gesammelt. Einen Spiegel hatte sie jahrelang nicht, aber vermisst hat sie ihn nicht. Sie besitzt lediglich eine dreifache Wechselgarderobe, alles second hand. Mäuse, Buschratten und Lecks im Dach waren auszuhalten, sagt sie. Bis sie schwanger wurde. Plötzlich gab es kein Zurück mehr. Gorge River für immer, mit Kind? Ohne Hilfe von außen, andere Mütter, Arztpraxen, Kindergärten, Einkaufsmöglichkeiten? Es war ihre schwerste Zeit in all den Jahren.

Im sechsten Monat wanderte das Paar über mehrere Tage zum nächsten Ort im Südosten, um eine Hebamme zu treffen. Für den Rest der Schwangerschaft am Gorge River hatte Catherine weder Ultraschall noch Gynäkologen, sondern nur ein Hörrohr und Urin-Sticks. Ein Fischer hatte versprochen, sie zwei Wochen vor der errechneten Niederkunft mitzunehmen, aber er vergaß es. Telefon oder Internet hatten sie nicht. Robert ruderte sie schließlich zu einem anderen Boot hinaus. Ein Jahr nachdem Christan Long auf einer Farm von Freunden geboren wurde, heirateten seine Eltern draußen an dem Fluss, in dem der Sohn bei der ersten Wanderung nach seiner Geburt getauft wurde. Alle entfernten Freunde und Nachbarn tauchten zur Hochzeit auf und brachten das Essen mit. Die Perlmutt-Eheringe hatte das Paar sich selber geschnitzt. Bald folgte Tochter Robin.

Die Stoffwindeln wusch die junge Mutter auch im tiefsten Winter draußen im Fluss. Mehr als einmal rutschte sie aus und fiel ins Wasser. Inzwischen haben sie einen Wasseranschluss ins Haus gelegt, mit gespendeten Rohren. »Viel wichtiger als elektrisches Licht«, sagt Catherine. Eine Waschmaschine hat sie dagegen nicht: »Kein Problem, ich mach das gerne. Das Einzige, was ich noch immer vermisse, ist ein Staubsauger.« Ihre Finger haben unter der jahrelangen körperlichen Arbeit so sehr gelitten, dass sie steif geworden sind. Aber Häkeln geht noch, ebenfalls ein Nebenverdienst. Catherine zieht Wolle und Babyschuhe aus Possumfell hervor, Robert bringt frischen Kuchen. Auf dem Tisch steht ein Glas mit den obligatorischen Sprossen. »Meistens gibt’s bei uns Fisch und eigene Kartoffeln.« Sie zeigt mir ihre bescheidene Vorratskammer unter der Spüle. Essen ist ein zentrales Thema ihres Pionierlebens, aber nicht im ideologischen Sinne: sondern, dass es überhaupt da ist. Die säurehaltige Erde im Garten gab anfangs nicht viel an Gemüse her. Jetzt reichern die beiden sie mit vergrabenen Possum-Kadavern an. Zucker und Fett waren selten, ein schneller Einkauf nie möglich. Es gab ein Jahr, das sie halbironisch als die »Hungersnot von 1999« bezeichnen. Der Pilot, der ihnen bis dahin jeden Monat Vorräte aus der Zivilisation gebracht hatte, tauchte plötzlich nicht mehr auf. Der Reis reichte nur noch für die nächsten fünf Tage, als es zuerst geschah. Robert machte sich auf, um entlang der Küste die Notrationen auszugraben, die er dort gebunkert hatte. Damit kam die Familie eine weitere Woche über die Runden.

Entbehrungen waren normal für das Paar. Wann immer die Beansprouts etwas Bestimmtes wollten, gab es nur eine Lösung: »Vielleicht finden wir es am Strand.« Mal wurde ein Schlafsack angespült, mal Baumaterial fürs Haus – die Hälfte kam so zusammen. Als erste Babybadewanne diente ein Fischbehälter, der irgendwo über Bord gegangen war. Für Robert waren Konsumverzicht und Recycling Ideale, die er extremer gelebt hat als irgendjemand in seinem Land, das kaum bittere Armut kennt. Für seine Frau jedoch war seine Utopie ein ständiger Kompromiss, und auch Tochter Robin teilt den Idealismus des Vaters nur begrenzt, da sie ihn täglich gelebt hat. Schön und gut, sagt Catherine, nachts bei Minustemperaturen unterwegs in einer Scheune zu schlafen – aber den Kinderpo in einer zugefrorenen Pfütze zu säubern ging selbst ihr zu weit. Und trotzdem stellt auch sie fest: »Jedesmal, wenn wir mit den Kindern in die Stadt kamen, wurden sie sofort krank. Es strengte sie alles an. Zu Hause war es besser.« Robert bläst ins gleiche Horn: Nicht das Leben am Gorge River sei hart, sondern die Abstecher in die Zivilisation.

Sie unterbricht ihn. Irgendetwas scheint sich am Horizont abzuspielen. »Eine Windhose.« Wir haben sie nicht bemerkt, aber Catherine Stewart schaut fasziniert hinaus, als ob sie eine dramatische Straßenszene verfolgen würden. Ihre Wahrnehmung ist anders als unsere. Sie ist eine wandelnde Seismografin, zwei Jahrzehnte lang durch Schauer und Sturmfluten geschult. Genau wie Robert kann sie das Wetter und die Natur dechiffrieren, während wir Besucher vor allem die Symbole des Zeitgeistes, der Kultur erkennen. Aber kaum einheimische Vögel. Das gestickte Bild eines Spatzen steht am Fenster neben einer kleinen Marienstatue. Das Spinnennetz dahinter hat Robert Long hängen gelassen. »Robin, meine Tochter, würde es auch nicht zerstören. Sie achtet jedes Krabbeltier. Das habe ich von ihr gelernt.« Hinterm Tisch hängen halbfertige Malereien an den Wänden, auch ein Portrait der Kinder. Die beiden sind allgegenwärtig, man spürt die Sehnsucht der Eltern. Bald kommen sie wieder zu Besuch.

Es war fast Winter, also packten sie viel warme Kleidung, Regenmäntel, Schlafsäcke, etwas Essen und viele Windeln für Robin ein. Sie saß ebenfalls im Rucksack! Die Rucksäcke waren sehr schwer.

Christan ist der kleine Junge neben einem Pinguin auf dem Titelfoto des Lesebüchleins, das beschreibt, wie mühsam ein Trip in die Stadt ist – auch heute noch. Der Weg vom Haus bis zum nächsten Laden konnte mit Kindern fünf Tage dauern. Sieben Jahre lang trugen Catherine und Robert ihre Kinder dabei auf dem Rücken, zusammen mit ihrer Ausrüstung und Vorräten – insgesamt an die tausend Kilometer haben sie so zurückgelegt, über rutschige Steine, durch Schlamm und Furten. Wenn es geregnet hat, und das tut es in dieser Region häufig und heftig, sind die Flussdurchquerungen gefährlich. Wird es warm, stürzen sich die Sandfliegen auf die Wanderer. Christan war zwei, Robin drei, als die Kinder anfingen, Teile der Strecke selber zu laufen. Damit erfüllte sich des Vaters größter Traum. »Was das für Individualisten werden würden,« schwärmt er in seiner Autobiografie, »welche Beharrlichkeit und Überlebenskunst sie entwickeln würden. Eine Bereicherung für uns alle auf dieser Welt.«

Auf etlichen dieser Touren begleitete sie das Huhn ›Chooky‹ als Haustier in Robins eigens dafür umgerüstetem Rucksack. Chooky reiste per Flugzeug und Hubschrauber und wurde ebenfalls in Text und Bild verewigt, genauso wie Christans erste Angel-Erfolge und eine im Wald veranstaltete Aufführung vom »Mittsommernachtstraum«. Die »arbeitslos gewordene Mutter«, wie sich Catherine ironisch bis melancholisch nennt, zieht ein selbstgedrucktes Büchlein nach dem anderen hervor: Dokumente einer Zeit ohne Fernsehen, mediale Übersättigung oder Ablenkung. Es sind ihre Schätze, genau wie die selbstentworfenen Brettspiele und Puppenkleider, die neben der künstlerischen Ader dieser Familie vor allem eines zeigen: Hier hat sich jemand richtig viel Zeit für seine Kinder genommen. »Wenn ein Feuer ausbricht, würde ich als Erstes diese Bücher retten«, sagt Catherine. »Robert seinen Schlafsack.«

Ein Internat haben die Long-Kinder erst als Jugendliche besucht – und es mit Auszeichnung verlassen. Davor waren sie Fernschüler, das Schulmaterial kam per Post. In Neuseeland ist »home schooling« erlaubt, aber dennoch umstritten, und Catherine brachte die Rolle als Hauslehrerin an ihre Grenzen. Die Longs mussten sich oft dafür verteidigen, was ihren Kindern angeblich alles fehlt, vor allem der mangelnde Kontakt zu Gleichaltrigen. »Das stimmte, aber wir hatten regelmäßig lange Urlaube bei der Familie in Australien«, verteidigt sich Catherine. Dort fiel ihr die Diskrepanz zwischen den verwöhnten Neffen und ihrem spartanisch erzogenen Nachwuchs besonders auf. »Da habe ich mich anfangs schon gefragt, ob ich alles richtig mache. Aber meine Kinder haben mich beruhigt.«

Beide Kinder gingen schon früh ihre eigenen Wege. Christan war bereits als kleiner Junge verrückt nach Cricket und nötigte jeden, der am Gorge River landete, zu einem Spiel. Wenn die Hütte zu eng für zwei aufgeladene Teenager wurde, dann verzogen sie sich nach draußen. Der Wald hat keine Grenzen. Christan setzte durch, dass er einen Laptop bekam, und er war es, der mit fünfzehn nach langen Diskussionen einen Campingkocher anschaffte. »Durch meine Kinder habe ich ständig Zugeständnisse an mehr Technik und Komfort machen müssen«, sagt Robert Long. Es klingt bedauernd. Er konnte sich nicht mehr waghalsig von Felsen ins Meer stürzen oder Risiken wie früher eingehen. In seinen ersten zehn Jahren am Gorge River hätte er sechs Monate verschollen sein können, bis es jemandem aufgefallen wäre. »Doch dann stand die Sicherheit meiner Familie immer an erster Stelle.« Seine Geschichte ist auch eine von Verletzungen, dramatischen Rettungen, Abenteuern und Erdbeben, auch wenn er behauptet, nie in Lebensgefahr gewesen zu sein. Seit Robins Kindheit haben sie einen Peilsender, der im Notfall ein Signal für die Luftrettung aussendet. Catherine erinnert sich an den Tag, als sie mit ihrem 13 Monate alten Baby im Arm im Sturm am Strand stand, während ihr Mann sich aufs Surfboard warf und sich zu den nächsten Felsen hin kämpfte. Ein Wanderer, der mit ihrem Schlauchboot über den Gorge River setzen wollte, war dorthin gespült worden.

Eine Rebellion gegen den extremen Lebensstil der Eltern hat bei den Kindern nicht stattgefunden. Im Gegenteil. Die 18-jährige Robin ist Führerin in einem Vogelpark und will Ornithologie studieren. Partys interessieren sie kaum, sagt die Mutter, sie ist eher still und hasst es, wie viel Essen von anderen weggeworfen wird. Zum Schulabschlussball fertigte sie sich ihre eigenen Pumps aus geschmolzenem Plastik, Strass und Holz an. Ihr drei Jahre älterer Bruder ist Outdoor-Experte, war bereits in der Antarktis und jobbt als Skiführer. In den Ferien ziehen beide Kinder wie früher mit dem Vater los auf Possumjagd, um mit den abgezogenen Fellen ihr Studium zu bezahlen. »Wir sind froh zu sehen, welche Arbeitsmoral sie von uns gelernt haben«, sagt Catherine. »Was viele nicht sehen: Wie hart wir hier arbeiten, manchmal zehn bis zwölf Stunden am Tag.«

Die Kinder verdienten früh ihr eigenes Geld. Die Eltern zahlten ihnen 50 Cents pro Sack voller Algen, die den Garten düngten. Seetang sei nach wie vor der Lieblingsgeruch aus Robins Kindheit, sagt ihre Mutter. Die beiden skypen fast täglich. Nur dafür gibt es die Internetverbindung via Satellit in der Hütte – finanziell ein Luxus, aber für Catherines Seelenheil existenziell. Sie braucht die virtuelle Nabelschnur zu ihren Kindern, sagt sie. Nach all den Jahren zu viert habe sie niemanden, der ihr näher stehe als die Tochter. Als Christan erstmals zum Fischen mit Freunden verschwand, hörten die Eltern zwei Wochen lang nichts von ihm. Dann endlich kam eine Nachricht: ein Zettel, an einem Stein aus einem vorbeifliegenden Flugzeug abgeworfen. »Das war viel härter als jetzt, wo er um die Welt reist, uns aber von überall E-Mails schicken kann.«

Es hat angefangen zu regnen, aber Beansprout will nach draußen, um noch Köder aus Mehl und Eukalyptusöl auf einige seiner dreißig Possumfallen zu streuen. Im Hinausgehen drückt er mir ein in blaues Leinen gebundenes Buch mit handgetippten Aufzeichnungen, Skizzen und Fotos in die Hand. »Our Home«, heißt es, und darunter: »Die heilende Kraft der Natur«. Es ist die Abschlussarbeit seines Kurses in Naturheilkunde, den er im Fernstudium absolviert hat. Ich lese über universale Kräfte, blättere mich durch selbstgezeichnete Pflanzenbilder und bekomme einen Einblick davon, wie metaphysisch Robert Long die Welt um sich herum erlebt. Seitenlange Tagebucheinträge beschreiben nichts als Wetter und Musik. »Donnerstag, 12. April 1990. Wolken und Wind Richtung Meer, ruhige See am Abend. Kanadisches Akkordeon, schrille Pfeifer, sehr ruhiges Omm.« Diese Melodien, die er im Freien hört, spielte Robert seiner Frau auf der Gitarre vor.

Sie sind alles andere als ein perfektes Paar, vertraut mir Catherine später an. Ihre ganze Beziehung sei bis heute ein hart erkämpfter Kompromiss, ihre Vorstellungen von vielem so verschieden. Eigentlich dachte sie daran, wegzugehen, wenn ihre Arbeit als Mutter getan sei. Aber sie wird bleiben und am Gorge River alt werden. »Es ist ein Privileg, hier zu leben. Ich verdiene nicht viel, aber ich bin reicher als jeder, der einen Kredit abstottern muss. Ich muss nichts für Benzin, Handwerker oder Kleidung ausgeben. Meinen Salat pflücke ich mir im Garten.« Glück, hat sie sich von der Seele geschrieben, sei, das zu wollen, was man hat.

Ich trete vor die Tür der Hütte und laufe ein paar Meter Richtung Strand. Das Meer tost, der Wind bläst, aber Instrumente höre ich keine. Es ist inzwischen stockdunkel, kein Mondlicht scheint. Die mannshohen Flachsbüsche neben mir kann ich nur erahnen. Hunderte von Kilometern um mich herum ist nichts als Ozean und schwarzes Dickicht. »Eigentlich leben wir im Vorort, nur mit etwas mehr Abstand zu den Nachbarn«, hatte Robert vorhin noch gescherzt. Von wegen. Keine Straße. Kein Licht. Selbst die Funzel in der Hütte kann ich nach ein paar weiteren Schritten schon nicht mehr ausmachen. Da erst ahne ich, was das heißt: Er hatte nicht mal eine Taschenlampe. Ich bekomme eine Gänsehaut.

Am nächsten Morgen rudert uns Robert mit unseren Rucksäcken über den Fluss, einen nach dem anderen. Catherine winkt uns lange nach. Zwei Tage später erreichen wir erschöpft, humpelnd und komplett durchnässt unser Ziel. Noch nie hat sich ein Auto so gut angefühlt. Zum Gorge River ist seit einiger Zeit eine Straße geplant. Dann könnten die Beansprouts in zwei Stunden bequem zum Einkaufen fahren. Robert, Catherine und ihre Kinder wollen sich mit Händen und Füßen dagegen wehren.